Die mechanische Frau. Kriminalroman - Ingvar Ambjørnsen - E-Book

Die mechanische Frau. Kriminalroman E-Book

Ingvar Ambjörnsen

3,9
7,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Mit einem Vorwort von Frank Göhre. Victor von Falk ist Privatdetektiv und wohnt in St. Georg, dem anrüchigen Viertel gleich hinter dem Hamburger Hauptbahnhof. Drogenprobleme sind sein tägliches Brot, und der Auftrag einer Prostituierten führt ihn einmalmehr ins Heroingeschäft. Doch seine neue Klientin ist skurril: Ihre Beine sind Prothesen, aber ihre Geschäfte laufen nicht schlecht. Die «mechanische Frau» führt Falk an Orte und zu Menschen des Milieus, die selbst er als Insider der Szene bislang nicht kannte. Ein Roman, der dem Leser von der ersten Seite an Handschellen anlegt und ein Aussteigen unmöglich macht. »Ambjørnsen stimmungsvoller Roman handelt detailfreudig von der schmuddeligen Seite des Hamburger Nachtlebens.« DIE ZEIT »Hamburg St. Georg ist das Planquadrat, in dem Ingvar Ambjørnsen kalifornische Chandler Stimmung aufkommen lässt, einen Drogenmilieu-Blues intoniert, der einen tief hineinzieht, mitten ins Herz trifft und zu Tränen rührt. Oh, Mann, könnte man auch sagen, der Typ hat´s drauf.« Frank Göhre

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 320

Bewertungen
3,9 (18 Bewertungen)
8
2
6
2
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch

In seinem Roman geht es Ingvar Ambjørnsen um eine Unterweltverwicklung zwischen Oslo und San Sebastian: Ein verwirrendes Geflecht aus Alkohol, Flucht, Mord, Heroin, einer Liquidierung und dem großen Geld.

Victor von Falk ist Privatdetektiv und wohnt in St. Georg, dem anrüchigen Viertel gleich hinter dem Hamburger Hauptbahnhof. Drogenprobleme sind sein tägliches Brot, und der Auftrag einer Prostituierten führt ihn einmalmehr ins Heroingeschäft.

Doch seine neue Klientin ist skurril: Ihre Beine sind Prothesen, aber ihre Geschäfte laufen nicht schlecht. Die »mechanische Frau« führt Falk an Orte und zu Menschen des Milieus, die selbst er als Insider der Szene bislang nicht kannte.

Ein Roman, der dem Leser von der ersten Seite an Handschellen anlegt und ein Aussteigen unmöglich macht.

»Hamburg St. Georg ist das Planquadrat, in dem Ingvar Ambjørnsen kalifornische Chandler-Stimmung aufkommen lässt, einen Drogenmilieu-Blues intoniert, der einen tief hineinzieht, mitten ins Herz trifft und zu Tränen rührt. Oh, Mann, könnte man auch sagen, der Typ hat’s drauf.« Frank Göhre

»Ambjørnsens stimmungsvoller Roman handelt detailfreudig von der schmuddeligen Seite des Hamburger Nachtlebens.« DIE ZEIT

Über den Autor

Ingvar Ambjørnsen, geb. 1956 in Tønsberg, Norwegens kneipenreichster Stadt, aufgewachsen in Larvik. Nicht vollendete Gärtnerlehre und mancherlei Jobs in Industrie und Psychiatrie. Erste Buchveröffentlichung 1981: »23-salen«, seitdem zahlreiche Romane, Welterfolg mit den »Elling«-Romanen. Lebt seit 1985 in Hamburg. Bei CulturBooks erscheinen seine frühen Kriminalromane »Stalins Augen« (1989) und »Die mechanische Frau« (1991) und der Roman »San Sebastian Blues« (1990) als digitale Neuauflagen. Ingvar Ambjørnsen wurde 2012 mit dem Willy-Brandt-Preis ausgezeichnet.

Ingvar Ambjørnsen

DIE MECHANISCHE FRAU

Kriminalroman

Mit einem Vorwort von Frank Göhre

Impressum

Digitale Neuausgabe: © CulturBooks Verlag 2016

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, [email protected]

www.culturbooks.de

Alle Rechte vorbehalten

Deutsche Erstausgabe, Printfassung: © Edition Nautilus Verlag Lutz Schulenburg, 1990

Die Originalausgabe erschien 1990 unter dem Titel »Den mekaniske kvinnen« bei Cappelens Forlag, Oslo

Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj

eBook-Herstellung: CulturBooks

Erscheinungsdatum: 15.2.2016

ISBN 978-3-95988-005-3

Der Typ hat’s drauf. Ein Vorwort von Frank Göhre

Er kam aus dem Norden und war quer durch Europa in den Süden gereist. Er war ein großer Mann mit Bart und wilder Mähne, einem der Wikinger nicht unähnlich, die wir aus der kanadisch-irischen TV-Serie »Vikings« kennen. Er rauchte Selbstgedrehte und er rauchte Dope, und den spanischen Rotwein trank er literweise: Tagsüber schlief ich, nachmittagsschrieb ich ein paar Stunden, nachts wurde getrunken. Das war Anfang der Achtzigerjahre, und es war eine letztlich elende Zeit, denn der Mann begriff, dass er dabei war, sich aufdiese stille Tour das Leben zu nehmen.

Also kehrte er heim in sein nasskaltes, graues Oslo und hämmerte all das, was er bisher erlebt und erlitten hatte in die Tasten seiner Reiseschreibmaschine. Es war das vorläufige Resümee eines Aussteigers, der seine Erfahrungen auf dem harten Pflaster der Straße gemacht hatte und als Gelegenheitsjobber in Fabriken und psychiatrischen Anstalten. Der in besetzten Häusern untergekommen war, bei Hippiekommunen und Anarchos.

Darüber schrieb er – »poetische, zugleich hart belichtete Porträts von Landstreichern und Nichtstuern«. (Die Zeit) Mit klarem Blick auf die Verhältnisse, ungeschönt. »Weiße Nigger« war der Titel dieses Buches. Dem Autor Ingvar Ambjørnsen brachte es einen der bedeutendsten Literaturpreise Norwegens, und einiges an Kohle kam auch damit über. Doch das hielt ihn nicht. Auf seinen Reisen hatte er in Hamburg seine große Liebe kennengelernt und zog nun zu ihr.

