Die Macht zu sein - Jean-Michel Le Lannou - E-Book

Die Macht zu sein E-Book

Jean-Michel Le Lannou

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Beschreibung

Dieser Essay stellt sich den grundlegendsten Fragen der Philosophie: der Frage nach dem Ursprung des Seins überhaupt, vor allem aber der Frage nach der Entstehung des Endlichen, weshalb wir dieses für unsere »Natur« halten und wie wir diesen Glauben aufbrechen können. Jean-Michel Le Lannou ist in seinen früheren Werken durch die Beschäftigung mit Praxen wie der Technik, dem Geld, der Willkür, dem Konsum oder auch der abstrakten Kunst hervorgetreten und konnte zeigen, dass eine erodierende Macht der Abstraktion das menschliche Handeln und Denken fundamental strukturiert. In seinem neuen Text befragt er nun direkt das Wesen dieser Macht, um eine auf sie bezogene Ontologie zu entwickeln. Dabei wird ein radikaler, in der Tradition des Neuplatonismus stehender Idealismus entfaltet, der nicht nur Resultat der Konfrontation mit »modernen« Phänomenen wie Geld oder Konsum ist, sondern sich auch an der Geschichte der Philosophie bis in die Gegenwart hinein abarbeitet. Es ist, so Le Lannou, mitnichten unzeitgemäß, im und durch das Denken nach Freiheit zu streben. Deshalb ist dieses Werk auch nicht bloß eine theoretische Abhandlung über Freiheit, sondern es beansprucht zugleich, die Praxis der Befreiung selbst zu vollziehen.

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Jean-Michel Le Lannou

Die Macht zu sein

Aus dem Französischen übersetzt von Thurid Bender

Meiner

Die Übersetzung und der Druck wurden durch den Verein IDEA gefördert.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar.

eISBN (PDF) 978-3-7873-4245-7

eISBN (ePub) 978-3-7873-4290-7

© 2016 Les éditions Hermann, Paris

© für die deutsche Ausgabe: Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 2023. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Konvertierung: Bookwire GmbH.

INHALT

I. Die Begierde der Unermesslichkeit

II. Das Vorausgehen des Freien

III. Die Macht zu sein

IV. Die Enteignung

Personenregister

I

DIE BEGIERDE DER UNERMESSLICHKEIT

Wir begehren Intensität und Unermesslichkeit. In ihren ontologischen Eigenschaften durchdacht, bestimmen sie nichts im Endlichen und können nicht in ihm entstehen. Die Unermesslichkeit und unsere Erfahrung schließen sich durch eine strikte Trennung aus. Wir begehren, was das Dasein weder geben noch empfangen kann. Was wollen wir wirklich? Sein, ohne durch eine Grenze gemessen, ohne in und von Besonderheit eingeschlossen, ohne von Mangelhaftigkeit umhüllt zu werden. Was begehren wir also? Nach Allgemeinheit strebend uns von der Endlichkeit zu lösen.

Was legt die Philosophie dar? Zunächst, was wir nicht mehr begehren. Sie spricht das Zurücklassen und den Bruch aus, in welchem sich die Begierde abkoppelt und von ihrer spontanen Tätigkeit befreit. Wir begehren nicht mehr, was im Horizont des Endlichen erscheint, nichts, was die Erfahrung geben kann, nichts, wozu sie fähig ist. In ihr erscheint alles der Trennung unterworfen. In ihr ziehen sich Macht und Substantialität in die Abwesenheit zurück. Dem Endlichen, also dem Repräsentativ, nicht mehr zuzustimmen, heißt zugleich, sich zu weigern, in einer Figur eingeschlossen zu bleiben. Von nun an stimmen wir der Gefangenschaft in einer Besonderheit nicht mehr zu. Die Begierde der Unendlichkeit löst sich aus ihrer Verstrickung mit der Begierde der Vorstellung. In dieser und durch diese Diskrimination, in dem Zurücklassen der Begierde, in welcher wir geboren sind, kündigt sich die Weise an, in der wir die Begierde der Intensität als die einzig wahrhaft unsrige empfangen. Die Philosophie ist also nichts anderes als diese ihre Bedingungen, Modalitäten und ihren Ursprung reflektierende Begierde. In dieser Reflexion entdeckt die Philosophie sich als Begierde der Unermesslichkeit und erhellt sich selbst, indem sie in ebendieser Begierde ihre eigene Macht wiedererkennt. Indem sie diese Identität klar ausdrückt, setzt die Philosophie dem anfänglichen Schein ihrer Verschiedenheit von dieser Begierde ein Ende. Woher stammte diese Illusion? Von einem doppelten Missverständnis, das sich sowohl auf die Begierde als auch auf die Philosophie bezog. Vor dieser suchten wir die Intensität außerhalb des Denkens. Wir hatten diese absurderweise mit dem Gefühl, dem Affekt oder dem Leben identifiziert. Das Denken verstand sich damals als die Forderung seiner Selbstpassivierung, seines Machtverzichts. Gefordert wurde, die Produktion der Passivität für die Bedingung der Erfahrung der Intensität zu halten. Jede Philosophie, die das Sein mit dem Leben identifiziert, fordert nämlich die Negation des Denkens als ihre Bedingung. Wir wissen von nun an, wie widersprüchlich und eitel dieses Streben ist. Wohin führt es, wenn nicht zu einer eingebildeten Passivität, die durch eine unausweichliche Gefangenschaft in der Mangelhaftigkeit des Repräsentativs verschlimmert wird? Alle Versuche haben dies zur Genüge gezeigt: Kein Exzess der Vorstellung zum Leben hin ist durchführbar. Von nun an ist der in sich aporetische Charakter dieses Vorgangs offenbar.

