Die Medusa-Chroniken - Stephen Baxter - E-Book

Die Medusa-Chroniken E-Book

Stephen Baxter

0,0
11,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Aufbruch zum Jupiter

Bei einem schrecklichen Unfall verlor Commander Howard Falcon einst beinahe sein Leben, nur die hochentwickelte Technologie seiner Zeit konnte ihn damals retten. Nun macht er sich – halb Mensch, halb Maschine – auf eine atemberaubende Reise in die Zukunft, eine Reise durch Raum und Zeit. Es ist der Beginn eines Abenteuers, das die Geschichte des Menschen im Universum neu schreiben wird. Mit Die Medusa-Chroniken haben die beiden Science-Fiction-Ikonen Stephen Baxter und Alastair Reynolds erstmals gemeinsam einen Roman geschrieben – ein Meisterwerk der modernen Science-Fiction.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 697

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



DAS BUCH

Die 2080er-Jahre: Commander Howard Falcon verliert beim Absturz seines Luftschiffes Queen Elizabeth IV beinahe sein Leben und kann nur dank modernster Cyborg-Technologie gerettet werden. Von nun an ist er so gut wie unsterblich. Halb Mensch, halb Maschine wird er immer wieder aufs Neue modifiziert und auf den aktuellsten Stand der Technik gebracht.

Die 2090er-Jahre: Dank seiner einzigartigen Fähigkeiten wird Howard Falcon zu einem Botschafter der Menschheit im Universum. Als erster erkundet er die Atmosphäre des Jupiter – und entdeckt dort eine Welt, von der er niemals zu träumen wagte. Er unternimmt immer spektakulärere Missionen im Sonnensystem, führt wissenschaftliche Expeditionen durch und nimmt Kontakt zu fremden Lebensformen auf.

Die 2280er-Jahre: Howard Falcon ist eine Berühmtheit, doch auf der Erde steht man ihm, wie jeder intelligenten Technologie, zunehmend kritisch gegenüber. Als ein seit Langem schwelender Konflikt zwischen Menschen und Maschinen zu eskalieren droht, ist Falcon der Einzige, der zwischen den beiden Welten vermitteln kann. Sollte er jedoch scheitern, steht die Menschheit am Rande eines Krieges, der die Grenzen des Sonnensystems zu sprengen droht …

DIE AUTOREN

Stephen Baxter, 1957 in Liverpool geboren, studierte Mathemathik und Astronomie, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Baxter lebt und arbeitet im englischen Buckinghamshire. Zuletzt sind auf Deutsch seine Romane Proxima und Ultima erschienen.

Alastair Reynolds wurde 1966 im walisischen Barry geboren. Er arbeitete lange Jahre als Astrophysiker für die ESA, bevor er sich als freier Schriftsteller selbstständig machte. Reynolds lebt in der Nähe von Leiden in den Niederlanden. Zuletzt ist auf Deutsch sein Roman Okular erschienen.

Mehr über die Autoren und ihre Werke erfahren Sie auf:

www.diezukunft.de

STEPHEN BAXTER

ALASTAIR REYNOLDS

DIE

MEDUSA

CHRONIKEN

ROMAN

Mit Arthur C. Clarkes Story

»Ein Treffen mit Medusa«

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Titel der englischen Originalausgabe

THE MEDUSA CHRONICLES

Deutsche Übersetzung von Peter Robert

Die Novelle A MEETING WITH MEDUSA übersetzte Eva Malsch

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 11/2016

Redaktion: Ralf Dürr

Copyright © 2016 by Dendrocopos Ltd. und Stephen Baxter

»Ein Treffen mit Medusa«: Copyright © 1971 by Rocket Publishing Company Ltd.

Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München, nach dem Originalcover von Blacksheep

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN 978-3-641-19300-3V001

www.diezukunft.de

Inhalt

Wie alles begann

Prolog

ERSTER TEIL – Begegnung in der Tiefe

ZWEITER TEIL – Adam

DRITTER TEIL – Rückkehr zum Jupiter

VIERTER TEIL – Die schwierigen Jahrhunderte

FÜNFTER TEIL – Parlamentär

SECHSTER TEIL – Der innere Jupiter

Erster Epilog

Zweiter Epilog

Nachwort der Autoren

ANHANG – Arthur C. Clarke: »Ein Treffen mit Medusa«

In Gedenken an

Sir Arthur C.Clarke

Wie alles begann

Arthur C. Clarke: »Ein Treffen mit Medusa« (1971):

In den Achtzigerjahren des einundzwanzigsten Jahrhunderts trägt Howard Falcon, Kapitän des Luftschiffs Queen Elizabeth IV, bei dessen Absturz schwere Verletzungen davon. Experimentelle Cyborg-Chirurgie rettet ihm das Leben.

In den Neunzigerjahren bricht Falcon mit einem Ballonfahrzeug namens Kon-Tiki zu einer Solo-Mission in die Jupiterwolken auf. Dort findet er eine exotische Umgebung vor, deren Ökologie von riesigen »Pflanzenfressern« beherrscht wird, die er »Medusen« nennt; sie werden von »Flügelrochen« gejagt.

Die kybernetische Chirurgie hat Falcon mit übermenschlichen Fähigkeiten ausgestattet, ihn jedoch von der Menschheit isoliert, denn es wird keine weiteren derartigen Experimente geben. Aber Falcon »empfand einen feierlichen Stolz auf seine einzigartige Einsamkeit. Er war das erste unsterbliche Mittelding zwischen zwei Produkten der Schöpfung. Immerhin würde er ein Botschafter sein – zwischen dem Alten und dem Neuen – zwischen den Kreaturen aus Kohlenstoff und den Kreaturen aus Metall, die eines Tages die Oberhand gewinnen würden. Beide würden ihn brauchen in den schwierigen Jahrhunderten, die der Welt bevorstanden.«

Dieses Buch erzählt die Geschichte jener schwierigen Jahrhunderte.

Prolog

Falcon würde den Tag, an dem er angefangen hatte, von der Flucht in den Himmel zu träumen, für immer in Erinnerung behalten.

Commander Howard Falcon, World Navy, war damals nur Howard gewesen, elf Jahre alt, zu Hause in Yorkshire, England, einer Region, die zu einer föderalen Zone der neuerdings vereinigten Welt gehörte. Und während der Nacht hatte es geschneit.

Mit dem Ärmel seines Bademantels fuhr er über mehrere Scheiben des Fensters und wischte den Beschlag weg. Auf der Außenseite jedes kleinen Glasquadrats hatte sich am unteren Rand und in einer Ecke ein präziser L-förmiger Schneebelag angesammelt. In den Tagen zuvor hatte es häufiger geschneit, aber nie so stark wie in dieser Nacht. Und der Schnee war genau zur richtigen Zeit gekommen, ein Weihnachtsgeschenk des Globalen Wettersekretariats.

Der Garten, den Howard kannte, hatte sich verwandelt. Er wirkte breiter und länger, von den Hecken zu beiden Seiten bis zu dem Zaun mit dem Zickzackmuster am Ende der sanft abfallenden Rasenfläche, auf dem ein Grat aus Schnee lag, hübsch wie die Verzierung eines Geburtstagskuchens. Es sah alles so kalt und still aus, so einladend und geheimnisvoll.

Und der Himmel über dem Zaun und den Hecken war klar, wolkenlos und zu dieser noch frühen Stunde von einem zarten blassrosa Pink durchzogen. Howard schaute lange zum Himmel hinauf und fragte sich, wie es wohl wäre, über der Erde zu sein, von nichts als Luft umgeben. Es würde kalt sein da oben, aber für die Freiheit des Fliegens nähme er das in Kauf.

Hier, im Wohnzimmer des Landhauses, war es jedoch warm und behaglich. Als Howard aus seinem Zimmer heruntergekommen war, hatte er festgestellt, dass seine Mutter schon auf war und Brot backte. Sie hatte ein Faible fürs Traditionelle. Sein Vater hatte Feuer im Kamin gemacht, und jetzt knisterte und zischte es. Auf dem Kaminsims prangte eine Sammlung von Nippes und Souvenirs, darunter ein unbeholfen zusammengebasteltes Modell auf einem durchsichtigen Kunststoffständer: ein Heißluftballon mit offener Gondel und einer Plastikhülle darüber.

Howard suchte sich sein Lieblingsspielzeug und stellte es aufs Fensterbrett, damit es den Schnee ebenfalls sehen konnte. Der goldglänzende Roboter war ein kompliziertes Ding, auch wenn er wie eine Antiquität aus dem Radiozeitalter aussah. Howard hatte ihn erst vor ein paar Monaten bekommen, zu seinem elften Geburtstag. Er wusste, dass seine Eltern viel Geld dafür bezahlt hatten.

»Es hat geschneit«, sagte Howard zu dem Spielzeug.

Der Roboter summte und ratterte zum Zeichen, dass er überlegte. Irgendwo in seinem Labyrinth aus Schaltkreisen und Prozessoren gab es einen Spracherkennungs-Algorithmus.

»Wir könnten einen Schneemann bauen«, sagte das Spielzeug.