Und so stieß er dann auch zu uns, zu einer lockeren Gruppe von Jungautoren, die erst etliche Jahre später einer größeren Öffentlichkeit bekannt wurden: Dietmar Bittrich (»Das Gummibärchen-Orakel), Bernhard Lassahn (»Käpt’n Blaubär«, »Der letzte Cowboy kommt aus Gütersloh«), Frank Schulz (»Die Hagener Trilogie«, »Onno Viets«), Klaus Modick (mit »Konzert ohne Dichter« 2015 auf der Spiegel-Bestsellerliste) und noch einige andere damalige »no names«. Man traf sich gelegentlich bei dem oder jenem, man redete über gut honorierte Beiträge für Anthologien und über fix zu schreibende Rezensionen für Zeitschriften und Funk, und natürlich auch darüber, wer mit wem konnte und mit wem nicht. Klatsch und Tratsch. Literatenschnack eben.

Man trank und rauchte, und der Norweger hockte in irgendeiner Ecke und – schwieg. Jahrelang habe ich Ingvar Ambjørnsen nicht anders als den in sich ruhenden großen Schweiger wahrgenommen, von Buch zu Buch aber (wortreichen Büchern) mehr geschätzt.

In St. Georg war er heimisch geworden, auf dem eigentlichen Hamburger Kiez: Ein leichter Regen fiel vom finsteren Himmel,und die bunten Neonlichter der Bars und Nachtclubs der BremerReihe ließen die feuchten Pflastersteine glitzern und glänzen,als ob sie ihr eigenes inneres Licht hätten. Gelb. Rot. Grün. Aufder anderen Straßenseite stand Betty in der Tür des Kunterbuntund kratzte sich mit dem linken hohen Pfennigabsatz am rechtenNylonbein und rückte dabei diskret ihre neue Blondinenperückezurecht.

Tristesse an einem frühen Freitagabend. Wartezeit in St. Georg. Wartezeit auch für den Erzähler dieses Hamburg-Krimis von Ingvar Ambjørnsen, auf Norwegisch in der Freien und Hansestadt geschrieben, von seiner Frau Gabriele Haefs ins Deutsche übersetzt: »Den mekaniske kvinnen« – »Die mechanische Frau«. Es ist die Geschichte eines Privatdetektivs, den es kreuz und quer durch das schmutzige Viertel treibt, durch all die Kneipen und Treffs der damaligen, späten Achtzigerjahre: Frau Möller und das Café Uhrlaub, die Bier- und Weinstube Nagel, Max & Consorten, Fritz Fick und die kleine widerwärtige Yuppiebar Ess & Treff unten im Bieberhaus, der heute nur noch Touristenfraß anbietende Portugiese auf der Langen Reihe und die Hotel Pension Marlene.

Das ist das Planquadrat, in dem Ingvar Ambjørnsen kalifornische Chandler Stimmung aufkommen lässt, einen Drogenmilieu-Blues intoniert, der einen tief hineinzieht, mitten ins Herz trifft und zu Tränen rührt. Oh, Mann, könnte man auch sagen, der Typ hat´s drauf.

Es ist noch nicht allzu lange her, dass ich mit dem einst so schweigsamen Autor einen ganzen Abend reden und ihm zuhören konnte, und dabei erfuhr, dass er als junger Mann auch als Gärtner gearbeitet hatte – wie der Schweizer Friedrich Glauser, den es dann zeitlebens herumgetrieben hat und der sich wie unser Mann aus dem Norden den Aus-der-Bahn-Geworfenen, den Drogis, den Alkis und Exis zugehörig und verbunden fühlte, was ihrem Schreiben die Glaubwürdigkeit gibt. Das behält man bei – Ingvar Ambjørnsen jedenfalls ist sich dabei treu geblieben.

Frank Göhre

1

Der Welt unendliche Tristesse.

Banal. Wie der Auftakt der meisten Gedichte meines Feindes Gregor. Die vier Wörter waren ebenso jählings aus meinem Unterbewusstsein entsprungen wie die verdreckten Tauben, die vor meinen Bürofenstern um die Hausecken gefegt kamen. Ich ließ diesen blöden Spruch immer wieder über meine Lippen gleiten, während ich Gedanken in verschiedenen Grautönen dachte.

Ich betrachtete das Telefon vor mir auf dem Schreibtisch. Ein weißer Plastikgegenstand, Dutzendware, Millionenware, ein verdammtes Dings aus zusammengequetschten Neutronen und Protonen. Vor kurzer Zeit hatte ich den Hörer in der Hand gehabt und gegen mein rechtes Ohr gepresst. Der Welt unendliche Tristesse war von hinten über mich hergefallen, als ich ihn wieder auf die Gabel gelegt hatte.

Ich hatte meinen Depri. Ich gerate so leicht aus der Fassung, wenn ich in regelmäßigen Abständen ängstlichen Eltern erzählen muss, dass ihre Befürchtungen durchaus begründet und nicht einer mehr oder weniger schmutzigen Phantasie entsprungen sind. Die Person am anderen Ende der Leitung brach durchaus nicht immer in Tränen aus, wenn ich erzählte, dass der Erbe wohl kaum, wie erhofft, Anwalt oder Tierarzt werden könnte, weil man einfach schrecklich wenig Zeit für so etwas hat, wenn man in einer Stadt wie Hamburg als Straßenfixer tätig ist.

Aber Herr Henckel hatte geweint. Ein wehes, schlimmes Weinen, das irgendwo in unangenehmer Nähe der Herzwurzeln entstanden sein musste. Ein Weinen von der Sorte, wo es eine Frechheit wäre, diese Tränen mit tröstenden Worten besänftigen zu wollen, weil es in Wirklichkeit keinen Trost gibt, nicht in diesem Leben.

Deshalb hatte ich einfach nur aufgelegt. Und hatte danach mit vier leeren Wörtern gespielt, während mich ein vertrautes Gefühl von Unzulänglichkeit in der Brust juckte.

