Die Macht der Seele - Robert Sardello - E-Book

Die Macht der Seele E-Book

Robert Sardello

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Beschreibung

Die zwölf Tugenden - Hingabe, Mitleid, Höflichkeit, Geduld, Mut, Urteilsvermögen und andere - sind seit Jahrhunderten Teil der westlichen Spiritualität. Sie müssen aber neu überdacht und vertieft werden. Die Tugenden sind "Bilder der verschiedenen Dimensionen unserer grundsätzlich moralischen Existenz", so der Verfasser Robert Sardello. Sardello zeigt, wie die Tugend der Tugenden darin besteht, dass durch sie unsere geistigen Bestrebungen stets in Verbindung bleiben mit der irdischen Welt sowie mit den Seelen- und Geistbedürfnissen anderer Menschen. Die Tugenden sind innere Geschenke, die wir in uns selbst zur Entwicklung bringen, um anderen Gutes zu tun und um bessere, wahrhaftigere Umgangsweisen mit den Menschen und mit der Welt zu schaffen. "Die Macht der Seele" zeigt, wie an den Emotionen gebildet werden, die Psyche verfeinert, der innere Charakter veredelt werden kann und setzt auseinander, wie das Wesen unserer Seele gefunden und ein inneres Empfinden dafür gewonnen werden kann, wie die Seele in der Welt so handeln will, dass das Gute herbeigeführt wird.

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* Originaltitel:

The Power of Soul. Living the Twelve Virtues

Copyright 2002 by Robert Sardello

Hampton Roads Publishing Company, Inc.

1125 Stoney Ridge Road

Charlottesville, VA 22902

Übersetzung aus dem Englischen von Joseph Bailey.

Die Tätigung der deutschen Übersetzung und Veröffentlichung dieses Buches erfolgten dank der freundlichen Genehmigung des Autors.

Inhalt

Einleitung

1. Die zwölf spirituellen Tugenden

2. Die Tugend der Hingabe

3. Die Tugend des Gleichgewichts

4. Die Tugend der Treue

5. Die Tugend der Selbstlosigkeit

6. Die Tugend des Mitleids

7. Die Tugend der Höflichkeit

8. Die Tugend der Gelassenheit

9. Die Tugend der Geduld

10. Die Tugend der Wahrheit

11. Die Tugend des Mutes

12. Die Tugend des Urteilsvermögens

13. Die Tugend der Liebe

14. Der Umgang mit den Tugenden im eigenen Leben

Anhang: Das Arbeiten mit den Tugenden

Einleitung

Das Wort „Tugend“ hat eine große Bedeutungsvielfalt. Es ist ein Wort mit einer großartigen Geschichte, die vielleicht ebenso alt ist wie die Menschheit selbst. Es existiert sowohl in östlichen wie auch in westlichen Kulturen. Heutzutage hört man nicht viel von diesem Wort, zum Teil weil wir uns mehr für die Schattenseite des Lebens interessieren als dafür, das Gute zu tun. Ich glaube, unsere Kultur ist für eine Kehrtwendung reif. Die neue Tür zur Beschäftigung mit der Tugend wurde uns am 11. September 2001 in New York, Washington und im Flugraum über Pennsylvania gezeigt, indessen Folge alle die in diesem Buch beschriebenen Tugenden in Erscheinung traten; das war der Beginn eines neuen Zeitalters, das Gute zu tun (siehe Epilog). Angesichts dieser Situation unserer Kultur dürfte es als Einstieg hilfreich sein, wenn ich Ihnen erkläre, wie ich das Wort „Tugend“ verwende.

Aus religiöser Perspektive nähere ich mich der Tugend nicht. In diesem Buch geht es nicht darum, ein tugendhafter Mensch zu sein, sofern dieser Ausdruck mit einem pietätvollen Unterton gehört wird. Es geht vielmehr darum, dass wir das Wesen unserer Seele finden und dass wir uns einen inneren Sinn dafür aneignen, wie die Seele in der Welt funktionieren will, um das Gute herbeizuführen. Gegenwärtig sind wir daran gewöhnt, von der Seele in ihren Leiden, in ihrem Bedürfnis nach Schönheit, in ihrer Liebe zur Erzählung, zum Mythos, zur Kreativität zu hören. In jüngerer Zeit hört man ferner von „der Seele der Welt“. Auch handeln will die Seele. Und wenn wir uns tief in das Leben der Seele hineinbegeben, werden wir für das empfänglich, was aus den geistigen Welten zu uns kommt.

Die Tugenden sind das Aufleuchten von geistigen Impulsen innerhalb der Seele, um unser Leben mit den Rhythmen des Kosmos in Harmonie zu bringen. Tugend hat mit dem Schließen der Kluft zwischen der irdischen Welt und den geistigen Welten zu tun. Zwei Welten gibt es nicht – es sei denn, wir wenden uns vom Handeln in Übereinstimmung mit der Großen Welt ab und schaffen eine künstliche Trennung dort, wo keine echte existiert. Solche Trennung erzeugt eine kulturelle Selbstsucht der derbsten und grausamsten Art. Wir können ja vergessen, dass wir Bürger des Kosmos sind, dass die Erde und ihre Wesen Teil des Ganzen sind. Diese Schrift möchte daran erinnern, dass wir nicht nur zu diesem Ganzen dazugehören, sondern dass es auch an uns ist, im Einklang mit dessen Größe und Schönheit zu handeln.

Nach populärem Verständnis heißt spirituelle Entwicklung heutzutage oft, sich auf die Chakren konzentrieren lernen; verschiedene Formen der Meditation ausführen; nach dem eigenen höheren Selbst suchen; sich mit schamanischen Praktiken befassen, mit Seelenbildern, mit Traumdeutung und einer Vielzahl anderer möglicher Praktiken. Der inneren moralischen Entwicklung wird herzlich wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Und doch gibt jede spirituelle Tradition dem moralischen Charakter eine hohe Priorität zu und den Erfahrungsarten, die viele zeitgenössische spirituelle Praktiken suchen, einen eher geringen Wert. Eine der Wirkungen des Arbeitens an den Tugenden und an der eigenen Vertiefung ist nicht abzustreiten: man wird allmählich offen für Erlebnisse, die dem gewöhnlichen Bewusstsein nicht zugänglich sind. Es ist aber nicht der Fall, dass allein das sich Erarbeiten psychischer oder gar geistiger Fähigkeiten einen Menschen zu jemandem mache, der das Gute sucht und tut.

Spirituelle Entwicklung kann zu fragwürdigen Zwecken gesucht werden, und genau das kommt auch durchaus häufig vor. Leibfreier Erfahrungen machen, in andere Welten reisen, hellsichtig werden, Heilerfähigkeiten entwickeln, eine Beziehung zum höheren Selbst finden – alle solchen Anliegen gelten in den großen religiösen und geistigen Traditionen als von wenig Belang für eine spirituelle Entwicklung. Ja das Entwickeln solcher Fähigkeiten sieht man in den Traditionen sogar als große Herausforderung an. Man müsse daran vorbeischauen lernen und niemals sich in solche Fähigkeiten verlieben. Anders ausgedrückt: Wenn wir uns seelisch immer weiter vertiefen wollen, müssen wir tatsächlich lernen, die sich entwickelnden Fähigkeiten zu übersehen. Diese Mahnung hinsichtlich des Strebens nach geistigen Erfahrungen zeigt, dass spirituelle Arbeit so, wie sie seit Jahrtausenden verstanden wird, niemals nur um des Arbeitenden willen selbst, sondern stets der ganzen Welt zuliebe ausgeführt wird. Der Vorzug der Tugenden ist, dass durch sie unsere geistigen Bemühungen immer geerdet und mit den seelischen und geistigen Bedürfnissen anderer in Verbindung bleiben.

Der Kontext, in dem jeder Mensch in den Qualitäten der Tugenden vorankommen kann, ist unser alltägliches Leben, inmitten unserer Verbindungen, Prüfungen, Schwierigkeiten und Freuden mit anderen zusammen. Eine alternative Weise die Tugenden zu sehen wäre, sie als das seelische Medium unserer geistigen Beziehungen mit anderen zu sehen. Die Tugenden machen den Weg sakralen Dienens in der Welt aus, denn sie sind das Mittel, durch das wir der Seele und dem Geist anderer Menschen dienen. Nur wenn wir so dienen, kann eine ganze Gemeinschaft gedeihen. Es muss allerdings unterschieden werden, ob wir der Seele und dem Geist anderer Menschen dienen, oder ob es bloß ein anderer Mensch oder dessen äußere Bedürfnisse sind, denen wir dienen. Ferner muss solches Dienen freie Wahl sein und sich nicht auf Macht oder Autorität oder Stellung gründen.