Das dogmatische und unreflektierte Streben, der Vorstellung zu entkommen, führte jedoch lange dazu, die Intensität im Leben zu suchen. In der postkantischen Struktur wurde das Leben in seinem spezifischen Seinsmodus als das Andere der Vorstellung bezeichnet: Sinnlichkeit und Affekt oder sinnliche Materie. Was ist diese These? Sicherlich das gravierendste Missverständnis, da sie, indem sie das Denken auf die Vorstellung reduziert, die Intensität von der Wahrheit trennt. Die Begierde der Intensität unterscheidet sich jetzt von jeglicher Art der »Vitalisierung«. Wir weigern uns, die Begierde vom Denken zu trennen, wir haben den Glauben aufgegeben, die Begierde habe einen anderen Ursprung als das Denken selbst. Intensität außerhalb der intellektuellen Aktivität ist nicht. Indem wir erkennen, dass Unermesslichkeit sich nur in der Macht des Denkens produziert, hören wir zugleich auf, sie voneinander trennen zu wollen, und setzen damit dem angeborenen Missverständnis ein Ende. Unter dieser Bedingung findet sich die Begierde wieder, unter dieser Bedingung können wir sie als die von der Endlichkeit befreiende Macht wiedererkennen. Allein das Denken übersteigt nämlich die Vorstellung, allein seine Aktivität befreit uns von Mangelhaftigkeit und Substanzlosigkeit. Nichts könnte uns dazu bringen, Intensität weiter im Leben zu suchen. Dies gilt jedoch nur unter der Voraussetzung, dass wir zeigen, dass sich das Denken in der von der Begierde der Unermesslichkeit offenbarten Spur nicht auf das Vorstellen reduziert. In dieser Unterscheidung gibt der Idealismus dem Denken zugleich seine Begierde und seine Macht zurück.

* * *

Philosophisch ist die Begierde, die nicht mehr Begierde des Repräsentativs ist: die Begierde danach, was in diesem nicht erscheinen kann, danach, was dieses übersteigt. Was begehren wir also? Intensität und Macht, die nicht auf die figurale Beschränkung reduzierbar sind. In dieser prinzipiellen Unterscheidung befreit die Philosophie die Begierde des reinen Denkens. In unserer anfänglichen Situation erscheint diese Begierde im Vorstellen, d. h. in dem, was ihre Anwesenheit ausschließt. Also findet sie sich als Exzess wieder, als die Weigerung, der Mangelhaftigkeit des Repräsentativs zuzustimmen.

So entsteht im Idealismus die erste Schwierigkeit: Wir streben danach, die Intensität in uns zu erfahren, was im Repräsentativ nicht stattfinden kann. Da Unermesslichkeit und Vorstellung sich in einem disjunkten Verhältnis befinden, kann die Vorstellung nicht den Horizont der Befriedigung unserer Begierde bilden. Jede Figur – in sich selbst unbefriedigend – schließt die Anwesenheit von Intensität aus. Wir begehren, wovon wir in der Figur keine Erfahrung machen können. Ist es nicht eitel und widersprüchlich, das zu begehren, was unsere Erfahrung ausschließt? Das Repräsentativ schließt die Anwesenheit von Unermesslichkeit aus, in der von ihm eröffneten Erfahrung kann sie nicht entstehen. Muss man also nicht anerkennen, dass das Erleben der Unermesslichkeit die Abschaffung dessen verlangt, was wir sind, was wir zu sein gewiss sind? Die Aporie scheint unausweichlich und uns sogar dazu führen zu müssen, auf diese Begierde zu verzichten.

Die Forderung nach Unermesslichkeit kann aber nicht aufgegeben werden: Dies würde bedeuten, der Ohnmacht zuzustimmen, das Unerträgliche zu akzeptieren. Wir können uns auch nicht damit befriedigen, uns den Exzess des Repräsentativs vorzustellen, so mit der bloßen Ankündigung der Befreiung ohne ihre Erfahrung zufrieden, was widersprüchlich wäre. Bloß vorgestellte Unermesslichkeit wüsste uns nicht zu befriedigen.

Was entsteht also in der Philosophie? Das größte Paradox: Die Begierde der Unermesslichkeit akzeptiert es nicht mehr, sich der figuralen Beschränkung oder irgendetwas zu unterwerfen, was Ohnmacht und Sklaverei als schicksalhaft aufzwingt. Wir glauben nicht mehr daran, was uns damals der Mangelhaftigkeit zustimmen ließ. In einem radikalen Widerstand entlarvt die Begierde der Unermesslichkeit die angebliche Realität, also alles, was zur Liebe dessen führt, was die Unermesslichkeit hemmt. Die Philosophie, die einzige Subversion, lehrt uns gegen die Herrschaft des Repräsentativs den Exzess.

Was gebietet uns der Exzess? Nicht mehr im Repräsentativ eingeschlossen zu bleiben, sogar nicht mehr danach zu streben, was in ihm erscheint. Diesem zuzustimmen, heißt, unmittelbar auf die Macht des Denkens zu verzichten, implizit vorauszusetzen, nur die Ohnmacht wollen zu können, sogar zu glauben, wir seien nur in ihr und durch sie. So lautet jedoch die prinzipielle Entscheidung der neoaristotelischen These, aus welcher Hegel die letzte Konsequenz zog. Wider dieses Schicksal der Knechtung müssen wir dem scheinbaren Widerspruch entgegentreten: Intensität zu wollen, heißt zugleich, sich dem Repräsentativ zu verweigern, Unermesslichkeit zu wollen, heißt, zuzustimmen, dass diese Forderung unsere Erfahrung dekonstruiert. Aber liegt immer noch ein Widerspruch vor, wenn wir anerkennen, dass wir nach dieser Abschaffung streben? Die Philosophie, Treue zum Exzess, fordert, dass wir in uns die Macht des Denkens entfesseln und wir für diese Befreiung alle Bedingungen produzieren. Die Forderung kann nur denjenigen beunruhigen, der sich als Repräsentativ versteht, der in der figuralen Verschlossenheit sein und sich damit begnügen will. Für ihn ist der philosophische Aufstand nämlich gefährlich.

* * *

Dies ist die erste Aufgabe: zu zeigen, dass die Begierde der Unermesslichkeit weder eitel noch widersprüchlich ist, dass es keineswegs unausweichlich ist, dass ihr durch uns widersprochen wird, und dass das, worauf sie de facto stößt – unsere Erfahrung –, sie nur relativ behindert. Nichts zwingt das Denken, seiner Ohnmacht zuzustimmen, und damit zuzulassen, dass die Schwäche des Repräsentativs uns ohne Ende unterwirft. Die Philosophie kann aber nur sicherstellen, dass dies nicht unausweichlich ist, indem die Bedingungen der Begierde der Unermesslichkeit aufgeklärt werden, indem sie sowohl die Möglichkeit als auch die Modalitäten dieser Begierde klar benennt. Was ist also der Exzess des Repräsentativs für die Philosophie? Ihre Definition.