Nein, es war wirklich kein Geheimnis, warum diese vier Wörter nach dem Gespräch mit Herrn Henckel meine Hirnrinde heimgesucht hatten. Eine Frage, die ich mir jedoch dringend stellen sollte, war die, warum ich Privatdetektiv geworden war.

Oft konnte ich laut zu meinem eigenen Spiegelbild sagen: Deine Haut ist nicht dick genug für dieses Metier, mein Junge. Steig aus. Such dir was anderes. Geh Würstchen verkaufen. Oder Fenster putzen. Egal was. Und jedes Mal kehrte ich meinem Spiegelbild den Rücken und machte mich an den nächsten Fall ohne so recht zu wissen warum.

Und das war das große Mysterium in meinem Leben.

Ich stand auf und ging ans Fenster. Schüttelte eine Roth-Händle aus der halbvollen Packung auf der Fensterbank und zündete sie an. Und als ich den herben Rauch einsog, ließ ich meinen Blick auf die Straße und das Pflaster vier Stock unter mir fallen. Es war ein Freitagabend im November, zwischen sieben und acht. Ein leichter Regen fiel vom finsteren Himmel, und die bunten Neonlichter der Bars und Nachtclubs der Bremer Reihe ließen die feuchten Pflastersteine glitzern und glänzen, als ob sie ihr eigenes inneres Licht hätten. Gelb. Rot. Grün. Auf der anderen Straßenseite stand Betty in der Tür des Kunterbunt und kratzte sich mit dem linken hohen Pfennigabsatz am rechten Nylonbein und rückte dabei diskret ihre neue Blondinenperücke zurecht. »170 Eier im Sonderangebot, Vic! Gut angelegtes Geld!« Jetzt warf sie einen gleichgültigen Blick in Richtung Bahnhof, zog sich die Angorajacke fester über dem Busen zusammen und glitt rückwärts in die Finsternis und zu den anderen wartenden Frauen. Unten beim Hansaplatz standen vier oder fünf von den ganz jungen, alle in den leuchtfarbenen Stretchhosen, die aus unerfindlichen Gründen im letzten Jahr bei den Nutten solche Beliebtheit erlangt hatten. Filterzigaretten. Handtaschen. Warten, angelehnt an Geländer und parkende Autos. Ein Hund von unbestimmbarer Rasse wackelte in Gegenfahrtrichtung mitten auf der Straße herum, überquerte sie dann schräg in Richtung Swing Time und erleichterte sich dort vor der Tür um einen halben Liter. Freitag, früher Abend, dachte ich. Wartezeit in St. Georg.

Ich wartete auch. Ich weiß nicht worauf, aber ich wartete. Darauf, dass irgendwer anrief und eine gute Nachricht für mein müdes Ohr hätte, vielleicht. Es braucht nichts Großes zu sein, dachte ich und steckte mir an der Kippe der alten eine neue Zigarette an. Braucht nicht unbedingt was mit plötzlichem Reichtum und bedingungsloser Liebe zu tun zu haben. Reicht absolut, wenn Kurt anruft und erzählen kann, dass er es geschafft hat ein paar Tage lang nüchtern zu bleiben. Oder dass eine unbekannte Frau mit tiefer Whiskystimme die falsche Nummer wählt und für einen kurzen, verwirrten Augenblick in meinem Ohr landet. An einem Tag wie diesem war ich bereit, das Glück in Sekunden zu messen.

Aber nichts geschah. Es gab nur den Regen vor dem Fenster und die lautlosen grauen Drachen, die durch das Zimmer und meine wunde Lunge schwammen.

Ich zog meine Jacke an und ging.

Ich wollte eigentlich zu Nagel in der Kirchenallee, aber ich hatte gerade zwanzig Meter hinter mich gebracht, als der letzte Regen von einer Sintflut der Sorte abgelöst wurde, in der Hamburgs Wettergötter die absoluten Experten sind. Es regnete kleine Teufelchen und sie waren allesamt eiskalt. Ich rannte über die Straße und rettete mich in den Keller unter dem Hotel Merkur, in den Astra Pott, der nie auf meiner Hitliste der Kneipen dieser Stadt gestanden hatte. Der Pott ist eine Kneipe von der Sorte, die man vergisst, noch ehe man bestellt hat.

In diesem Kellerlokal saß ganz allein eine Frau in Jeans und roter Strickjacke, deren Aufgabe es war hier unten nasse Ware zu verkaufen. Durch meinen stürmischen Einzug sah sie sich dazu gezwungen, aber die Aussicht auf ein paar Extramark in der Kasse schien sie nicht sonderlich zu erfreuen. Zwei blassgraue Augen in einem ganz und gar ausdruckslosen Gesicht musterten mich, ein Taschenbuch wurde umgedreht auf den Tresen gelegt und zwei Finger zogen die Filterzigarette aus dem Loch, damit es fragen konnte, was der Herr wünsche.

Der Herr wünschte ein Bier.

Der Herr setzte sich auf einen Barhocker und wühlte in seinen Taschen nach Zigaretten.

Sie brachte die Flasche und ich schüttelte den Kopf, als sie ihre linke Hand auf den Gläsern ruhen ließ. Damit war klargestellt, dass ich kein Tourist und auch sonst nicht so verdammt anspruchsvoll war und das schien ihr ein kurzes Lächeln wert zu sein.

Ich lächelte auch und als sie sich wieder in »Liebe in Weiß« vertiefte, dachte ich an die kurzen Sekunden des Glücks und daran, dass ich mir geschworen hatte mich mit dem zufrieden zu geben, was sich an diesem Abend bieten würde. Das Lächeln einer müden Frau, während draußen die Welt ertrinkt. Ein kühles Bier und eine frisch angezündete Zigarette. Großartig und prachtvoll war das Leben zwar nicht, aber es war mit mir und manchen anderen schon sehr viel übler umgesprungen. Und als ich bei diesem Gedanken angelangt war, fiel mir auch Herr Henckel wieder ein. Seine abgrundtiefe Verzweiflung und seine sinnlosen Fragen nach dem Warum, Warum, Warum. Ich hätte ihm so viele Darum sagen können, dass ihm davon schlecht geworden wäre, aber ich hatte lieber die Klappe gehalten und aufgelegt. Schließlich drehte sich die Sache im Grunde nicht um Herrn Henckel, sondern um Iselin Henckel. Und sie hatte kein Jahr mehr zu leben, egal, ob ich nun einen klugen Spruch brachte oder nicht.

