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Wegwerfen, Ausmisten, Loslassen – leicht gesagt, aber oft schwer umgesetzt. Vielen Menschen fällt es schwer, sich von ihrem Hab und Gut zu trennen. Sie leben in sehr vollen, manchmal auch unaufgeräumten Räumen und fühlen sich deshalb stigmatisiert. Denn Wohnen ist nicht privat, sondern auch sozial kontrolliert und fremdbestimmt. Zeitgeist und Möbelindustrie bestimmen Sehgewohnheiten und die Gesellschaft hat klare Vorstellungen davon, wie gewohnt werden soll. Ordnung, Sauberkeit und eine gewisse Ästhetik werden erwartet. Viele Menschen leiden darunter, dass sie diesen Anforderungen nicht gerecht werden. Sie hängen an ihren Besitztümern und wehren sich innerlich dagegen, sie loszulassen und wegzuwerfen. Dieser Widerstand und die damit verbundene Prokrastination und emotionale Bindung an Gegenstände können viele Ursachen haben: von inneren Verpflichtungen, familiären Prägungen und Gefühlserbschaften zu Flucht- oder Armutshintergrund bis hin zu einer unbestimmten Angst vor dem Nichts. In ihrem Buch zeigt Dorothea Rohde, wie man sich in einem Trauerprozess nicht nur von liebgewonnenen Dingen, sondern auch von sozialem Gerümpel und alten emotionalen Mustern verabschiedet. Sie erklärt, warum Dinge und belastende Gewohnheiten manchmal mehr Macht über uns haben, als wir glauben, und wie wir diese Bindung Schritt für Schritt lösen können. Wer diese Kunst des Loslassens übt, schafft Platz für Veränderung, Leichtigkeit und ein wohltuendes Zuhause – und gewinnt dabei nicht nur Raum, sondern auch Freiheit zurück.
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Seitenzahl: 271
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Dorothea Rohde
Entrümpeln und Aufräumen für Zeitender Veränderung
VANDENHOECK & RUPRECHT
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.
© 2025 Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe
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Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.
Umschlagabbildung: Anne Schöttle-Hanna / designfreiheit.de
Satz: SchwabScantechnik, Göttingen
EPUB-Erstellung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com
E-Mail: [email protected]
ISBN 978-3-525-40067-8 (print)
ISBN 978-3-647-99238-9 (EPUB)
Vorwort
Kapitel 1: Fülle – und ihre Eskalationsstufen
Kapitel 2: Entrümpeln – Warum ist es so schwer?
Kapitel 3: Entrümpeln – Wie gelingt es trotzdem?
Kapitel 4: Swedish Death Cleaning – nicht von IKEA freigegeben
Kapitel 5: Social-Gerümpel
Kapitel 6: Aufräumen – Spießertum kann so schön sein
Kapitel 7: Zeiten der Trauer und großer Veränderung
Kapitel 8: Freiheit gestalten – besser statt »Schöner Wohnen«
Danksagung
Literatur
Für Tante Neuber,die mich als Kind gelehrt hat,warum ein schönes Zuhausetröstlich und wichtig ist für die Heilungvon einem großen Schmerz.
Schon bei der Einrichtung meiner Puppenstube entwickelte ich kreative Ideen, wie sie noch schöner und gemütlicher werden könnte. Meine Großmutter, die bei uns wohnte, wollte sich in einem Versandhaus einen Mantel bestellen, weil es für sie mit ihrer Gehbehinderung zu mühsam war, in Läden zu gehen und dort Mäntel anzuprobieren. Man konnte vorab Fell- und Stoffproben bestellen. Warum die Musterproben dann auf meinen Namen geordert wurden, kann ich mir nicht mehr erklären, denn ich konnte noch nicht mal lesen oder schreiben. Meine Großmutter bekam ihren Mantel, und mir bescherte diese Bestellung 40 Jahre lang Werbepost von jenem Versandhaus. Es handelte sich um »Peter Hahn«. Noch heute werde ich nostalgisch, wenn ich irgendwo den bekannten Namen sehe. Damals nutzte ich die dicken Fell- und Stoffproben als luxuriöse Teppiche und Bettvorleger in der Puppenstube. Einfach nur Stuhl, Tisch, Schrank und Bett reichten mir nicht aus, damit sich meine Puppen wohl und zu Hause fühlten. Über so etwas wie einen »Einrichtungsstil« dachte ich natürlich noch nicht nach. Gemütlich sollte es sein, warme und weiche Materialien sollten den Füßchen meiner Puppen schmeicheln und meinen Händen, die damit hantierten.
Über die Jahre wurde die Puppenstube durch eine Stereoanlage (so nannte man das in den 1970er Jahren) abgelöst. In meinem Jugendzimmer kamen Poster an die Wände, das Bett bekam eine Tagesdecke aus grobem Leinen mit Fransen. Die Metamorphose ging weiter. Ich zog innerhalb unseres Hauses zweimal um (was für ein Luxus!), strich in meiner Pubertät die Wände in wilden Farben und tapezierte später mit einer beigebraunen Stofftapete. Ich arbeitete den antiken Werkzeugschrank aus dem Keller auf und funktionierte ihn zum Kleiderschrank um. Mein Bruder baute mir einen Teetisch aus Holz mit einem Mühlespielmuster für meine Matratzen-Sitzecke. Mein Zimmer wurde meinen inneren Wandlungen gerecht. Es war nicht nur das Gestaltungsbedürfnis, das mich zu den Veränderungen trieb – es wäre mir als 14-Jährige auch peinlich gewesen, wenn meine Freund:innen in meinem Zimmer eine Puppenstube vorgefunden hätten.