Im alltäglichen Leben kommen wir oft in Situationen hinein, in denen eine Art dienstartigen Verhaltens anderen gegenüber gefordert ist. Solche Anforderungen treten im Familienleben, bei der Arbeit, in intimen Partnerbeziehungen, in gesellschaftlichen Situationen auf. In der Regel gehen wir aus Liebe zum anderen Menschen, aus Pflicht, Verbindlichkeit, Furcht auf sie ein. Keine dieser Verhaltensweisen kann als eine Handlung der Tugend gelten. Solche Situationen können aber zum Ort des Arbeitens, zum Labor für die Ausführung der Tugenden werden.

Wenn wir die Sache aus einer Seele-Geist-Perspektive betrachten, so ist das, was in allen diesen Zusammenhängen von uns verlangt wird, dass durch uns eine Forderung in eine Handlung der Tugend verwandelt werde, und zwar dem Menschen gegenüber, der die Forderung stellt. Bei dieser Verwandlung ist es nötig, dass auf die Forderung nicht direkt eingegangen, sondern dass sie durchschaut werde. Mit „durchschauen“ meine ich einen Akt der Imagination, in dem die leidende Seele und der leidende Geist des Menschen, der die Forderung stellt – sei diese offen oder versteckt – wahrgenommen und beantwortet werden kann. Mir ist zum Beispiel vielfach gesagt worden, dass ich bei meiner Arbeit als Kursleiter sehr geduldig bin. In meinen Kursen werden des öfteren Fragen gestellt, die ziemlich frivol wirken können. Ich bin bestrebt, mich weder von solchen Fragen abzuwenden, noch sie direkt zu beantworten. Entstammen sie doch meistens der Persönlichkeit des Fragenden. Ich bemühe mich, die Frage, den Kommentar, die Bemerkung eben bis auf das Seelen- und Geistwesen, das diese Person ist, zu durchschauen, und die seelische Substanz der Person direkt anzusprechen. Damit ich dies tun kann, muss meine unmittelbare emotionale Reaktion auf die Person gemildert sein. Es geht nicht darum, diese Dinge zu durchdenken, sondern um die Disziplin, mit der wir die Wahrnehmung des anderen Menschen suchen.

Ob die Tugend nach innen geht in Richtung Seelenentwicklung, oder nach oben in Richtung Entwicklung des Geistes: sie hat nicht nur mit einem selbst zu tun. Bei der Tugend geht es um die Seelen- und Geistesgeschenke, die wir anderen machen. Ferner sind diese Geschenke nichts, was wir schon zur Hand und fertig zum Verschenken haben. Der andere Mensch schenkt uns, dass wir diese Geschenke erst erzeugen müssen, damit wir sie verschenken können. So haben alle Tugenden etwas Polares an sich. So müssen wir zum Beispiel in der Tugend der Geduld Fortschritte machen, und Geduld ist zugleich auch unser geistiges Geschenk an andere. Oder wir müssen in der Tugend des Gleichgewichts Fortschritte machen, und Gleichgewicht ist zugleich auch unser geistiges Geschenk an andere.

Dann gibt es einen weiteren Aspekt: Tugend als Handlungsmodus anderen Menschen gegenüber soll sich nicht an deren unmittelbaren Bedürfnissen orientieren, sondern an der Ebene ihrer Seele und ihres Geistes. So kann es sehr wohl sein, dass das Schenken und Empfangen der Tugend ein unsichtbarer Vorgang bleibt. Zwar tauchen die Wirkungen eines solchen Hin und Her schon in der sichtbaren Welt auf, indem Beziehungen sich allmählich auf niveauvollere, verfeinertere Ebenen hinaufverwandeln; aber diese Wirkungen sind fast immer sehr fein und daher kaum wahrnehmbar.

Der Ausdruck „verfeinertere Ebenen“ bedarf der Klärung. Tugend funktioniert in keiner einfachen Weise; es handelt sich nicht darum, dass meine gütige Behandlung von jemandem dazu führt, dass dieser seine Haltung mir gegenüber verändert und mir im Gegenzug auch Güte bezeigt. Die Schwierigkeit bei einem solchen Denkansatz sowie bei einem entsprechenden Verhalten anderen gegenüber wäre, dass dies rasch zu einer Machtstrategie würde mit dem Sinn und Zweck, ein gewünschtes Ergebnis herbeizuführen.

Tugend funktioniert nicht in dieser Weise; das würde Seelen- und Geistbeziehungen zu materialistischen Ursache-Wirkung-Beziehungen machen. Wir können nicht einfach Tugenden in unser Leben einfügen und auf derselben Bewusstseinsstufe bleiben wie bisher. Lassen wir uns einmal auf die Aufgabe ein, uns in der Tugend zu entwickeln, dann treten wir in einen alchemistischen Prozess ein: Das eigene Seelenleben verwandelt sich in Fähigkeiten um anderen Menschen mit Takt und Grazie, nuanciert und unauffällig zu helfen.

Die Alchemie der Tugend, indem diese in einen Vorgang seelischer Verfeinerung hineingezogen wird, verändert schwierige Situationen nicht im einzelnen, sondern verändert, verfeinert das Funktionieren des Ganzen. Man nehme etwa an, meine Situation am Arbeitsplatz verlangt von mir, dass ich in meiner Beziehung zu einem bestimmten Menschen mich in der Kapazität der Treue weiterentwickele. In dieser Tugend Fortschritt zu machen würde in dem Fall bedeuten, dass ich es unterlasse, meine Ansichten und Meinungen danach einzurichten, was mir im Augenblick am dienlichsten ist und stattdessen die Fähigkeit ausbilde, in Seele und Geist vor dem anderen Menschen fest und unbeirrt anwesend zu sein. Das hieße, ich hätte mich darin zu vertiefen, den anderen so im Sinn zu haben, dass ich eine Empfindung der Verehrung für die Seele dieses Menschen in mir trage. Indem diese Fähigkeit sich bildet, erfährt der Charakter der ganzen Arbeitsgemeinschaft dahingehend eine leichte Veränderung, dass sie seelenvoller wird; wir stellen fest, dass die Menschen anfangen, sich umeinander zu kümmern, anstatt gegeneinander zu konkurrieren.

Während wir einerseits in uns eine Vorstellung von einer jeden und ein inneres Gefühl für eine jede Tugend ausbilden und andererseits auch an deren Ausführung arbeiten, wird das Wesen von Tugend überhaupt klarer. Tugend wird ein Modus, ganzheitlich in der Welt zu handeln. Diese lange Zeit verborgene Sphäre öffnet sich derzeit auch in der breiteren Kultur, wenn auch nur indirekt. Ist es nicht so, dass wo immer wir einen ganzheitlichen Ansatz etwa in der Wissenschaft, der Heilkunst bzw. der Medizin, der Ökologie oder sonst einem Bestreben finden, wir in diesen Bemühungen auch immer eine ihnen innewohnende ethische Dimension finden, die in deren Ausformulierung eine zentrale Rolle spielt? Vielleicht haben die heilenden Eigenschaften, die das ganzheitliche Wissen auszeichnen, mit den Qualitäten der Tugend zu tun, die ja ganzheitlichen Praktiken überhaupt innewohnen. In ganzheitlichen Verfahren kommt etwas hinzu, was über die bloße Erforschung neuer Paradigmen des Heilens hinausgeht. Dieses „Etwas, das hinzukommt“ ist dies: die Seele des Heilenden wird als ein zentraler, für uns wesentlicher Aspekt der Arbeit mit erfasst.

Diese neuen Erkenntnismodi sehen ein, dass der Erkenntnisakt keine neutrale Handlung ist; dass wir nur anhand der Tugend ganzheitlich erkennen können. Eine solche Einsicht hält unsere Erkenntnis nicht etwa für eine subjektive Angelegenheit; ganz im Gegenteil. Das Bewusstsein, dass Tugend hineinspielt sowohl in die Art wie, als auch in das, was wir erkennen, macht uns objektiver, während Unkenntnis dieser Faktoren ein unbewusstes subjektives Element im Zentrum der Erkenntnis zementiert. Das heißt, die Auffassung, dass Erkenntnis ethisch neutral sei, bewirkt entweder, dass die ethische Dimension der Erkenntnis Privatsache bleibt, oder aber dass sie zur Debatte an die Experten, die Ethiker ausgelagert wird.