In ihr wird dieser Aufstand nicht mehr ein bloßes Postulieren sein. Die mit dem Leben gleichgesetzte Begierde der Intensität ist zu Widerspruch und Ohnmacht verdammt. In dieser Verwirrung führt jede Handlung unausweichlich dazu, sich darum zu bemühen, das, was die Vorstellung übersteigt, in derselben erscheinen zu lassen, was absurd ist. Nichts ermöglicht, die Erfahrung des Lebens dort zu machen, wo es abwesend ist. Das Werk Schopenhauers lässt diesen Widerspruch ohne Umschweife erkennen: Der »Wille« soll in unserer Erfahrung in der Form der Zeit erscheinen, die seine Anwesenheit in ihrem eigenen Seinsmodus ausschließt. Oder das Leben strebt in einem gleichermaßen unerkannten Widerspruch danach, sich eine Phänomenalität in der leeren Vermittlungsform des Bewusstseins zu geben, das als Vorstellung die Entvitalisierung selbst ist. Nichts ermöglicht dort, wo Intensität und Leben miteinander verwechselt werden, die Bedingungen und die Modalitäten eines reellen Exzesses der Abwesenheit zu erhellen: die Abschaffung des Repräsentativs. Wozu führt dies? Dazu, dass man die Befreiung als bloße Selbstabschaffung desjenigen denkt, der begehrt.

Die Philosophie etabliert sich durch die Erkenntnis dieser Aporie und den Verzicht auf diese Verwechslung. Sie entkommt ihnen, indem sie den Status dessen aufklärt, welches auf das Erleben der Unermesslichkeit verzichten macht und sie verhindert. Solange diese Untersuchung nicht durchgeführt wird, bleiben die Wiederholung des Scheiterns und der Glaube an den aporetischen Charakter der Begierde der Intensität unausweichlich. Was muss gezeigt werden? Dass nichts anderes als ein Missverständnis in Bezug auf den Status des Repräsentativs und auf unser Verhältnis zu ihm sie behindert. Gewiss wird die Anwesenheit der Unermesslichkeit von der Vorstellung ausgeschlossen; aber was ist der Status dieses Ausschließens der Anwesenheit? Zwischen Unermesslichkeit und Vorstellung, zwischen unserer Begierde und der Vorstellung gibt es tatsächlich nur Trennung. Unsere effektive Begierde – dies müssen wir auf uns nehmen – kann allein durch die Abschaffung des Repräsentativs befriedigt werden.

* * *

Die Abwesenheit von Unermesslichkeit lässt sich unter einem doppelten Gesichtspunkt analysieren: in dem Faktum des Repräsentativs und in unserem Verhältnis zu ihm. In einer ersten Beziehung, spontan und anhaftend, finden wir die Realität darin, was im Horizont des Repräsentativs erscheint. Was macht aus dem, welches sich da äußert, die »Realität« selbst? Die aneignende Begierde. Nur sie verwandelt diese Äußerung in unsere »Essenz« und durch ihren Identifikationsprozess in unsere Identität. Wo findet die Gefangenschaft in der figuralen Ohnmacht statt? In uns; eigentlich sind wir diese Operation des Verschließens sogar selbst. Wir stellen sie in der anhaftenden Beziehung her, die uns mit dem Repräsentativ identifiziert. Diese zunächst unerkannte Angleichung verkleinert uns und verschließt uns in der Mangelhaftigkeit des Endlichen. Wir halten die Angleichung spontan für unsere »Natur«. Genau genommen identifizieren wir uns damit. Was ist hier tätig? Evidenz, gewiss, aber mehr noch Begierde. Welche Begierde? Die der Aneignung. Die der anhaftenden Liebe des Endlichen.

Die Begierde der Unermesslichkeit stößt auf das, was unsere Erfahrung ausmacht, genauer gesagt, auf das, was wir für unsere »Identität« halten. Wir sind in unserer »Realität« das Hindernis für die Begierde, unser »Sein« entwirklicht sie. Wir können Unermesslichkeit schlichtweg nicht erfahren. In der Philosophie jedoch begehren wir, was in und für uns nicht geschehen kann, wir begehren, was wir ausschließen. Da die Begierde in der Evidenz auf unsere »Realität« stößt, eröffnet sich nur eine Alternative: Wir müssen entweder darauf verzichten oder zeigen, dass dieses Hindernis keines ist und dass das, welches die »Evidenz« als unsere »Realität« bezeichnet, nur Effekt eines Glaubens ist.

Es ist also wichtig, den Status der Vorstellung aufzuklären. Entgegen der angeborenen »Evidenz« erkennen wir das Repräsentativ nicht mehr als unsere »Essenz«, sondern als das, was wir glauben zu sein. Woher stammt diese Identifikation? Allein von der aneignenden Begierde. Wir wollen ein Besonderes sein und dies ist nur innerhalb des Horizonts des Repräsentativs möglich. Indem wir uns als ein solches begehren, wollen wir die Vorstellung als unser Sein. Wir identifizieren uns durch diese Gleichsetzung. Die Erfahrung, die wir von uns selbst machen, wird zu der nicht für faktisch, sondern für wesentlich gehaltenen Erfahrung des Repräsentativs. Die implizite Operation der aneignenden Liebe führt dazu, dass wir begehren, besonders zu sein. So lässt sich der Status des Hindernisses für die Begierde der Unermesslichkeit verstehen: Es ist nichts anderes als diese Begierde. Auf eine sehr paradoxe Art wollen wir uns selbst als Hindernis. Wir halten unsere Besonderheit für unsere effektive Identität, sodass wir nur begehren, was im Horizont des Repräsentativs erscheinen kann. Wir begehren also nicht Unermesslichkeit, sondern das, was sie verneint. Wir ziehen die Ohnmacht des Repräsentativs der Intensität vor, wir lieben es, die Beschränkung zu genießen. Wir bevorzugen also blind die figurale Mangelhaftigkeit gegenüber der Macht des Denkens. Indem wir uns mit dem Repräsentativ verwechseln, indem wir der Besonderheit zustimmen, verschreiben wir uns der Ohnmacht.

Die Begierde der Unermesslichkeit stößt also zwar auf die Begierde des Repräsentativs, die uns mit der Besonderheit identifiziert, aber auf gar keinen Fall auf eine »Natur«. Es ist also diese Begierde, die reflektiert und aufgeklärt werden muss. Als primäres und entscheidendes Objekt der Philosophie muss ihr entgegengetreten und sie dekonstruiert werden.