»Ja«, stimmte Howard mit einem leisen Anflug von Enttäuschung zu. Auf ein bestimmtes Stichwort reagierte der Roboter fast immer mit derselben Antwort; wenn man Schnee erwähnte, schlug er vor, einen Schneemann zu bauen. Keinen Schnee-Engel. Er schlug auch nie eine Schneeballschlacht oder eine Schlittenfahrt vor. Eigentlich überlegte er gar nicht, dachte Howard ein wenig betrübt. Trotzdem liebte er ihn.

»Komm, Adam«, sagte er schließlich. Er nahm den Roboter vom Fensterbrett und klemmte ihn sich unter den Arm.

Leise, damit seine Mutter ihm nicht damit in den Ohren lag, dass er wärmere Sachen anziehen sollte, bevor er das Cottage verließ, ging er zum Schrank unter der Treppe, um seinen Schal zu holen. Dann fiel ihm ein, dass er versprochen hatte, etwas zu erledigen. Mit dem Schal um den Hals kehrte er ins Wohnzimmer zurück und stocherte mit dem Schürhaken in den Kohlen, um die Glut anzufachen. Einen Moment lang starrte Howard wie gebannt in die Tiefen des Feuers; er sah Gestalten und Phantome im Tanz der Flammen.

»Howard!«, rief seine Mutter aus der Küche. »Zieh deine Stiefel an, wenn du rausgehst …«

Howard tat so, als hätte er nichts gehört, und schlich sich hinaus; leise schloss er die Tür hinter sich. Er überquerte das makellose Weiß des schneebedeckten Rasens. Seine Hausschuhe hinterließen Abdrücke im Schnee. Die Luft war ohnehin kühl, aber durch die Schuhsohlen drang bereits eine feuchtere, entschlossenere Kälte an seine Füße. Er stellte Adam auf den Steinsockel eines Vogelhäuschens, von wo aus er die Geschehnisse überwachen konnte.

Howard begann, Schnee aufzuhäufen.

»Das ist ein guter Anfang«, sagte Adam.

»Ja, es geht voran.«

»Du wirst eine Möhre für die Nase und ein paar Knöpfe für die Augen brauchen.«

Er arbeitete weiter. Nach einer Weile spornte ihn Adam erneut an. »Ein sehr guter Schneemann, Howard.«

In Wahrheit war der Schneemann ein klobiges, missgestaltetes Gebilde, das eher einem Ameisenhaufen als einem Menschen ähnelte. Howard brach ein paar Zweige ab und steckte sie in die zusammengesackte weiße Masse. Er trat zurück, die Hände in den Hüften, als würde sich sein halbherziger Versuch gleich in etwas verwandeln, was Anerkennung verdiente.

Aber mit den Zweigen sah der Schneemann noch trauriger aus.

»Schau«, sagte Adam. Er hob einen starren Arm und zeigte zum Himmel.

Howard kniff die Augen zusammen. Zunächst sah er nichts. Aber da war es. Eine winzige, nach unten hin verlängerte Kugel bewegte sich durch die Luft; unter ihr hing ein noch winzigerer Korb. Aus dem Apparat über dem Korb züngelte immer wieder eine Flamme empor, ein kurzes Aufblitzen vor dem heller werdenden Himmel. Die Sonne musste über den Horizont gekrochen sein, zumindest auf der Höhe des Ballons, denn eine Seite seiner Hülle zeichnete sich als goldene Sichel ab.

Howard konnte den Blick einfach nicht abwenden. Er liebte Ballons. Er hatte sie in Büchern und Spielfilmen gesehen. Er hatte Modelle gebaut. Er verstand sogar einigermaßen, wie sie funktionierten. Aber jetzt sah er zum ersten Mal einen mit eigenen Augen.

Der Ballon verschwand hinter dem Cottage außer Sicht. Howard musste ihn weiter beobachten. Fast ohne den Blick zu senken, schnappte er sich Adam und rannte los, mitten durch den missratenen Schneemann, sodass dieser umkippte und zu Boden stürzte.

»Ich will da oben sein«, rief Howard.

»Ja, Howard«, sagte Adam geduldig, während sein Kopf immer wieder auf den Boden schlug.

»Da oben!«

ERSTER TEIL

Begegnung in der Tiefe

2099

1

Die Wellen des winterlichen Ozeans krachten gegen den Rumpf und spien ihre Gischt über die Bugreling. Sie hätten ebenso gut gegen Felswände anstürmen können, was ihre Wirkung auf das große Schiff betraf. An Deck war nichts von der Dünung zu spüren, nicht das geringste Schaukeln. Die Sam Shore fühlte sich so stabil und ruhig an, als wäre sie am Meeresgrund verankert.

Was stimmte also nicht?

Falcons Blick huschte nach backbord und nach steuerbord.

Heranzoomen und scharf stellen.

Maschinen tummelten sich im grauen Wasser. Dank ihrer fahlweißen Körper waren sie leicht mit Lebewesen zu verwechseln.

Verfolgen und vergrößern.

Die schnittigen Gebilde, jedes ein paar Meter lang und mit Kameras, Greifarmen und miniaturisierten Sonarkapseln ausgerüstet, schwammen anmutig neben dem riesigen Schiff her. Manchmal kamen sie beunruhigend nah heran, und Falcon fragte sich, ob diese Aktivitäten bei der kabbeligen See wirklich ungefährlich waren. Was, wenn sie mit dem Rumpf des Flugzeugträgers kollidierten? Die Sicherheit von Präsidentin Jayasuriya stand auf dem Spiel …

»Na, halten Sie Ausschau nach Walen, Howard?«

Falcon drehte sich einigermaßen widerwillig um. Die Ballonräder seines Untergestells rutschten über das feuchte Deck. Aber schließlich war er hier, um Menschen um sich zu haben; nicht einmal Howard Falcon war ein solcher Einsiedler, dass er eine Einladung der Weltpräsidentin abgelehnt hätte, Silvester mit ihr auf dem größten Kreuzfahrtschiff der Welt zu verbringen. Schon gar nicht dieses Silvester, die Geburt des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts. Und es überraschte ihn nicht, wer ihn da gefunden hatte, mit niemand Geringerem als der Kapitänin im Schlepptau. Beide beschirmten sie das Gesicht gegen die Kälte und die Gischt und kniffen die Augen fest zusammen.

»Geoff Webster«, sagte Falcon. »Kaum steige ich aus dem Shuttle, haben Sie mich auch schon aufgespürt.«

Webster grinste. »Jedes Mal, wenn Sie aus dem Weltraum herunterkommen, Howard, höre ich Himmelstrompeten.«

Administrator Webster, über sechzig Jahre alt, war einer von Falcons ältesten Freunden, einer der wenigen, mit denen er nach dem Unfall der Queen Elizabeth IV in Kontakt geblieben war. Websters Benehmen gegenüber Falcon hatte sich seit dessen Rekonstruktion kein Jota geändert; er war so knurrig und ehrlich wie immer. Und als Leiter des Amtes für Langfristige Planung, einer der wichtigsten Abteilungen des Sekretariats für Strategische Entwicklung, war er ein nützlicher Verbündeter. Tatsächlich wäre ohne Websters Unterstützung wohl nichts aus Falcons letztem bahnbrechenden Abenteuer geworden: seinem Alleinflug in die Jupiterwolken, von dem er erst vor wenigen Monaten zurückgekehrt war.

Jetzt grinste Webster und stellte ihm seine Begleiterin vor. »Howard Falcon, darf ich Sie mit Captain Joyce Embleton bekannt machen.«

Man musste es Embleton hoch anrechnen, dass sie nicht zögerte, ihm die Hand zum Gruß zu reichen, und dass es ihr gelang, nicht das Gesicht zu verziehen, als Falcon sie mit dem ergriff, was ihm als Hand diente. »Freut mich sehr, Sie an Bord zu haben, Commander Falcon.«

Sie war adrett und aufrecht, mit einer modischen Glatze unter einer prunkvollen Uniformmütze, die zum Schutz vor dem Wind und der Gischt tief heruntergezogen war und stramm auf dem Kopf saß. Und zu Falcons Überraschung klang sie wie eine waschechte Britin, obwohl sie hier das Kommando über den einstigen Stolz der US Navy führte. Aber es war ja schließlich auch schon über sechzig Jahre her, dass Großbritannien und Amerika in der Atlantischen Partnerschaft vereinigt worden waren.

»Sie sind eine echte Berühmtheit, Commander. Wir alle haben Ihre Spritztour in die Tiefen des Jupiters früher in diesem Jahr verfolgt. Durchaus möglich, dass Sie von einigen jüngeren Mitgliedern der Crew mit Autogrammwünschen belästigt werden. Obwohl …« Sie warf einen Blick auf Falcons Oberkörper.

»Ob Sie’s glauben oder nicht, meine Unterschrift kriege ich immer noch hin«, sagte Falcon trocken.