Ich bat lieber gleich um noch ein Bier, da platzte Kurt Dobler zur Tür herein.

Kurt war immer einer meiner Lieblingsschurken hier in St. Georg gewesen. Im Laufe der sieben Jahre, in denen ich in meiner Wohnung in der Bremer Reihe nun schon als Privatdetektiv tätig war, hatte er mir tausendmal Grund gegeben tausend Dank zu sagen. Und adrett zusammengefaltete Hunderter in seine Brusttasche zu schieben. Er war ein unzuverlässiger Flegel von der Sorte, die für zwei Halbe ihre eigene Mutter verkaufen würde, aber das war mir weniger wichtig. Das Einzige, was eine Rolle spielte, war, dass Kurt für mich ab und zu einen Scheißjob übernahm, wenn ich viel zu viel dafür hinlegte, und dass er mir ab und zu dies und jenes erzählte, was ein Privatdetektiv sonst nicht zu hören bekommt. Manchmal linkte er mich und manchmal linkte ich ihn und bisweilen ließen wir uns gemeinsam volllaufen und taten so, als wären wir die besten Freunde.

Er schob seinen mageren Körper neben meinen und schüttelte seine Lockenpracht, dass das Wasser nur so spritzte. Dann bestellte er ein Bier und einen Korn und sagte mir Guten Tag.

»Wie läuft der Laden?« Seine verdammte Ironie lag in seinem blauen Blick und in der alkoholgeschädigten Stimme.

»Gut«, antwortete ich. »Solange Rotzgören aus dem ganzen Land durchbrennen und hier in Hamburg auf die Fresse fallen, reicht’s für die Butter auf dem Brot. Reich werd ich nicht, aber offenbar hab ich mir eine sichere Branche ausgesucht.«

»Hast du die Kleine gefunden, nach der du neulich gesucht hast?«

»Sie liegt unten im Fortuna und reißt den Schnabel auf. Sie ist so fertig, dass ihre Freundin für zwei ficken und ihr sogar noch den Schuss drücken muss.«

Er trank einen Schluck Bier. »Dann ist sie fällig, wenn das nächste Mal Ware mit etwas mehr Schwung kommt.«

»Ja.«

»Und Susanne?«

»Wir haben uns zerstritten. Jedenfalls habe ich mich mit ihr zerstritten.«

»Treibt sie sich immer noch mit diesem Exilrussen rum?«

»Sieht so aus. Sie hat mich vor zwei Wochen angerufen und wollte zu Kaviar und Wodka einladen.«

»Die kommt schon zurück. Warte nur ab.«

»Reden wir von was anderem«, sagte ich.

Kurt zuckte die Schultern und fing an hoffnungslose Frauengeschichten zusammenzuschwindeln, während er gleichzeitig immer vier Bier auf einmal bestellte und ich konnte Papa Henckel und sein Töchterlein endlich in ein Fach in meinem Bewusstsein schieben, wo sie mir etwas weniger zu schaffen machten. Mir war das ganze Dasein schließlich so gleichgültig, dass ich dieses kleine Rattennest auch dann nicht schlagartig verließ, als ich hörte, dass die Springflut draußen vorbei war. Ja, ich hörte jetzt nur noch Kurts monotones Gefasel über feuchte Genitalien und knackige Hintern und vereinzelte Autos, die die Straße hinunterglitten und das trübe Wasser aufspritzen ließen.

Und etwas anderes, das ich nicht einordnen konnte.

Eine Art metallisches Scheppern, ein fremdes Geräusch. Es war nicht leicht zu sagen, ob es von weit her kam oder aus nächster Nähe. Ich spitzte die Ohren, aber da verstummte das Geräusch. Dann war es plötzlich wieder da, während Kurt sich über den Menstruationszyklus seiner neuen Ramme verbreitete. Als hinter uns etwas gegen die Fensterscheibe schlug, fuhren Kurt und ich gleichzeitig herum.

»Ach«, murmelte Kurt. »Ist sie hierher umgezogen!« Ich konnte kein Wort herausbringen. Was ich sah, kam mir geradezu grotesk vor. Die Fenster zur Bremer Reihe ragten etwa anderthalb Meter über dem Asphalt auf. Wenn man unten im Pott saß, konnte man die kopflosen Körper der Vorübergehenden betrachten. Im Moment ging draußen zwar niemand vorbei, es waren jedoch zwei Beinpaare dicht vor den kleinen Fensterscheiben postiert. Das Paar gehörte zu der Sorte, von der in diesem Stadtteil dreizehn aufs Dutzend gehen. Unter einem hautengen Minirock aus schwarzem Leder schauten zwei wohl geformte Jungmädchenbeine hervor, deren wenig glückliche Besitzerin von einem hochhackigen Schuh auf den anderen trat, um bei diesem Scheißwetter ein wenig Wärme zu gewinnen. Zwischen zwei Fingern mit rosa Nägeln wippte eine angezündete Zigarette hin und her.

Aber ich hatte hier und anderswo schon manche Frauenbeine gesehen. Nicht der Anblick der jungen Nutte, die da draußen im Regen stand und sich um Leib und Leben fror, warf mich vom Stängel. Es war ihre Freundin, bei deren Anblick mir in den Handflächen der Schweiß ausbrach, während ich mir nach einer passenden Bemerkung den Kopf zerbrach. Ihr linkes Bein bestand ganz und gar aus Plastik und Stahl. Aus fleischfarbenem Plastik, geschützt von einer sinnreichen Konstruktion aus Stahlschienen. Ihr rechtes Bein war echt, allerdings nur bis zur Mitte der Wade. Darunter gab es auch auf dieser Seite nur Technik. Beide Beine endeten in einem Paar unförmiger Schuhe, die aus massivem Gummi oder etwas Ähnlichem zu bestehen schienen. Zwei Krücken standen auf ihrer rechten Seite, sie lehnte sich über dem Fenster an die Wand und presste einen roten Minirock gegen die Scheiben. Ich hatte in dieser Straße schon sehr viel schlechtes Karma gesehen, aber das hier war wirklich der Gipfel.