Zum Repräsentativ können wir uns auf drei Weisen verhalten: Wir können uns in ihm als dem Horizont unseres Seins niederlassen, was unser spontanes Verhalten ist, wir können versuchen, es im Leben oder in der sinnlichen Materialität abzuschaffen, wir können es schließlich in und durch die Macht des Denkens übersteigen. Wir wissen es nun: Die zwei ersten Verhaltensweisen sind unterwerfend oder aporetisch und führen de facto zu derselben Zustimmung zur Ohnmacht. Beide sind gleichermaßen Werk der Liebe des Endlichen. Allein der Idealismus – im effektiven Exzess des Repräsentativs – eröffnet einen befreienden Prozess.

Wie begehren wir in ihm Unermesslichkeit? Die nun umformulierte Frage lautet: Wer begehrt die Unermesslichkeit? Für wen ist diese Begierde vergeblich, für wen nicht? Die effektive Identität des Begehrenden entscheidet darüber. Gemäß der anfänglichen »Evidenz« sind wir Repräsentativ. Was kündigt sich so an? Die »menschliche Natur«, unsere »Natur«. Diesem naiven Glauben darf die Philosophie sich nicht weiter hingeben, d. h. unterwerfen. Nicht nur versichert uns nichts mehr, dass wir in unserer »Essenz« Vorstellung sind, sondern wir verweigern von nun an auch die Operation, die uns als solche identifiziert. Genauer gesagt haben wir nicht mehr die Begierde, uns für das Repräsentativ zu halten und uns so zu wollen.

Wer schließt in sich die Intensität nicht aus? Wer stellt sich nicht als ihre Negation her? Derjenige, der sich als »Mensch« weder definiert noch produziert. Nach Unermesslichkeit zu streben, heißt zunächst wiederzuerkennen, dass allein derjenige, der der Ohnmacht zustimmt, sich als Mensch will. Können wir uns aber von dieser Identifikation entbinden? Können wir uns – so lautet die philosophische Frage – vom »Menschsein« befreien? Wenn wir in allen Modalitäten unseres Seins endlich sind, in der und durch die Endlichkeit des Repräsentativs umhüllt, dann ist das Streben nach Unermesslichkeit tatsächlich widersprüchlich. Was erlaubt uns, gegen diese fesselnde »Evidenz« zu denken, dass wir in unserem effektiven Sein frei vom Menschsein sind? Zunächst die Tatsache, dass diese Identifikation durch ihre unreflektierte Spontaneität den identifizierenden Prozess verschleiert, durch welchen sie sich selbst produziert. Wie kann weiterhin positiv behauptet werden, dass wir uns nicht auf die Besonderheit reduzieren, die wir allerdings de facto sind? Woher kommt das Streben danach, aufzuhören, sich für endlich zu halten und sich so zu begehren? Können wir darauf verzichten, weiter derjenige zu sein, der die Unermesslichkeit verneint?

* * *

Gegen alle Thesen der Endlichkeit, gegen die Begierde, die besondert und ihr Ursprung ist, betätigt sich die Philosophie als Diskrimination. Diese soll uns lehren, dass und vor allem wie wir aufhören können, »Mensch« zu sein. So lautet die Bedingung, um der Gefangenschaft im Repräsentativ zu entkommen. Dieselbe Unterscheidung wird zeigen, dass wir in der Erfahrung zugleich Repräsentativ und Begierde danach, zugleich endlich und Liebe des Endlichen sind. Indem wir besonders sein wollen, verneinen wir die Unermesslichkeit zweifach. Wie kommen wir in dieser Negation dahin, die Unermesslichkeit gegenüber dem endlichen Ich zu bevorzugen, das wir de facto sind und auf welches uns alles zurückführt? Wie werden wir aufhören, uns als solches zu begehren? Allein indem wir die Begierde der Unermesslichkeit in uns aufnehmen, die entspringende Macht, die – im Exzess – mit der unterwerfenden Identifikation bricht.

Da wir de facto ein Besonderes »sind«, können wir also nur behaupten, dass wir uns nicht auf das Repräsentativ reduzieren und dass wir dadurch nicht in ihm gefangen sind, indem wir gegen die »Evidenz« denken. Wie sind wir besonders? Gerade als Faktum und nicht, als ob es unsere »Essenz« wäre. Wie also zeigen – so lautet die Bedingung dieser befreienden Unterscheidung, also der Philosophie –, dass wir besonders geworden sind? Nur eine Genealogie wird den mit der Besonderheit identifizierenden Prozess erhellen, welcher uns als Repräsentativ herstellt.

Woher kommt es, dass wir »Mensch« sind? Woher kommt es, dass wir Repräsentativ werden? Wie reduzieren wir uns auf dieses endliche Ich, das wir erleben, als seien wir es selbst? Wie identifizieren wir uns in einer und durch eine Figur? Die Schwierigkeit dieser Genealogie, die gleichzeitig die des Bewusstseins ist, erfordert eine neue Methode. Deren Notwendigkeit ist zunächst offenbar. Ohne sie wird die Begierde der Unermesslichkeit, die Befreiung von der Mangelhaftigkeit des Repräsentativs, immer an der Priorität unserer »Endlichkeit« scheitern. Die besondernde Bindung wird sich unausweichlich immer als primär ausweisen und so erscheinen. Ohne die Aufklärung ihrer Herkunft wird sich die Aneignung als ursprünglich darstellen und ohne Ende glauben machen, sie sei »natürlich«. Solange die Genealogie der Besonderung nicht ihren wahrhaften Status enthüllt, wird sich die Liebe des Endlichen wiederholen und uns ihre Ontologie als die einzige Wahrheit aufzwingen. Das Denken wird unausweichlich auf eine Passivität stoßen – die der in all ihren Variationen formulierten »Natur«. Nur die revolutionär-kritische Genealogie des Endlichen befreit von dieser Illusion, indem sie der Unermesslichkeit des Denkens ihre Priorität und ihre Macht zurückgibt. Sie allein ermöglicht zunächst – gegen die aneignende Verwirrung –, das Denken vom Vorstellen zu unterscheiden und sich von der faktischen Evidenz loszulösen, die es verhindert, die Macht des Denkens – effektive Unermesslichkeit – zu begehren.