Wir können uns Tugend als ein so unermessliches wie differenziertes kosmisches Medium vorstellen, durch das es möglich wird, seelische wie auch geistige Beziehungen einzugehen, und zwar nicht nur mit anderen Menschen, sondern auch mit dem menschlichen Leib sowie mit der Naturwelt, also mit der Pflanzenwelt, der Tierwelt und sogar auch mit der mineralischen Welt. Hätten wir nicht eine völlig andere Wissenschaft – eine andere Biologie, Chemie, Medizin, Botanik, Landwirtschaft, Technologie –, wenn man sich diesen Bereichen durch die zwölf Tugenden Gelassenheit, Geduld, Selbstlosigkeit, Liebe, Mitleid, Hingabe, Gleichgewicht, Treue, Höflichkeit, Wahrheit, Mut und Urteilsvermögen nähern würde? Wenn eine Erziehung zur Tugend einen wesentlichen Teil des Prozesses ausmachen würde, durch den man Wissenschaftler oder Forscher oder Lehrer oder Erzieher oder Anwalt wird, dann sähen die Sphären der Forschung und der Praxis ganz anders aus, als sie in den Augen eines Menschen aussehen, der nach dem derzeitigen Stand des jeweiligen Berufes ausgebildet wird.

Bei der Bergung der Tugend aus ihrer Vergessenheit geht es um viel mehr als um das Vorschreiben einer Liste von Dingen, die es zu erledigen gilt und die, wenn sie richtig ausgeführt werden, uns zu ehrenhaften Menschen machen. Es geht darum, das Bewusstsein neu zu betrachten, so dass die Tugend kognitive, emotionale, spirituelle und seelische Handlungen sowie auch unser Verhalten umfasst.

Anscheinend sind die Tugenden innere Qualitäten, die – suchen wir übend uns ihrer bewusst zu werden und sie zu stärken – wir in Verhaltensmodi hereinbringen können, die eine Auswirkung auf andere Menschen haben. Mir ist wichtig, indem ich in dieser Weise über die Tugend rede, vorsichtig und vor einem möglichen Missverständnis auf der Hut zu sein. Dieses Missverständnis wäre die Auffassung, dass die Tugenden, einmal ausgebildet, würden, sie etwas wären, was in der äußeren Welt direkt Veränderungen verursachen kann. Angesichts des wissenschaftlichen und technologischen Weltbilds, in dem wir (noch) leben, ist ein solches Missverständnis nahezu unvermeidlich. Eine Facette dieses Weltbildes ist alles, was in der Welt vorgeht, als Ausdruck von Ursache und Wirkung anzusehen. Aber nichts, was dem Reich der Seele oder dem des Geistes angehört, gehört so der Sphäre von Ursache und Wirkung an, wie diese landläufig verstanden werden. Wir können zum Beispiel nicht behaupten, die Praxis der Geduld werde als Ursache die Wirkung erzeugen, dass andere Menschen einen besser behandeln würden. Ebensowenig können wir behaupten, dass Geduld eine wahrnehmbare Auswirkung auf die Menschen haben werde, die in der Nähe dessen sind, der sie ausführt.

Aber die Sache ist sogar noch komplexer. Die Tugend der Geduld etwa ist von der Gegenwart derjenigen abhängig, die unsere Geduld auf die Probe stellen. Solche Hindernisse gilt es als Teil des Phänomens mit zu erwägen; das heißt, wir müssen uns eine Art kreisförmiger Kausalität vorstellen. Wir brauchen verstockte, sture Menschen, um die Tugend der Geduld auszubilden. Das Gleiche lässt sich entsprechend auch auf alle anderen Tugenden übertragen.

Die Tugenden gehören zu den elementaren Qualitäten menschlicher Existenz, zur Macht der Seele selber. Sie gehören zum grundlegenden, ja definierenden Aspekt dessen, was es heißt, verkörperte Wesen aus Seele und Geist zu sein, die sich dieser menschlichen Existenz bewusst sind und die in der Welt hervorragen und stets zu anderen Menschen in Beziehung stehen. Von den Tugenden können wir sagen, dass sie zu den existentiellen Kategorien des Menschseins gehören. Dieser Ansatz fundiert die Haltung und die Sichtweise der in diesem Buch angegebenen Meditationen über die Tugend. Wenn ich vom Üben der Tugenden spreche, so meine ich nicht das Erlernen einer Fertigkeit, sondern die Einsicht, dass wir daran arbeiten müssen, uns unseres vollen Menschseins bewusst zu sein – das heißt: gegenüber unserem Dasein als Geschöpfe aus Leib, Seele und Geist wach zu sein. Was uns auf unserem Erdenweg mitgegeben wird ist, wie es scheint, weiter nichts als das Potential, Mensch zu sein. Uns obliegt es, dieses Potential umzusetzen. Die Beschreibungen der Tugend, die den Kern dieses Buches ausmachen, sind nicht als Anweisungen zu verstehen, was man tun muss, um ein Mensch zu sein; sie sind Veranschaulichungen unserer potentiell moralischen Existenz.

Ist der Ausdruck „Tugend“ noch brauchbar? Diese Frage mag komisch wirken angesichts der Tatsache, dass ich einen Versuch unternommen habe, nicht nur die Idee der Tugend überhaupt wiederzugewinnen, sondern auch für eine Anzahl spezifischer Tugenden eine Phänomenologie herauszuarbeiten. Ferner bemühe ich mich darum, manche spezifischen Vorschläge zu machen für das Leben der Tugenden in unserer Zeit. Nichtsdestoweniger bleibt es eine fortdauernde Arbeit, die Vorstellung „Tugend“ aus jeglicher veralteten Konfessionalität, Pietät oder aus einem Dogma zu befreien und ihre Vitalität und Energie wiederherzustellen, die in der heutigen Welt Geltung haben können. In vergangenen Zeiten arbeiteten die Menschen gezielt daran, ein tugendhaftes Leben zu führen. Heute hört sich das nicht nur veraltet an; veraltet ist es wirklich.

Wir wissen zu viel über die finsteren Seiten der menschlichen Natur sowie über die Notwendigkeit, die Schattenaspekte der Seele zu durchschauen, als dass wir an Tugendhaftigkeit so glauben könnten, wie sie einstmals aufgefasst wurde. Während es in der Vergangenheit beim Üben darauf ankam, durch Reue und Sühne zu einer Tugend zu finden, die darin bestand, sich bestimmter Handlungen zu enthalten und sich dagegen zu wehren, dass bestimmte Gedanken und Gefühle ins Bewusstsein eindringen, ist heute die Selbstbeobachtung wichtig. Wir müssen in uns die Fähigkeiten ausbilden, nicht nur die subtilsten unserer inneren Zustände und äußeren Handlungen, sondern auch die Verbindung (beziehungsweise das Fehlen einer Verbindung) zwischen diesen zu beobachten, ja sogar die unterschwelligen, fast unmerklichen Folgen unserer Handlungen müssen wir beobachten lernen. Diese Praktiken bilden das neue Feld, auf dem die Tugend wieder aufleben kann.

In diesem Buch habe ich mich weder auf die Idee (beziehungsweise auf ein Ideal) des Tugendhaft-Seins bezogen noch eine solche Idee gefördert. Das Anliegen beim Ausführen der verschiedenen Tugenden ist es nicht, sich selbst in einen tugendhaften Menschen zu verwandeln. Es ist wohl besser, das Unterfangen, bei sich selbst seelische Eigenschaften auszubilden, als einen Weg zur Umwandlung der eigenen Handlungsweisen zu beschreiben. Auch unsere scheinbar altruistischsten Handlungen sind für gewöhnlich mit Selbstinteresse durchsetzt. Diese Beobachtung ist nicht wertend gemeint; die Sache verhält sich vielmehr so: Da die Selbstsucht – sofern sie sich selbst überlassen wird – streng dem Gesetz des Sicherweiterns, des Sichabsetzens von anderen, der Befangenheit in sich selbst gehorcht, so besteht in jedem Menschen das Bedürfnis und der Impuls, das Ego zum echten Interesse an anderen, zur Sorge um die Welt, zur Liebe zum Göttlichen umzuorientieren. In diesem Buch vertrete ich den Standpunkt, dass der Egoismus hauptsächlich deswegen entsteht, weil unser Standard-Bewusstsein, da es nichts Sakrales, nichts Heiliges hat als Beschäftigung, sich von dem eigenen Vergnügen, dem eigenen Fortleben, der eigenen Zunahme völlig in Anspruch nehmen lässt. Eine Neuorientierung tut not.

Das Leben der Tugenden verlangt nicht von uns, dass wir auf unser Ego verzichten, als den psychischen Faktor, der uns allen eine unmittelbar konkrete Empfindung von uns selbst verleiht. In früheren Zeiten war es vielleicht so, dass das Ausführen der Tugend einen solchen Verzicht forderte. Es war, wie wenn die Menschen sich vor dem gerade entdeckten und vom Ego mitgebrachten Gefühl der Selbstbezogenheit fürchteten und sie deshalb die Hoffnung hegten, durch Ausmerzen dieses seelischen Faktors noch vor dessen endgültiger Festsetzung in der Seele, in unschuldiger Ergebung an das Göttliche weiterleben zu können. Allerdings ließ sich diese Hoffnung immer weniger und weniger erfüllen.