Und so geht es uns auch noch als Erwachsene. Wir wünschen uns über die notwendigen Einrichtungsstücke hinaus Individuelles, Komfort, Schönheit. Wir wollen uns in unserer Wohnung zu Hause und wohlfühlen und auch dort als die gesehen werden, die wir sind. Wir sind mit unserer Wohnung zutiefst verbunden. Sie kann freien Atem, innere Ruhe, Klarheit und ein Gefühl der Sicherheit und Freiheit ermöglichen.
Aber sie ist nur dann unser Kraftplatz, wenn sie sich an die Wandlungen, Entwicklungen und an die Wendepunkte und Krisen unseres Lebens anpasst. Denn niemals sind wir danach dieselben wie vorher. Die Wohnung ist ein Ausdruck unseres Selbst, unserer Persönlichkeit und auch unseres emotionalen Zustands. Wenn sie eine alte Version von uns widerspiegelt, kann es sein, dass wir uns – wie 14-Jährige für ihre nicht mehr altersangemessene Puppenstube – schämen. Dann kann sie uns bedrängen und beengen, im schlimmsten Fall sogar unsere persönliche Entwicklung und Heilung verhindern.
Aber auch andersherum geht es. So kann die Wohnumgebung einer Ablösung und Befreiung von Altem und nicht mehr zu uns Passendem einen Schub in eine freiere Zukunft unterstützen, gar ermöglichen. Verändern wir unsere Umgebung, verändert sich unser innerer Zustand. Das können wir nutzen, um zu mehr Inspiration, Ruhe und Zuversicht zu kommen, ja um unsere Heilung zu fördern. Viele der Dinge, die mich in meiner Kindheit, Jugend und später als Erwachsene in eigenen Wohnungen begleitet haben, waren mit großer Bedeutung aufgeladen. Die Puppen und Teddys hatten Namen, ich liebte, pflegte und fütterte sie jahrelang. Autos, Legos, Malstifte und aus dem Wald oder vom Strand Mitgebrachtes speicherten Erinnerungen an die Zeit, in der ich die Dinge gefunden und zu meinen gemacht hatte oder in der sie mir geschenkt worden waren. Auf Postern und Plattencovern waren Menschen abgebildet, die ich verehrte, die mich inspirierten oder in die ich verliebt war. Bücher änderten meine Sicht auf die Welt und erweiterten meinen Horizont, als wären es Reisen in ferne Länder. Ein wunderbares großes Bild des Gottes Krishna hatte mein Bruder mir Anfang der 1970er Jahre von einer sehr langen Reise aus Indien mitgebracht. Ich liebte dieses Bild. Die Geste, dass er in einem so fernen Land an mich gedacht hatte, erfüllte mich mit Stolz und Freude. Meine Freund:innen bewunderten es, weil es so exotisch war. Diese magischen Dinge waren aufgeladen mit der Energie und dem Geist der Zeit, aus der sie stammten. Wie soll man so Bedeutendes loslassen, weggeben, gar wegwerfen? Es ist keine leichte Aufgabe. Sie erfordert Mut, den Willen zur Veränderung und geht oft mit Trauer einher. Mal fällt sie leichter, mal schwerer. Aber stellen wir uns einmal vor, dass all die Dinge, die einst eine Bedeutung für uns hatten, für immer in unseren Wohnungen Platz finden müssten! Geschichten darüber, wie es dazu kommen kann, werden in diesem Buch beschrieben und natürlich auch Auswege aus dem Dilemma gezeigt.
Die meisten von uns werden schon einmal die Zufriedenheit und Klarheit erlebt haben, die sich einstellt, nachdem wir aufgeräumt oder entrümpelt hatten. Auch den Moment der Melancholie oder Trauer, wenn man sich von einem lange geliebten, aber nun abgelebten Gegenstand getrennt hat. Wir werden erlebt haben, wie wir aufatmen konnten oder uns spontan wohlfühlten in einer wunderbaren Umgebung, aber auch, welche Beklommenheit aufkommen konnte in einer Wohnung, deren unangenehme Ausstrahlung uns bedrängte. Diese Emotionen nutzen wir in diesem Buch als Wegweiser, um zu einer Harmonie in unserer Wohnumgebung und im Inneren zu kommen. Es geht darum, Klarheit zu schaffen und loszulassen von Dingen, die uns im Weg sind. Dabei sind Aufräumen und Entrümpeln zwei vollkommen unterschiedliche Tätigkeiten.
Aufräumen heißt: entscheiden wohin.
Entrümpeln heißt: entscheiden, was wegsoll.
Aufräumen ist eine permanente Aufgabe.
Entrümpeln ist eine gelegentliche Kraftanstrengung.
Aufräumen bedeutet, Klarheit zu schaffen.
Entrümpeln bedeutet, Freiheit zu schaffen.
Was wir als klar und harmonisch empfinden oder wann wir uns frei fühlen, das ist sehr individuell. Dieser Individualität den Raum zu geben, den sie braucht, war mir Leitlinie beim Schreiben dieses Buches. Weder predige ich Minimalismus noch eine bestimmte Ordnung, die jeder Mensch einhalten sollte. Aber es gibt Erkenntnisse darüber, dass eine klare und freie Wohnumgebung unser Wohlbefinden unterstützt und die Entwicklung unserer Persönlichkeit befördert. Wie das am besten gelingt, kann nur jede oder jeder für sich selbst erleben. Dazu lade ich jetzt ein – zu einem inspirierenden Erleben.