Das Hindernis des Auftauchens der Philosophie ist auf ähnliche Weise dasjenige, welches uns zwingt, auf die befreiende Begierde zu verzichten. Das erste Hemmnis der Befreiung besteht nämlich darin, dass wir zunächst nichts begehren als dasjenige, welches sich von der Unermesslichkeit absetzt. Was lieben wir? Figurieren. An was hält sich unsere Begierde fest? An der Identifikation mit der Besonderheit. Die Knechtschaft – die Abwesenheit von Unermesslichkeit – drängt sich uns auf noch unmittelbarere Weise in der impliziten Zustimmung zur Erfahrung auf. Das anfängliche Hindernis hüllt sich so in unser anhaftendes Verhältnis zum Faktum und gibt sich für Treue gegenüber unserer »Natur« aus. Wir glauben, dass die Realität der »Natur« vor jeder Begierde immer schon da ist. Wem ist es wichtig, so zu behaupten, die Realität sei unabhängig von der Begierde? Demjenigen, der sich in seiner Bindung an sich selbst besonders nennt, an seine Besonderheit glaubt und sich als besonders erfährt.

Diese These der »Naturalisierung« oder der Substantialisierung des Endlichen ist mitnichten die »Feststellung« eines effektiven Seins; sie ist Effekt einer Interpretation. Was wirkt in ihr? Die Begierde danach, dass ein Besonderes zu sein unsere wahrhafte Identität ist. Was macht die Begierde mit der Erfahrung? Sie verwandelt sie in unsere »Natur«. Die Faktizität – mit Sicherheit gegeben – wird durch sie »Realität«. Das Repräsentativ wird zu dem, in welchem wir uns wiedererkennen, zu dem, welchem wir nur zustimmen können sollen. Unsere »Natur« geworden, zwinge das Repräsentativ sich vor und unabhängig von jeder Beziehung zu ihm auf. Wenn wir so wären, müssten wir dadurch auf die Begierde der Unermesslichkeit verzichten; die »Realität«, die uns von der Begierde der Unermesslichkeit trenne, würde uns leiten.

* * *

Solange diese implizite Identifikation nicht erkannt wird, sind weder der effektive Status des Endlichen noch derjenige des Hemmnisses der Begierde der Unermesslichkeit einsehbar. Einzig die Genealogie kann verstehen machen, dass diese nicht auf eine Realität stößt, die sie verhindert, sondern gerade auf die entgegengesetzte Begierde. Das Hemmnis – das einzige Hemmnis – wohnt in der Liebe des Endlichen, der das Repräsentativ realisierenden Interpretation. Das Verhaftetsein in der Besonderheit, die Liebe der Figur und unsere Zustimmung zur Ohnmacht –, das ist es, was unsere »Endlichkeit« ausmacht; mitnichten etwas wie eine »Natur«, sondern die Begierde, gebunden zu sein. Allein die aneignende Begierde führt dazu, dass wir das Endliche reell nennen, an seine Realität glauben und diese wollen. In der Aneignung identifizieren wir uns als besonders, und diese angeborene Zustimmung stellt uns diese Erfahrung als »natürlich« dar. Die Liebe des Endlichen geht uns voraus, und sehr häufig bleiben wir in ihr. In diese unausgesprochene anhaftende Zustimmung werden wir geboren und in ihr bleiben wir. In seiner Selbstverschleierung stellt sich das Wissen unserer Identität immer schon als Wirkung oder Ausdruck des Realen selbst dar. Die Begierde versteht sich als sekundär und muss dies auch, um sich nicht selbst als identifizierende Operation in ihrer Wahrheit zu erscheinen. Die Gleichsetzung verschließt und versichert sich dabei im »Wissen« unseres »Seins«. Was erklärt dies? Dass sich in der Aneignung unsere Identität erfährt und offenbart. Was verkennen wir somit? Dass wir durch die anhaftende Beziehung als besonders produziert wurden. Diese Begierde lässt an die Realität des Endlichen glauben; an die Realität also dessen, welches sich als besonders begehrt.

Die Aneignung produziert gleichzeitig unsere Identität und die ontologische These, die sie legitimiert. Wie legt die Begierde der Besonderheit ihre Bedingungen dar? Welche Thesen produziert sie? All jene, durch die sie das Endliche realisiert, all jene also unserer Selbstsetzung. Das Sein wird prinzipiell und allgemein durch diese Begierde von der Aneignung aus und im Hinblick auf diese gedacht. Sie unterwirft das Denken ihren relativen und bedingten Anforderungen, als seien sie diejenigen der Realität selbst. Sie formuliert ihre Tätigkeitsbedingungen als wahr, also unbedingt. Was tut sie so? Sie versteht die Realität durch die Aneignung, was nichts anderes ist als das Produzieren der Begierde der Aneignung als Realität. Was ist die Ontologie der Aneignung? Die implizite Selbstreflexion der Liebe des Endlichen. Was spricht sie aus? Nichts anderes als die vorgesehene Rolle des Reellen für die aneignende Begierde. Was wir begehren, begehren wir zu sein. »Für uns« soll das Endliche »reell« sein und vor allem auf diese Weise in der »Evidenz« wiedererkannt werden. In dieser Rede geht es nicht um Wahrheit, sondern sie ist nur eine Strategie, um einen Realisierungseffekt zu erzielen. Was macht die aneignende Begierde mit dem Denken? Sie reduziert es auf ihre Selbstlegitimierung. Seine Macht aufgebend, besteht seine Tätigkeit also darin, dem »Gegebenen« »essentiell« zuzustimmen. Solange sie nicht auf ihren Ursprung und die Produktionsbedingungen zurückgeführt wird, täuscht diese Rede das Denken und verbirgt ihre Herkunft und ihre Funktion.

Wie »realisiert« die Begierde das Endliche? Indem sie die Aneignungsbedingungen allein für wirklich erklärt. Was benötigt sie? Dass das, was im Horizont des Repräsentativs erscheint, für »substantiell« gehalten wird. So ist die Substantialität der Erfahrung »für uns« ursprünglich evident. Was »zeigt« diese »Evidenz«? Einerseits einen Seinsmodus der substantiellen Setzung, andererseits die primäre Passivität als eine Art des Verhältnisses zum Faktum. Was bedeutet hier »substantiell«? Das Aneigenbare, das sich als Effekt der Begierde versteckt, das sich nicht als Resultat eines Prozesses erkennt und sich somit in die Protoverweigerung von all dem stellt, durch welches es relativiert werden könnte. Gemäß dieser Substantialisierung des Endlichen bedeutet es, zu sein, ursprünglich an eine Besonderheit gebunden zu sein. In diesem Glauben verwandelt die Begierde das Faktum in eine Identität, und diese bestätigt sich in der Evidenz als »natürliches« anhaftendes Selbstverhältnis.

