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Liebevoll, pädagogisch unkonventionell und so gar nicht schulmeisterlich geht Horst Schultze im seinen Geschichten auf die Sehnsucht der Kinder ein. Bei allem Phantatischen und Fabulösen, die die von ihm gezeichnete Welt so liebevoll macht, halten sich aber auch Vernunft und Glauben an den gesunden Menschenverstand die Waage. Das Buch beinhaltet 19 Geschichten für Kinder im Alter von sieben bis zwölf Jahren. Die Geschichten haben abenteuerlichen Charakter und handeln teilweise in der Heimat des Autors. Aber auch geschichtliche und wissenschaftliche Aspekte werden beschrieben. Auf jeden Fall können Kinder aus den gewaltfreien Geschichten lernen, ohne dass der pädagogisch erhobene Zeigefinger im Vordergrund steht.
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Seitenzahl: 373
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Die Macht der Wünsche
Der Fischbringer
Die Kummerrose
Was Heli erlebte
Die alte Stadt
Die blaue Blume
Die Geschichte der Prinzessin Nora von der Burg Eisenhardt
Die Geschichte von Habakuk Schmauch
Die kleine Dampflok
Eine Winterwunderweihnachtsgeschichte
Nora und der Vogel mit den roten Beinen
Nora und Heli auf Abenteuerreise
Noras Abenteuer im Wald
Prissi das kleine Gespenst
Das Schneeglöckchen Nora
Das Lindenblatt
Der gelbe Stein
Ein Diamantenabenteuer
Wo wohnt die Sonne?
Anhang
FÜR NORA HELENA
VERGISS DEN GLAUBEN
AN DIE WUNDER DER KINDHEIT NICHT
UND DIR WERDEN IM LEBEN
VIELE WUNDER BEGEGNEN,
AN DIE DU DANN GLAUBST
Als Annika erwachte, lag sie zu Hause in ihrem Bett und die Sonne schien schon hell durch das Fenster. Es würde bestimmt ein schöner Tag werden. Leider waren die Ferien fast vorüber. Aber Annika hatte so viel erlebt, dass ihr die Ferienwochen wie ein paar kurze Tage erschienen. Sie hatte gemeinsam mit ihren Eltern so manchen schönen Ausflug unternommen und dabei Dinge neu entdeckt und gelernt, die sie vorher noch nicht wusste oder kannte. Aber ganz besonders ihre Abenteuer mit Namo und Taso! Die waren phantastisch, einfach unglaublich, geheimnisvoll und unbeschreiblich schön. War es Wahrheit, war es Traum? Wer kann es wissen, wer will darüber entscheiden?
„Annika, steh endlich auf! Es ist schon spät. Du hast nur noch ein paar Tage Ferien und musst dich so langsam auf das neue Schuljahr vorbereiten. Hefte und Bücher müssen vorbereitet werden, und es gibt noch allerhand zu tun. Vor allem musst du dein Zimmer noch aufräumen“, rief ihre Mutter aus der Küche.
„Ja Mutti, gleich“, antwortete Annika und stöhnte. Sie stand aber doch noch nicht gleich auf. Sie dachte an Taso und Namo. Wie würde es den beiden gehen? Würde sie ihre besten Freunde aus der Kinderzeit jemals wiedersehen und...?
1
Es war einmal ... Halt! So fangen ja immer die Märchen an. Aber das, was hier erzählt werden wird, ist ja kein Märchen, sondern es ist eine Geschichte. Eine Geschichte, die sich in längst vergangener Zeit ereignete, aber eben doch eine Geschichte und kein Märchen. Deshalb fange ich also noch einmal von vorne an. Und diesmal nun so:
Das Folgende begab sich vor sehr, sehr langer Zeit als das Wünschen oftmals noch geholfen hat, und die guten sowie auch die bösen Geister, Feen und Hexen gemeinsam mit den Menschen zusammen auf der Erde lebten. Manchmal lebten sie im Verborgenen, manchmal aber auch einfach nur so inmitten aller anderen Menschen. Auf den ersten Blick waren sie nicht immer gleich zu erkennen und, besonders die Bösen, verstanden es, sich sehr gut zu verstellen. Das, mein liebes Kind, ist ja auch heute noch so.
Mit den Guten aber hat es heute eine ganz besondere Bewandtnis: Davon gibt es leider nicht mehr viele, und weil die Bösen auf der Welt in der Mehrzahl sind, müssen sich die Guten in Acht nehmen und ständig auf der Lauer sein. Nur ganz selten gelingt es ihnen noch, den Menschen zu helfen und Gutes zu tun. Aber egal ob gut oder böse, es ist nie gut, wenn irgendjemand Macht und Einfluss auf andere Menschen hat. Irgendwann wird dann auch das Gute zum Bösen. Jeder Mensch muss aus sich selbst heraus Gutes tun und daran glauben.
Und vor allem eines ist ganz wichtig. Bewahre dir dein Wissen und deinen Glauben an die Wunder und den Glauben daran, dass deine Wünsche in Erfüllung gehen; bewahre dir deine Hoffnungen. Denn nur mit Hoffnungen und Wünschen kann man sich auch seine Phantasie erhalten. Glaube an alles Gute in der Welt. Menschen ohne Hoffnungen, Wünsche, Liebe und Wissen sind sehr leicht zu beeinflussen und zu manipulieren. Diese Menschen können von Machtbesessenen sehr leicht beeinflusst werden und verlieren ihre eigene Persönlichkeit und damit ihr ganzes eigenes Ich und ihr eigenes Wollen und Sein. Strebe danach, alles zu erfragen und bilde dir dann deine eigene Meinung, die dein Wissen und Glauben beinhaltet. Bewahre dir deine Kindheit!
Aber ich will ja von einer Zeit erzählen, als das Wünschen oftmals noch geholfen hat und die guten Feen den Kampf mit den bösen Hexen fast immer gewannen.
Die Geschichte in dieser Zeit hat sich wirklich ereignet. Sie hat sich so zugetragen, wie ich sie dir hier erzähle. Ich war dabei. Du glaubst es nicht? Ja, ist es denn möglich? Du glaubst mir also nicht! Dann, mein Kind, setz dich einmal in deinen bequemsten Sessel oder leg dich an einem besonders warmen und hellen Sommertag ganz allein auf eine schöne grüne Wiese mit vielen bunten Blumen, schließe die Augen und sei ganz still. Denk an gar nicht und fühle dich einfach nur wohl. Glaube mir: Es wird nicht lange dauern und du wirst die Zeit, von der ich dir erzählen will, und die Menschen, die in der Geschichte vorkommen, sehr bald sehen und hören. Ja, du wirst sogar mit ihnen die Geschichte erleben und – wer weiß – vielleicht begegnen wir uns auch in dieser Geschichte, in dem Abenteuer, das sich vor langer, langer Zeit ereignete. Wünsche dir einfach, du wärst in diese Zeit, und du wirst den Menschen von damals begegnen. Den Menschen von damals mit all ihren Hoffnungen, Wünschen und Träumen. Aber auch mit ihren Sorgen, Ängsten und Nöten. Und vielleicht kannst du ja sogar mit ihnen das Abenteuer erleben, bestehen und ihnen helfen. Glaube ganz fest an all die schönen Dinge, und das Abenteuer kann beginnen.