»Die mechanische Frau«, sagte Kurt und klaute mir eine Zigarette. »Ernst hat sie so getauft. Sie stand sonst immer an der Ecke bei Frau Möller. Himmel, Vic, die haben sich doch auf der falschen Mauerseite montiert!«

Ich schüttelte den Kopf. »Bei Frau Möller? Da kann sie aber nicht besonders lange gestanden haben. Das wüsste ich doch. Ich lass in der Kneipe immerhin mein halbes Monatsgehalt.«

»Ist vor ’ner Woche oder so aufgetaucht. Hatte den Eindruck, die anderen Mädels da unten waren sauer auf sie.«

»Sag mal, spinn ich?«, fragte ich. »Oder hab ich einfach keine Ahnung von meinem eigenen Geschlecht?«

Kurt widmete sich wieder seinem Bier. »Gibt doch haufenweise Typen, die noch immer für technisches Spielzeug schwärmen. Und bei ihr können sie schließlich beide Hobbys kombinieren. Ficken und Basteln. Bei der hat wirklich die Kasse geklingelt, soweit ich sehen konnte.«

Ich sagte nichts. Ich hatte nichts zu sagen.

Kurt wandte sich wieder dem Fenster zu und blickte aus zusammengekniffenen Augen ins Scheißwetter hinaus. »Und da haben wir auch ihren Schmierer.«

Auf der anderen Straßenseite, in der Dunkelheit halb versteckt, konnte ich einen Mann sehen. Er trug einen braunen, parkaähnlichen Mantel mit Gürtel, ein Kleidungsstück von der Sorte, die mich an die entsetzlichen Moden der sechziger Jahre denken ließ. Sein Gesicht lag im Dunkeln, aber ich glaubte eine Strickmütze erkennen zu können.

»Ihren Schmierer?«

»Hängt wie eine Klette an ihr. Der Name stammt natürlich auch von Ernst. Hat sich den Heini wohl mit ’nem Ölkännchen in der Hosentasche vorgestellt« Er lachte. »Mischung aus Zuhälter und Mechaniker.«

Mir rutschte ein unfreiwilliges Lachen heraus. Zum einen hatten Zuhälter in dieser Straße nichts zu suchen. Zum anderen: Ein Zuhälter mit Parka und Strickmütze!

Kurt schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung, was der so macht. Sieht ja aus wie ein Bauer, der sich in die Stadt verirrt hat. Kommt wahrscheinlich direkt aus dem Schweinestall.«

Umgekehrt, dachte ich. Er kommt direkt in den Schweinestall.

»Aufgepasst!«, sagte Kurt. »Hier haben wir den ersten Technokraten des Abends.«

Der Technokrat fuhr einen dunkelblauen Audi 100 und saß stocksteif hinter dem Lenkrad, während die »mechanische Frau« mit großer Mühe neben ihn auf den Vordersitz stieg. Dann fiel die Tür ins Schloss und der Wagen glitt langsam in Richtung Hansaplatz davon.

»Meine Fresse!« Kurt fummelte schon wieder an meinen Zigaretten herum. »Bei dem Wetter muss er sie doch mit dem Lötkolben auftauen, eh sie die Beine breit machen kann!«

Ich gab keine Antwort. Draußen schneite und regnete es in wildem Gemisch und ich stellte fest, dass der in die Stadt verirrte Bauer verschwunden war. Ich beschloss nach Hause zu gehen und den Träumen eine Chance zu geben.

2

Auch mit Träumen hatte ich kein besonderes Glück, aber als ich am nächsten Morgen um acht Uhr aufstand, war ich ausgeruht und bereit dem neuen Tag eine Chance zu geben. Was das Wetter anging, so hatte es sich schon blamiert, draußen tobte eine Hölle aus Schnee und Wind, aber daran gewöhnt man sich als Nachbar der Nordsee. Ich duschte und rasierte mich, setzte Kaffeewasser auf und rannte die Treppe hinunter, um zum Frühstück frische Brötchen zu kaufen. Als ich die Wohnungstür wieder aufschloss, hörte ich das Telefon in meinem Büro schellen. Was mir jedoch scheißegal war, ich hatte mir selber hoch und heilig versprochen, Privatleben und Arbeit getrennt zu halten; dass ich zu Hause arbeitete, hatte ohnehin schon genug Nachteile.

Aber natürlich. Als das kleine Plastikungeheuer wieder losröhrte, während ich mir gerade eine Scheibe Schinken abschnitt, siegte meine Neugier. Das ist wirklich komisch. Als Privatdetektiv kann man nie genug Geld anhäufen, um sich Prinzipien leisten zu können. Also ließ ich das Messer sinken, ging zum Job und nahm ab.

Es war nicht die heisere Stimme, über die ich am Vorabend phantasiert hatte, aber immerhin war es eine Frauenstimme.

»Falk? Spreche ich mit Victor von Falk? Dem Detektiv?«

Sie war jung. Sie war aufgeregt. Und sie hatte zweifellos die richtige Nummer gewählt.

»Zu Diensten«, antwortete ich. »In einer halben Stunde ungefähr. Im Moment frühstücke ich gerade. Gekochten Schinken und ein Ei, falls Sie das interessiert.«

»Ich heiße Maria Dammert«, sagte sie schnell. »Ich muss unbedingt mit Ihnen reden.«

»Kein Problem. Ich bin den ganzen Vormittag im Büro. Kommen Sie doch einfach her.« Ich nannte ihr die Adresse.

Schweigen. Ihr Atem im Hörer.

»Ich habe ein Problem«, sagte sie dann. »Ich rufe vom Bahnhof aus an. Ich war gerade in der Bremer Reihe und vor Ihrem Haus. Ich habe gesehen, dass Sie Ihr Büro im 4.Stock haben und ...«

Und jetzt hörte ich es. Dasselbe Geräusch, das ich am Vorabend schon gehört hatte. Metall gegen Metall. Oder Metall gegen hartes Plastik. Ich hielt den Atem an.