Die gesamte Ontologie des Endlichen ist also von der aneignenden Begierde ableitbar: es ist, was der »Mensch« liebt. Sie setzt »für uns« die Identität von Sein und Repräsentativ. Was produziert sie? Die unzweifelhafte Versicherung der Unmöglichkeit, sich von sich als besonders loszulösen. Danach zu streben, die Anhaftung zu übersteigen und aufzulösen, die uns endlich macht, führe bloß dazu, sich zu entwirklichen. In der »Evidenz« weiß sich die aneignende Liebe als in keiner Weise relativ; in ihr versichert die Realität sich ihrer selbst, und ohne sie wären wir nicht. Zu sein heißt gleichermaßen, das Endliche zu lieben. So lautet die radikalste Strategie der Selbstknechtung: Jede Begierde ist Begierde des Endlichen und ohne dieses nichts.

Die Aneignung konstituiert uns somit ursprünglich. Diese Priorität wird rigoros in dem und durch den Begriff der »Natur« ausgesprochen. Dieser sagt nichts anderes als seine Operation aus: eine prinzipielle Negation. Die »Natur« ist nichts außerhalb ihrer anhaftenden Funktion – der Verweigerung der Priorität der Unermesslichkeit; sie ist das Vergessen und vor allem die Negation des Exzesses. Vor ihr gebe es nichts, keine Macht, keinen Prozess, keine Begierde, die sie produzieren könnte: »Natur« erklärt so die Anhaftung für »absolut«. Die Wahrheit des effektiven Status des Endlichen würde diese relativieren und infolgedessen die Aneignung daran hindern, sich ihrer selbst zu versichern. »Natur« soll das Auftauchen dieser Reflexion unmöglich machen. Mehr als ein Missverständnis über den Status des Endlichen hält diese Ontologie in der für die aneignende Liebe konstitutiven Illusion gefangen. Ihre »Evidenz« produzierend drängt sich die Anhaftung als einzig legitimes Verhältnis zum Endlichen auf. Diesem Verhältnis gemäß können wir nichts als der Besonderheit zustimmen. Was entsteht in dieser Zustimmung? Die herrschende Liebe der Ohnmacht. Wie stimmen wir ihr zu? Indem wir auf sehr spontane Weise in ihr unser Sein wiedererkennen, während wir uns besonders »wissen«.

* * *

Durch diese Identifikation produzieren wir zur gleichen Zeit die Knechtschaft und die Tatsache, dass diese in einer genauen Umkehrung für Freiheit gehalten und sogar als solche erfahren wird. Diese umfassende Operation des Einsperrens im Repräsentativ hemmt zunächst die Begierde der Philosophie. Strategisch verneint sie vor allem die Möglichkeit, die Unermesslichkeit zu begehren und den Exzess des Figuralen anzustreben. Indem die Aneignung jede Tätigkeit der Begierde außer ihrer eigenen prinzipiell verneint, versucht sie, die Begierde unverbrüchlich an das Endliche zu binden. Die einzig wahrhafte Begierde sei anhaftend. Durch diese »Evidenz« ist die Begierde nach Freiheit spontan »für uns« entwirklicht. Die »Realität« selbst zwingt uns, nur das Endliche zu lieben, und wir glauben, dass wir dieser Mangelhaftigkeit zustimmen müssen, um zu sein. In dieser Begierde produzieren wir nichts als unsere Gefangenschaft, und zwar umso wirksamer, indem es zugleich geliebt wird und unbemerkt bleibt.

Die Liebe des Endlichen kann keine andere Tätigkeit der Begierde tolerieren; nichts, was sie relativieren würde. Wie unterwirft sie uns? Indem sie uns unsere Ohnmacht lieben lässt. Was ist die Bedingung dieser Unterwerfung? Das Erscheinen und sogar die Formulierung der Begierde der Unermesslichkeit zu hemmen. Indem wir uns setzen und die »Natur« als anhaftendes Prinzip produzieren, verneinen wir sowohl die Wahrheit als auch die Macht des Exzesses der Begierde. Was macht die »Natur«? Sie verlangt die figurale Zustimmung. Was ist die »menschliche Natur«? Schlichtweg der Name der Liebe des Endlichen. Nichts anderes entsteht in dieser »Natur« als die Negation des Exzesses. Welchen Effekt hat sie? Sie macht das enthaftende Verhältnis illegitim, die Loslösung absurd und gefährlich, die Befreiung unmöglich. Durch sie konstituiert uns die Negation der Begierde der Unermesslichkeit.

Gegen diese »Evidenz« erfassen wir jedoch schließlich, dass dem Endlichen keine Substantialität zukommt außer in dieser und durch diese Begierde. Dieses Erfassen eröffnet die Philosophie. Genau genommen ist es sogar ihre Bedingung. Der Antagonismus besteht unmittelbar zwischen der »Natur«, der wirksamsten aller Arten der Unterwerfung, und der Macht des Denkens. Was ist die Philosophie? Ein expliziter und vor allem radikaler Bruch mit jeglicher »Naturalisierung«. Nur indem das Denken die Anforderung reflektiert, diesen vergeblichen Glauben, der jedoch effektive Unterwerfung ist, zu beenden, findet es das Bewusstsein seiner Macht wieder.

Inwiefern ist diese Reflexion die Bedingung selbst der Philosophie? Insofern, als die Liebe des Endlichen die Negation der Wahrheit verlangt und aufzwingt. Eingehüllt in ihrer Evidenz und gefangen im Horizont ihrer Effekte stimmen wir zunächst den Bedingungen der Ontologie der Aneignung zu. Die Philosophie wüsste ohne die direkte Aufklärung dieses Selbsteinschließens nicht anzufangen. Einzig ihre unterscheidende Reflexion ermöglicht es, nicht länger für die Aneignung, sondern vielmehr von nun an gegen sie zu denken, was nichts anderes ist, als dem Denken seine befreiende Macht zurückzugeben. Die Philosophie kann mit der Liebe des Endlichen nur brechen, uns nur davon befreien, das zu wollen, was diese produziert und mit uns macht, indem sie deren Status und vor allem Herkunft erklärt. Dann – aber nur dann – würde die aneignende Begierde aufhören, unser Denken zu bestimmen und uns ihre sowohl theoretischen als auch praktischen Anforderungen für die »unsrigen« halten zu lassen. Nichts kann uns in sich unendlich gefangen halten: Von dieser Herrschaft befreit die Macht des Denkens. Der Begierde der Unermesslichkeit die Treue haltend, werden wir nicht mehr zustimmen, für »reell« zu halten, was uns die »Natur« zunächst begehren lässt.