Disclaimer: Ich gendere, um keinen Menschen zu brüskieren oder außen vor zu lassen. Insbesondere lade ich Menschen ein, die das Gendern doof finden, sich eingeschlossen und angesprochen zu fühlen. Auch sie sind von ganzem Herzen mitgemeint.
Was sind die individuellen und gesellschaftlichen Ursachen für unser Konsumverhalten? Und was bedeutet eine (über-)volle Wohnumgebung? Warum kann sie aus einer individuellen Not heraus entstehen und sogar zu Stigmatisierung führen?
Wohnen ist etwas sehr Privates und Persönliches, sollte man meinen. Aber tatsächlich ist es sozial kontrolliert und in hohem Maße fremdbestimmt. Sozial und kulturell determiniert unterliegt unsere Wohnumgebung nicht nur den Moden der aktuellen Epoche und der Einrichtungsindustrie, sondern auch Erwartungen an Ordnung, Sauberkeit und Ästhetik. Einer Person, die in einer dauerhaft übervollen und unaufgeräumten Wohnumgebung wohnt, würden die meisten Menschen ein Problem attestieren. Vielleicht würden sie dem Ausspruch von Karl Lagerfeld folgen, der Menschen in Jogginghosen nachsagt, sie hätten die Kontrolle über ihr Leben verloren. So geht Stigmatisierung.
Dabei ist das Empfinden für »zu unordentlich« oder »zu viel« individuell unterschiedlich. Es gibt Menschen, die entschuldigen sich schon dafür, dass in der Küche die Frühstücksteller noch auf der Arbeitsplatte stehen, während andere es ganz okay finden, wenn es bei ihnen zu Hause nur noch Trampelpfade durch die Wohnung gibt. Hier sind Dogmen nicht sinnvoll, es gibt keine Regeln für richtig oder falsch, alles ist zunächst einmal Ausdruck eines Bedürfnisses. Unordnung und ein Zuviel gehen jedoch nicht immer miteinander einher. Die Gründe für eine unaufgeräumte Wohnung können andere sein als die für eine übervolle Wohnung. Aber ein Zuviel verhindert oft, dass überhaupt Ordnung geschaffen werden kann.
Wenn es dann einen Leidensdruck, eine Scham, eine Einsicht gibt, dass alles zu viel oder zu unordentlich ist, kann und soll sich etwas ändern. Dieser Umschwung entsteht nicht selten, wenn der Wunsch nach einer grundlegenden Änderung im Leben auftaucht. Nach mehr Leichtigkeit und Freiheit auf verschiedenen Ebenen. Trotzdem gelingt es vielen nicht loszulassen, sich von Dingen zu trennen. Sie leiden unter der Überfülle im Leben, in der Wohnung oder im Haus. Sie wissen nicht, wie sie den inneren Widerstand gegen das Wegwerfen, Entrümpeln, Loslassen überwinden sollen. Insbesondere Trauernden fällt es schwer, Erbstücke von ihren verstorbenen Lieben wegzugeben.
Was bewirkt diesen Leidensdruck, dieses Gefühl: Es muss sich etwas ändern in meiner Wohnung? Wir sind zutiefst verbunden mit unserer Wohnumgebung, wir identifizieren uns mit ihr. Die Wohnung zeigt, wer wir sind. Und wenn sie dem Bild, das wir von uns selbst haben, nicht entspricht, dann schämen wir uns. Und Scham ist ein besonders unangenehmes Gefühl. Aber zum Trost vorweg folgendes Zitat der Psychotherapeutinnen Maren Lammers und Isgard Ohls: »Sie schämen sich oder haben Schuldgefühle? Herzlichen Glückwunsch! Sie erfüllen damit eine der wichtigsten Voraussetzungen, um mit Ihren Mitmenschen grundsätzlich gut zurechtzukommen. Sie haben außerdem das Potenzial, sich persönlich weiterzuentwickeln« (Lammers u. Ohls, 2017, S. 13).
Scham ist ein Gefühl, das uns sozial kompatibel macht. Mit Menschen, die keine Scham kennen, gehen wir nicht gern um. Sie kämen uns zu nah, beschämten uns vielleicht, hätten kein Feingefühl. Denn wie die Angst ist auch Scham ein wichtiger Schutzmechanismus. Sie schützt unsere Grenzen und sorgt dafür, dass wir die Grenzen anderer nicht überschreiten. Wenn wir also das Gefühl haben, unsere Wohnung sei nicht mehr präsentabel, weil sie zu voll, zu unordentlich, zu ungepflegt ist, dann laden wir nur noch sehr vertraute Menschen ein, um uns nicht schämen zu müssen. Anderen wollen wir uns mit dem Zustand der Wohnung nicht mehr zeigen oder gar zumuten. Und wenn wir gar niemanden mehr hineinlassen, hat die Scham überhandgenommen. Genau hier steckt das Entwicklungspotenzial, von dem Maren Lammers und Isgard Ohls (2017) sprechen. Das unangenehme Gefühl ist der Wegweiser, dass etwas nicht stimmt in meinem Leben und mit meiner Wohnung. Jetzt den Mut aufzubringen, das Thema anzuschauen und zu bearbeiten, birgt die Chance auf Veränderung und Wachstum.