Da die Menschen nun die Ego-Dimension des Seelenlebens äußerst sorgfältig ausgebildet haben, haben sie eine andere Aufgabe. Es ist inzwischen hoffnungslos, durch Verzicht auf diesen Faktor eine Verbindung mit der Gnade der Heiligkeit zu erhalten. Unsere neue Aufgabe ist vielmehr die, das Ego zu verwandeln, statt es zu ignorieren, zu eliminieren oder es in der Illusion leben zu lassen, dass es unser ganzes bewusstes Sein ausmache. Eine solche Verwandlung besteht darin, dass wir zulassen, dass unser Egobewusstsein die Seelensubstanz empfängt, die durch Handlungen der Tugend entsteht.

Ich gehe mit den Tugenden um als mit einer Arbeit an der Metamorphose des Egobewusstseins. Der Prozess der Metamorphose funktioniert nicht in Opposition zum Ego; er ist vielmehr ein Weg für unser gewöhnliches Bewusstsein, mehr als nur sich selbst zu umfassen und mit mehr als nur sich selbst erfüllt zu sein. So, wie sich die Puppe in den Schmetterling verwandelt, so kann auch Egobewusstsein sich in ein Seelenbewusstsein verwandeln, das den geistigen Welten gegenüber offen und empfänglich ist. Bei der Puppe bleibt der Abdruck des früheren Zustandes im Körper des Schmetterlings erhalten, nur besitzt der umgewandelte Körper jetzt Flügel. In ähnlicher Weise wird das Ego durch den Prozess der Tugend nicht vermindert, sondern dessen Form verändert, ihm das Fliegen ermöglicht. Der Prozess der Tugend lässt Ego das sein, worauf es vorbereitet wurde und wonach es sich sehnt. Das Ego wird zu einem geistigen Ich, ohne aber wegen der Anziehungskraft der Höhen die Welt verlassen zu wollen. Es sucht alles, was hier ist, in seelenvoller Weise zu erfahren.

1. Die zwölf spirituellen Tugenden

Die Tugenden sind ihrem Wesen gemäß praktisch; haben sie es doch mit dem Guten zu tun und es genügt ja nie, über das Gute bloß nachzudenken oder es zu fühlen; man muss sich mit ihm handelnd auseinandersetzen. Für Platon existierten das Wahre, das Schöne und das Gute als drei Ursphären, es sind großartige Imaginationen, nach denen wir als Menschen streben. Wir richten unser Denken auf das Wahre, unser Fühlen auf das Schöne und unsere Handlungen, unser Wollen auf das Gute. In solchem Streben suchen wir unsere nur-menschliche Art mit der der geistigen Welten zu vereinen. Das Gute ist Gegenstand des Wollens, ist das, nach dessen Vollzug unsere Handlungen trachten, sofern wir aus einer Harmonie des Leibes, der Seele und des Geistes handeln.

Aristoteles hat zwar einen empirischeren Ansatz als Platon, sich den Tugenden zu nähern, ist aber in vielem ein Echo von ihm. In seiner Nikomachischen Ethik sucht er das Gute und gelangt dabei zur Definition: das, worauf wir im Leben zielen, als der Grund, weshalb wir hier sind. Da das Gute in vielfältiger Weise getan werden könne, müsse es ein hauptsächliches Gutes geben, mit dem alles andere, was gut ist, in Verbindung stehen. Dieses Hauptgute nennt Aristoteles Eudaimonia, was sich am besten mit dem schönen Wort „aufblühen“ oder „gedeihen“ übersetzen lässt. Das Hauptgute ist das Aufblühen, das Gedeihen eines harmonischen Lebens von Leib, Seele und Geist.

Welche Art des menschlichen Lebens gedeiht am besten? Für Aristoteles gilt: ein tugendhaftes. Das beste menschliche Leben sei ein Leben herausragender menschlicher Tätigkeit. Im dritten Buch der Ethik wendet er sich der Frage zu, was eine tugendhafte Tätigkeit denn ausmache. Tugenden seien zu allererst Aspekte von „Seele“, deren Haupttätigkeit es sei, unser emotionales Leben zu vermitteln. Eine Emotion wie etwa den Zorn lebe man dann in einer tugendhaften Weise aus, wenn man ihn weder zu heftig noch zu schwach empfinde. Bei der Tugend gehe es um ein Ausdrücken von Emotionen und um ein Handeln auf diese hin, welches die Mitte findet zwischen Extremen. Das Tun der Tugend habe nicht so sehr mit dem zu tun, was getan wird, als damit, wie gehandelt wird. Aristoteles sagt nicht, dass wir nicht tugendhaft seien, wenn wir zornig werden; im Gegenteil: wir seien womöglich gerade dann nicht tugendhaft, wenn wir unseren Zorn nicht zum Ausdruck bringen. Der Tugend sei es nicht darum zu tun, eine Liste von alledem zu machen, was als gut beziehungsweise als schlimm gelte, sich auf jenes zu konzentrieren und dieses zu vermeiden. Dieses zeigt, dass es eine Dynamik der Seele gibt, die einfachen Regeln und Bestimmungen nicht unterliegt.

Man kann sich das Leben in den Tugenden als die Pflege einer Kunst der Seele vorstellen. Den Dreh zu solcher Kunst bekommt man, indem man sie ausführt. Laut Aristoteles eignet man sich die Tugenden im Tun an. Man komme nicht mit ihnen auf die Welt; man erwerbe sie nicht anders, als indem man sie übe. Einer künstlerisch erübten Fertigkeit bedarf es beim Ausführen der Tugend. Und doch muss a priori etwas in der Seele vorhanden sein, was eine einmal wahrgenommene Tugend auch erkennt und sich von ihr angezogen fühlt. Sonst werde man in eine ziemliche Rückentwicklung hineingeraten.

Wenn nämlich die Tugenden von ganz außen kommen, wer ist es denn, der bestimmt, was als Tugend gilt und was nicht? Eine Tugend, die ausschließlich von außen käme, könnte nur sozial oder kulturell bestimmt sein. Wir müssen hier einen behutsamen Pfad betreten. Wann immer wir die Tugend aufgreifen und leben, müssen wir den jeweiligen Kontext berücksichtigen. Keine Handlung, in welchem Zusammenhang auch immer sie verrichtet wird, ist an sich tugendhaft. Eine Handlung zum Beispiel, die wahrhaft gerecht ist, lässt sich nicht in abstrakter Weise bestimmen. Sie muss eine Handlung sein, von der der Handelnde weiß, dass sie in dieser gegebenen Situation gerecht ist; sie muss eine solche sein, die er aus freien Stücken und um der Handlung selbst willen ausführen will und die er so ausführt, dass sie den Charakter seiner Seele ausdrückt.

Wir müssen dadurch einen Freiraum für eine Betrachtung der Tugend schaffen, dass wir sie zum einen von der Ethik und zum andern von den Werten scheiden. Was die Tugend sowohl von der Ethik als auch von den Werten zentral unterscheidet, das ist, dass es der Tugend ausdrücklich um den Zusammenhang mit der Seele geht. Hiermit werden wir uns auch ausdrücklich befassen. Wenn wir das Gute aus dem Innenleben der Seele heraus tun, so erfahren wir in dem, was wir tun, einen aktiven Genuss. Wir empfinden Freude an der eigenen tugendhaften Tätigkeit; sie ist keine Sache der Pflicht oder der Verbindlichkeit, des Befolgens eines ethischen Kodex oder des Gehorchens eines Befehls. Ethik ist ein auf moralischen Pflichten basierender Verhaltenskodex. Werte sind Kern-Glaubenssätze, die Haltungen und Handlungen leiten oder motivieren. Werte sind also nicht zwingend ethischer Art.

Man sehe sich zum Beispiel die faire Behandlung, anderer Menschen an. Fairness kann ein Wert sein, eine Charaktereigenschaft des sozialen Lebens, die emotional wertvoll ist. In solchem Fall handelt man anderen Menschen gegenüber deshalb fair, weil das es ist, was die Gruppe beziehungsweise die Gesellschaft wertschätzt; eine solche Handlung mag mit oder ohne Vergnügen einhergehen. Auch kann Fairness eine Ethik, eine Sache moralischer Pflicht und Verbindlichkeit sein, so hängt sie damit zusammen, was man für recht und unrecht hält. Damit Fairness eine Tugend sein kann, muss sie Ausdruck des Seelenlebens des in fairer Weise handelnden Menschen sein. Solches Handeln birgt eine spezifische Charaktereigenschaft dieses Menschen in sich. Ferner muss dieser Mensch aus freier Wahl so handeln und erfährt dabei Lust, Vergnügen, Freude, und zwar nicht bei dem, was dabei herauskommen könnte, sondern an der Handlung selbst.