Sie fuhr fort: »Ich bin stark behindert.«

»Alles klar, Frau Dammert!«, brachte ich heraus. »Gehen Sie doch einfach an die Ecke zu Ess & Treff. Noch zwei Tassen Kaffee und ein Brötchen, dann komme ich.«

Ich versicherte mich, dass sie Ess & Treff kannte, dann verabschiedeten wir uns höflich und legten auf.

Und ich dachte: Was zum Teufel! Aber die Welt ist klein und St. Georg ist noch kleiner, und dass die Frau haufenweise Probleme hatte, überraschte mich überhaupt nicht. Es würde mich jedoch sehr überraschen, wenn ich ihr bei irgendeinem dieser Probleme helfen könnte.

Der Kaffee war inzwischen lauwarm geworden. Ich begnügte mich mit einer Tasse.

Ess & Treff war eine widerwärtige kleine Yuppiebar unten im Bieberhaus, neben dem Bahnhof, das Innere genauso widerwärtig wie das unmögliche Deutsch des Namens. Der einzige Grund, aus dem ich dieses Loch als Treffpunkt vorgeschlagen hatte, war, dass alle anständigen Kneipen in der Umgebung so früh an einem Samstagvormittag noch geschlossen waren. Weiter unten, in der Langen Reihe, war das Angebot an geöffneten Kneipen und Cafés zwar größer, aber ich hatte instinktiv vorgezogen die Plastikbeine meiner potenziellen Kundin zu schonen. Ich hatte nicht viel Ahnung von Technik und noch viel weniger von Prothesen, aber ich ging davon aus, dass die Dammert nicht gerade zum jogginggeilen Teil der Bevölkerung gehörte.

Als ich die Glastür öffnete, konnte ich kurz einen Blick auf mein Spiegelbild werfen. Wenn sie eine Nutte von der Sorte war, die nur Freier in Schlips und Kragen akzeptierte, dann hatte ich bereits eine Kundin verloren. Aber im Grunde fühlte ich mich sicher wie Valium. Die Frauen in der Bremer Reihe hatten Stil und Energie, aber als besonders prüde waren sie nicht bekannt. Und Dammert mochte in der Gegend noch neu sein, ich ging aber davon aus, dass sie den Grundton mitbekommen hatte.

Maria Dammert war so früh am Morgen der einzige Gast hier und sie war schön. Dunkle Pagenfrisur. Hohe Wangenknochen und ein regelmäßiges ovales Gesicht, ein weicher sinnlicher Mund, den ich aus einer kindischen Laune heraus gern geküsst hätte. Sie trug nicht wie die meisten anderen Nutten eine zähe Maske aus Schminke, aber vielleicht wollte sie vorläufig auch noch nicht zur Arbeit gehen. Doch, sie war schön. Aber ihre Augen waren tot. Sie waren braun und schön und groß und strahlend, aber mausetot. Und als ich mich an den Tisch setzte und die Hand ausstreckte, dachte ich, dass das Leben darin sich sicher verzogen hatte, als sie gewisse wichtige Körperteile eingebüßt hatte und stattdessen mit Plastik und Stahl sitzen geblieben war.

»Du oder Sie?« Sie rauchte Prince und sprach mit Rauch im Mund.

»Um Himmels willen! Du kannst jedenfalls du zu mir sagen. Was kann ich für dich tun?«

Mein Kaffee wurde gebracht und sie wartete, bis sich der Kellner wieder zum Tresen und zu den Bierhähnen zurückgezogen hatte.

»Jemanden für mich finden.« Sie ließ den rechten Zeigefinger um den Rand des Aschenbechers kreisen, der zwischen uns stand und sah mich mit ihrem toten Madonnenblick an. Hatte sich ein Hauch von Verzweiflung in den feuchten braunen Stein gestohlen? Nein. Sie war hart und sie war kalt. Aber trotzdem sollte ich also irgendeinen Kerl für sie finden. Vielleicht gab es in ihrem Herzen noch Leben, dachte ich.

»Wen denn?« Ich trank einen Schluck von meinem kochend heißen Kaffee.

Sie zögerte. »Meinen Verlobten.«

Ihren Verlobten! Meine Güte, gab es denn immer noch Leute, die sich mit diesem Spiel amüsierten?

»Erzähl«, sagte ich. »Ich brauche so ungefähr alles, was du auf den Tisch legen kannst. Überlass es mir, das Überflüssige wegzuschneiden.«

»Aber du hilfst mir? Ich kann bezahlen!« Ihre rechte Hand näherte sich ihrer Handtasche.

»Das mit dem Geld regeln wir später. Ich kann mich erst entscheiden, wenn du mir alles erzählt hast. Ich kann nicht alles tun und ich will nicht alles tun. Aber Leute aufspüren ist eigentlich meine Hauptbeschäftigung, es ist also sicher in Ordnung. Fang mit seinem Namen und anderen Daten an.«

Der Kellner brachte ihr Bier. Sie nahm einen tiefen Schluck und wischte sich mit dem Handrücken einen weißen Schnurrbart ab.

»Er heißt Peter. Peter Feld. Er ist 26 und kommt aus Frankfurt.«

»Aber wohnt in Hamburg?«

»Nein. In Frankfurt.«

»Arbeitet als was?«

»Mal hier, mal da. Wenn er was findet. Offiziell ist er arbeitslos.«

»Wo ist er gemeldet?«

»Frankfurt. Wir ... wohnen da beide.«

»Aha«, sagte ich. »Und dann ist Peter Feld nach Hamburg gegangen und in Hamburg ist er verschwunden, stimmt das?«

Sie nickte. »Vor zwei Wochen. Er ... er hatte hier oben etwas zu erledigen und er ist nicht zurückgekommen. Er wollte nur ein paar Tage wegbleiben, es hatte irgendwas mit einem Job zu tun, glaub ich. Als er nach einer Woche noch nicht wieder da war ... hab ich dann beschlossen, herzukommen und nach ihm zu suchen.«

Ich registrierte, dass sie nicht beschlossen hatte sich an die Polizei zu wenden.