Wie kommt es soweit, dass eine Wohnung übervoll ist? Angeblich befinden sich in einem deutschen Haushalt im Schnitt 10 000 Gegenstände. Ich bezweifle diese Zahl, sie kommt mir viel zu niedrig vor. Von amerikanischen Haushalten heißt es, dort hätten sich durchschnittlich 300 000 Gegenstände angesammelt (schon die Differenz zeigt, dass hier mehr gemutmaßt als gezählt wurde). Wie viel es auch sei, klar ist, dass bei den allermeisten Menschen zu Hause sukzessive immer mehr hineinkommt als rausgeht. Und dafür gibt es gute Gründe.
Wir sind Jäger:innen, Sammler:innen, Horter:innen und kaufen einfach gern ein. Dass Einkaufen so eine besondere Freude macht, dafür sorgt das Belohnungssystem in unserem Gehirn. Woher kommt die Lust aufs Shoppen? Gerade Frauen (zunehmend auch Männer) sind oft sehr unzufrieden mit ihrem Aussehen. Das ist eine ernste Sache, und es gibt ein Wort dafür: »Bodyshaming« (womit wir wieder bei der Scham wären). Wir schämen uns für etwas, das uns durchs Leben trägt, das sich keinen Normen unterwerfen lässt, das bei jedem Menschen von Natur aus anders ist. Die Social-Media-Industrie trägt mit Filtern und KI-Fotobearbeitung dazu bei, dass wir uns mit unserem Äußeren nicht wohlfühlen, indem sie vermeintlich ideale Menschenbilder kreiert. Frauen und Männer sollen jung sein und einer von der Marketing-, Film- oder Modebranche definierten Körpersilhouette entsprechen und eine von der Kosmetikindustrie als Ideal gezeigte Haut haben. Dann gelten sie als attraktiv, klug, »fuckable«, erfolgreich. Fast niemand entspricht diesem Ideal. (Ich selbst habe einen Body-Mass-Index, der nicht »normal« ist. Erfunden hat diesen Index ein Mann. Dieser Index soll mir sagen, ob ich dazugehöre und ob ich gesund bin. In Wahrheit macht er mich einfach nur fertig!) Das erzeugt Scham, Frustration oder sogar Selbsthass. Die Soziologin Eva Illouz beschreibt es in ihrem Buch »Explosive Moderne« so: »Zeitgenössische Gesellschaften bieten einen fruchtbaren Boden für eine solche Scham. So werden nichtschlanke Menschen von etwas beschämt, was Cathy O’Neil jüngst als einen schamindustriellen Komplex bezeichnet hat, der den Körper durch Diäten, Pharmazeutika und Kosmetik reglementieren und formen will. Erfolgreich kann die Schamindustrie nur sein, wenn sie gewisse Körper und Substanzen – Fett zum Beispiel – als schambehaftet kennzeichnet. Die Scham des einen ist das Interesse des anderen, da Scham in einem exponentiell wachsenden Markt gründlich zu Geld gemacht wird. Sie ist folglich wie Neid, Enttäuschung oder Liebe ausgesprochen ergiebig für verschiedene Konsumpraktiken. Damit ist Scham eine Gefühlsware geworden« (Illouz, 2024, S. 280). In diesem unangenehmen Zustand des Sich-Schämens erleben wir Kompensationsgelüste, die uns von den miesen Gefühlen, die wir über uns selbst haben, befreien sollen. Also gehen wir einkaufen. Neue Kleidung zum Beispiel, damit wir uns für einen Moment neu und anders fühlen, schöner und begehrenswerter.
Sendungen wie »Shopping Queen« sind nicht ironisch gemeint. Wir sehen das Einkaufen als mehr oder weniger spaßige Reise an, auf der es nur selten darum geht, was wirklich »gebraucht« wird. Die Käuferinnen in der Sendung shoppen nicht Möhren oder Staubsaugerbeutel. Da fallen Sätze wie dieser: »Jetzt müssen wir was Passendes zu diesem Schätzchen finden.« Das Schätzchen war in diesem Fall nicht die Käuferin, sondern eine Tasche. Gekauft wird angeblich zum Vergnügen und um sich mit dem passenden Outfit zur Tasche erhaben und stilvoll zu fühlen. Aber nicht nur Kleidung ist identitätsstiftend. Auch beim Konsum und Besitz von Einrichtungsgegenständen, Autos, Handys, um nur einiges zu nennen, geht es um Marken, um Identifikation und Image.
Wann hat das angefangen? Die entscheidende Veränderung in der Beziehung zwischen den Dingen, die wir besitzen, und dem, was wir sind, geschah in der Neuzeit. Vom 17./18. Jahrhundert an wurden in Europa neue Sachen als wertvoller angesehen als antike Dinge. Die Prämisse war: Neu ist besser. Laut dem Historiker Frank Trentmann (2016) gab es in den 1950er und 1960er Jahren in Deutschland eine beispiellose Steigerung des Einkommens. Der Begriff »Konsumgesellschaft« wurde geprägt.1 Ab Mitte der 1970er Jahre steigerten die meisten Westdeutschen ihren Konsum erheblich.