2
In dem Land, von dem ich erzählen will, lebten ein Junge und ein Mädchen. Dieses Land war gar nicht so weit weg, sondern es war genau hier, wo du heute lebst. Und natürlich lebten sie in dem Land nicht allein, sondern mit vielen anderen Menschen zusammen. Sie hatten auch Mutter und Vater, mit denen sie zusammen lebten. Aber hier beginnen schon die Besonderheiten. Diese beiden Kinder kannten sich zu der Zeit, in der meine Geschichte beginnt, noch nicht. Das Land war klein, und der Junge lebte an einem Ende des Landes und das Mädchen am anderen. Aber ihre Eltern, die kannten sich ganz genau und wussten so manches von einander. Denn die Mutter des Mädchens war die weise Fee des Tages und der Vater des Jungen der hinterlistige Zauberer der Nacht.
Die weise Fee war vom ersten Sonnenstrahl am Morgen bis zum letzten Abendrot unablässig und fleißig unterwegs und half den Menschen, wo immer sie nur konnte und es ihr möglich war. Waren Menschen erkrankt, so halfen ihr ihre Kenntnisse in der Natur und sie suchte für sie heilsame Kräuter im Wald und auf dem Feld. Diese brachte sie den Kranken und kochte Tee oder legte ihnen Umschläge an. Mit einem weisen, aber geheimen Spruch, den nur sie kannte, unterstützte und verstärkte sie noch die heilsame Wirkung, und es dauerte manchmal gar nicht lange, so wurden die Kranken wieder gesund. Anderen Menschen, die durch die Habgier und Gewinnsucht von Wucherern und Ausbeutern in Not und Elend geraten waren, half sie, indem sie sich ihren besonderen und wundersamen Blick zu Nutze machte und verborgene und geheime Schätze suchte und fand. Davon gab sie den Bedürftigen, so dass die armen Menschen bald wieder ohne Sorge leben konnten. Ebenso half sie wiederum den Menschen, die unbedingt eine ganz besondere Arbeit erledigen mussten, es aber nicht gut verstanden. Da die weise Fee in allen Dingen sehr gut Bescheid wusste, schickte sie ihnen des Nachts Träume, in denen ihnen die Lösung des Problems gezeigt wurde. Und am nächsten Morgen wussten sie, wie sie die Arbeit gut erledigen konnten. Natürlich half sie auch den Tieren und Pflanzen immer dann, wenn es ihr möglich war.
Aber eines konnte sie nicht. Es war ihr nicht möglich, die bösen, habgierigen und ungerechten Menschen zu bestrafen. Sie konnte keinem Menschen ein Leid zufügen und so natürlich auch den bösen nicht. Und das freute den hinterlistigen Zauberer der Nacht ganz besonders. Das nutzte er aus und suchte seine Vorteile darin. Immer dann, wenn er die Möglichkeit sah, einem Menschen zu schaden, suchte er sich einen habgierigen oder ungerechten Menschen aus und zeigte ihm, wie er noch habgieriger oder ungerechter sein konnte und dadurch anderen Menschen noch mehr schaden konnte. Er zeigte ihnen, wie er einen in Not geratenen Bauern auch noch das letzte Stückchen Land wegnehmen konnte, so dass dieser, seine Frau und seine Kinder nun gänzlich verhungern mussten. Besonders habgierigen Menschen zeigte er Mittel und Wege, wie sie aus den armen Menschen noch mehr Steuern und Abgaben herauspressen konnten und diese dadurch jeglicher Lebensfreude berauben konnten. Vom ersten Schatten der Finsternis am Abend bis kurz vor dem ersten Morgengrau des Tages war er ständig unterwegs, um den bösen Menschen zu helfen und dadurch den anderen noch mehr zu schaden.
Tasos Mutter und Namos Vater waren zwei völlig unterschiedliche Gestalten
Denn hier lagen die wesentlichen Unterschiede der beiden Wesen: Die weise Fee konnte nur am Tage bei Sonnenlicht unterwegs sein. Würde sie die schwarze und lichtlose Nacht überraschen, so würde sie zu Staub zerfallen. Selbst Mond- und Sternenlicht konnten da nicht helfen. Der hinterlistige Zauberer der Nacht aber musste den Tag und das Sonnenlicht unbedingt meiden. Schon ein einziger Sonnenstrahl würde seine Macht brechen und auch ihn zu Staub zerfallen lassen. Beide leben also im gleichen Land, waren sich aber noch nie persönlich begegnet, wussten aber dennoch von einander Bescheid, da sie ja mit ihren Taten gegeneinander kämpften.