Wir werden endlich nicht mehr durch die Liebe des Endlichen denken. Der Exzess befreit uns so von ihren Thesen und vor allem der Tätigkeit, die sie dem Denken aufzwingt: von der Passivierung, die sie diesem als Selbstverständnis und Aufgabe zuweist. Die Reflexion der Liebe des Endlichen macht deutlich, dass diese nicht einen Bezug zur Wahrheit, sondern allein zu sich selbst hat, d. h. einzig zur Produktion ihrer Effekte. Was verkünden sie anderes als die vielfältige Realisierung ihrer Bedingungen in allen Bereichen der Vorstellung? Die anhaftende Liebe lässt an die Realität des Endlichen glauben, lässt es uns wollen und substantiell nennen. Wenn die Ontologie der Aneignung endlich als das erkannt wird, was sie tatsächlich ist, von dem, der auf sie verzichtet, eröffnet sich eine neue Wachsamkeit, die nicht mehr zulässt, dass das Denken sich von dieser Ontologie unterwerfen lässt. Dieses wird sich endlich von dem schwerwiegendsten aller Widersprüche befreien, in welchem es sich selbst verneint, indem es in seiner Tätigkeit auf seine Macht verzichtet. In Wahrheit zu denken, erweist sich als gegen die aneignende Begierde zu denken.

Wovon befreit sich das Denken so? Von der Ontologie des Endlichen, in der sich die Aneignung realisiert, indem sie das Reelle mit dem Aneigenbaren identifiziert. Alle ihre Thesen drücken die Protoentscheidung dieser Liebe aus; sie behaupten alle, was wir zugeben und glauben müssen, um die aneignende Begierde zu befriedigen. Obwohl sie nur durch und für diese Begierde sind, stellt diese die Thesen als objektiv hin und zwingt sie als unabhängig von jedweder Begierde auf. Wie erreichen wir es, ihren effektiven Status wiederzuerkennen? Indem wir uns nicht länger der »Evidenz« der Aneignung unterwerfen. Indem wir uns also nicht mehr zur Besonderheit in einer anhaftenden Weise verhalten; indem wir uns nicht mehr endlich wollen, können wir aufhören, die ontologischen und praktischen Forderungen dieser Liebe zu teilen. Das Denken befreit sich nur von der »Ideologie des Endlichen«, indem es sich in sich von jedweder »Naturalisierung« loslöst. Solange diese Liebe in uns herrscht, hemmt sie unausweichlich die Begierde der Wahrheit. In ihrer »Spontaneität« erzwingt sie die Unterwerfung als die einzig effektive Tätigkeit des Denkens. Mehr noch als in ihren Thesen ist es in ihrem Missverständnis bezüglich des Status der Macht des Denkens, durch die Forderung nach dessen Passivierung, dass diese Liebe das Auftauchen der Reflexion hemmt. In dieser Gefangenschaft stimmt das Denken den Befehlen der Aneignung zu, identifiziert sich sogar mit ihnen. Prinzipiell und allgemein verschreibt sich somit alles Denken, welches die »Realität« des Endlichen akzeptiert, der absurden Aufgabe seiner Selbstknechtung.

Was verweigert die Philosophie? Die Macht des Denkens weiterhin zu verneinen; weiterhin dasjenige zu wollen, welches sich nur in der und durch die Unterwerfung produziert. Das Denken ist allein durch und für die Begierde ohnmächtig, die es so will. Gegen alles, was in ihr die Abhängigkeit fordert, gibt die Philosophie dem Denken das Wissen um sich selbst als Begierde der Intensität zurück. Welche Macht findet das Denken so wieder? Sollte es diejenige des Vorstellens sein? Gewiss nicht, wäre dieses doch widersprüchlich. Diese Befreiung, das Ende der Passivierung, produziert sich zuerst in der und durch die Unterscheidung zwischen Denken und Vorstellen. Sie geschieht also nur unter der Bedingung, dass die Verwirrung gelöst wird, die die spontane Niederlassung im Repräsentativ aufzwingt. Was ist das für eine Gleichsetzung? Der direkte Effekt unserer Protoevidenz; wir sind allein in ihr und durch sie ein Besonderes. »Unsere« Evidenz der Verwechslung von Denken und Vorstellen, die der Erfahrung also, ist in diesem Sinne nichts als die Verweigerung der Philosophie. In unserer »natürlichen« Setzung verschütten wir selbst die Möglichkeit, unseren effektiven Status und die Wahrheit des Denkens zu reflektieren.

Wir wissen immer schon, wer wir sind. In einer strengen Gleichheit »präsentiert« unsere Erfahrung unser Wissen von unserem Sein als endliches Besonderes. Wir wissen um unsere Erfahrung als unsere Realität und in ihr um das anhaftende Verhältnis zu uns selbst als alleinige Treue gegenüber dieser Realität. Die Gewissheit verkündend, ein »für uns« zu sein, versichern wir uns in dieser Protoidentifikation unserer selbst. Wer erfährt die »Substantialität« des Individuellen? Es selbst, oder eher: in ihm die Beziehung der Aneignung. Wir wissen um uns durch das spontane Erleben der Anhaftung.

Was verlangt die Wahrheit? Den Bruch mit dieser »Evidenz«. Eigentlich kann sie nicht einmal erscheinen, solange diese sich wiederholt. Vor seinem Exzess denkt sich das »für uns« nur gemäß der Ontologie der Aneignung. Diese verwandelt in ihrer sowohl theoretischen als auch praktischen Operation unaufhörlich das »Gegebene« in eine »Natur« und in dieser hält uns diese Begierde gefangen. Diese Interpretation verändert für uns den Status der Faktizität. Die aneignende Begierde präsentiert diese, lässt sie sogar als unabhängig von ihrer interpretierenden Operation erscheinen. Die aneignende Begierde bewirkt die entscheidende Mutation, die aus der gegebenen Faktizität unsere wahrhafte Identität macht. Im Impliziten setzt die Liebe des Endlichen, dass wir lieben, was wir sind. Diese Begierde denkt und nennt das Sein so, wie sie es will, um sich in ihm zu genießen: gegeben und substantiell.