Heute sind wir Teil einer Gesellschaft, in der Konsum aus Vergnügen, als Belohnung oder zur Status- und Imageaufwertung für die meisten von uns selbstverständlich ist. Oft genug handeln wir dabei unbewusst. Kaufentscheidungen fallen innerhalb von Sekunden – gesteuert von Emotionen – und werden erst danach mit Argumenten post-rationalisiert, um die Entscheidung zu rechtfertigen und als eine vernünftige, abgewogene abzuspeichern. Weil Kaufen das Belohnungssystem des Gehirns, den Nucleus accumbens, stimuliert, eine große Menge Glückshormone auszuschütten, können wir uns mit einem Einkauf in anstrengenden Zeiten (vermeintlich) etwas Gutes tun. Wir kompensieren Frustration und das Gehirn sagt: »Gut gemacht!« Die Voraussetzungen dafür, dass wir mehr besitzen, als wir brauchen, oder sogar mehr, als wir eigentlich haben möchten, stehen also gut. So füllen sich unsere Häuser und Wohnungen, füllt sich unser großes Zuhause – unser Planet – mit Bergen von Dingen, die sich irgendwann als Müll erweisen. Wir leben in einem Zeitalter, das immer dringender große Veränderungen von uns fordert. Immer noch konsumieren wir mehr, als unsere Erde hergibt und regenerieren kann.
Wie lange können wir widerstehen, bis wir sagen: »Na gut, ich will es, ich kaufe es.« Es ist so viel einfacher, etwas zu kaufen, als sich der weitaus schwierigeren und langwierigeren Aufgabe einer Klärung zu stellen, was uns eigentlich glücklich und zufrieden macht, zumal viele von uns nicht gelernt haben, ihre Bedürfnisse wirklich wahrzunehmen oder gar auszudrücken. So ist es für die Marketingspezialist:innen ein Leichtes, mit Werbeversprechen in diese Lücke vorzudringen. Sie sagen uns tagein tagaus, was wir uns wünschen sollen. Ich kenne die Branche, weil ich selbst viele Jahre lang eine Marketingagentur geleitet habe. Wir wissen, wie wir das sogenannte »Haben-Wollen« erreichen, wie wir intuitive Zustimmung erzeugen, wie wir Bedenken vor einer riesengroßen Investition (einem neuen Haus!) zerstreuen und Sicherheit bei der Entscheidung suggerieren. Wir kennen uns damit aus, mit welchen Bildern von einem glücklichen und unbeschwerten Leben wir eine schöne, heile Zukunft vor den inneren Augen der Kund:innen entstehen lassen und wie mithilfe von Imageübertragung die Sehnsucht nach Zugehörigkeit zu einer bestimmten Community ausgelöst wird. Und wir wissen, wie Konsumdruck erzeugt wird, ohne dass es die Betrachterin oder der Betrachter mitbekommt.
Auch für fast ausschließlich online verkaufte Dinge funktioniert die Sache mit dem Image. Nicht nur Influencer:innen sorgen dafür, auch Prominente aus Branchen wie Sport oder Showbusiness werden für diesen Imagetransfer gebucht. Wir vergleichen uns nicht mehr nur – wie früher – mit unseren Nachbar:innen und unserer Peer-group, wir vergleichen uns mit Kim Kardashian und George Clooney.
Die Zeiten, in denen es reichte, Waschmittelwerbung für die Frauen vor dem Liebesfilm, Bierwerbung für die Männer in der Halbzeitpause vom Fußball und Werbung für Lebensmittel, die hauptsächlich aus Zucker bestehen, im Kinderprogramm zu zeigen, sind vorbei. Insignien der Reichen und Schönen wie teure Uhren oder Autos werden für sehr viel Geld geschickt in erfolgreichen Filmen platziert. Sie sagen dir: Warum soll das nur James Bond haben? Gönn es dir! Du hast hart gearbeitet, du hast es dir verdient! Algorithmen von De-facto-Monopolisten wie Google oder Meta tracken uns, kennen unsere Vorlieben, Hobbys und Interessen und spielen uns jeden Tag perfekt auf uns abgestimmte Werbung in die Timelines.
Aber auch in der realen Welt der Ladengeschäfte funktioniert es hervorragend, unser Kaufverhalten zu manipulieren. Gerüche, Musik, Beleuchtung – nichts bleibt dem Zufall überlassen. In Elektromärkten ist es die unangenehm weiße und helle Beleuchtung, die uns suggerieren soll: Hier ist es billig. In teuren Boutiquen schlägt uns an der Tür ein edler Duft entgegen, der uns einen Hauch von Luxus atmen lässt. In Bekleidungsgeschäften für überwiegend junges Publikum läuft laute Musik, ist das Personal grell geschminkt, um Partystimmung zu verbreiten und den Einkauf zu einem Spaß-Event zu machen. Selbst im Supermarkt sind die Waren so platziert, dass wir zuerst die »gesunden« Sachen sehen. Wenn wir erst mal Obst, Gemüse und frische Kräuter im Wagen haben, ist es wahrscheinlicher, dass wir später mehr »ungesunde« Waren wie Süßigkeiten oder Chips hinzufügen.
Wer liebt es nicht, anderen eine Freude mit einem Geschenk zu machen? Geschenke gelten als eine der fünf Love-Languages (Liebessprachen). Sie sind ein Konzept, das vom amerikanischen Beziehungsberater und Psychologen Gary Chapman (1992) beschrieben wurde. Für manche Menschen ist das Schenken oder der Erhalt von Geschenken ein wichtiger Ausdruck von Liebe. Dabei geht es nicht unbedingt um den materiellen Wert der Geschenke, sondern um die Bedeutung, die hinter der Geste steckt. Oft ist Schenken aber auch eine Abkürzung, um sich nicht um gemeinsam verbrachte Zeit oder ein echtes Zuhören und Füreinander-da-Sein bemühen zu müssen. Auf die Spitze getrieben sah ich das in einem Trash-TV-Format, dessen Namen ich »erfolgreich verdrängt« habe. Dort kauften die reichen Influencer-Eltern ihrem Sohn alles – wirklich alles! –, was er haben wollte. Ich habe selten ein unzufriedeneres Kind gesehen. Es war eine hilflose Geste der Eltern, ihre Unfähigkeit zu echtem Kontakt im Umgang mit dem Sohn zu überspielen und zu kompensieren.