Tugendhaftes Tun bringt der Seele also Lust. Wie erlebt man aber seelische Lust? Sie ist nicht dasselbe wie Sinneslust, wie emotionale Lust oder wie die Befriedigung, die wir erleben, wenn unser Handeln von anderen Menschen gebilligt wird; nicht einmal das gute Gefühl, etwas anständig ausgeführt zu haben. Man versuche, sich an eine mutige Tat zu erinnern, die man nur deshalb ausführte, weil sie von der gegebenen Situation verlangt wurde. Man führte sie nicht aus, um gelobt zu werden oder weil sie von einem erwartet wurde; man zog nicht einmal in Erwägung, ob man daraus irgendeinen Gewinn ziehen würde. Die Art der Lust, die mit dieser Tat einhergeht, kann man als Freiheitsgefühl beschreiben; ist es doch, als wäre eine innere Barriere entfernt worden und dass man in vollkommener Übereinstimmung mit demjenigen Menschen handeln würde, der man eigentlich ist.

Ja, in einem solchen Moment entdeckt man mehr als man zuvor gewusst hat von dem, was man als geistiges Wesen ist. Zwar hat die Lust, die mit jeder der Tugenden jeweils verbunden ist, ihre je eigene Qualität; aber die innere Qualität der Freiheit kennzeichnet sie alle.

Wie sollen wir uns der Frage nähern, welche der spezifischen Tugenden wir in Betracht ziehen sollen? Da gibt es die drei theologischen Tugenden von Glauben, Liebe und Caritas; ferner die vier Kardinaltugenden von Weisheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit (Hochsinn) und Mäßigkeit; das sind nicht die Tugenden, die wir behandeln werden. Der Kardinaltugenden bedarf man, um in der Welt edle Taten zu vollbringen. Auf dem Wege der theologischen Tugenden wird uns aus den geistigen Welten Gnade zuteil. Glaube, Hoffnung, Liebe erwerben wir nicht, sondern wir bekommen heraus, wie wir für diese Tugenden offen und empfänglich sein können. Zutreffender ist es zu sagen, dass uns Glauben, Hoffnung und Liebe geschenkt werden, als dass wir sie in uns ausbilden. In der „Göttlichen Komödie“ von Dante etwa begegnen dem Pilger erst dann diese Tugenden, als er im Paradies angekommen ist. Dort wird er auf seine Kenntnisse dieser Tugenden hin geprüft und er erklärt, dass sie Geschenke des Himmels seien.

Von den Kardinaltugenden war die heidnische Welt gekennzeichnet; sie waren das Kennzeichen des höchsten, von einem Menschen zu erlangenden Adels – arete, das heißt Vorzüglichkeit. Die theologischen Tugenden kennzeichneten die Welt des Mittelalters. Sie waren Merkmale der Empfänglichkeit der Menschen für die geistigen Welten. Die Art von Tugend, um die es in diesem Buch geht, sind Handlungen, die die Welt braucht und die unser Tun erheben und so das Getane zu einer Opfergabe an die geistige Welt machen. Die geistigen Tugenden sind eine Art und Weise, unsere Handlungen in der Welt zu spiritualisieren, unser Tun – jedes Tun – zu heiligen.

Die Anzahl der Tugenden ist unterschiedlich und kann sich von der einzigen Tugend der Liebe bis hin zu 545 verschiedenen Tugenden (in einer bestimmten Religion in Indien) erstrecken. Meine Methode festzustellen, auf welche Tugenden konzentriert werden soll, fußt auf drei Überlegungen. Die erste Überlegung leitet sich aus der Wortbedeutung selbst ab. Das englische Wort virtue bedeutet „die Macht beziehungsweise der waltende Einfluss, die einer übernatürlichen oder göttlichen Wesenheit innewohnen, oder: die Einverleibung einer solchen

Macht beziehungsweise eines solchen Einflusses, insbesondere aus der Reihe der himmlischen Hierarchien“; oder: „die Handlung eines göttlichen Wesens“.

Diese im Oxford English Dictionary an erster Stelle stehenden Definitionen gehen den gewöhnlicheren Definitionen der Tugend als Handlungen menschlichen Betragens voran.1 Will man sich eine neue Vorstellung der Tugend bilden, muss man erst historisch durchschauen, dass die landläufigeren Auffassungen dadurch abgetötet wurden, dass sie in das Dogma der einen oder anderen Religion getaucht wurden. Mich interessiert mehr die Ausbildung der geistigen als der konventionell religiösen Art, das Leben der Tugend zu pflegen, weil die geistige Art einzelne Persönlichkeiten dazu einlädt, die eigene besondere Ausdrucksweise ihres Seelen- und Geisteslebens zu finden, anstatt nach vorherbestimmten Verhaltensmustern zu leben.

Eine zweite Überlegung ist die folgende: Zwar kann man in der Regel nicht das Handeln geistiger Wesen wahrnehmen; und doch gibt es im Universum urbildliche Motive, die auf dieses Handeln hinweisen. In urbildlicher Weise können wir uns auch den Tugenden nähern, indem wir den imaginativen – respektive den geistigen – Hintergrund unseres Übens bestimmter Tugenden als Zugang suchen zu den göttlichen Gestaltungen des Kosmos. Es besteht zum Beispiel zwischen den zwölf Sternbildern des Tierkreises und den zwölf Tugenden eine Beziehung. Auf diese Beziehung haben verschiedene Persönlichkeiten hingewiesen; ausgearbeitet wurde sie aber noch nicht.

Helena Petrovna Blavatsky spricht in ihrer Geheimlehre eine solche Beziehung an. Rudolf Steiner bejahte die an ihn gerichtete Frage, ob er dieser von Blavatsky vorgeschlagenen Liste von zwölf Tugenden zustimme und füge hinzu, dass diese zwölf Tugenden auf den großen Eingeweihten Mani zurückgehen. In jüngerer Vergangenheit verfasste Herbert Witzenmann ein kurzes Werk über Die Tugenden auf der Grundlage der Hinweise sowohl von Blavatsky als auch von Steiner. Neuerdings bemühte sich der Astrologe Paul Platt in seinem Werk Qualities of Time um eine phänomenologische Bestätigung des Verhältnisses der zwölf einzelnen Tugenden zu den zwölf Konstellationen des Tierkreises. Mein Werk erweitert diese Bemühungen, verwendet dabei ausschließlich die Benennung der zwölf Tugenden. Die folgenden Kapitel dieses Buches enthalten keine Wiedergabe dieser vorangegangenen Bemühungen, sondern sind ausschließlich das Ergebnis eigener Forschungsarbeit.

Es geht im Wesentlichen nicht um eine wortwörtliche Verknüpfung der Tugenden mit dem Tierkreis, sondern darum, eine auf die Tugend bezogene kosmologische Imagination zu entwickeln. Eine solche Imagination wird uns dazu verhelfen, uns beim Handeln aus der Tugend heraus in harmonischem Verhältnis zum Kosmos zu empfinden. Eine kosmologische Imagination der Tugend wird ferner diese davor bewahren, zu einem zu befolgenden ethischen Verhaltenskodex oder zu einem moralistischen System zu werden, bei dem es gilt, bestimmte Verhaltensmodi durchzusetzen.

Eine weitere Überlegung, wenn man sich über ein Urbild des Tierkreises auf die Tugenden einlässt, betrifft die Beweglichkeit eines solchen Urbilds. Der Jahreslauf ist ein Archetyp des Werdens; wir bewegen uns vom einen zum nächsten Monat, von der einen zur nächsten Jahreszeit, dann kehren wir zum Ausgangspunkt zurück. So sind die Tugenden also keine festgesetzten Verhaltensweisen, sondern ein Pfad der inneren Entwicklung, den wir immer und immer wieder durchlaufen, wobei wir im Lauf des Lebens die eigene Erfahrung dieser Seelenattribute vertiefen und erweitern. Der Tierkreis ist für uns eine Imagination, innerhalb welcher wir diese Arbeit des Vertiefens und Erweiterns ergreifen können; er ist kein System, das irgendwie vorhersagen würde, dass etwa jemand, der unter einem bestimmten Sternbild geboren wurde, von der Vorherrschaft einer bestimmten Tugend gekennzeichnet wäre. Ebensowenig soll diese Imagination einem neuen System astrologischer Deutung dienen.

Wir können uns die Tugenden als zwölf Etappen der Entwicklung denken, nur dass sich diese zwölf Etappen wiederholen, da wir es nicht mit dem Erlernen von irgendetwas Konzeptuellem zu tun haben; wäre das der Fall, so besäßen wir auch schon Klarheit, wenn wir uns einmal den Begriff angeeignet hätten. Durch Tugend werden Emotionen und Gefühle veredelt; das verlangt nicht nur Übung, sondern auch Wiederholung.