Wird uns diese Illusion unausweichlich unterwerfen? Gewiss werden wir ihr ein Ende setzen, wenn wir der Liebe des Endlichen nicht mehr zustimmen, ihre Anforderungen nicht mehr bestätigen, uns nicht mehr ihr gemäß verstehen. Indem wir uns nicht länger aneignend identifizieren, wird es möglich, uns nicht mehr substantiell zu wollen. Dadurch eröffnet sich gleichermaßen die Möglichkeit, den effektiven Status unserer Besonderung aufzuklären. Dessen Wahrheit erscheint nämlich nur, wenn die Operation, die in uns das Besondere und nur dieses für reell halten lässt, aufgeklärt und aufgelöst wird. Trotzdem ist die Möglichkeit des effektiven Verzichts auf die Aneignung noch nicht begründet. Diese Befreiung kann gar nicht gewährleistet werden, solange der Status und der Ursprung der aneignenden Begierde nicht bestimmt sind. Ist es tatsächlich möglich, in uns der Liebe des Endlichen, ihren Thesen und vor allem ihrer identifizierenden Operation abzuschwören? Genau formuliert lautet die Frage: Wer kann die realisierende Anforderung des Endlichen aufgeben? Wer kann auf die Besonderung verzichten? Gewiss nicht derjenige, der sich in ihr liebt. Für ihn kann eine solche Forderung nur widersprüchlich erscheinen. Dieser Verzicht hat nur für denjenigen Sinn, der die besondernde Identifikation verweigert. Welche sind die Bedingungen dieser Entidentifizierung?

Indem wir auf die Thesen der Ontologie der Aneignung verzichten, eröffnen wir die Möglichkeit, all das zu denken, was sie verneinen. Insbesondere können wir endlich den wahrhaften Status des »für uns« aufklären. Das Besondere, das wir de facto sind, lässt sich nur befreit von der Forderung verstehen, in ihm unsere Identität zu erkennen. Was geschieht dann? Diese Verwirrung wird aufgelöst, wenn die Ontologie des Endlichen uns nicht mehr ihre Anforderungen aufzwingt. Was ist also das »für uns«? Nichts Ursprüngliches, nichts Gegebenes, sondern das Resultat eines Prozesses. Es in seiner Wahrheit zu verstehen, heißt, es nicht mehr als »gegeben«, sondern aus der Perspektive seiner Produktion als Effekt zu erkennen. Der radikale Umsturz der aneignenden Evidenz enthüllt es als entstanden. Wenn wir uns in unserem Sein nicht auf das Endliche reduzieren, auf welche Weise gehen wir dieser Identifikation dann voraus?

Die reflexive Diskrimination eröffnet zunächst die Möglichkeit, nicht länger der Gefangenschaft im Horizont des Repräsentativs zuzustimmen. Trotzdem klärt das Wissen, dass wir uns nicht in der Besonderheit erschöpfen, nicht von allein unsere effektive Identität auf: Was und wer sind wir anderes als Repräsentativ? Was trennt, als Bestimmung und Seinsmodus, die Unterscheidung zwischen dem »für uns« als Effekt der aneignenden Begierde und uns, frei von dieser? Wer also identifiziert sich nicht als besonders und produziert sich auch nicht so? Wenn sich die anfängliche Verwirrung durch die Aufklärung des sowohl ontologischen als auch egologischen Unterschieds auflöst, den wir enthalten, wo ist dieser Unterschied dann verortet? Wie lässt sich die Unterscheidung dieser beiden Identifikationen, unserer beiden Arten, selbst zu sein, analysieren? Sie trennt gewiss nicht zwei Modalitäten der Besonderung; sie spaltet das Repräsentativ nicht auf und entsteht auch nicht zwischen der Vorstellung und irgendeiner Modalität von Affekt oder Leben. Die Aktivität frei von der Besonderung, das Denken übersteigt effektiv die Ohnmacht des Repräsentativs und geht dem Einschließen in einem »für uns« voraus. Wir werden jedoch nur seine Macht frei von Beschränkung und Trennung aufklären, wenn wir vollständig und direkt auf die Verwirrungen verzichten, die in der Ontologie der Aneignung produziert werden.

Diese Diskrimination unterscheidet sich radikal von allen postkantischen Relativierungen der Vorstellung. Diese vollziehen sich in zwei Richtungen: einerseits in die, welche die Überwindung des Repräsentativs in und durch die direkte Erfahrung der Vitalität anstrebt, wie Schopenhauer, Bergson oder Henry, und andererseits in die, die uns zu einem »reinen« Bewusstsein zu führen sucht, also die von Lachelier oder Brunschvicg. Wir verzichten auf beide, da keine reelle Unterscheidung im Repräsentativ geschehen kann und es keine andere Erfahrung des Lebens gibt als die, die sich – für uns – im Bewusstsein produziert. Zu versuchen, einen internen Unterschied im Bewusstsein erscheinen zu lassen, ist im strengen Gegensatz zu unserer Absicht eine Rückkehr zur Negation der Möglichkeit einer effektiven Diskrimination.

Mit Lachelier können wir die »transzendentale« Aktivität des Denkens als »reines Bewusstsein« bezeichnen. In ihr würden wir das »moi constructeur« in seiner erzeugenden Kraft erreichen, wie sie Lachièze-Rey denkt. Was spricht man so aus? Eine ineffektive Unterscheidung. Was produziert diese These? Nur einen Scheinidealismus. Die Abwesenheit der reellen Aktivität des Denkens ist in einer Philosophie des Bewusstseins nämlich unausweichlich, da sie der Definition des Denkens selbst durch die Ohnmacht des Repräsentativs zustimmt.

Die andere Unterscheidungsmodalität, die behauptet, die Vorstellung und das Leben zu trennen, also der andere Versuch, dem Einschließen in der Leere zu entkommen, entpuppt sich gleichermaßen als vergeblich. Außerhalb des Repräsentativs behaupte sich eine reine Sinnlichkeit oder das Leben. Die Vitalität