Jeder von ihnen hatte, wie ich vorhin schon einmal erwähnte, ein Kind. Die weise Fee ein Mädchen, der hinterlistige Zauberer einen Jungen. Sie waren beide im gleichen Alter und lebten mit Vater und Mutter wohl behütet zusammen. Auch sie waren sich noch nie begegnet, ja sie wussten von einander nicht einmal etwas. Denn beide, Fee und Zauberer, vermieden es streng, dass sich die beiden begegnen konnten. Denn dann wäre es mit ihrer eigenen Macht vorbei gewesen. Sie brauchten die Kinder, um auch später weiter ihren Einfluss auf die Menschen haben zu können. Die Kinder waren noch jung, und die magischen Kräfte und Eigenschaften ihrer Eltern waren bei ihnen noch nicht voll ausgeprägt. Auch kannten sie noch nicht allzu viel von der Welt. Dass das eine nur des Tages draußen sein durfte, und noch nie den guten alten Mond oder die lieben Sterne gesehen hatte, und das andere nur des Nachts, und noch nie die helle und warme Sonne gesehen hatte, nahmen beide als ganz normal hin. Das Mädchen hieß Taso, weil sie immer nur am Tage, wenn die Sonne scheint, draußen sein konnte. Noch nie hatte sie den Mond, die Sterne oder die Tiere der Nacht gesehen. Der Junge hieß Namo, weil er immer nur des Nachts, wenn der Mond scheint, draußen sein konnte. Er hatte noch nie die helle Sonne oder eine wunderschöne Blume im Sonnenlicht gesehen. Beide kannten nichts anderes als das, was Mutter oder Vater ihnen gezeigt oder gesagt hatten. Und für sie war es ganz normal. Sie lebten ganz einfach so, wie es ihnen gesagt wurde und waren glücklich so, wie es eben war. Sie kümmerten sich auch nicht sonderlich um die Dinge, die Vater oder Mutter taten. Hatten sie Fragen, so fragten sie ihren Vater oder die Mutter und diese erklärten ihnen die Dinge so, wie sie es aus ihrer Sicht für richtig hielten. So wurde Taso also in dem Bewusstsein groß, dass nur der Tag und die Sonne gut sind, die Nacht aber vom Bösen beherrscht wurde und deshalb gemieden werden musste, und bei Namo war es genau umgekehrt. So lebten sie also seit vielen Jahren und wurden mit der Zeit größer und älter. Und mit der Zeit stellten sie sich auch immer öfter die Frage, warum es so war, wie Vater oder Mutter es ihnen immer wieder sagten. Eine für die beiden ausreichende oder gar erschöpfende Antwort gaben sie ihnen aber nicht. Es war eben so und damit hatte es sich. Zunächst nahmen es Taso und Namo auch so hin, aber im Laufe der Zeit gaben sie sich damit nicht mehr zufrieden und im Geheimen beschlossen sie, ihren Fragen selber auf den Grund gehen zu wollen.
Obwohl Namo die Eigenschaften seines Vaters noch nicht hatte, so folgte er doch bisher immer seinen Anweisungen, das Tageslicht zu meiden. Er hatte die Menschen schon oft von der Sonne sprechen hören. Sie erzählten sich von wunderschönen Blumen und grünen Wiesen, von der warmen Luft, die im Sonnenschein flimmerte und von winzigen Staubkörnchen, die in der warmen und hellen Luft schwebten und zu spielen schienen. Ebenso erzählten sie sich von wunderschönen Sonnenauf- und -untergängen, in der die Luft besonders klar war. Sie sprachen von der hellen Wintersonne, die den Schnee wie Millionen Diamanten funkeln ließ und von wunderbaren Wolkengebilden, die am blauen Himmel zogen und manchmal wie Schäfchen aussahen.
Aber gesehen hatte Namo all dies noch nie. Er konnte sich das alles gar nicht vorstellen und staunte immer wieder, wenn die Erwachsenen oder auch die Kinder sich am Abend, nach Sonnenuntergang, über die wunderbaren Dinge des Tages unterhielten. Wie gerne hätte er all die Wunder selbst einmal gesehen, aber sein Vater verbot ihm auch nur einen Schritt am Tage ins Freie zu tun. So konnte er sich die bunten Bilder des Tages nur in seiner Phantasie am Tage, wenn er oft tatenlos in seinem Bett lag, vorstellen. Am liebsten hätte er alle Verbote und Mahnungen seines Vaters in den Wind geschlagen und wäre in den hellen Sonnenschein gegangen, um alle diese Wunder einmal selbst sehen zu können. Doch er traute sich nicht entgegen den Weisungen seines Vaters zu handeln.
Und ebenso erging es Taso. Ihre Mutter hatte es ihr streng verboten in die dunkle Nacht zu gehen. Mit offenem Mund lauschte sie den Erzählungen der Männer und Frauen, Jungen und Mädchen, wenn sie sich am Tage bei einer Arbeitspause oder beim Spielen über die Nacht unterhielten. Sie sprachen vom glänzenden Mond, der des Nachts am Himmel stand und sein silbernes Licht über die Erde ergoss, so dass viele Dinge sehr geheimnisvoll erschienen. Die alte Weide am kleinen Fluss, der eine grüne Wiese durchschnitt, sollte demnach wie ein alter Mann mit einem Korb auf dem Rücken aussehen. Die bunten Blumen sollten ihre Blüten geschlossen haben und so aussehen, als ob sie schliefen. Und selbst die Fische im klaren Bach sollten wie Silberfäden schimmern. Sie erzählten sich auch von den vielen Sternen, die nachts am dunklen Himmel zu sehen sind. Wie sie funkeln, glänzen und schimmern! Manche erscheinen sogar wie richtige Bilder, wie ein Wagen, ein Bär oder gar wie eine Schlange. Und in einer klaren und kalten Winternacht soll es ganz besonders schön sein. Dann nämlich glänzt der Schnee im hellen Mondschein besonders schön, und wenn es sehr kalt ist, knirscht er bei jedem Schritt. Sogar fliegende Sterne mit einem Feuerschweif soll es schon gegeben haben.
Das alles hätte Taso so sehr gerne selber mal gesehen. Sie konnte es sich nicht vorstellen. Ihre Mutter sprach nie über diese Dinge. Fragen der Tochter wich sie immer aus. Und so träumte Taso nachts oft von der schönen Nacht, vom Mond und den funkelnden Sternen. Auch sie traute sich nicht, entgegen den Verboten der Mutter zu handeln. So viel sie auch bitten und betteln mochte, die Mutter verbot ihr streng den Aufenthalt in der Nacht im Freien. Und so blieben ihr nur ihre Traumbilder- und Vorstellungen.
So verging die Zeit.
3
Aber hallo, wer ist denn da? Wer liegt denn da im grünen Gras und hat die Augen fest geschlossen? Ist das nicht das Kind, dem ich schon einmal begegnet bin? Ja, ich bin ihm schon einmal begegnet! Hier in dieser Gegend, aber in einer anderen Zeit. Jetzt sind wir ja in einer Zeit, die schon sehr lange her ist. In einer Zeit, da das Wünschen oftmals noch geholfen hat. Da liegt das Kind und schläft. Oder tut es nur so? Hat es die Augen zwar fest geschlossen, schläft aber trotzdem nicht? Es sieht ganz so aus! Ja, genau, es ist das Kind, welchem ich meine Geschichte erzählen wollte! Es hat tatsächlich meinen Rat befolgt und sich hier auf die Wiese gelegt, die Augen fest geschlossen und sich in die vergangene Zeit gewünscht.
In die vergangene und ferne Zeit, als das Wünschen oftmals noch geholfen hat. Also ist das mit dem Wünschen doch so eine Sache und die Zeit, in der es oftmals noch geholfen hat, ist noch gar nicht so lange her. Denn wenn das Kind es sich gewünscht hat in diese Zeit zu kommen, so hilft das Wünschen ja auch heute noch. Man muss wahrscheinlich wirklich nur ganz fest daran glauben. Und, wie ich sehe, hilft es heute noch genau so wie damals.