Unseren Emotionen ist ein Aspekt eigen, der sehr der Traumsphäre ähnelt. Es kann vorkommen, dass man einen höchst lebhaften und bewegenden Traum hat, den man aber innerhalb von wenigen Stunden vergisst. Das Emotionsleben machen wir in ähnlicher Weise durch. Während wir uns inmitten einer bestimmten Emotion befinden, wird unser Bewusstsein von dieser vollkommen in Beschlag genommen. Nachdem die Emotion aber verklungen ist, fällt es uns in der Regel schwer, genau zu beschreiben, was wir soeben erlebt haben. So entwickelt sich das Emotionsleben also nicht in der Weise, wie etwa das Leben des Intellektes sich entwickelt. Die Tugenden sind keine intellektuellen Begriffe, sondern das Läutern der Emotionen. Daher ist es nicht der Theologe oder der Ethiker, sondern eine Tiefenpsychologie spiritueller Ausrichtung, die spirituelle Psychologie also, an die wir uns wegen Hilfe und Rat hinsichtlich der Ausübung von Tugend zu wenden haben.

Die Entsprechung der Sternbilder des Tierkreises zu den hier zu betrachtenden Tugenden sind die folgenden:

Region

Tugend

Zeit

Widder

Hingabe

21. März – 21. April

Stier

Gleichgewicht

21. April – 21. Mai

Zwilling

Treue

21. Mai – 21. Juni

Krebs

Selbstlosigkeit

21. Juni – 21. Juli

Löwe

Mitleid

21. Juli – 21. Aug.

Jungfrau

Höflichkeit

21. Aug. – 21. Sept.

Waage

Gleichmut

21. Sept. – 21. Okt.

Skorpion

Geduld

21. Okt. – 21. Nov.

Schütze

Wahrheit

21. Nov. – 21. Dez.

Steinbock

Mut

21. Dez. – 21. Jan.

Wassermann

Urteilsvermögen

21. Jan. – 21. Feb.

Fische

Liebe

21. Feb. – 21. März

Meine Bezeichnungen dieser zwölf Tugenden unterscheiden sich in vier Fällen von den durch die oben erwähnten Persönlichkeiten vorgenommenen Bezeichnungen. Anstelle der dem Tierkreisbild des Wassermanns zugeordneten Tugend, die bei Blavatsky „Verschwiegenheit“ heißt, verwende ich den Ausdruck „Urteilsvermögen“. Das tue ich deshalb, weil die in meditativer Stille sich abspielende Haupttätigkeit mir eben Urteils- oder Urteilsvermögen zu sein scheint. Ferner werden durch Rudolf Steiner die zwei miteinander verknüpft. Verschwiegenheit ist keine Tugend an sich; das, was sich innerhalb ihrer abspielt, kann eine Tugend sein. Außerdem ist Urteilsvermögen eine der Haupteigenschaften des Sternbildes des Wassermanns, nämlich zwischen verschiedenen spirituellen Vorgängen zu unterscheiden.

Eine zweite Abweichung meinerseits von meinen Vorgängern ist die, dass ich den Ausdruck „Treue“ statt des ursprünglich angegebenen Ausdrucks „Ausdauer“ verwende. Selbstverständlich sind die zwei miteinander verwandt. Aber „Treue“ spielt auf einen spirituelleren Aspekt an, als „Ausdauer“. Eine dritte von mir vorgenommene Veränderung ist die, dass ich den Ausdruck „Gleichmut“ statt „Zufriedenheit“ verwende. „Zufriedenheit“ vermittelt nicht besonders gut die Eigenschaft des Tätigseins.

Die vierte Veränderung ist die, dass ich den Ausdruck „Wahrheit“ statt „Kontrolle des Sprechens“2 verwende.

Letzterer Ausdruck ist sperrig und gibt den Eindruck, als wollte er die Art vermitteln, wie man die Wahrheit zum Ausdruck bringen soll. Ferner wird „Wahrheit“ auch von Astrologen dem Tierkreisbild des Schützen zugeordnet.

Betonen möchte ich, dass alle vorhergehenden Schriften, die von den Tugenden handeln, auf einen Bericht zurückgehen, wonach Rudolf Steiner eine Liste gegeben worden sei, die angeblich dem Werk der H. P. Blavatsky entstamme. Der Mensch, durch der Steiner diese Liste gegeben worden sei, habe ihn gefragt, ob sie auch stimme. Steiner soll diese Frage bejaht und dabei gesagt haben, dass das Praktizieren der Tugenden zu bedeutenden Veränderungen im Seelenleben führen würde. Da also Steiner meines Wissens nie Vorträge über die Tugenden gehalten und sich auch nie schriftlich über sie geäußert hat, besteht reichlich Freiraum für die Art, wie sie dargestellt werden. Es geht bei dieser Darstellung um fortdauerndes Forschen. Bei meinen eigenen Bezeichnungen stütze ich mich auch auf die ausführliche Lektüre astrologischer Texte und auf die Eigenschaften und Attribute eines jeden der Tierkreiszeichen.

Es muss noch eine weitere Bemerkung gemacht werden mit Bezug auf das, was Steiner zu den zwölf Tugenden geäußert hat. Er sagte, das Üben der Tugenden führe zu sehr spezifischen Veränderungen im Seelenleben, und er nannte die mit jeder Tugend verbundene Veränderung:

Ehrfurcht wird zu Opferkraft

Inneres Gleichgewicht wird zu Fortschritt

Ausdauer wird zu Treue

Selbstlosigkeit wird zu Katharsis

Mitleid wird zu Freiheit

Höflichkeit wird zu Herzenstakt

Zufriedenheit wird zu Gelassenheit

Geduld wird zu Einsicht

Gedankenkontrolle wird zu Wahrheitsempfinden

Mut wird zu Erlöserkraft

Verschwiegenheit wird zu Meditationskraft

Großmut wird zu Liebe

Wohin aber das Praktizieren der Tugenden in der Seele führt, das hängt von klarem Verständnis sowie von einem Gespür für die Tugenden selbst ab. Es gilt, die Bemühung auf solches Verständnis und solches Gespür auszurichten und nicht darauf, was für spirituelle Fortschritte sich ergeben könnten. Ich kenne eine Reihe von Anthroposophen, Anhänger von Rudolf Steiner, die ein Kärtchen bei sich führen, auf dem alle Tugenden und deren Verwandlung in neue Eigenschaften stehen. Ich bat einst einen Arzt, der anthroposophische Medizin praktizierte und ein solches Kärtchen herausgezogen hatte, um es mir zu zeigen, mir eine einzige der Tugenden zu beschreiben; er vermochte dies nicht. Verständlicherweise habe ich mich nicht getraut, ihn zu fragen, was mit der Seelenentwicklung gemeint ist, die sich aus den Tugenden ergibt. Wir brauchen eine sorgfältige Phänomenologie dieser neuen Tugenden zusammen mit Anregungen dazu, wie man mit ihnen arbeiten kann und wie sie den Eingang in unsere alltäglichen Handlungen finden können.

Das Verfahren dieses Buches besteht darin, einleitend eine kurze Beschreibung einer jeden der oben angeführten zwölf Tugenden zu geben. Die darauf folgenden zwölf Kapitel führen dann die Phänomenologie jeder einzelnen Tugend aus. Danach werden einige spezifische Ratschläge zu Arbeitsmethoden im Umgang mit den Tugenden gegeben, zusammen mit einer Betrachtung des Wesens der Tugend überhaupt. Die Herausforderung bei diesen Beschreibungen wird darin bestehen, zu einem möglichst adäquaten Ansatz der Sprachfindung zu kommen. So gilt es, eine Sprache zu finden, die eine solche der Seele ist, hat man es doch bei der Tugend mit der Erziehung der Seele zu tun. In diesen zwölf Kapiteln schwankt die Sprache erheblich im Stil, da sie auch darum bemüht ist, je eine Sprache für ein jedes der Tierkreisbilder zu sein. Die Sprache des Wassermanns zum Beispiel ist zwingend eine abstraktere als die des Stiers.

Wenn wir uns den Tierkreis als ganzen Kreis vorstellen und zugleich auch versuchen, eine einzelne Region als für sich bestehend und dennoch als diesem Ganzen zugehörig, so ist es möglich zu fühlen, dass die eine Tugend von den übrigen nicht zu trennen ist. Es entsteht ein weiteres Gefühl: dass nämlich diese Tugenden als Ganzes genommen benennbar sind, genauso wie die Tugenden des Glaubens, der Hoffnung, der Caritas die theologischen Tugenden heißen, da es sich bei ihnen um die Tugenden handelt, die nötig sind, wenn man sich Gott nähern will. In ähnlicher Weise heißen die Tugend der Weisheit, Gerechtigkeit, Mäßigung und des Starkmuts die Kardinaltugenden, weil es sich bei ihnen darum handelt, unsere sittlichen Beziehungen zu anderen Menschen auszubilden.