Webster funkelte Falcon an. »Wir sind hier zu Gast, Howard. Seien Sie nett.«

Embleton ging um Falcon herum und musterte ihn nüchtern. »Sie kommen mir nicht wie eine Mimose vor. Es steckt noch immer etwas von dem Menschen in Ihnen, der Sie mal waren, nicht wahr? Dies ist das Gesicht, das Ihnen Ihre Mutter gegeben hat, selbst wenn es eine ziemlich unbewegliche, ledrige Maske geworden ist.«

»Man hat mich vor Ihrer Unverblümtheit gewarnt, Captain Embleton. Ich dachte, das könnte nur eine Übertreibung sein.«

»War es nicht. Unverblümtheit spart Zeit, finde ich.« Sie legte den Kopf schief und sah ihn an. »Ah, Sie versuchen zu lächeln, wie ich sehe.«

»Ich verspreche, Ihre Gäste nicht in Angst und Schrecken zu versetzen, indem ich das allzu oft mache.«

»Mir drängt sich die Frage auf, ob Sie etwas benötigen, was Sie warm hält. So geht es jedenfalls den meisten unserer Gäste in diesem feuchten atlantischen Wind, obwohl unsere Sonar- und elektromagnetischen Schirme das Schlimmste abhalten.« Sie schnippte mit den Fingern. »Conseil?«

Ein Roboter von der Größe einer Mülltonne rollte von einer anderen Gruppe von Gästen weg und auf die Kapitänin zu. »Kann ich behilflich sein?«

Der überraschte Falcon verspürte einen nostalgischen Zauber. »Hallo, Kleiner. Kann man mit dir einen Schneemann bauen …?«

Webster zog die Augenbrauen hoch.

»Schon gut.«

»Commander«, sagte Embleton. »Wir können Ihnen alles besorgen, was Sie brauchen.«

»In Situationen wie diesen wollen die meisten Leute wissen, ob ich rostanfällig bin.«

»Das lag mir auch auf der Zunge. Jedenfalls werden Sie sich hier bestimmt nicht wie ein Fremdkörper fühlen.« Sie beugte sich vor und murmelte diskret: »Sie sind nicht unser einziger Gast aus dem Weltraum. Schauen Sie mal nach steuerbord rüber.«

Falcon sah eine Gruppe hochgewachsener, eleganter Passagiere; wenn sie sich bewegten, schimmerte Metall an ihren Armen und Beinen, und selbst von hier aus konnte er das Surren von Servomotoren hören. »Marsianer?«

»Dritte Generation. Hohe Tiere aus Port Lowell. Auf der Erde kommen sie ohne ihre Exoskelette gar nicht erst aus dem Bett. Und wie ich höre, hat die intensive Arbeit, die zu Ihrer Rettung geleistet wurde, diese Technologie rasant vorangetrieben.«

»Freut mich, dass ich von Nutzen sein konnte«, sagte Falcon.

Embleton nickte. »Mit dem Lächeln klappt es vielleicht nicht so gut, Commander, aber um einen witzigen Spruch sind Sie nie verlegen.« Sie traten einen Schritt näher an die Reling am Rand des Decks. »Und unsere Wassergeister scheinen es Ihnen angetan zu haben.«

»So nennen Sie sie …? Ich gehöre zwar zur World Navy, Captain, aber hier bin ich doch überfordert. Es hat eine Weile gedauert, bis ich herausgefunden hatte, dass diese Biester mechanisch sind und keine exotischen Delfine.«

»Nun, es gibt hier Delfine – und alle möglichen anderen Tiere. Die Meere haben sich recht gut erholt seit den schlechten alten Zeiten. Nein, diese Geister betrachtet man am besten als Wächter – und sie sind uns eine große Hilfe. Kommen Sie, begleiten Sie mich …«

Es war ein ziemlich weiter Weg. Das Flugdeck des Flugzeugträgers war über anderthalb Kilometer lang, wie man den Passagieren erzählt hatte, und von Luken durchsetzt, die früher einmal Kampfflugzeuge und selbstlenkende Raketen ins Freie entlassen hatten. Für Falcon, der von der Nähe des Bugs aus nach hinten schaute, waren die gewaltigen Aufbauten und die flossenförmigen Hydroflieger am Heck nur noch graue Schemen im Dunst.

»Die gute alte Sam Shore ist ein Kriegsveteran, Commander«, sagte Embleton, während sie langsam dahinschlenderte. »Sie ist neunzig Jahre alt und verbringt einen großen Teil ihrer Zeit im Trockendock. Auf See lassen wir in Momenten wie diesen, wenn wir nicht mit Maschinenkraft fahren, den Rumpf und die Luftzuführungen zum Maschinenraum von den Geistern pflegen – schon die Seepocken fernzuhalten ist eine schwierige Aufgabe.«

»Die Geister haben einen unabhängigen Antrieb? Und autonome Steuerung?«

»Einen eigenen Antrieb, ja, natürlich, aber nur einen geringen Grad von Autonomie. Die Geister werden vom Schiff aus gesteuert, vom Bootsmann …«

»Bootsmann?«

»Unserem Hauptcomputer. Der seinerseits im Wesentlichen den Befehlen der Crew untersteht.« Sie schaute auf Conseil hinab, der ihnen mit einem leeren Getränketablett in einem flexiblen Manipulator gefolgt war. »Interessant, wenn man bedenkt, dass die am höchsten entwickelte künstliche Intelligenz an Bord dieser kleine Kerl hier ist.«

Falcon bückte sich, um die Herstellerplakette des Roboters zu lesen. Er erfuhr, dass »Conseil« ein Allzweck-Homiform Mark 9 war, ein Produkt von Minsky & Good, Inc., aus Urbana, Illinois, Vereinigte Staaten, Atlantische Partnerschaft. Falcon kannte den Namen; Minsky war auf Computertechnik spezialisiert. Das Unternehmen brachte die besten verfügbaren Desktop-Modelle auf den Markt, und einige ihrer hoch entwickelten Minisecs waren so klein, dass sie in eine Hosentasche passten.

»Ein experimentelles Modell. Kann teilweise die Initiative ergreifen. Entscheidet selbstständig, welchen Gast er als Nächstes bedient, wie er Wünschen zuvorkommt und dergleichen. Und er besitzt einige Fähigkeiten zur Gefahrenabwehr. Man hat mir gesagt, dass er sogar in erheblich größerem Maße zu eigenständigem Denken und zur Entscheidungsfindung imstande ist als unser Bootsmann. Und nun serviert er hier die Getränke – aber das wollen wir natürlich so. Der Mensch soll das Sagen haben.«

»Conseil?«, fragte Webster. »Warum dieser Name?«

Falcon schnalzte tadelnd mit der Zunge. »Banause. Eine Anspielung auf Jules Verne, natürlich.«

Webster war nicht beeindruckt. »Und das aus dem Mund von jemandem, der wie ein Requisit aus einem Jules-Verne-Film aussieht …«

»Wie steht’s mit der Zeitverzögerung?«

Embleton schaute zu Falcon hoch. »Verzeihung?«

»Bei der Steuerung der Geister. Sie spielen immerhin nur ein paar Meter von Ihren Hauptballasttanks entfernt herum, die da am Rumpf entlang verlaufen, wenn ich mich nicht irre.«

Embleton lächelte. »Sie haben sich über uns informiert, wie ich sehe. Nach dem, was mit der Queen Elizabeth passiert ist, verstehe ich, weshalb Sie sich Gedanken über Zeitverzögerungen und Reaktionszeiten machen …«

Eine Zeitverzögerung bei der Signalübermittlung zwischen einer ferngesteuerten Kameraplattform und ihrem fernen menschlichen Kontrolleur hatte beim Absturz des Luftschiffs eine entscheidende Rolle gespielt. Als die Plattform in Turbulenzen geriet, war der Kontrolleur zu weit weg gewesen, um eingreifen zu können, während die Plattform selbst zu simpel für eine autonome Reaktion gewesen war … All das hatte katastrophale Folgen gehabt, für die Plattform, das Luftschiff – und Howard Falcon. Er würde es wohl nie vergessen.

Embleton fuhr fort: »Wegen der Geister brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Die Signalverzögerungen sind minimal, wir haben diverse Back-up-Optionen, und die Geister sind straff programmiert. Wenn sie nicht sicher sind, schalten sie sich einfach ab.«

»Aber selbst die ausgeklügeltsten Sicherheitssysteme können versagen. Ja, so wie bei der Kameraplattform, die die QE IV zum Absturz gebracht hat.«

Webster zeigte nach oben. »Eine ganz ähnliche Plattform kommt da gerade auf uns zu.«

Strahlend helles Licht fiel von einer Kameraplattform herab, die lautlos keine zwei Meter über ihren Köpfen schwebte.

Und genau in dem Moment, als das Licht Falcon erfasste, kam ein forscher, gut aussehender Mann in einer frisch gebügelten Uniform der World Navy mit großen Schritten herbei. Eine kleine Entourage folgte ihm, darunter ein jüngerer Mann, der immer wieder auf den klobigen Minisec in seiner Hand schaute. Der Mann an der Spitze schien um die vierzig zu sein, aber wie Falcon wusste, konnte das Aussehen dank der allmählich verfügbar werdenden Lebensverlängerungstherapien trügen.

Falcon erkannte ihn, wie kaum anders zu erwarten. Dies war Captain Matthew Springer, der Eroberer des Pluto: der andere diesjährige Held der Weltraumforschung.

Springer ergriff Falcons künstliche Hand, ohne mit der Wimper zu zucken. »Commander Howard Falcon! Und Administrator Webster. Verzeihen Sie mir, wenn ich störe, Captain. Ich habe mich so gefreut, Commander, als ich erfuhr, dass Sie auf dieser Kreuzfahrt dabei sein würden …«

Falcon bemerkte, dass die Kameraplattform herabsank, um diese historische Begegnung einzufangen, aber ihre vielen Objektive waren allesamt auf Springer gerichtet.