»Und du bist sicher, dass er in der Zwischenzeit nicht nach Hause gekommen ist?«

»Ich rufe jeden Tag an. Bei der Nachbarin. Seit ich gefahren bin, ist niemand da gewesen.«

»Zwei Wochen sind ja noch nicht so schrecklich lang«, meinte ich. »Und du sagst, du hättest schon nach einer Woche kalte Füß... äh, hm, also versteh das bitte nicht falsch, aber ...«

»Ich versteh schon«, sagte sie. »Aber ich kenne Peter. Das sieht ihm nicht ähnlich. Es gefällt mir nicht.«

»Okay. Das weißt du am besten. Aber wo du doch mit dem Knaben verlobt bist und ihn so gut kennst, dass du so schnell Alarm schlägst, wundert es mich doch, dass du sagst, du glaubst, er hätte in Hamburg etwas zu erledigen gehabt. Findest du nicht?«

Sie wurde wirklich rot. Das hätte ich ihr nicht zugetraut.

»Übernimmt er ab und zu Jobs, über die er nicht so gern spricht?«, fragte ich und lächelte. Und um ihr keine unnötige Angst einzujagen, fügte ich hinzu: »Bis zur Polizei sind es über 100 Meter und ich wollte sowieso durch eine andere Straße nach Hause gehen.«

Das gefiel ihr alles nicht. Ich gefiel ihr auch nicht. Sie zog doppelt an der Zigarette und spülte den Rauch mit Pils hinunter. Dann sagte sie: »Ist schon in Ordnung, von Falk. Peter ist nicht gerade ein Musterknabe. Er ist leichtsinnig. Und ich weiß nicht immer, was er macht, um Geld an Land zu ziehen.«

»Dann erzähl mir das wenige, was du weißt.«

»Ich weiß nichts«, sagte sie mürrisch.

»Weiß er, was du machst, um Kohle in die Kasse zu kriegen?«

Sie war zwar stocksauer, aber Leute mit künstlichen Beinen haben gelernt, bis 15 zu zählen, ehe sie voller Wut davonstürzen.

Stattdessen sagte sie schlicht und einfach ja.

Und statt sie jetzt wirklich angezapft zu haben, hatte ich das Gefühl, all ihre Bremsen eingelegt zu haben. Erst nach zwei Bier hatte ich eine Art Skelett. Maria Dammert, geboren am 12.1.64, aufgewachsen in Meldorf in Dithmarschen. Sie hatte an die zehn Jahre in Spezialkliniken überall in der BRD verbracht, zuletzt in der Nähe von Frankfurt. Hier hatte sie Peter kennen gelernt und war mit ihm vor zwei Jahren in eine Zweizimmerwohnung in Sachsenhausen gezogen. Peter Feld war in Frankfurt geboren und hatte sein Leben, mit Ausnahme einiger kurzer Zwischenstationen in Hannover und Celle, dort verbracht. Nach der Schule hatte er vier Jahre als Aushilfsmechaniker in einer Autowerkstatt in Sachsenhausen gearbeitet und war gefeuert worden, weil er seine Kollegen beklaut hatte. Danach hatte Maria Dammert keine vollständige Übersicht über seine Arbeitsverhältnisse, aber das war auch nicht nötig, ich konnte es mir auch so sehr gut vorstellen. Das Einzige, was mich überraschte, war, dass sie eisern darauf bestand, dass er nicht vorbestraft war. Das konnte bedeuten, dass Peter Feld bei weitem nicht so kriminell war, wie ich vermutet hatte, aber es konnte auch bedeuten, dass er ein gerissener Mistkerl oder ein Schoßkind des Glücks, wie Gustav Gans, war. Das Allerwahrscheinlichste war jedoch, dass Maria Dammert mir die Hucke voll schwindelte, aber im Grunde spielte das auch keine Riesenrolle. Ich war daran gewöhnt, dass meine Kundschaft sich so benahm. Ehrliche Leute gehen mit ihren Problemen selten zu Privatdetektiven.

»Hältst du dich aus einem besonderen Grund hier in St. Georg auf? Abgesehen vom Job, meine ich.«

»Er ist hier gesehen worden. Ich weiß, dass er nur wenige Tage, nachdem er Frankfurt verlassen hatte, hier gesehen worden ist.«

»Von wem?«

»Von Silvia. Das ist eine Freundin. Ich wohne hier bei ihr.«

»Wo wohnt sie? Und wie heißt sie mit Nachnamen?«

»Musst du das wissen?«

»Nur, wenn ich Peter Feld für dich finden soll«, antwortete ich. »Ich muss doch irgendwo anfangen und da bringt es oft eine Menge, wenn ich mit dem Menschen rede, der den Betreffenden zuletzt gesehen hat. Ist doch logisch, oder? Außerdem will ich wissen, wo du hier in der Stadt zu erreichen bist. Kann doch sein, dass wir uns noch öfter unterhalten müssen.«

Sie gab mir die Adresse von Silvia, die mit Nachnamen Krausser hieß und offenbar ebenfalls steuerfrei arbeitete. Sie wohnte in der Koppel, einer Parallelstraße zur Langen Reihe und ich dachte hurra, denn ich bin auch ein Mann von der eher trägen Sorte.

»Hast du ein Foto von ihm? Von Peter?«

»Nicht bei mir. Ich habe doch nicht damit gerechnet, dass ich einen Privatdetektiv brauchen würde, als ich losgefahren bin. Er ist groß, über 1,80. Dünn, fast mager. Blonde kurze Haare. Glattrasiert.«

Ich unterbrach sie bei dieser Beschreibung. Die konnte ich nicht brauchen. »Wie schnell kannst du ein Foto besorgen?«

»Ich kann heute in Frankfurt anrufen.«

»Mach das bitte. Und wenn Silvia ein Telefon hat, dann würde ich sie gern von hier aus anrufen. Und frag nicht, ob das unbedingt sein muss, sei so lieb.«

Sie war so lieb. Sie schrieb Silvias Nummer auf einen Bierdeckel und ich begab mich damit zum Telefon im Keller, weil ich die Kunst, eine Telefonnummer länger als 15 Sekunden in der Birne zu behalten, einfach nicht beherrsche.