Die oben angeführten zwölf Tugenden könnte man die spirituellen Tugenden nennen, sofern man sie durch die Imagination des Tierkreises – diese große Umarmung des Kosmos – sieht. Das Hauptanliegen dieser noch zu betrachtenden zwölf Tugenden ist, dass sich der Mensch darin übt, die eigenen fortdauernden Verbindungen zur spirituellen Realität zu finden und sich zugleich in die praktischen Handlungen des Alltags voll einzubinden.

Dieses Üben zielt auf das allmähliche Entstehen einer Gemeinschaft irdischer Wesen und helfender geistiger Wesen. Zwar bringen Versuche, intentionale Gemeinschaften zu bilden oder gezielt als die eine oder die andere Gemeinschaft zu leben, eher wenig. Was ich aber hier nahelegen möchte, ist dies: wenn wir uns aktiv auf die Tugenden einlassen, und zwar auf diejenigen, welche die geistige und die menschliche Welt als Ganzheit zusammenhalten, könnte der Fall eintreten, dass wir uns selbst als eine lebendige Gemeinschaft vorfinden. Indem wir uns also zu einer Beschreibung der zwölf Qualitäten des Ganzen anschicken, tun wir dies mit der Frage im Sinn, was eine gedeihliche Gemeinschaft denn ausmacht.

Ehrfurcht

Indem wir uns in die jeweilige Imagination einer Tugend hineinbegeben, müssen wir uns vor dem Impuls bewahren, die Gefühls-Stimme der Tugend als Erstes zu erkennen, noch bevor wir sie gefühlt haben; sonst wird diese Stimme übertönt. Eine Imagination ist kein statisches Bild, keine abgeschlossene Erkenntnis, sondern die Tätigkeit der Seele beim Erschaffen eines Bildes. Nur weil „die Ehrfurcht“ als statisches Wort dasteht, heißt das nicht zwingend, dass man sie verbildlichen kann. Als Wort lässt sie sich zwar definieren; sie zu verbildlichen geht aber nicht ohne Weiteres.

Als Hilfe zum Bilden einer Imagination beginne man damit, dass man die Position der Ehrfurcht auf dem Tierkreis zwischen Liebe und Gleichgewicht zur Kenntnis nimmt. Liebe geht der Ehrfurcht voraus und aus Ehrfurcht geht Gleichgewicht hervor. Die Ehrfurcht setzt Liebe voraus und nimmt das Gleichgewicht vorweg. Eine Eigenschaft der Tiefendimension der Liebe ist die Beständigkeit, und von dieser Beständigkeit hängt die Ehrfurcht ab: Das Praktizieren der Ehrfurcht hat nämlich mit dem Entwickeln der Fähigkeit zu tun, beständig, fortdauernd, ausgewogen – anstatt in sporadischer Weise – zu lieben. In der Ehrfurcht gehen wir an alles heran, was wir tun, gehen auf jeden Menschen ein, mit dem wir es zu tun haben, als ginge es um etwas Sakrales und Heiliges. Die Praxis dieser Tugend erfordert eine ganz bestimmte Art von Aufmerksamkeit, von Fokus, von Konzentration: die Konzentration der Liebe.

Jede Tugend lässt sich als Ausdruck ihres Exzesses und ihres Mangels betrachten. Diese zwei Eigenschaften sind der Schatten einer jeden Tugend, und es gilt, uns dieser Exzesse und Mängel in uns selbst genau anzusehen (vergleiche Kapitel 14). Solche Eigenschaften lassen sich nicht verleugnen, von ihnen dürfen wir uns nicht abwenden, als gäbe es sie nicht, denn dann fallen sie als Zwanghaftigkeit wieder auf uns zurück. Andererseits müssen wir uns diese nachteiligen Eigenschaften ansehen, ohne uns mit ihnen zu identifizieren. So ist zum Beispiel der Schatten der Ehrfurcht auf der Seite des Exzesses die Boshaftigkeit. Der Schatten dieser Tugend auf der Seite des Mangels ist die Unfähigkeit, die Liebe gebündelt auf ein bestimmtes Ziel gerichtet zu halten. Wenn wir die eigene Boshaftigkeit nicht durchschauen, kann die Ehrfurcht keine reelle, verkörperte Kraft besitzen. Durchschauen wir nicht die eigene Oberflächlichkeit, so wird unsere Ehrfurcht keine Breite besitzen.

Gleichgewicht

Um die Tugend des Gleichgewichtes erleben zu können, müssen wir im Begriff sein, uns in die Zukunft hineinzubewegen, und zwar seelisch wie auch geistig. Auch im Bereich des physischen Lebens kommt das Gleichgewicht ins Spiel, nämlich dann, wenn wir beim Gehen/Laufen zum „nächsten Schritt“ ausholen. Im Bereich des Geistigen ist ein geeignetes Bild für den Augenblick des Gleichgewichts der Kreuzungspunkt einer Lemniskate. Diese Imagination verbildlicht den Punkt, an dem sich zwei geistige Faktoren konzentrieren: zum einen die Anstrengung unsererseits um geistige Entwicklung, zum anderen die Anwesenheit einer spirituellen Realität. Letztere erschließt sich uns nach ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit und nicht danach, wie hart wir an uns arbeiten, um es zu einer authentischen spirituellen Erfahrung zu bringen. Die Tugend des Gleichgewichts betrifft die Fähigkeit, sich ohne Mühe an diesem Kreuzungspunkt zu konzentrieren. Die eigenen persönlichen Bemühungen in Richtung spiritueller Entwicklung müssen mit der Gnade vollkommen im Gleichgewicht sein, die aus der geistigen Welt uns zuteil – oder eben nicht zuteil – wird.

Die Tugend des Gleichgewichts spiegelt sich auch im alltäglichen praktischen Leben. Einerseits bringen wir einer Situation unsere Bemühungen entgegen, um diese Situation zu beeinflussen; andererseits verlangt diese Situation das, was ihrer eigenen inneren und oft geheimnisvollen Ordnung entspricht. Mit der Beziehung zwischen unseren eigenen Bemühungen und dem, was die Sache selbst erfordert, hat die Tugend des Gleichgewichts zu tun. Funktionsstörungen des Gleichgewichts zeigen sich häufig entweder als Versuche, einer Situation die eigenen Ansprüche aufzudrängen oder aber als die Unfähigkeit, überhaupt handeln zu können, also als eine Art Apathie oder Schwerfälligkeit.

Das Ausbilden der Tugend des Gleichgewichts geht so vor sich, dass man sich aus den ständigen Schwingungen des mentalen Lebens hinaus- und in die rhythmische Bewegung des Herz-zentrierten Gefühlslebens hineinbegibt. Man findet dabei auch das genaue Verhältnis zwischen Angelegenheiten des Verstandes und denen des Herzens. Zwar ist das Gleichgewicht als Tugend nur im Rhythmus des Herzens zu finden; das bedeutet aber nicht, dass man das Denken dann aufgibt, wenn man in diese rhythmische Region hineintritt. Die Priorität setzt man allerdings neu. Mit was für einer Arbeit man es hier zu tun bekommt, davon vermittelt der Standort des Gleichgewichts im Tierkreis zwischen Ehrfurcht und Treue ein Bild. Gleichgewicht verlässt sich auf die Ehrfurcht des Herzens und zieht die Ausbildung der Treue – beziehungsweise die Verpflichtung gegenüber dem Weg des Herzens – nach sich.

Treue

Bei der Treue als Tugend geht es zuallererst um Treue gegenüber dem eigenen Seelen- und Geistesleben. Ziemlich häufig verlieren wir das konkrete Erleben von Seele und Geist. Treue besteht nur dann wahrhaftig, wenn sie der Abwesenheit abgetrotzt wird. Wenn ich etwa von jemandem als von einem treuen Freund rede, so meine ich, dass dieser Mensch jemand ist, der mich nicht im Stich lässt; jemand, der sich allem stellt, was die Umstände auch herbeiführen mögen; jemand, den ich auch dann bei mir finde, wenn ich mit Schwierigkeiten konfrontiert werde. Ein solcher Freund ist aber wahrhaft treu, wenn seine Anwesenheit nicht erzwungen und keine Sache der Pflicht oder der Verbindlichkeit ist.