Und Springer musterte Falcon eingehend. »Hey – Sie atmen ja.«

»So wie Sie«, sagte Falcon trocken.

Webster verdrehte die Augen.

Aber Springer schien gegen Ironie immun zu sein. »Ist wohl auch sinnvoll. Ein menschlicher Touch. Und Sie können mehr oder weniger natürlich sprechen. Statt mithilfe irgendwelcher Zusatzlautsprecher, nicht wahr? Also, was sind das für Lungen, die Sie da haben?«

»Ich maile Ihnen die technischen Details.«

»Danke. Wissen Sie, als Junge habe ich Ihre Heldentaten verfolgt. Die halsbrecherischen Ballonfahrten. Und ich muss Ihnen sagen, von der letzten Generation technologischer Pioniere sind Sie derjenige, den ich am meisten …« Sein Assistent berührte ihn am Arm, murmelte etwas und zeigte auf seinen Minisec. Springer hob die Hände. »Ich muss weg – Drinks mit der Weltpräsidentin. Man springt, wenn man gerufen wird, stimmt’s, Commander? Bis später – und bitte kommen Sie zu meinem Vortrag über Icarus und meinen Großvater in der …« Er zeigte auf Embleton.

»In der Sea Lounge«, sagte Kapitänin Embleton bereitwillig, noch während sich Springer entfernte.

»Und weg war er«, sagte Webster. »Gefolgt vom Kometenschweif seines Fanklubs und von dieser verdammten Plattform.«

»Nicht dass die Kamera sonderlich lange auf mir verweilt wäre«, meinte Falcon.

Embleton lachte. »Tja, wir wollen die Wassergeister ja nicht erschrecken, Commander.« Sie machten sich wieder auf den Weg zum Heck, gefolgt von Conseil. »Es gibt bestimmt eine Menge Leute an Bord, die es faszinierend finden werden, Sie kennenzulernen. Wir haben sogar ein Mitglied des medizinischen Teams dabei, das Sie behandelt hat. Aber ich bestehe darauf, dass Sie mir gestatten, Ihnen das Schiff zu zeigen … Die Shore wurde auf dem Höhepunkt der letzten Phase echter globaler Spannungen auf Kiel gelegt, aber ich bin froh, sagen zu können, dass sie niemals in wahrem Zorn ihre Fänge gebleckt hat. Da Sie ja selbst Navy Officer sind, werden Sie einige Elemente der Konstruktion vielleicht interessant finden. Heutzutage sind wir natürlich berühmt für unsere erstklassigen Einrichtungen für die Passagiere.« Sie ließ den Blick über Falcons zwei Meter zehn großen Körper schweifen. »Ich frage mich, wie Sie wohl auf der Eisbahn zurechtkämen?«

Webster lachte schallend. »Er könnte Schlittschuh laufen, wenn wir seine Räder gegen Kufen austauschen würden. Aber ein schöner Anblick wäre das nicht.«

»Commander Howard Falcon.« Die Stimme war ein raues Knurren.

Und während eine kleine Schar von Passagieren mit Drinks in den Händen an ihnen vorbeiging, bunt wie Blumen vor dem Grau des Atlantiks und alle zweifellos märchenhaft reich, blieb Falcon stehen und sah sich einer Gruppe von Schimpansen gegenüber.

Es waren zwölf. Drei oder vier von ihnen schauten die Menschen mit unverhüllter Feindseligkeit an. Außer weiten Jacken mit Kordelzug und zahlreichen Taschen trugen die Schimps keine Kleidung, obwohl einige von ihnen sichtlich vor Kälte zitterten. Sie hockten zusammengekauert auf dem Deck, ihre geschlossenen Fäuste kratzten über die Metallfläche. Derjenige, der wie ihr Anführer aussah, war älter, mit grauen Haaren um die Schnauze, und ein wenig größer als die anderen.

Embleton trat entschlossen vor. »Ich sollte Sie einander vorstellen, wie es sich gehört. Commander Falcon kennen Sie bereits. Commander, das ist Ham 2057a, Botschafter der Unabhängigen Pan-Nation beim Weltrat und ein weiterer Gast von Präsidentin Jayasuriya.«

Falcon bemühte sich, den Affen nicht anzustarren. Dies war der erste Simp – Superschimp –, den er seit dem Absturz der QE IV sah. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Sir.«

»Ich Sie auch, Commander.«

»Gefällt Ihnen die Kreuzfahrt?«

»Vermisse Heimat in Kongo-Baumwipfeln, um Wahrheit zu sagen …« Der Botschafter sprach ein verstümmeltes, aber verständliches Englisch, was ihn offenbar einige Anstrengung kostete. Einer seiner Adjutanten schien ein Dolmetscher zu sein, der den anderen seine Worte mit Grunz- und Quieklauten sowie mit Gesten übersetzte. »Kenne Sie natürlich. Für uns Howard Falcon berühmt nicht nur wegen Jupiter.«

»Der Absturz der Queen.«

»Viele Simps an jenem Tag gestorben.«

»Und viele von der menschlichen Besatzung …«

»Simps! Mit Sklavennamen wie meinem. Angezogen wie Puppen. Gezwungen, auf noch eindrucksvollerem Kreuzliner als diesem zu arbeiten, Boss.«

Falcon bemerkte, wie Webster bei diesem Wort zusammenzuckte. »Nun ja, Bittorns Programm war gut gemeint«, sagte der Administrator. »Es sollte ein Weg sein, eine Brücke zwischen verwandten Spezies zu bauen …«

Ham schnaubte. »Simps! So verdammt nützlich, klettern in Raumstationen bei null G herum – kraxeln in Luftschiff-Takelage. Und so komisch-komisch niedlich als Mundschenk in kleinen Sklavenuniformen. Andere Tiere auch. Intelligente Hunde. Intelligente Pferde … Intelligent genug, um Demütigung und Furcht zu kennen. Jetzt alle tot …

Dann Schiff abgestürzt. Sie nur knapp überlebt. Millionen ausgegeben, um Sie zu retten. Auch ein paar Simps knapp überlebt. Sie nicht gerettet. Keine Millionen ausgegeben. Simps eingeschläfert.«

Embleton trat vor. »Botschafter, dies ist wohl kaum der richtige Zeitpunkt und der richtige Ort …«

Ham beachtete sie nicht. »Aber Sie, Commander Falcon. Aufzeichnungen von Absturz. Keine Kameras, aber Untersuchungsergebnisse, Worte von Überlebenden. Einige Simps lange genug gelebt, um Geschichte zu erzählen. Das Schiff dem Untergang geweiht. Sie auf Weg nach unten, nach unten zum Kontrollraum, riskieren Leben, um Schiff zu retten, wenn möglich. Und Sie finden ängstlichen Simp. Sie bleiben stehen, Commander. Bleiben stehen, beruhigen ihn, sagen ihm, geh nicht nach unten,nach unten, sondern nach oben,nach oben zum Peildeck. Wo er beste Chance hätte. Sie sagen: ›Boss – Boss – geh!‹«

Falcon wandte den Blick ab. »Er ist trotzdem gestorben.«

»Haben Ihr Bestes getan. Sein Name, Baker 2079q. Acht Jahre alt. Wir erinnern uns, verstehen Sie. An alle Simps. Bewahren sie im Gedächtnis, jeden einzelnen. Sie waren Personen. Bessere Zeiten jetzt.« Zu Falcons Überraschung streckte er ihm eine Hand hin. Falcon musste den Oberkörper herunterbeugen, um sie zu ergreifen. »Sie kommen Unabhängige Pan-Nation besuchen.«

»Das würde ich sehr gern tun«, sagte Falcon.

»Auf Bäume steigen?«

»Ich liebe Herausforderungen.«

Embleton lächelte. »Jetzt probieren Sie’s aber erst mal mit Eislaufen, Commander …«

Doch eine Stimme schnitt ihr das Wort ab: »Wal ahoi! An Steuerbord!«

Falcon drehte sich zusammen mit den anderen um.

Die Wale waren auf dem Weg nach Norden.

Wenn man auf diesen grauen Ozean unter einem grauen Himmel hinausschaute, sahen die riesigen Körper wie eine Armada aus, eine Flotte von Schiffen, nicht wie etwas Lebendiges. Natürlich erschienen sie klein im Vergleich zu der ungeheuren Länge des Flugzeugträgers, aber sie hatten eine Kraft und Zielstrebigkeit an sich, mit der es keine von Menschen konstruierte Maschine aufnehmen konnte: Sie waren wie geschaffen für diese Umgebung.

Jetzt hob sich keine dreißig, vierzig Meter von der Bordwand der Shore entfernt ein gewaltiger, für Falcons ungeschulten Blick missgestalteter Kopf aus dem Wasser, ramponiert und pockennarbig wie die Oberfläche eines Asteroiden. Doch dann öffnete sich ein riesiges Maul, eine Höhle, von deren Dach die Bartenplatten herabhingen, die die Planktonkost dieses Tieres aus den oberen Schichten des Meerwassers filterten, eine dünne Schleimsuppe für die Energieversorgung eines solch gewaltigen Körpers. Und dann öffnete sich ein riesiges, aber verblüffend menschliches Auge.

Als Falcon in dieses Auge schaute, hatte er plötzlich den Eindruck, jemanden vor sich zu sehen, den er schon lange kannte.