Jetzt will ich nicht die Spaßbremse spielen und das Schenken verdammen. Schenken und Beschenkt-Werden sind etwas Schönes. Wenn wir uns aber auf den Weg machen, weniger Dinge zu besitzen, und – um ehrlich zu sein – alles, was wir wirklich brauchen, auch schon haben, dann macht es mehr Sinn, stattdessen Erlebnisse zu verschenken und uns nicht von Marketingkampagnen zu Weihnachten, Ostern und Muttertag einreden zu lassen, dass es allein die vielen schönen, neuen Dinge sind, die uns und unsere Liebsten glücklich machen. Auch wenn die Florist:innen den Valentinstag – entgegen den Gerüchten – nicht erfunden haben, nutzen sie und andere Händler:innen diesen Tag zur Umsatzsteigerung und reden uns ein, wir seien keine guten und romantisch Liebenden, wenn wir am 14. Februar nichts verschenkten. Ich habe zwei Jahre bei einem Blumen-Discounter am Bahnhof gearbeitet und weiß, wie wenig romantisch es da am Valentinstag zugeht. Da wird irgendwas gegriffen, das nicht allzu teuer ist, schnell eingepackt und zu Hause – vermutlich mit großer Geste – überreicht. Die Blumen kommen aus fernen Ländern, sind mit Insektiziden behandelt und alles andere als fair gehandelt. (Okay, jetzt bin ich doch die Spaßbremse. Aber es ist doch wahr!) Der ganze Tand, der an solchen Tagen über die Ladentische geht, muss hergestellt werden und dann mit Schiffen oder Flugzeugen, mit Last- und Lieferwagen in die Geschäfte und Haushalte gebracht werden. Klimarettung geht anders. Also vielleicht besser: Erlebnisse, Konzerte, Theater, Kino, fair gehandeltes Olivenöl. Und wer lieber andere als gegenständliche oder verbrauchbare Geschenke erhalten möchte, sollte ruhig darum bitten. Anstatt grundsätzlich »Nein« zu Geschenken zu sagen, können wir den Menschen von den Erlebnissen erzählen, die wir mit ihnen genießen möchten. Vom Lieblingscafé oder der örtlichen Bäckerei mit den besten Keksen, von dem Kurs, den wir gern mit ihnen besuchen möchten. Oder auch von der Lieblingswohltätigkeitsorganisation und was sie in unserem Namen spenden könnten. Würde sich nicht eine dieser Möglichkeiten besser für uns anfühlen?
In meinen beruflichen Anfängen habe ich immer wieder im Einzelhandel gearbeitet. Einmal war es die Zeit vor Weihnachten, in der ich in einem Laden für Geschenkartikel arbeitete. Es ging wahnsinnig hektisch zu. Wenn ich zum Einpacken an der Kasse eingeteilt war, versuchte ich die zerbrechlichen Dinge sorgsam einzupacken, sodass sie heil bei den Kund:innen ankommen konnten. Der Boss schimpfte, das müsse schneller gehen, auch wenn die Gläser auf dem Weg zerbrächen. Dann kämen die Kund:innen eben wieder, und man würde ihnen die Ware ersetzen. In all der Eile war aber immer noch Zeit dafür, die neu in die Regale eingeräumten Sachen mit einem Preis auszuzeichnen, der direkt danach von Hand durchgestrichen und durch einen niedrigeren ersetzt wurde. 40 Jahre später denke ich immer noch manchmal, dass ich besonders clever bin und Glück habe, wenn ich einen dieser »heruntergesetzten« Artikel kaufe.
Wie sollen wir all diesen Versprechungen, diesen Verführungen widerstehen? Es ist schier unmöglich. Die Negativbotschaften der Werbung, die uns sagen, dass wir nicht gut genug aussehen, Haut und Haare nicht schön genug sind und unsere Kinder uns mehr lieben, wenn wir ihnen dieses oder jenes kaufen, sorgen für ein konstantes Mangelgefühl. Das funktioniert vor allem, wenn wir erschöpft sind und Gefühle von Sinnlosigkeit und Überforderung überhandgenommen haben. Wie viel Kraft kostet es, der Konsumverführung immer und immer wieder zu widerstehen? Es ist oft genug leichter, einfach nachzugeben. Wir besitzen schon alles und kaufen doch immer mehr. Wir sind uns dessen bewusst, alle tun es, wir sind dem offenbar ausgeliefert. Man erkennt es nicht mehr so sehr an vollen Konsumtempeln in den Innenstädten, sondern zunehmend an den Zustellfahrzeugen, die jeden Tag Hunderte von Paketen in jeder Straße abliefern. Alles, wirklich alles ist innerhalb von 24 Stunden erhältlich. Diese Zeit könnte sich auf 30 Minuten verringern, wenn zukünftig mit Drohnen geliefert würde.