Der Belang der Tugend der Treue für unsere Seele und unseren Geist ist der, dass wir immer in ihnen und für sie stehen, egal ob wir sie gerade konkret erleben oder nicht. Treu sein heißt ferner, dass wir für diese Reiche der Seele und des Geistes anwesend und für sie da sind; Treue ist etwas, was wir für diese tun, und nicht für uns selbst. Es mag die Behauptung vielleicht befremdlich klingen, dass die Welten der Seele und des Geistes von unserer aktiven Aufmerksamkeit abhängig sind; genießen sie doch in der Tat ein unabhängiges, autonomes Dasein. Und doch ist jeder individuelle Mensch ein Teil dieses Daseins. Unsere Einzelseele ist ein Tropfen in der Seele der anima mundi und unser Geist ein Tropfen im Geist des spiritus mundi. So ist die Aufmerksamkeit, die wir auf unsere Seele und unseren Geist richten, eigentlich etwas, was auf diese größeren Reiche gerichtet ist; wir haben teil an ihnen und unterhalten sie mit. Was ich hier behaupten will, das ist, dass es nicht eigentlich möglich ist, im eigenen Leben die Tugend der Treue – einem anderen Menschen, einer Organisation, einer Arbeit gegenüber – zu praktizieren, es sei denn, wir sind zuallererst im Reich der Seele und des Geistes treu. Möglich ist es allerdings, beständig zu sein, sich selbst aus Pflicht dazu zu zwingen, konsequent und gewissenhaft anwesend zu sein. Die Treue geht aber über die Beständigkeit hinaus, da sie ein wesentliches Element der Spontaneität enthält. Nicht aus Verpflichtung bin ich treu; so muss also Treue etwas wesensgemäß Kreatives und in Freiheit Gegründetes sein.

Angenommen ich gehe eine Beziehung ein; sie mag persönlicher und intimer Art sein, oder auch von der Art, wie sich Beziehungen mit der alltäglichen Arbeit gestalten. Wie würde ich in dieser konkreten Beziehung die Tugend der Treue praktizieren? Es kann nicht bloß um eine Verpflichtung gehen, darum, dass ich mir vornehme, in der eigenen Verpflichtung niemals zu schwanken, komme was wolle. So kann keine Beziehung gedeihen. Treue entsteht im Handeln selbst. Treue muss also jeden Augenblick geschaffen werden, um überhaupt existieren zu können. Wir müssen uns nicht jeden Augenblick dieses Schaffens bewusst sein; aber schon ein wenig Achtsamkeit auf diese Kreativität, welche der Philosoph Gabriel Marcel „kreative Treue“ genannt hat, verwandelt die Last der Verpflichtung in die Freude der Treue.

Selbstlosigkeit

Die Tugend der Selbstlosigkeit liegt zwischen dem Exzess der Selbstaufgabe und dem Mangel am Zentriertsein im Selbst. Bei der Selbstaufgabe erleidet man einen Totalverlust der eigenen Grenzen, was die Möglichkeit eröffnet, dass man von den Bedürfnissen und Wünschen anderer in Beschlag genommen wird, während der in Beschlag Genommene sich einbildet, er würde tatsächlich dienen. Nach einer Weile wird derjenige, der in dieser Weise anderen gedient hat, komplett verwirrt und empfindet eine innere Leere. Wenn man andererseits bei allem, was man tut, stets sich selbst in den Mittelpunkt stellt, indem man absichert, dass für einen selbst ein Vorteil dabei herausspringt, geht der Mensch beziehungsweise die Institution, der in dieser Weise „gedient“ wird, leer aus.

Die Tugend der Selbstlosigkeit zu erreichen ist nicht leicht. Vieles von dem, was wir für andere tun, pflegt entweder eigenen Zwecken zu dienen oder von dem genauso egoistischen Bedürfnis nach Anerkennung durch andere Menschen motiviert zu sein. Der Weg an diesen zwei Gefahren vorbei verlangt nicht von uns, dass wir nach Egolosigkeit streben. Stattdessen muss dem Ego eine sakrale Aufgabe erteilt werden. Unser Ego rafft deshalb so gierig alles auf, was es für sich bekommen kann, weil es für gewöhnlich das nicht hat, was es braucht, nämlich eine Anbindung an etwas Heiliges. In Abwesenheit dieser Verknüpfung versucht unser Ego, alles in die Hände zu bekommen – Macht, Stellung, Status, materielle Gegenstände –, und da nichts von alledem befriedigend ist, verstrickt sich unser Ego darin, immer und immer wieder dasselbe auszuprobieren.

Die Entwicklung der Tugend der Selbstlosigkeit beginnt damit, unser Ego auf unser Selbst hin zu orientieren, und zwar auf uns selbst in unserer Eigenschaft als Geist. Wenn zum Beispiel jemand mit dem meditativen Üben beginnt, ist dies ein Sichorientieren des Egos zum Selbst hin. Hat er einmal diese Aufgabe aufgegriffen – und das erfordert Wiederholung und Disziplin –, so vermag das Selbst seine Arbeit in der Welt zu verrichten, sein Verlangen zu erfüllen, nämlich zu dienen.

Der Standort der Selbstlosigkeit im Tierkreis nach der Treue und vor dem Mitleid zeigt uns mehr bezüglich dieser Tugenden: Die Grundlage der Selbstlosigkeit muss die Fähigkeit sein, sich in schöpferischer Weise an anderen Menschen zu orientieren und muss sich auch auf die Erfahrungen anderer Menschen so einlassen können, wie wenn diese Erfahrungen die eigenen wären.

Mitleid

Mitleid hat als Tugend einen eingeschränkteren Sinngehalt als es der Zentralaspekt im Buddhismus besitzt. Auf diese eingeschränktere Bedeutung habe ich schon angespielt, indem ich dem Ego einen wichtigen Stellenwert in der Ausbildung der Tugend eingeräumt habe. Daher verlässt sich Mitleid hier nicht darauf, das Ego für Illusion zu halten, wie es in der großen Tradition des Buddhismus geschieht. Wohl verlangt Mitleid aber, dass das Leben und Wirken zusammen mit anderen Menschen und mit der Welt nicht so sehr aus dem Verstand heraus als aus dem Zentrum des Herzens geschieht. Dabei wird der Verstand beziehungsweise das Denken allerdings nicht ausgeschaltet, sondern wird vielmehr zu einem Fühlen-Denken. So kann man sehen, dass die Tugend der Selbstlosigkeit eine Art Vorbedingung des Mitleids ist; das Ego ist mit der sakralen Aufgabe beschäftigt, die Verbindung zu unserem Geist aufrechtzuerhalten und lässt so das Denken frei, damit dieses eine intime Beziehung zum Herzen eingehen kann.

Mitleid hat mit dem Fühlen der Gedanken, Gefühle, Freuden und Leiden anderer Menschen sowie mit denen der Dinge der Welt zu tun, als ginge es um die eigenen. Ich will Mitleid über ein Verhältnis mit anderen Menschen hinaus auch auf die Tier-, die Pflanzen- und sogar die mineralische Welt erweitern; indem ich das tue, stelle ich mich in die Tradition des anima mundi, einer Tradition, die bis Plato und gewiss noch weiter zurückreicht und die alles in der Welt als beseelt ansieht. Ferner werde ich bei eingehender Betrachtung dieser Tugend zeigen, dass es ohne einen solchen größeren, inklusiveren Sinn des Mitleids nicht möglich ist, für einen anderen Menschen – im engeren Sinn also – Mitleid zu fühlen.

Ein weiterer Aspekt des Mitleids betrifft die Weise, wie diese Tugend agiert. Sie ist nämlich nicht nur ein Gefühl, das man für andere hat; sie ist vielmehr etwas, was man für andere tut: eine Tätigkeit radikaler Empfänglichkeit mit reeller Auswirkung in der Welt. Und während es ohne Weiteres nachzuvollziehen ist, inwiefern das Fühlen des Leides anderer Menschen tatsächlich eine tugendhafte Handlung sein kann, obliegt es uns außerdem zu zeigen, wie diese Handlung ausgedehnt werden muss auf Menschen, die gar nicht zu leiden scheinen. Können wir für den Tyrannen Mitleid empfinden, oder für den Arbeitskollegen, der sich ausschließlich mit dem eigenen Vorankommen zu beschäftigen scheint, oder für die Menschen um uns herum, die für uns gar keine oder gar feindselige Gefühle zu zeigen scheinen?

Höflichkeit

Bei der Tugend der Höflichkeit geht es darum, die eigenen Emotionen zurückzuhalten; nicht sie zu unterdrücken oder zu leugnen, sondern Raum zu lassen, damit das Seelenleben des anderen Menschen zum Ausdruck kommen kann.

Das Wort „Höflichkeit“ (Englisch courtesy) ist dem Ausdruck „jemandem den Hof machen“ (Englisch to court)3 verwandt, was darin besteht, die Anwesenheit eines anderen Menschen zu ehren beziehungsweise in äußerlich sichtbarer Weise diesen Menschen als ein aus Seelen- und Geistsubstanz bestehendes Wesen anzuerkennen.