Er war zum Jupiter gereist, wo er in Wolkenschichten, in denen gemäßigte, fast erdähnliche Bedingungen herrschten, einem anderen riesigen Wesen begegnet war: einer Meduse, einem Geschöpf von der Größe der Shore, das in dieser unvorstellbar fernen See schwamm. Dieser Wal hier war vom Evolutionsdruck in einer Umgebung geprägt worden, die sich gar nicht so sehr von dem Wasserstoff-Helium-Luftozean des Jupiters unterschied, und hatte sicherlich viel mit den Medusen gemein. Und doch empfand Falcon ein Gefühl der Verwandtschaft mit diesem riesigen terrestrischen Säugetier, das auf einer gemeinsamen Biologie beruhte, ein Gefühl der Verwandtschaft, das er bei einer Jupitermeduse niemals verspüren würde.

Ham, der Simp-Botschafter, war neben ihm. »Sehen Sie, Commander Falcon. Eine weitere Rechtsperson (nichtmenschlicher Art).« Und er grunzte und quiekte vor Gelächter.

2

Während des Dinners ging die USS Sam Shore unauffällig auf Tauchfahrt.

Luken und Wartungsschächte wurden lautlos geschlossen und abgedichtet. Ballasttanks wurden geöffnet, die Geräusche des einströmenden Wassers jedoch höflicherweise gedämpft, um die Passagiere nicht zu beunruhigen. Der Tauchwinkel betrug ein Grad, was selbst für jene Gäste, die genau auf den Flüssigkeitsspiegel der Getränke in ihren Gläsern achteten, kaum wahrzunehmen war.

Falcon bemerkte es natürlich. Er spürte den Neigungswinkel des Decks, die Schräglage von einem Ende eines Korridors zum anderen. Durch die Sensoren in seinem Untergestell registrierte er die Veränderung in der Infraschallfrequenz der Maschine, Zeichen für eine Leistungsminderung, die jetzt, da sich das Schiff in seiner optimalen Umgebung unter Wasser bewegte, möglich war.

Falcon entging nur sehr wenig.

Nach dem Essen und vor Springers Vortrag machte er mit Webster einen Spaziergang.

Das sogenannte Servicedeck der Shore, unter dem riesigen Hangardeck, war eine Höhle voller Träger, Nieten, Schienen, Kräne und Drehbühnen, in der früher Kampfflugzeuge und Raketen mit Atomsprengköpfen betankt, gewartet und überholt worden waren. Jetzt hatte sich dieser hell erleuchtete Raum in eine Kombination aus Einkaufszentrum und Luxushotel verwandelt – mit erstaunlichen Ausmaßen, ganze anderthalb Kilometer lang.

»Sie sollten sich hier eigentlich wie zu Hause fühlen, Howard«, sagte Webster gerade. »Wäre die Queen Elizabeth nicht abgestürzt, wären Sie schließlich auch Kapitän eines Kreuzliners geworden, nicht wahr? Auf eine passende Galauniform müssten Sie heutzutage natürlich verzichten …«

Falcon ignorierte ihn und inspizierte die Einbauten. Auf dieser prestigeträchtigen Kreuzfahrt präsentierten die Schiffseigner zusammen mit der Meeresabteilung des Welternährungssekretariats hier unten eine Ausstellung über den Ozean der heutigen Zeit und dessen Nutzungsmöglichkeiten, vermutlich, um unter den betuchten Passagieren Investoren zu akquirieren. Falcon und Webster ließen den Blick über Ausstellungsobjekte, Modelle sowie holografische und animierte Bilder diverser Natur- und anderer Wunder schweifen – obwohl Falcon bezweifelte, dass man irgendetwas an den Ozeanen der Erde noch als natürlich bezeichnen konnte. Am Ende des einundzwanzigsten Jahrhunderts bestand die Nahrung großer Teile der Menschheit aus den Produkten gewaltiger Plankton-Farmen, die durch den erzwungenen Aufstieg nährstoffreicher Substanzen vom Meeresboden unterhalten wurden. Da die Mineralienvorkommen an Land erschöpft waren, hatte man auch am Meeresboden umfassenden Abbau betrieben. Natürlich war sich die Menschheit in diesem Jahr 2099 der Bedürfnisse jener Geschöpfe mehr als bewusst, mit denen sie sich die Welt – und im Fall der aufgewerteten Schimps sogar die politische Macht – teilte. Aber die gesamte Erde wurde allmählich zu einer Kulturlandschaft, dachte Falcon, wie eine riesige Plantage – einer der Gründe, weshalb Leute wie er es kaum erwarten konnten, sie zu verlassen.

Sie fanden eine Tafel zum Thema berufliche Perspektiven, und Webster bückte sich neugierig. »Schauen Sie sich das an, Howard. Die Fachgebiete, in denen man sich qualifizieren kann: Seemannskunst, Ozeanografie, Navigation, Unterwasserkommunikation, Meeresbiologie …« Er richtete sich steif auf. »Wissen Sie, das Amt für Weltraum-Ressourcen nutzt einige Standorte am Meeresboden für Simulationen. Man kann dort zum Beispiel Anzüge testen, die entwickelt wurden, um dem starken Druck standzuhalten, mit dem wir es auf der Venus zu tun bekommen werden. Schade, dass wir uns die während dieser Spritztour nicht anschauen können.«

»Nein«, sagte Falcon, »dieser Pott ist nur für geringe Tiefen geeignet. Es reicht gerade, um sich vor feindlichen Flugzeugen zu verstecken …«

»Verzeihung.«

Die Frau stand allein im Halbdunkel der Galerie: schlicht gekleidet, dunkler Typ, Mitte dreißig, wie es schien. Mit seinen zwei Meter zehn überragte Falcon sie fast um einen halben Meter. Sie wirkte nervös, was vielleicht nicht weiter verwunderlich war.

Webster schnippte mit den Fingern. »Ich erinnere mich an Sie. Schwester Dhoni, stimmt’s? Sie waren im Militärhospital auf der Luke Air Force Base in Arizona, als wir …«

»Als Commander Falcon von der Queen Elizabeth eingeliefert wurde, ja.«

Jene Tage – jene Jahre – der Genesung waren in Falcons Albträumen noch immer sehr lebendig. Er gab sich alle Mühe, nicht zurückzuweichen. »Ich erinnere mich nicht an Sie, Schwester, tut mir leid.«

»Inzwischen bin ich Doktor. Ich habe ein fachübergreifendes Studium absolviert und mich auf Neurochirurgie spezialisiert …«

»Warum sind Sie hier?«, fragte Falcon barsch.

Sie wirkte betroffen, und Webster funkelte ihn an.

»Nun ja, Ihretwegen, Commander«, sagte Dhoni. »Nachdem der Stab der Präsidentin Sie eingeladen hatte, hielt man Ausschau nach Freunden, Angehörigen und so weiter, in deren Gesellschaft Sie sich wohlfühlen würden. Und ich bin die Einzige von Ihrem damaligen medizinischen Team, die noch in diesem Beruf tätig ist. Die anderen sind in Pension gegangen oder haben umgesattelt, und einer ist gestorben – Doktor Bignall, falls Sie sich noch an ihn erinnern.«

»Sie hätten nicht kommen müssen.«

»Herrgott noch mal, Howard«, knurrte Webster.

»Nein, Administrator Webster, ist schon okay.« Es klang, als wäre es alles andere als okay, aber sie behielt die Nerven. »Ich musste Sie sehen, Commander. Nachdem Ihre Heldentaten auf dem Jupiter Schlagzeilen gemacht hatten, habe ich einige Nachforschungen angestellt. Ihr letzter ordentlicher Check-up liegt schon schrecklich lange zurück, von einer Überholung ganz zu schweigen.«

Plötzlich war Falcon misstrauisch. Er funkelte Webster an. »Haben Sie das eingefädelt, Sie alter Esel?«

Webster sah aus, als wollte er sich herausreden, aber dann gab er bereitwillig nach. »Na ja, Howard, ich wusste ja, dass Sie nicht auf mich hören würden.« Mit den Knöcheln klopfte er auf die Schale aus gestärktem Leichtmetall, wo Falcons Brust hätte sein sollen. »Das Äußere ist in Ordnung. Einzelne Komponenten können wir problemlos austauschen. Aber das Innere war anfangs ganz schön ramponiert, und es wird nicht jünger. Wie alt sind Sie jetzt, fünfundfünfzig, sechsundfünfzig …?«

Dhoni streckte unsicher die Hand nach Falcon aus und ließ sie dann sinken. »Lassen Sie mich Ihnen helfen. Wie schlafen Sie?«

Falcon schob den Unterkiefer vor. »So wenig wie möglich.«

»Es gibt jetzt neue Behandlungsmethoden. Wir können Ihnen einiges anbieten …«

»Sind Sie deshalb hier? Um mich wieder als Laborratte zu benutzen?«

Damit durchbrach er ihre letzten Schutzmechanismen. Ihr Mund arbeitete, und sie schluckte. »Nein. Ich bin hier, weil mir etwas an Ihnen liegt. Genauso wie damals.« Sie drehte sich um und ging steifbeinig davon.