Und dann ist da immer wieder diese eine Sache, von der wir wie besessen sind, die wir unbedingt haben müssen, und wenn die neue Version davon herauskommt und die neue Saison anbricht, interessieren wir uns nicht mehr für das alte Teil, das wir besitzen. Dann wird es sogar zu etwas, das uns unzufrieden macht und mangelhaft fühlen lässt; wir sitzen in der Konsumfalle. Wir haben vermutlich über kurz oder lang Schulden, ausgelöst durch Kreditkartenzahlungen, die uns – statt warten und sparen zu müssen – sofortige Bedürfnisbefriedigung ermöglichen.
Natürlich ist Konsum an sich nicht falsch. Wir brauchen gelegentlich Dinge. Aber zwanghafter Konsum macht nicht nur nicht glücklich, er macht sogar unglücklich. Heute führen wir eine moralische Debatte darüber, ob wir von der Werbeindustrie zu willenlosen Konsument:innen konditioniert werden, künstliche Bedürfnisse eingeredet bekommen und Dinge kaufen, von denen wir eben gerade noch nicht mal wussten, dass wir sie brauchen. Wir müssen dabei unsere Herzen verschließen vor dem Wissen, unter welchen Bedingungen die Güter hergestellt und transportiert wurden und was deren Kauf für unsere Erde bedeutet.
Auf der anderen Seite der Debatte stehen vor allem klassisch Liberale, die eine Wahlfreiheit aus einem großen Angebot aus Waren und Dienstleistungen als Grundlage für Demokratie und Wohlstand sehen. In Wahrheit haben wir vielleicht nur vergessen, wer wir jenseits der Markenwelten sind, und den Glauben daran verloren, dass wir gut genug sind. Wir haben verlernt, durch höhere Werte wie Gemeinschaft, Ziele und Sinn zufrieden zu sein.
Im Zusammenhang mit Fülle und Überfülle sprechen wir auch vom Sammeln und Horten. An dieser Stelle möchte ich die beiden Begriffe zunächst unterscheiden. Beim Horten sammeln wir unterschiedliche Dinge an. Wir bevorraten uns etwa mit Lebensmitteln, Hygieneartikeln und Wein, so wie wir es in der Coronapandemie erlebt haben. Die Angst vor einem Engpass wegen versiegender Lieferketten, Angst davor, nicht mehr aus dem Haus gehen zu können, wenn man selbst erkrankt, lag vor diesem Hintergrund auf der Hand. Wobei nicht alle Menschen in dieser Zeit horteten. Es gab viele, die das Vertrauen hatten, dass es schon gut gehen würde und in den Supermärkten und Onlineshops immer genug für alle da sein würde.
Natürlich zeigt sich das Phänomen des Hortens auch außerhalb der belastenden Zeit der Pandemie. Vorratshaltung und volle Wäscheschränke kennen wir von den Generationen, die Krieg und Vertreibung erlebt haben. Die beruhigende Wirkung eines gut gefüllten Regals kann sich auf nachfolgende Generationen übertragen. Wir erlebten schon als Kinder die Entspannung der Eltern und Großeltern, wenn nachgekaufte Vorräte einsortiert wurden oder die frisch gewaschene Bettwäsche oben auf einen Stapel von vielen weiteren Garnituren kam. Oder die Freude, wenn aus einer großen Menge von Bleistiften und Kugelschreibern wieder der zum Schreiben herausgesucht wurde, den man immer schon genommen hat – trotz ausreichend Ersatz. Wir erleben, dass etliche warme Pullis, die längst aus der Mode gekommen sind oder aus anderen Gründen nicht mehr getragen werden, die Angst vor einem allzu kalten Winter oder einem Engpass bei der Energielieferung dämpfen. Ohne je selbst einen Mangel erlebt zu haben, halten viele Menschen nachfolgender Generationen an diesem guten Gefühl der Sicherheit fest.
Wenn wir dazu neigen, diese früher einmal notwendige Überlebensstrategie zu verfolgen und gleichzeitig gern weniger horten würden, dann sollten wir uns zunächst einmal nicht dafür verurteilen, denn das führt zu innerer Spannung, die uns tendenziell nur noch mehr nach der beruhigenden Wirkung des Hortens sehnen lässt. Wir können stattdessen durch eine bewusste und wohlwollende Wahrnehmung der Fülle versuchen einzuschätzen, an welcher Stelle uns dieses Verhalten im wahrsten Sinne im Weg steht.
Das Sammeln unterliegt anderen Regeln und hat andere Funktionen als das Horten. Hier geht es darum, möglichst viel von einer Sache zu besitzen. Es werden Briefmarken, Bücher, Elefanten oder Enten, Bilder, Taschen, PEZ-Spender, Antiquitäten, Autos oder Whiskey-Sorten gesammelt. Die Liste ist unendlich. Es gilt, entweder von einer begrenzten Serie alle Exemplare möglichst vollständig zu bekommen (alle Briefmarken eines Jahres aus einem bestimmten Land), Bilder oder Möbel einer Epoche zu sammeln, oder es kann (wie etwa bei Elefantenfiguren) darum gehen, eine möglichst große Variationsbreite in Größe, Stil oder Material abzudecken.
Wir unterscheiden dabei zwischen einer taxonomischen oder einer ästhetischen Sammlung. Die taxonomische ist eine Sammlung, die wir zu komplettieren versuchen. Wenn wir alle Münzen des Landes XY beisammenhaben, ist die Sammlung komplett. Wir wollen nicht noch mehr Dinge in die Kiste packen, weil wir in diesem Fall duplizieren würden, das Sammeln zum Horten übergehen würde. Menschen, denen es dagegen um eine ästhetische Sammlung geht, suchen nach Dingen, die sinnlich ansprechen, zum Beispiel Kunstgegenstände oder Düfte, aber auch Reiseziele. Wir sagen dann nicht: »Ich werde alle europäischen Länder sammeln, indem ich sie besuche.« Das wäre eine taxonomische Aufgabe. Sondern wir besuchen Orte, die uns auf der Welt interessieren. Wir reisen vielleicht nach Mexiko, weil uns dort die Maya-Tempel faszinieren, oder nach Namibia, um einmal Löwen in freier Natur zu sehen. Wir folgen unserer Neugierde oder unserem ästhetischen Empfinden, anstatt zu versuchen, die Kästchen zu füllen und abzuhaken.