Also, mein liebes Kind, du hast es wirklich geschafft. Du hast dir gewünscht, in meiner Geschichte zu erscheinen, und bist nun tatsächlich in meiner Geschichte durch dein Wünschen gelandet. Du glaubst also doch an die Wunder und wunderbaren Dinge dieser schönen Welt. Das ist schön, und ich wünschte mir, dass das noch viel mehr Menschen tun würden. Dann nämlich wäre unsere Welt noch schöner, und die Menschen würden friedlicher und liebenswürdiger miteinander umgehen.
Nun wird es aber Zeit, dass du die Augen öffnest und dich in dieser für dich völlig neuen und ungewohnten Zeit umsiehst.
„Hallo, Annika! Du kannst deine Augen aufmachen. Dein Wunsch ist in Erfüllung gegangen, und du bist in der Zeit, in der meine Geschichte, die ich dir erzählen wollte, spielt. Mach die Augen auf und sieh dich in der für dich neuen und unbekannten Zeit um. Ich werde dir helfen, dass du dich zurechtfindest. Hier gibt es für dich Dinge zu sehen und zu entdecken, die du noch nie gesehen hast. Schöne, aber auch weniger schöne Dinge. Das alles wollen wir uns gemeinsam ansehen, und ich werde dir alles für dich Unverständliche erklären. Vor allem aber wirst du ein Abenteuer bestehen müssen, welches vielleicht nicht ganz ungefährlich ist: Du wirst mit Namo und Taso, die du ja aus meinen Erzählungen schon kennst, zusammentreffen und mit ihnen gemeinsam ihre Abenteuer erleben. Aber keine Angst, kleine Annika, ich werde immer bei dir sein und versuchen, dir zu helfen, wenn du mal nicht weiterweißt. Öffne nun also deine Augen und sieh dich in der Zeit und der Welt um. Frage nach dir unbekannten Dingen, und du wirst begreifen und verstehen.“
„Wo bin ich?“ Annika öffnete ihre Augen und sah sich um. Sie hatte schon viel über die vergangenen Zeiten gelesen und in der Schule gelernt. Immer schon hatte sie sich gewünscht, einmal in einer längst vergangenen Zeit zu sein und die Menschen, die damals lebten, kennen zu lernen. Als sie sich heute auf die grüne Wiese legte, hatte sie es sich diesmal ganz fest gewünscht und auch daran geglaubt. Und es hatte geklappt. Sie war tatsächlich in einer längst vergangenen Zeit. Traum, Wunsch und Wirklichkeit hatten sich miteinander vermischt, und sie war plötzlich in einer Zeit, in der alles Wirklichkeit war, aber auch die alten Sagen und Märchen noch wirklich sein konnten. Es war alles so seltsam und doch wunderbar.
„Wo bin ich?“ fragte sie noch einmal und betrachtete alles ganz genau. „Ich kenne dich doch. Du bist doch der Geschichtenerzähler. Ich habe schon so manches von dir gelesen. In einer Geschichte kam auch ein Munk vor. Gibt es den wirklich auch hier?“
„Du bist genau dort, wo du dir gewünscht hast zu sein. Hier gibt es alles Mögliche. Alles, was du dir wünschst und vorstellst, gibt es hier. Aber nicht nur hier. Auch in der Welt, in der du sonst lebst. Du musst eben nur daran glauben und es dir wünschen. Dann kannst du immer und überall Wunder erleben. Als Kind und auch als Erwachsener. Du bist ein wunderbares Kind und ganz sicher auch gut und lieb“, antwortete der Geschichtenerzähler und half ihr beim Aufstehen. Sie war, wohl durch die schnelle Traumreise, noch etwas wackelig auf den Beinen, und so musste er sie etwas stützen. „Alles ist so, wie du es dir gewünscht hast. Durch deinen starken Glauben an all die Wunder deines Lebens ist es so gekommen: Du bist in einer längst vergangenen Zeit. In einer Zeit, wo noch die Träume und Wünsche der Menschen in Erfüllung gehen können. Du wirst dies alles selbst erleben. Was aber das Wichtigste ist: Vergiss all diese Dinge nie. Selbst wenn du einmal alt geworden bist, sollst du dich an alles erinnern und immer den Glauben an das Gute und die Erinnerung an das Erlebte in dir bewahren. Dann wirst du glücklich sein können und auch andere Menschen glücklich machen. Das, was du als Kind geglaubt und gefühlt hast, das vergiss nie, Annika. Nun lass uns aber aufbrechen. Uns erwartet viel Neues, Interessantes und Wissenswertes.“
Das Mädchen stand nun wieder sicher auf ihren Beinen. und sie machten sich auf in die Traumwunderwirklichkeitswelt. Die Abenteuer erwarteten sie.
4
Es war schon seltsam für Annika: Sie hatte sich von ihrem Zuhause nicht so sehr weit fortbewegt, es war alles so, wie es sein musste. Die Häuser standen an ihren bekannten Plätzen, Bäume und Wiesen waren auch dort, wo sie vorher waren, und auch die Straßen und Wege waren da, wo sie immer waren. Und doch war alles anders. Denn wo immer sie auch hinsah, war mit einem Mal alles verändert. Eigentlich doch nicht, aber alles, was sie als modern kannte, war verschwunden. Es gab plötzlich keine Antennen mehr auf den Hausdächern, die Straßen waren nicht mehr asphaltiert, und die Landschaft sah verändert aus. Alles wurde beim Hinsehen irgendwie anders. Sie machte sich mit ihrem Geschichtenerzähler auf den Weg.
So kamen die beiden nach kurzer Zeit an die Straße. Diese hatte aber nicht mehr eine schöne glatte Asphaltdecke, sondern war mit Feldsteinen gepflastert. Streckenweise war sie sogar unbefestigt. Schwere und hoch beladene Wagen, die von zwei oder manchmal auch vier Pferden gezogen wurden, rollten langsam auf ihr dahin. Einige waren mit Feldfrüchten wie Rüben oder Kartoffeln beladen, auf anderen war Heu oder Stroh hoch aufgeschichtet. Wieder andere Wagen waren mit Planen verdeckt, und Annika konnte nicht sehen, was sie geladen hatten. Die Kutscher waren seltsam gekleidet. Eigentlich gar nicht seltsam: die Bekleidung der Fuhrleute in ihren langen Jacken, Hosen, Stiefeln und Mützen war für das Mädchen nur ein ungewohnter Anblick. Aber daran hatte sie sich schnell gewöhnt. Und noch etwas Besonderes fiel dem Mädchen auf: einige der Fuhrwerke rollten einsam dahin, andere wiederum wurden von schwer bewaffneten Reitern begleitet. Sie fragte ihren Begleiter, was das zu bedeuten hätte.