Falcon schaute ihr nach. »Sie wäre ja fast in Tränen ausgebrochen.«

»Nein, wäre sie nicht, Sie Dummkopf. Sie wäre fast handgreiflich geworden, und das wäre Ihnen recht geschehen. Ich habe Sie damals gesehen, Howard. Ich weiß, es war ein Albtraum. Aber sie war die ganze Zeit dabei, Hope Dhoni. Noch ein halbes Kind. Die ganze Zeit.« Er schien nach Worten zu ringen. »Sie hat Ihnen die Stirn abgewischt. Ach, zum Teufel mit Ihnen. Ich brauche was zu trinken.« Er ging davon und rief zurück: »Viel Spaß bei Springers Egotrip. Momentan habe ich die Nase voll von Helden. Aber wenn Sie diese Frau wiederfinden, dann entschuldigen Sie sich bei ihr, hören Sie?«

3

In der Sea Lounge der USS Sam Shore stand Matt Springer an einem Rednerpult neben einer leeren, matt erleuchteten Bühne.

Der Raum selbst war außergewöhnlich, fand Falcon, als er hereinrollte und diskret im hinteren Bereich Platz nahm. Wahrscheinlich war die Sea Lounge die berühmteste oder berüchtigtste Attraktion des Kreuzfahrtschiffes, in das man diesen riesigen Flugzeugträger umgewandelt hatte. Sie war ein Raum voller Kurven, verschlungener Strukturen und geschwungener Paneele, ohne gerade Linien, alles in den Farben des Meeres gehalten: Grün und Blau, mit einem perlmuttfarbenen Schimmer. Die Bühne selbst stand unter dem höchsten Punkt der Decke, wo weitgespannte Rippen zusammenliefen, und Springers Publikum wurde von den Rändern einer flachen Mulde eingefasst. Captain Embleton – sie saß in der ersten Reihe, neben der Präsidentin – hatte Falcon erklärt, dies sei experimentelle Architektur. Man hatte dieselbe Technologie genutzt, mit der das Meerwasser filtriert und gesiebt wurde, um diesen Raum Schicht für Schicht zu gestalten – hatte ihn gezüchtet wie die Schale einer Meeresmolluske, statt ihn auf traditionelle Weise zu bauen. Selbst die verborgenen Service-Elemente, die Rohre und Leitungen, die Lüftungsöffnungen und Verkabelungen, waren geplant und in den computergesteuerten Prozess einbezogen worden.

Die Inneneinrichtung dagegen kam Falcon hochviktorianisch vor, mit polierten Tischen, hochlehnigen Stühlen und Diwanen. Die Gläser, das Besteck und das Porzellangeschirr auf den Tischen sahen teuer aus. Aber Falcon bemerkte die Details – das Motto MOBILIS IN MOBILI auf jedem Besteckteil, die kleinen Fahnen auf jedem Tisch, schwarz mit einem goldenen »N« –, die verrieten, wovon dieser Raum in Wahrheit inspiriert war. Er gestattete sich ein Lächeln. Mehr als zweihundert Jahre nach ihrem Stapellauf in den Seiten von Jules Vernes großem Roman befuhr Kapitän Nemos Nautilus noch immer die Meere der Fantasie. »Das hätte dir gefallen, Jules«, sagte Falcon leise.

Und Matt Springer, freundlich und ganz Herr der Lage, schien in dieser kultivierten Umgebung aufzublühen. Er trug einen zivilen Anzug und lächelte die Passagiere an, während sie sich einer nach dem anderen zu ihren Sitzplätzen begaben. Falcon beneidete den Mann um seinen menschlichen Charme in dieser sehr menschlichen Gesellschaft, während er selbst sich im Schatten herumdrückte.

Aber er war nicht lange allein. Webster fand ihn bald.

»Wenn Sie den Trinkbrunnen suchen, mein Freund«, sagte Falcon leise, »das ist der gut aussehende Bursche in der anderen Ecke.«

»Sehr witzig.«

»Dann sind Sie also doch noch gekommen.«

»Wie sich herausstellt, besitze ich noch ein paar Reste guter Manieren. Und, wie finden Sie die Sea Lounge? Gar nicht schlecht, oder?«

Falcon grunzte. »Sie ist wie eine riesige Austernschale. Und Matt Springer ist die dicke Perle mittendrin.«

Das brachte Webster zum Lachen.

Mit einem huldvollen Lächeln legte Springer die Hände aufs Rednerpult und begann, frei zu sprechen.

»Frau Präsidentin, Captain Embleton, Freunde. Guten Abend. Danke, dass Sie gekommen sind. Ich bin hier, um Ihnen die Geschichte von Grandpa Seth zu erzählen – durch den meine Familie überhaupt erst ihre traurige Berühmtheit erlangt hat und dessentwegen ich bis zum Pluto fliegen musste, um mir mein eigenes kleines Plätzchen in der Geschichte zu sichern.«

Mitfühlendes Gelächter: Schon hatte er sie so weit, dass sie ihm aus der Hand fraßen. Falcon kochte.

»Allerdings muss ich ein paar Gerüchte über ihn ausräumen. Zunächst einmal: Obwohl er in meiner Familie immer ›Grandpa‹ genannt wurde, war Seth in Wahrheit mein Urururururgroßvater, und dabei hat er nicht einmal mehr seine Enkelkinder kennengelernt. Aber sein Ruhm erstreckte sich weit über seine eigene Lebensspanne hinaus, und er war in der Familie stets irgendwie präsent, also wird er immer ›Grandpa‹ sein.

Und zweitens, nein, Sean Connery hat ihn in diesem Spielfilm aus den 1970er-Jahren nicht gespielt.« Weiteres Gelächter. »Connery war mit dabei, aber in einer anderen Rolle. Als Professor vom MIT. Manchmal schaue ich mir diesen alten Film wieder an. Schade, dass die Wissenschaft auf dem Boden des Schneideraums liegen geblieben ist, aber es macht trotzdem Spaß! Und es war der erste Versuch, diese außergewöhnlichen Ereignisse filmisch aufzuarbeiten.

Heute Abend werde ich Ihnen den neuesten Versuch zeigen, diese Geschichte zu erzählen. Natürlich sind die ganzen dramatischen Geschehnisse damals aufgezeichnet und gründlich untersucht worden, und später gab es einen Haufen Bücher, Autobiografien und technische Studien. Mithilfe der modernen Methoden zur Bearbeitung des zeitgenössischen Bildmaterials und bewaffnet mit den späteren geschwätzigen psychologischen Analysen der Hauptfiguren, können wir eine ziemlich gute Rekonstruktion erstellen – wir können sehen, wie es war, diese dramatischen Zeiten mitzuerleben, und bekommen vielleicht sogar einen Eindruck davon, was die Hauptfiguren damals gedacht und gefühlt haben müssen.

Heute Abend werden wir eine Auswahl von Szenen, von Schlüsselereignissen sehen. Lehnen Sie sich einfach zurück und entspannen Sie sich; die dreidimensionalen Bilder sollten hübsch anzuschauen sein. Diejenigen von Ihnen, die über neuronale Anschlüsse verfügen, können gern die immersiven Optionen ausprobieren, obwohl sie allesamt auf den passiven Modus beschränkt sind.« Ein weiteres Lächeln. »Versuchen Sie also nicht, auf irgendwelche Knöpfe in Grandpas Apollo-Kommandokapsel zu drücken. Möglicherweise verstehen Sie dann ein wenig, wie es sich angefühlt hat, als Seth Springer am Sonntag, dem 9. April 1967, erfuhr, dass er nicht zum Mond fliegen würde …«

Ein Bereich der Wand hinter Matt Springers Rednerpult wurde zu einem leuchtenden Rechteck, das sich mit dem tiefen, grenzenlosen Blau eines wolkenlosen Himmels füllte. Die Kamera schwenkte nach unten und erfasste eine weite Fläche voller klotziger weißer Gebäude, die sich wie auf einem Campus inmitten gepflegter Rasenflächen und Straßenzüge verteilten. Ein, zwei Augenblicke lang hätte es als zeitgenössische Szene durchgehen können; die funktionelle Architektur der Gebäude verriet nur wenig. Doch dann zoomte die Kamera näher heran, und die Fahrzeuge und Personen gaben die Wahrheit rasch preis. Eckige Wagen, Männer mit Anzügen, Hüten und Krawatten, trotz der offenkundigen Hitze. Und nur wenige Frauen. Diese Szene lag 130 Jahre in der Vergangenheit – sie stammte aus den ersten zaghaften Anfängen des Raumfahrtzeitalters.

Der Blick verengte sich auf ein Gebäude, dann auf ein Fenster dieses Gebäudes. Und schließlich ging es mit einem schwindelerregenden Sturzflug durchs Glas in ein klimatisiertes Büro. Einrichtungsgegenstände der damaligen Zeit, poliertes Holz und Leder. Jede Menge Fotografien und Fahnen, Schränke und gerahmte Dokumente, ein Schreibtisch mit einem Kalender und einer Aktentasche, aber nichts, was Falcon als Computer oder Displaygerät identifiziert hätte …

»Das Apollo-Mondprogramm ist gestrichen. Aber die gute Nachricht ist«, sagte der Mann hinter diesem Schreibtisch, »dass ihr beiden alten Knaben die Chance bekommen werdet, die Welt zu retten.«

»In fünf Minuten wird es in diesem Saal kein einziges trockenes Auge mehr geben«, sagte Webster.