Sammelleidenschaften können sich ganz verschieden auswirken und unterschiedlich viel Raum in der Wohnung, im Leben und im Budget einnehmen. Bei manchen ist es nur ein kleiner »Spleen«, der weder im Leben noch in der Wohnung viel Platz beansprucht. Er kann allerdings mitunter zum Problem werden, wenn alle Bekannten und Verwandten, die um die Sammlung wissen, froh sind, eine Geschenkidee für die kommenden Jahre zu haben. Meine Schwägerin, der es so ergangen ist, fasste sich irgendwann ein Herz und verkündete, dass sie nun genug Elefanten habe. Es war bis dahin schon eine stattliche Auswahl zusammengekommen. Sie lebte allein, sodass sich sonst niemand an den allgegenwärtigen Figuren und Motiven hätte stören können.
In einer Partnerschaft sieht es oft anders aus, vor allem, wenn eine Sammelleidenschaft viel Zeit, Raum und Geld kostet. Wenn die gemeinsame Kasse für so ein Hobby über Gebühr belastet wird, birgt das ein hohes Konfliktpotenzial. Auch die fehlende Zeit für Gemeinsamkeiten, weil einer von beiden dieser Leidenschaft frönt, kann vom anderen schmerzlich vermisst werden. Wände voller Fußball-Devotionalien oder Kunst, Vitrinen voller Sammlerstücke entsprechen nicht unbedingt dem Geschmack des Partners oder der Partnerin. Wenn dann noch der Raum in der gemeinsamen Wohnung knapp wird, heißt es vielleicht irgendwann: »Die Fotoapparate oder ich!«
Auch wenn wir eine liebevoll über Jahre angelegte Sammlung erben, kann es schwer werden, sie aufzulösen und zu entsorgen. Mein Vater hatte auf vielen (auch gemeinsamen) Reisen nicht nur besondere Streichholzschachteln und in bedrucktes Papier eingewickelte Zuckerstückchen gesammelt, sondern auch kleine Aschenbecher mit Wappen. Obwohl mir diese Dinge eigentlich nichts bedeuteten, brach es mir fast das Herz, sie nach seinem Tod loszulassen (mein Mann hat sie schließlich auf dem Flohmarkt verkauft). Ich stelle hier einmal die Möglichkeit in den Raum, schon zu Lebzeiten an die Weitergabe einer Sammlung an andere zu denken, damit die Erben in ihrem Schmerz um den Verlust eines geliebten Menschen von diesen Dingen entlastet sind. Aber dazu später mehr im Kapitel 4 über Swedish Death Cleaning.
Wenn wir selbst nicht zu den Sammler:innen gehören, können wir vielleicht dennoch etwas mehr Verständnis für sie aufbringen, wenn wir wissen, welche Motive hinter dieser Leidenschaft stecken können. Als Kinder sind die meisten von uns so etwas wie natürliche Sammlerinnen und Sammler. Wir bringen Dinge mit nach Hause und zeigen sie unserer Familie. Dann sagt vielleicht jemand: »Das ist ja gar keine richtige Sammlung, das sind nur Steine, Stöcker und vertrocknete Käfer.« Denn eine Sammlung folgt Regeln. Und dann beginnen wir, nur noch schöne Steine zu sammeln und lassen Stöcker, Käfer und anderes Interessantes liegen. Es beginnt Freude zu machen, Ordnung zu schaffen in einer Sammlung, die irgendwie zusammenhält und mehr ist als die Summe ihrer Teile. Es ist eine kleine Welt, die wir kontrollieren können, womit wir bei einer der tieferen Bedeutungen des Sammelns wären: Es gibt uns ein Gefühl der Ordnung und Kontrolle. Wir haben womöglich keine Kontrolle über unsere Karriere oder über das Verhalten der Kolleg:innen am Arbeitsplatz. Wir haben keine Kontrolle über einen Großteil unserer Außenwelt oder unsere Partner:innen, aber wir haben Kontrolle über diese Sammlung! Und es macht uns froh, wenn wir sie erweitern und verbessern können.
Als potenzielle Möglichkeit, ein Ohnmachtsgefühl zu kompensieren, kann das Sammeln eine Lösungsstrategie dafür sein, mit unangenehmen Zuständen oder Gefühlen umzugehen. Bezeichnenderweise haben nicht wenige Menschen in der Zeit der Coronapandemie nicht nur gehortet, sondern auch damit begonnen zu sammeln oder beschlossen, sich wieder intensiver um eine alte Sammlung zu kümmern.
Viele Musiker:innen kennen das Phänomen »G.A.S.«, sprich Gäs. Es ist das Akronym für »Gear-Acquisition-Syndrom«. Auf Deutsch klingt es noch weniger sexy: Zubehör-Anschaffungs-Syndrom. Natürlich haben Musiker:innen einen bestimmten Sound, den sie in ihrem Inneren hören und der dann auch aus dem Instrument oder