„Ja siehst du“, antwortete dieser. „Das ist einer der Unterschiede zwischen arm und reich. Genau so, wie es in unserer Zeit noch ist. Die reichen Kaufleute und Händler können sich einen Begleitschutz leisten, der sie vor Überfällen beschützt. Und Überfälle kommen hier sehr oft vor. Es gibt genügend Räuber, die es auf die Wagen der Kaufleute abgesehen haben. Die reichen Kaufleute mieten sich einfach Soldaten, die sie begleiten und beschützen. Manche können sich sogar eigenes Personal leisten, welches sie dann auf ihren Handelsfahrten begleitet. Die armen Bauern aber müssen selbst zusehen, wie sie fertig werden. Aber die Räuber haben es ja meistens auf die Wagen der reichen Kaufleute abgesehen. Die Wagen der Bauern werden nur selten überfallen. Meistens nur dann, wenn die Ernte schlecht war und eine Hungersnot droht. So ist das mit dem Unterschied zwischen arm und reich. Es gibt aber noch sehr viel mehr. Einige wirst du noch kennenlernen. Und daran wird sich auch in den nächsten paar hundert Jahren nichts ändern.“
Sie zogen weiter, und Annika entdeckte überall für sie völlig neue und unbekannte Dinge. Die Menschen verrichteten ihre Tätigkeiten überwiegend im Freien. Elektrisches Licht gab es nicht, und so nutzten die Menschen das Tageslicht vom frühen Morgen bis zum letzten Sonnenstrahl aus, um ihre Arbeiten zu erledigen. Sie arbeiteten lange auf ihren Feldern. Nicht mit Traktoren und Maschinen, sondern mit einfachen Werkzeugen wie Sense, Sichel, Harke oder Spaten. Die Frauen hatten schwer an den Wassereimern zu tragen, die sie von einem Brunnen holten. Staubsauger gab es nicht und so wurde alles mit groben Reisigbesen gefegt. Die Straßen und Wege aber waren schmutzig und oft mit Abfällen und Müll übersät. Schweine wühlten darin umher. Annika und ihr Begleiter mussten sehr aufpassen, dass sie nicht in dem Schmutz bis über die Knöchel versanken.
Sie gingen bis zur Stadtgrenze. Die Stadt war vor einer hohen und dicken Stadtmauer umgeben, und die Tore waren gut bewacht. Alles sah anders aus, vieles kannte sie aber. Einige Stadttürme und Kirchen standen ja auch noch in ihrer Zeit. Sie waren zwar teilweise schon sehr zerfallen, aber sie erkannte einige der Bauwerke wieder. In die Stadt selbst wollte sie nicht gehen. Es waren ihr hier zu viele Menschen und es stank fürchterlich. Sie wollte sich lieber auf dem Land aufhalten. Dort war es für sie interessanter. Dort gab es Tiere und Pflanzen, Bäume und bunte Wiesen. Dort fühlte sie sich freier, und es sah alles besser aus. In der Stadt fühlte sie sich nicht so wohl.
Annika und der Geschichtenerzähler standen vor der mittelalterlichen Stadt
„Lass uns lieber wieder zu den Menschen auf dem Lande gehen. Dort gefällt es mir besser, und man kommt mit den Menschen besser ins Gespräch. Hier ist es mir zu laut und zu schmutzig“, sagte sie.
„Da hast du Recht. In der Stadt ist es wirklich nicht schön. Wenn du Lust hast, kannst du sie dir ja noch später ansehen irgendwann in einem anderen Wirklichkeitstraum“, antwortete der Geschichtenerzähler.
So kehrten sie also wieder um. Von den Wachen wurden sie gar nicht beachtet. Denn beim Wünschen des Mädchens hatten sich auch ihre Kleider verändert und sich der Mode der Zeit angepasst. Zeit hatten sie auch, denn Annika hatte Ferien. Die gab es in dieser Zeit aber nicht. Alle Menschen, auch die Kinder, arbeiteten von früh bis spät. Zeit zum Spielen hatten die Kinder nur sehr wenig, und Schulen gab es überhaupt nicht. Die meisten Menschen konnten weder schreiben noch lesen oder rechnen. Warum auch! Ungebildete Menschen kann man viel besser ausnutzen und ausbeuten. Wer nicht lernt, hat mehr Zeit zum Arbeiten und stellt keine Fragen. Also war es für die Mächtigen besser, sie ließen die anderen nichts lernen. Und war doch einmal jemand so frech und stellte Fragen nach solchen Dingen wie: „Warum ist es so und nicht anders? Warum bin ich arm, obwohl ich viel mehr arbeite als so mancher Reiche? Warum darf er mir alles wegnehmen und bestimmen?“ dann wurde er schwer bestraft. Man erzählte den Armen viele Lügen. Und weil die armen Menschen ja ungebildet waren, war das auch ganz leicht. Und die armen Menschen mussten sich aus Unwissenheit alles gefallen lassen. Das funktionierte damals noch genauso wie heute. Nur dass man heute viel modernere Mittel wie Fernsehen, Zeitungen und andere Dinge zur Verfügung hat, um die Menschen zu beeinflussen.
Unsere beiden zogen also wieder aufs Land, und Annika kam aus dem Staunen nicht heraus. Sie stellte sehr viele Fragen, und der Geschichtenerzähler beantwortete sie ihr alle. Es gab aber auch so unendlich viel Neues zu sehen und zu entdecken. Es gab Pflanzen, die Annika nicht kannte, weil sie schon lange ausgestorben waren. Ebenso war es mit den Tieren. Bären und Wölfe kannte Annika nur noch aus dem Zoo. Hier gab es sie aber noch in freier Wildbahn. Allerdings wollte sie keinem von beiden begegnen. Das war ihr denn doch zu gefährlich. Die ganze Lebensweise der Menschen war ihr fremd. Aber es war sehr interessant, das alles mal wirklich zu sehen und zu erleben.
Vor allem aber war es an der Zeit, sich um eine Unterkunft für die Nacht und die folgenden Tage zu kümmern. Es gab weder Hotels noch Pensionen. Und schon gar nicht mit Frühstück oder Halbpension. Die Menschen waren überwiegend arm. Und Gäste, also unnötige Esser, konnten sie nicht gebrauchen. So mussten sie, wenn sie etwas zu essen und eine Unterkunft für die Nacht haben wollten, dafür auch arbeiten. Aber sie hatten Glück. Bei einer Bäuerin, deren Mann gerade für Fronarbeiten beim Landesherrn arbeiten musste und deren Sohn seinen Soldatendienst ableisten musste, fanden sie Arbeit, Unterkunft und Essen. Die Bäuerin war sehr froh, dass sie so unerwartete Hilfe erhielt und nahm die beiden gerne und dankbar auf.