»Außer meinen natürlich.«

»Kommen Sie, verschwinden wir von hier. Wir beide können die Springers nur in homöopathischen Dosen ertragen. Außerdem gibt es jemanden, der mit Ihnen reden möchte.«

»Lassen Sie mich raten. Schwester Hope.«

»Klugscheißer. Und ich brauche mal eine Pinkelpause. Kommen Sie jetzt mit oder nicht?«

Ein kurzer Spaziergang unter einem Dach aus gerippten Schotten führte sie zu einer weiteren der viel gepriesenen Attraktionen der Shore, der Observation Lounge, einer Cafeteria-Bar. Auf Teppichen von etwa tausend Quadratmetern Größe, wie Falcon schätzte, verteilten sich Tische, Bodenkissen und sogar ein Laufstall für Kinder. Darüber erhob sich eine riesige Kuppel, ein Fenster aus gehärtetem Plexiglas. Zu dieser nächtlichen Zeit, eine Stunde vor Mitternacht, war jenseits des Fensters nichts zu sehen außer stockfinsterem Ozean.

Hope Dhoni saß allein an einem Tisch vor dem Fenster. Sie hatte irgendwelche Geräte auf dem Tisch liegen, einen offenen Handkoffer. Als Webster und Falcon auf sie zukamen, schaute sie sich um und lächelte wachsam.

Der kleine Roboter namens Conseil – vorausgesetzt, es war derselbe – rollte auf sie zu. »Kann ich behilflich sein?«

»Nein«, sagte Falcon knapp.

»Er trinkt einen Eistee mit mir«, sagte Hope mit fester Stimme. »Danke, Conseil. Sie haben Eistee immer gemocht, Howard.«

Webster grinste und setzte sich. »Und für mich einen Bourbon. Das geht auf mich …«

»Auf dieser Reise sind Sie alle Gäste der Präsidentin, Administrator Webster.« Conseil hatte einen wohlklingenden Tonfall, fast wie ein Einwohner von Boston, fand Falcon. Er hörte sich jedenfalls weitaus menschenähnlicher an als Adam, dieses geliebte Spielzeug aus seiner Kindheit mit seiner summenden, monotonen Stimme. Der Roboter rollte zu einem dezent beleuchteten Barbereich im rückwärtigen Teil des Raumes.

Und Falcon rollte auf seinen eigenen Ballonreifen zu dem großen Fenster. Es krümmte sich über seinem Kopf. Vorsichtig berührte er es mit einer Fingerspitze. Er dachte an Cottage-Fenster, die an einem Wintermorgen von Schnee überzogen waren – Sinneseindrücke, die durch Haut und Nerven an sein Gehirn übertragen worden waren statt durch ein Netz von Prothesen und implantierten neuronalen Empfängern.

Im Dunkeln schwamm ein Licht vorbei, eine völlig ruhige, horizontale Bewegung. Einer dieser Wassergeister vermutlich. Erneut war ihm nicht ganz wohl dabei, wie nahe die automatisierten Geschöpfe dem Schiff kamen. Diese Kontrolllampe war das Einzige, was draußen vor dem Fenster zu sehen war.

Hope Dhoni kam herüber und blieb neben ihm stehen. »Eine der berühmtesten Attraktionen des Schiffes«, sagte sie leise. »Das Fenster selbst, meine ich. Ein technisches Wunder. So ähnlich wie Sie, Commander Falcon.«

»Hören Sie«, sagte er. »Es tut mir leid – wie ich bei unserer Begegnung reagiert habe. Diese Zeit in den Händen der Chirurgen war schwierig für mich. Allein schon die Erinnerung daran …«

Sie ließ ihre Hand in seine gleiten. Er konnte den Druck ihrer Finger spüren, die Feuchtigkeit und Wärme ihrer Handfläche messen – er hatte sogar einen lebhaften, unwillkommenen Eindruck von der Knochenstruktur. Er konnte ihre Hand in seiner jedoch nicht fühlen, nicht gemäß irgendeiner sinnvollen Definition des Wortes.

Auf einmal war ihm unbehaglich zumute, und er zog die Hand weg. Zu viele Erinnerungen. Zu viel Schmerz.

Für sie beide.

»Kommen Sie«, sagte Hope sanft. »Setzen Sie sich zu uns.«

4

Wenn seine Genesung nach dem Absturz der Queen Elizabeth IV vor zwölf Jahren für Howard Falcon traumatisch gewesen war, so galt das ebenso für Hope Dhoni, damals eine einundzwanzigjährige Schwesternschülerin am alten USAF-Krankenhaus in Arizona, in das man Falcon in aller Eile gebracht hatte. Sie war bei Weitem das rangniedrigste Mitglied des Teams gewesen.

Bei seiner Einlieferung hatte Falcon – zerschmettert und verbrannt, auf den blassgrünen Decken des Bettes liegend – nicht einmal menschlich ausgesehen. Hope hatte in den Notaufnahmen innerstädtischer Krankenhäuser und auf militärischen Traumatologiestationen gearbeitet und dachte, sie wäre abgehärtet. Sie war es nicht. Nicht dagegen.

Aber Doktor Bignall, der stellvertretende Leiter des Teams, hatte ihr geholfen, es durchzustehen. »Erstens einmal lebt er. Vergessen Sie das nicht. Wenn auch kaum noch: Sein Herz macht’s nicht mehr lange – das sieht man an den Linien auf dem Monitor. Zweitens, denken Sie nicht daran, was er verloren hat, sondern daran, was er noch besitzt. Seine Kopfverletzungen sehen so aus, als ließe sich mit ihnen fertigwerden …«

Sie konnte den Kopf unter den Überresten von Falcons rechtem Arm kaum noch erkennen.

»Und dieser erhobene Arm, mit dem er seinen Kopf schützen wollte, hat ihm vielleicht sogar das Gesicht gerettet. Zumindest zum Teil.«

Sie sah dem Team bei der Arbeit zu, Menschen und Maschinen. Schläuche schlängelten sich in Falcons Körper. »Und was hat oberste Priorität?«

»Ihn am Leben zu erhalten. Schauen Sie ihn an, er hat weit mehr als fünfzig Prozent seines Blutes verloren, seine Brust ist weit offen. Wir ersetzen das gesamte Blut durch eine kalte Kochsalzlösung. Das stoppt die Gehirntätigkeit, die Zellaktivität …«

»Künstliches Koma.«

»Wenn Sie so wollen. Dann haben wir eine Chance, mit dem strukturellen Kram weiterzukommen. Eine Chance … Oje, Herzstillstand. Crashteam …!«

Der strukturelle Kram. Nachdem Falcon stabilisiert worden war, hauptsächlich indem man ihn in einen Raum voller Maschinen schob, die die Funktionen seines zerschmetterten Körpers nachahmten, stellte sich heraus, dass nur noch wenig von ihm übrig und zu retten war außer Gehirn und Rückgrat – und einigen Teilen seines Gesichts, die er sich durch den davorgehaltenen Arm bewahrt hatte. Die gute Nachricht war, dass man damit schon eine ganze Menge hatte, worauf sich aufbauen ließ. Monitore zeigten bereits dauerhafte Gehirntätigkeit. Hope würde bald lernen, woran sie erkennen konnte, ob Falcon schlief oder wach war, und sie fragte sich, welcher Zustand schlimmer für ihn war.

Für Hope folgte ein Crashkurs in Neuroinformatik. Während die Stunden zu Tagen wurden, arbeitete das Team so schnell, wie es konnte. Es musste eine Verbindung zwischen dem, was von Falcon übrig war, und den Geräten herstellen, auf die er für den Rest seines Lebens angewiesen sein würde. Und das bedeutete, Informationen aus den Überresten seines zerstörten Nervensystems auszulesen und Informationen hineinzuschreiben.

Sensoren an prothetischen Fortsätzen von Falcons verbliebenem Armstumpf waren in der Lage, mittels seines eigenen Nervensystems mit dem Gehirn zu kommunizieren – aber für den Rest seines Körpers war das keine Option, dazu hatte die Wirbelsäule zu schwere Schäden davongetragen. Neue Kommunikationswege mussten konstruiert werden. Also setzte man Mikroelektroden in Falcons Gehirn ein – im Gebiet des Motorcortex, der für körperliche Bewegung zuständig war, und im somatosensorischen Cortex, der die haptische Wahrnehmung bestimmte. Die meisten Sensoren wurden im Lumbosakralbereich seines Rückgrats eingesetzt, mit einer Steuerzentrale, die das Gehirn mit den unteren Extremitäten verband. Sobald die Übertragung digitaler Informationen von und zu seinem zerrissenen Nervensystem möglich war, probierte man einen Satz prothetischer Körperteile aus, einen nach dem anderen. Jeder wimmelte von Mikrosensoren, die fortwährend mit den im Gehirn und im Rückgrat verankerten Geräten kommunizierten.

Obwohl das alles unter großem Zeitdruck improvisiert wurde, war es eine beeindruckende Leistung.