Silvia hatte eine ruhige und sympathische Stimme, die aber einen hysterischen Unterton anzunehmen schien, als ich ihr erzählte, was ich so mache und warum ich an diesem Samstagvormittag ausgerechnet ihre Nummer gewählt hatte. Ich erklärte ihr den Unterschied zwischen mir und dem Verfassungsschutz, woraufhin sie zögernd einwilligte, mich um sieben Uhr abends im Café Uhrlaub in der Langen Reihe zu treffen. Sie teilte mir sogar unaufgefordert mit, dass sie Peter Feld zuletzt vor dieser Kneipe gesehen hatte. Auf meine Frage nach einem Foto von ihm antwortete sie nein, warum in aller Welt sie denn ein Foto von ihm haben sollte. Darauf konnte ich auch keine Antwort geben, womit das Gespräch zwischen Silvia Krausser und mir beendet war.

Ich ging zu Maria Dammert und setzte mich wieder. Die Kaffeekanne war leer und ihr Bierglas auch, aber wir bestellten nichts mehr und sagten auch lange Zeit nichts. Es gibt Menschen, mit denen man schweigen kann und es gibt Menschen, mit denen man nicht schweigen kann und Maria gehörte zur ersten Gruppe. Ja, ich war davon überzeugt, dass sie am liebsten auch das bisschen, was sie mir erzählt hatte, für sich behalten hätte, und dass nur eine tiefe und echte Unruhe sie zu einer so extremen Handlung getrieben hatte, wie den Privatdetektiv Victor von Falk anzurufen und um Hilfe zu bitten. Und selbst nach dieser Überwindung, denn es war zweifellos eine Überwindung gewesen, hatte ich ihr fast alles aus der Nase ziehen müssen. Was steckte hinter diesem Wunsch, Peter Feld zu finden? Liebe, wie sie indirekt zugegeben hatte? Oder etwas anderes? Etwas, das vielleicht mit seinen Gelegenheitsjobs zusammenhing? Ich warf einen Blick auf sie, aber danach war ich immer noch so klug als wie zuvor. Sie war weit weg, in ihrer eigenen Welt, sie sah durch die Autos auf der Kirchenallee, durch den aufragenden Hauptbahnhof und immer weiter, bis zum Schloss der Goldenen Sonne.

Was ich sah, abgesehen vom Hauptbahnhof und den vielen Autos, die vorbeifuhren oder am Straßenrand parkten, war ein junger Mann mit braunem Parka und schwarz-weiß gestreifter Strickmütze. Er stand bewegungslos wie eine Statue auf der anderen Straßenseite und hatte beide Hände tief in den Jackentaschen vergraben, während Schnee und Wind um ihn herumwirbelten.

Ich sagte zweimal laut »Maria«, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen, und als mir das gelungen war, zeigte ich auf die andere Straßenseite. »Wer ist das? Der Mann im Parka?«

»Keine Ahnung«, sagte sie und zuckte die Schulter.

Ich musste mir selber eingestehen, dass sie gar nicht schlecht log, aber eine verdammte Lüge war es trotzdem.

Na gut, dachte ich. Dann reden wir eben über die Kohle. Ich zog einen Standardvertrag aus der Jackentasche.

3

Vom Büro aus erledigte ich sieben oder acht notwendige Anrufe. Es ist erstaunlich, wie oft ich solche Fälle dadurch löse, dass ich schon gleich zu Anfang die richtige Nummer wähle. Polizei. Krankenhäuser. Die Zentralambulanz für Betrunkene. Aber wenn irgendeiner dieser mehr oder weniger entgegenkommenden Menschen, mit denen ich sprach, je von einem Mann namens Peter Feld gehört hatte, dann wurde es mir gegenüber jedenfalls nicht zugegeben, so sehr ich mich auch als dessen besorgter Bruder ausgeben mochte. Jeder einzelne entseelte Körper, der in den verschiedenen Kühlhäusern der Stadt herumlag, hatte am dicken Zeh einen Namenszettel, aber auf keinem stand Peter Feld. Alle Therapeuten und Hirten Hamburgs hatten, mit anderen Worten, ihre Herde zurzeit voll unter Kontrolle. Das hieß natürlich nicht, dass es keine Löcher geben könnte. Aber das war nicht sehr wahrscheinlich. Die Liste über meinem Schreibtisch hatte ich jetzt langsam abgehakt.

Wenn er noch in Hamburg ist, dachte ich, dann befindet er sich auf freiem Fuß. Oder er ist tot.

Es war inzwischen zwei Uhr geworden und ich beschloss bei meinem Freund Li vorbeizuschauen und mir seinen billigen Mittagstisch zu Gemüte zu führen, ehe er ihn von der Speisekarte nahm. Ein vernünftiger Einfall, schließlich hatte ich bisher nur ein Brötchen und zwei Liter schwarzen Kaffee zu mir genommen. Ich wollte das gerade meinem Anrufbeantworter erzählen, als das Telefon schellte.

Es war Silvia. Ob ich nicht lieber gleich zu ihr in die Koppel kommen wollte, ihr war eingefallen, dass sie für den Abend schon eine Verabredung hatte. Ihr war bestimmt auch eingefallen, dass sie kaum etwas davon haben könnte, wenn sie mit St. Georgs einzigem Privatdetektiv beim Bier gesichtet würde, dachte ich, schwieg aber. Stattdessen sagte ich, dass mir nichts lieber wäre und das war schließlich nur ein Mittagessen von der Wahrheit entfernt.

Ich brauchte genau achteinhalb Minuten, um zu dem Haus hinüber zu spazieren, in dem Silvia Krausser wohnte, mit anderen Worten, lange genug, um klatschnass zu werden. Als ich zehnmal auf den weißen Knopf über ihrem Namen gedrückt hatte, begann die Türanlage wie eine elektrifizierte Hummel zu brummen.

Die Tür im ersten Stock war angelehnt und daran steckte ein weißes Pappschild mit ihrem Namen. Von drinnen rief eine Stimme, ich sollte einfach die Tür hinter mir ins Schloss ziehen. Das machte ich.