Die Arbeit war für sie nicht allzu schwer und das Essen, nachdem sich Annika daran gewöhnt hatte, nicht schlecht. Nur das frühe Aufstehen fiel dem Mädchen anfangs recht schwer. Aber sie hatte sich bald an alles gewöhnt, und es machte ihr Spaß.
5
In dem Dorf, welches unweit der Stadt lag und in dem während ihrer Abenteuerzeit auch Annika und, wenn er nicht gerade in anderen Geschichten zu tun hatte, auch ihr Begleiter Unterkunft und Arbeit gefunden haben, lebt auch der arme Bauer Claus mit seiner Familie. Nicht nur dieser Bauer war arm, sondern das ganze Dorf. Bauer Claus war aber besonders arm. Er hatte fünf Kinder, von denen der älteste Junge achtzehn und die jüngste Tochter fünf Jahre alt waren. Seine Frau war krank und schwächlich und konnte sich nur mit großen Mühen um die Familie kümmern. An manchen Tagen konnte sie das Bett gar nicht verlassen, so groß waren ihre Schmerzen. Der Bauer musste sich und seine Familie von einem kleinen Stückchen Land ernähren, welches nicht größer als ein Garten war. Er besaß nur eine Ziege und ein paar Hühner. Mehr konnte er sich nicht leisten. Geld war so gut wie nie im Hause, dafür aber Schmalhans immer Küchenmeister und der Hunger ein Dauergast. Auch durch Fischfang oder durch die Jagd konnte er den Tisch nicht reicher decken, denn die Gewässer, Wälder und Felder gehörten dem Herrn. Wurde er beim Jagen oder beim Fischfangen erwischt, so musste er mit den schlimmsten Strafen rechnen. Schlimmstenfalls wurde er zum Tode verurteilt, und im günstigsten Falle wurde ihm die rechte Hand abgeschlagen. Und beides konnte er sich überhaupt nicht leisten. So lebten sie also mehr schlecht als recht, und selbst die schwerste und mühevollste Arbeit konnte sie nur sehr schlecht, und manchmal gar nicht, ernähren. Dazu kamen noch hohe Steuern und Abgaben, die sie an den Herren leisten mussten. Schon mehr als tausend Mal hatte er sich gewünscht, dass er und seine Familie endlich einmal satt zu essen hätten und seine Frau gesund wäre. Aber bisher hatte alles nicht geholfen. Und Gebete schon gar nicht. Trostlos verging ein Tag nach dem anderen, und die Not wurde immer größer.
Eines Tages ging Taso wie schon so oft spazieren. Zu Hause hatte sie alle Arbeiten erledigt, und es gab für sie weiter nichts zu tun. Als sie so über die grüne Wiese ging, summte sie leise ein Lied vor sich hin. Sie erfreute sich an all den schönen Blumen und den Käfern, die durch das Gras eilten. Sie beobachtete gerade eine Schnecke, die es überhaupt nicht eilig zu haben schien. Kaum war sie ein paar Zentimeter weiter gerutscht, hielt sie schon wieder inne, um an einem besonders grünen Blatt zu knabbern. Hatte sie sich satt gefressen, kroch sie ein Stückchen weiter. Das musste sehr anstrengend gewesen sein, denn sie hielt schon wieder an und biss vom nächsten Grashalm ab. Eine Ameise, die flink ihren Weg kreuzte, beachtete sie gar nicht. Aber auch die Ameise übersah die Schnecke einfach. Sie hatte es wahrscheinlich sehr eilig und im Ameisenhaufen wartete sicher viel Arbeit auf sie.
Es war ein besonders schöner Tag, und die Schmetterlinge und Bienen tanzten und summten durch die warme Sommerluft. Taso fühlte sich rundum wohl, und es war ihr ganz leicht ums Herz. Es war wirklich wunderschön, einfach nur so durch die Wiese zu laufen und an nichts zu denken. Tief atmete sie die herrliche Luft ein. Ja, es war schön hier. Das war ihre Heimat, und sie konnte sich überhaupt nicht vorstellen, woanders zu leben. Hier kannte sie alles. Fast jeder Baum und jeder Strauch waren ihr bekannt. Und oftmals begegnete sie sogar denselben Tieren. Einigen hatte sie sogar schon einen Namen gegeben. Einen besonders starken und schönen Hirsch hatte sie Hans getauft. Er war ihr an so manchen frühen Stunden des Tages auf der großen Waldlichtung dort hinten im Kiefernwald begegnet. Es war ein stolzes Tier mit einem mächtigen Geweih. Taso beobachtete ihn immer sehr lange und war traurig, wenn er nach dem Fressen auf der Lichtung wieder im Wald verschwunden war. Wenn er sich wieder mit Stolz erhobenen Haupt dem Wald zuwandte, winkte sie ihm zum Abschied nach. Ebenso war es mit dem Wildschwein. Das war ein besonders kräftiges Tier. Taso nannte es Emma. Im vorigen Jahr war Emma eines Tages mit fünf kleinen gestreiften Jungen zum Fressen am Waldrand erschienen. Dort war ein riesig großes Rübenfeld, und Emma ließ sich die frisch ausgegrabenen Rüben gut schmecken. Anschließend säugte sie ihre Jungen im warmen Sonnenschein. Das war ein Grunzen und Schmatzen. Taso konnte sich gar nicht satt sehen und verhielt sich ganz still. Einerseits wusste sie, dass so ein Wildschwein mit Jungen recht gefährlich werden konnte, andererseits wollte sie Emma mit ihren Jungen nicht stören. Als alle satt waren, verschwanden sie wieder im dichten Wald. Sicher suchten sie eine Suhle, um sich darin vom warmen Tag abzukühlen.
Und so hatte Taso noch viele Erlebnisse. Ja, hier war sie zu Hause. Hier fühlte sie sich wohl und geborgen. Hier war ihre Heimat.
Heute war es aber doch schon später am Tag, und die Tiere hatten ihr Frühstück schon lange beendet. So beobachtete Taso die Schmetterlinge und die vielen Käfer. Auch die waren interessant. Nun schlenderte sie aber weiter. Dort hinten sah sie schon die ersten Häuser des Dorfes. Sie war schon lange nicht mehr bei den Menschen gewesen. Es wurde Zeit, dass sie sich mal wieder sehen ließ. Sicher war inzwischen so allerhand geschehen. Und Taso war auch neugierig. Sie wandte sich also um und ging zielstrebig auf das Dorf zu.
Als sie näher herangekommen war, konnte sie auch Einzelheiten erkennen. Neue Häuser waren nicht gebaut worden. Also gab es folglich auch keine neuen Bewohner im Dorf. Das war gut und auch wieder nicht gut. Gut, weil die alten Bewohner Taso alle kannten und wussten, dass sie die Tochter der guten Fee war. Sie verstand sich mit allen, besonders mit den Kindern, sehr gut. Schlecht war es, weil sie von neu hinzugezogenen Menschen nichts Neues aus der großen Welt erfahren konnte. Denn, wie schon gesagt, Taso war neugierig. Aber so wie es war, war es nun einmal. Taso war viel zu gut gelaunt, um sich den Tag durch solche Nebensächlichkeiten verderben zu lassen. Sie ging ins Dorf. Dort war es ruhig, und es waren nicht viele Leute zu sehen. Es war ja auch schon später Vormittag, und die Menschen waren alle mit ihren Arbeiten auf dem Feld oder im Haus und auf dem Hof beschäftigt. Da hatten sie sicher auch nicht viel Zeit, um mit ihr zu reden. Aber vielleicht konnte sie irgendwo helfen und bei der Arbeit mit der Bäuerin oder dem Bauern sprechen und so Neuigkeiten erfahren. Taso schlenderte also durch das Dorf und suchte jemanden, dem sie helfen und mit dem sie reden konnte.
Auf der linken Seite des Weges sah sie ein größeres Haus, welches im Vergleich mit den anderen Häusern sehr ordentlich aussah. Es sah so aus, als wären die Bewohner dieses Hauses reicher als die anderen. Es standen sogar Blumen vor der Tür und das ganze Anwesen sah ordentlich und gepflegt aus. Die anderen Menschen konnten ihre Häuser gerade mal eben so in Stand halten. Zu mehr reichte das Geld nicht aus. Und Blumen vor der Tür oder überhaupt schmückendes Beiwerk konnten sie sich nicht leisten. Das bisschen Geld, was sie erarbeiteten, reichte gerade so zum Leben. Taso ging schnell an dem Haus vorbei, denn der Bauer galt als unfreundlich, habgierig und mürrisch. Mit dem wollte sie lieber nichts zu tun haben. Da trat Hermann, so hieß der Bauer, auch gerade aus dem Hoftor. Taso grüßte und ging schnell weiter. Hermann sah ihr nach, erwiderte den Gruß aber nicht. Als Taso das Haus und den Bauern hinter sich gelassen hatte, atmete sie tief durch. Sie hatte zwar keine Angst vor dem Bauer Hermann, aber er war ihr unsympathisch, und sie mochte ihn nicht.
Zwei Häuser weiter, auf der rechten Seite des Weges, schaute die Bäuerin Lisa aus dem Fenster. Das war eine junge, nette und freundliche Frau. Schon oft hatte sie Taso einen Becher frische Milch gegeben oder auch ein Stück vom frisch gebackenem Brot. Schnell ging Taso zu Lisa und sagte: „Guten Tag, Lisa. Wie geht es dir? Wir haben uns ja schon lange nicht mehr gesehen. Was gibt es Neues? Sind alle gesund? Wie geht es deinem Mann? Was machen die Kinder? Sind die Tiere gesund? Legen die Hühner genug Eier und gibt die Kuh genügend Mich?“ Lisa hatte gerade einen kleinen Jungen zu ihren zwei anderen Kindern bekommen. Da war es wichtig, dass immer genug Essen im Hause war.
„Guten Tag, Taso“, antwortete Lisa. „Deine Fragen sprudeln ja aus dir heraus wie das Wasser aus einer Quelle. Ja, alle sind gesund und munter. Mein Mann ist auf dem Feld, und die Kinder spielen auf dem Hof. Unsere schwarzbunte Kuh gibt so reichlich Milch, dass wir sogar etwas davon verkaufen können. Vielleicht bekommt sie bald ein Kälbchen. Und die Hühner scharren den ganzen Tag nach Futter und legen gute Eier. Uns geht es zurzeit richtig gut. Hoffen wir, dass es noch lange so bleibt. Willst du reinkommen und mit Hanne und Paul spielen?“
„Nein danke, Lisa. Ich möchte mich erst noch etwas im Dorf umsehen. Ich war ja schon lange nicht mehr hier. Gibt es denn Neuigkeiten?“ Taso staunte plötzlich. Etwas weiter den Weg runter ging ein Mädchen, welches sie noch nie hier im Dorf gesehen hatte. „Nanu! Lisa, wer ist denn das Mädchen dort hinten? Ich habe sie noch nie hier im Dorf gesehen?“
„Dieses Mädchen und ein Mann tauchten vor einiger Zeit hier im Dorf auf. Keiner weiß, woher sie kamen oder wer sie sind. Aber es scheinen ruhige und nette Menschen zu sein. Sie wohnen und arbeiten beim Bauer Claus. Der kann ja immer Hilfe gebrauchen. Und die beiden arbeiten nur für das Essen und sind freundlich und fleißig, so dass sie dem Bauern und seiner Frau eine große Hilfe sind. Wie der Mann heißt, weiß ich nicht. Das Mädchen heißt Annika. Mehr weiß ich auch nicht.“
„Annika“, sagte Taso nachdenklich. „Das ist ja ein komischer Name. So einen habe ich noch nie gehört. Ich muss unbedingt mit dem Mädchen sprechen. Also mach’s gut, Lisa. Beim nächsten Mal schaue ich wieder bei dir rein. Grüß die Kinder und deinen Mann.“ Sie wandte sich um, winkte noch einmal und rannte die Straße hinunter, bis sie dicht hinter Annika war. Lisa sah ihr lächelnd nach. Sie kannte Taso gut und wusste, wie neugierig sie sein konnte, wenn etwas war oder geschah, was sie noch nicht wusste oder kannte.
„Guten Tag, Mädchen. Du heißt Annika? Was für ein seltsamer Name. Den habe ich noch nie gehört. Ich heiße Taso. Wo kommst du her, und was machst du hier? Ach ja! Ich stelle so viele Fragen auf einmal. Aber ich bin nun mal neugierig.“ Aus Taso sprudelten die Worte nur so heraus. Dabei lachte sie über das ganze Gesicht.
Annika schaute sich erstaunt um und hatte sofort Vertrauen zu ihr. Das war ein richtig nettes und sicher auch liebes Mädchen. Sie hatte ein freundliches und liebes Gesicht.
„Taso?“ fragte Annika. „Das ist aber auch ein nicht gerade alltäglicher Name. Den habe ich noch nie gehört. Kommst du aus einem anderen Land? Du musst mir viel erzählen. Ich bringe nur noch den Korb mit Heu zum Bauern Claus. Dann habe ich Zeit. Warte auf mich auf der Wiese hinter dem Dorf unter der großen Linde. Dort ist es schattig und kühl. Dort können wir uns ungestört unterhalten. Ich bin gleich bei dir.“
Annika brachte also das Heu zum Hof und Taso schlenderte zur alten Linde. Sie wusste genau, wo das war, denn sie hatte schon oft darunter gelegen und vor sich hin geträumt. Im kühlen Schatten des Baumes wartete sie also auf Annika.
Es dauerte auch gar nicht lange, da kam Annika. Sie hatte einen Krug mit Milch bei sich und etwas Brot. Sie winkte schon von weitem.
„Damit wir beim Erzählen nicht hungrig und durstig werden“, sagte sie, stellte den Korb ab und setzte sich zu Taso in den Schatten. „Ja, dann werde ich mal mit dem Erzählen anfangen. Ich bin also die Annika und komme aus einer anderen Zeit, die weit vor der jetzigen liegt. Es gibt dort wunderbare Dinge, von denen du gar keine Vorstellung hast. Elektrizität zum Beispiel oder Autos und Fernseher.“ Als Annika Einzelheiten aus ihrer Zeit erzählen wollte merkte sie, dass sie über so manche Dinge eigentlich gar nicht richtig Bescheid wusste. In der Schule hatte sie, obwohl ihre Zeugnisse nicht schlecht waren, doch manchmal nicht richtig aufgepasst. Und für andere Dinge, wenn ihr Vater zum Beispiel etwas erklären wollte, hatte sie wenig Interesse gezeigt. Das rächte sich nun, und Annika beschloss, in Zukunft in der Schule besser aufzupassen und viel mehr zu lernen. Und wenn Vater oder Mutter über für sie noch unverständliche Dinge sprachen, wollte sie in Zukunft gut zuhören und Fragen stellen. Das nahm sie sich fest vor, denn solche Schlappe durfte ihr nicht noch einmal geschehen. Es war ihr peinlich und sie errötete etwas. Darum sprach sie schnell weiter zu Taso: „Davon erzähle ich dir aber später einmal. Der Ort ist, wo ich jetzt bin, ist derselbe wie in meiner Zeit. Ich hatte mir gewünscht, mal in einer fernen Vergangenheit zu sein. In einer Traumzeit oder einer Märchenzeit. Egal, was es ist. Und plötzlich war ich hier. Mein Begleiter ist ein Geschichtenerzähler. Dem bin ich in meiner Zeit und auch hier begegnet. Er ist sehr freundlich und nett und hat mir viel erklärt und gezeigt. Nun bin ich hier und möchte so viele Dinge sehen und kennenlernen. Ich hoffe, du verstehst das alles. Nun bist du aber dran. Erzähle von dir.“
Die beiden Mädchen nahmen erst mal einen großen Schluck von der Milch, die Annika mitgebracht hatte. Taso schwieg eine Weile und Annika wollte gerade fragen, was los ist. Aber Taso dachte nur nach. Seltsamerweise verstand sie sofort und ganz genau, was Annika da erzählte. Es war komisch, aber das alles klang ganz normal. Es lag eben daran, dass sie die Tochter der guten Fee war. Und nun erzählte Taso aus ihrem Leben und wer sie sei und wo sie wohne und wer ihre Mutter ist und viele Dinge mehr. Auch vom hinterlistigen Zauberer erzählte sie. Aber darüber wusste sie nicht allzu viel. Ihre Mutter wich, wenn Taso Fragen stellte, immer sehr geschickt aus. Annika staunte nicht schlecht, als Taso mit ihrer Erzählung am Ende war. Das war alles so unheimlich neu, aufregend und wunderbar. Da hatte sie ganz plötzlich die Tochter einer Fee kennen gelernt. Taso gefiel Annika sehr gut, und umgekehrt war es genauso. Vielleicht würden sie beide sehr gute Freundinnen werden und viele gemeinsame Abenteuer erleben?
Am Himmel zeigte sich schon das erste Abendleuchten. Die Sonne hatte ihre Tagesbahn fast vollendet, und der Abend und somit die Nacht rückten immer näher. Taso musste sich also von Annika schnell verabschieden, denn sie durfte sich ja nicht ohne Sonnenlicht draußen aufhalten. So hatte sie es von ihrer Mutter gehört. Die beiden verabschiedeten sich also von einander und versprachen sich gegenseitig, sich so schnell wie möglich wieder zu sehen. Zum Abschied umarmten sie sich herzlich, und Taso sprang davon. Annika schaute ihr lange nach und ging dann langsam zum Haus des Bauern Claus. Dort traf sie den Geschichtenerzähler. Der hatte sich schon gewundert, wo das Mädchen so lange war. Sie erzählte ihm von ihrer neuen Bekanntschaft, und dass sie beide bestimmt Freundinnen werden würden.
Der Geschichtenerzähler machte ein erstauntes Gesicht und sagte: „Ich wusste, dass ihr euch eines Tages begegnen werdet. Große Abenteuer warten auf dich. Taso ist ein liebes Wesen. Halte dich gut mit ihr. Mehr will ich dir nicht sagen. Auf dich wartet eine aufregende Zeit. Ich weiß zwar auch nicht alles im Voraus, aber keine Angst! Alles wird gut enden. Es war ein langer und aufregender Tag. Ab ins Bett mit dir. Ich wünsche dir eine gute Nacht.“
Annika ging in ihre Kammer und legte sich ins Bett. Sie konnte noch lange nicht einschlafen und dachte immer an Taso. Endlich aber fielen ihr die Augen zu, und sie schlief fest ein. Natürlich träumte sie von den aufregenden Dingen des vergangenen Tages und von Taso.
6
Die Nacht war gerade hereingebrochen. Die Sonne hatte sich hinter dem Horizont versteckt, und der Mond stand hell leuchtend am Himmel. Unzählige Sterne glitzerten am Himmelszelt. Nach und nach erlosch ein Licht nach dem anderen in den Häusern. Die Menschen mussten am nächsten Tag wieder früh aufstehen, um ihr Tagwerk zu meistern. Außerdem war die Beleuchtung schlecht und teuer. Also ging man schon bald ins Bett, um für den nächsten Tag ausgeruht zu sein. Auch viele Tiere hatten sich in ihre Behausungen zurückgezogen und schliefen schon.