Hope konnte auf dem medizinischen Sektor helfen. Während die Genesung voranschritt, leuchtete sie in Augen aus Metall und Gel und kniff in sensorenbestückte Kunststoffhaut, um deren Wahrnehmungsfähigkeit zu testen. Später erfuhr sie, dass Falcon dies im Verlauf der Tage und Wochen des Schweigens in seinem Kopf langsam merkte: Lichtfunken, dumpfe Druckgefühle. Aber der erste äußere Stimulus, der wirklich zu ihm durchdrang, war ein Geräusch, ein metronomisches Pochen; er glaubte, dass es von seinem eigenen Herzen stammte, aber in Wahrheit war es der kombinierte Rhythmus eines Raumes voller Maschinen.

Das Team war hoch motiviert gewesen. Sie retteten nicht nur ein Leben, sondern sie taten es mithilfe der neuesten Techniken und Technologien. Tatsächlich, sagten die Ärzte, treibe dieser Fall die Entwicklung neuer Techniken generell voran.

Manchmal waren sie übereifrig. Ein jüngerer Arzt prahlte in der Kantine: »Wisst ihr, das muss der interessanteste Traumafall sein, seit es keine Kriege mehr gibt …« Doktor Bignall verpasste dem Mann einen Schlag auf den Mund. Hätte er es nicht getan, dann Hope Dhoni.

Und jetzt, ein Dutzend Jahre später, stand Falcon hier, wiederhergestellt.

Ein goldener Turm.

Einige Leute sagten, in dieser Ausgabe seines Lebenserhaltungssystems sähe Falcon ein wenig wie die alte Oscar-Statuette aus. Wenn er aufrecht stand, meinte man, die Abstraktion eines menschlichen Körpers statt dessen realer Gestalt vor sich zu sehen: einen goldenen, keilförmigen Rumpf, Hals und Schultern wohlgeformt, einen Kopf ohne jegliche Merkmale – außer der Öffnung, durch die ein partielles Gesicht spähte, ledrige, der Luft ausgesetzte menschliche Haut. Künstliche Augen, natürlich. Seine untere Körperhälfte war ein kompaktes Gebilde mit angedeuteten Beinen; es sah massiv aus, war jedoch segmentiert, sodass Falcon sich einigermaßen glaubwürdig bücken, ja sogar »hinsetzen« konnte. Und unter den »Füßen« befand sich eine Art Transportwagen mit Ballonreifen. Im Ruhezustand hielt Falcon die Arme vor der Brust verschränkt, um Leute, die ihn ansahen, nicht zu beunruhigen. Wenn er die Arme bewegte, hörte man das mechanische Surren der Hydraulik; die Bewegungen waren steif und unmenschlich, die Hände wirkten wie zugreifende Klauen.

Dies war nicht das erste Modell, in das Falcon eingesetzt worden war. Er beklagte sich gern, dass er als Junge Schneemänner gebaut hatte, die menschlicher aussahen …

Dhoni erinnerte sich daran, wie es gewesen war, als Falcon wieder angefangen hatte, Schmerzen zu spüren.

Falcon konnte ihnen damals nicht sagen, dass er Schmerzen hatte. Er konnte nur mit einem Augenlid zucken. Er besaß keinen Mund. Seine Tränenkanäle funktionierten nicht mehr. Aber die Maschinen erzählten von den Schmerzen. Und Hope wusste es.

Es dauerte zwei Jahre, bis er ohne fremde Hilfe eine Buchseite umblättern konnte, mit surrenden Servomotoren in dem einzelnen exoskelettalen Arm, der an seinem Körper befestigt war. In diesen zwei Jahren hatte Hope Dhoni ihm jede Nacht das Gesicht gewaschen und die Stirn abgewischt.

5

Webster rief sie an den Tisch zurück, als ihre Getränke kamen.

Diesmal setzte sich Falcon, oder zumindest klappte er sein Untergestell zusammen.

»Ich weiß«, sagte Dhoni hastig, »ich werde Sie höchstwahrscheinlich nicht so bald wiedersehen, Commander …«

»Howard.«

»Howard. Ich erinnere mich, dass Sie aus dieser Klinik verschwunden sind, so schnell Sie nur konnten – wie hat Doktor Bignall es formuliert? ›Wie ein jugendlicher Straftäter, der endlich alt genug ist, um ein Auto zu klauen.‹«

Webster lachte bellend. »Das sieht Ihnen ähnlich, Howard.«

»Ich rate Ihnen allerdings dringend, regelmäßige Checks, Überholungen und Verbesserungen Ihrer Prothesen vornehmen und Ihren menschlichen Kern ärztlich versorgen zu lassen. Aber wo wir gerade hier sind«, sagte sie verbissen, »möchte ich die Gelegenheit nutzen und Ihnen eine neue Option vorstellen.« Sie tätschelte den Koffer. »Das ist ein Virtual-Reality-Extensor. Während unseres Aufenthalts ist er mit dem Bootsmann des Schiffes und dem globalen Netz verbunden.« Sie nahm zwei Metallscheiben heraus, jede von der Größe eines neuen Cents, und reichte sie Webster und Falcon.

»Neuronalstecker«, sagte Falcon.

»Ganz recht«, sagte Webster. Seine Hand schwebte über seinem Nacken.

»Sie, Geoff? Sie haben eine dieser Buchsen? Virtual Reality ist doch nur was für Spiele oder Trainingssimulatoren.«

»Von wegen. Ohne dieses Loch in meinem Genick hätte ich keine Ahnung, womit meine Kinder und Enkelkinder ihre Zeit verbringen. Außerdem wird die Hälfte aller geschäftlichen Angelegenheiten auf dieser Welt jetzt virtuell geregelt. Selbst in meiner Behörde. Und im Gegensatz zu Ihnen gönne ich mir immer Upgrades.«

»Das haben Sie mir nie erzählt.«

»Sie haben nie danach gefragt. Und Sie haben mir nie erzählt, dass Sie ein Interface haben. Die Chirurgen haben es installiert, während sie Ihren Hirnstamm gehackt haben, stimmt’s?«

»Es war eine notwendige Komponente meiner Behandlung. Die Zerstörung meines Rückenmarks …«

»Das ist zwölf Jahre her …«

»Es braucht ein Upgrade«, sagte Dhoni rasch. »Aber dieses intelligente neue System ist abwärtskompatibel.«

Falcon starrte die glänzende Münze an. »Virtual Reality? Was soll das bringen?«

Webster beugte sich vor. »Hören Sie, Howard. Ich glaube, ich verstehe, worauf die Frau Doktor hinauswill. Wir leben in einer guten Zeit. Auf der Welt herrscht Frieden. Keine Grenzen, keine Kriege, und wir sind auf dem besten Wege, unsere Ziele zu erreichen, nämlich, Hunger, Not und Krankheit auszumerzen …«

»Na und? Wozu der VR-Stecker?«

»Weil es in diesem im Entstehen begriffenen Utopia keinen Platz für Sie gibt«, sagte Webster brutal. »Das denken Sie doch, oder?«

»Na, stimmt doch. Ich bin ein Unikum.«

»Das lässt sich nicht ändern. Die Ärzte haben Ihnen das Leben gerettet, Howard, aber auf radikal experimentelle Weise. Sie waren ein Einzelstück. Und jetzt, wo sich die Erde von den Verwüstungen der Vergangenheit erholt, werden die Menschen … konservativer. Maschinen sind gut und schön, aber sie müssen unauffällig sein. Wenn Ihr Unfall jetzt geschähe, würden Sie nicht mehr so therapiert werden. Man würde Sie auf Eis legen, bis man Ihre kaputten Körperteile auf biologische Weise ersetzen könnte. Ich spreche von Stammzellbehandlungen, ja sogar von kompletten Transplantationen des unteren Gehirns und des Rückenmarks. Man hätte Sie wieder zu einem Menschen gemacht. Maschinen sind Maschinen und sollen von der Menschheit getrennt gehalten werden.«

»Darum bin ich der einzige echte Cyborg. Die einzige lebende Symbiose von Mensch und Maschine.«

»Hope sagt, dass man momentan nichts tun kann, um daran physisch etwas für Sie zu ändern.«

Dhoni schien drauf und dran zu sein, nach Falcons Hand zu greifen, aber dann beherrschte sie sich. »Es gibt allerdings andere Möglichkeiten.«

»Das hier, meinen Sie? Die Flucht in die Künstlichkeit?«

Webster schüttelte den Kopf. »Es gibt komplette virtuelle Gemeinschaften, Howard. Dort drin können Sie wieder ganz und gar menschlich sein. Sie können Dinge tun – na ja, zum Teufel, alles, was Sie jetzt nicht tun können. Laufen, lachen, weinen – Liebe machen …«

»Ich bevorzuge die reale Welt, Doktor Dhoni. Entweder das, oder Sie geben mir einen Ausschalter.«

Hope zuckte zusammen.

»Verdammt noch mal, Falcon«, sagte Webster.

Falcon rollte vom Tisch zurück, stand auf und ging.

Als er fort war, sagte Dhoni: »Ich glaube, ich sollte mich entschuldigen. Ich hatte nicht vor, Ihnen den Abend zu verderben.«

Webster schaute bekümmert drein. »Oh, das haben wir selbst schon ganz prima hingekriegt. Aber ich schätze, ein virtuelles Ersatzleben würde einem Mann wie Howard Falcon niemals genügen … ›Ein andermal.‹«

»Bitte?«

»Das hat er gesagt, als er im Begriff war, den Jupiter zu verlassen. Er hat zum Großen Roten Fleck hinübergeschaut – die Missionsplaner hatten dafür gesorgt, dass er ein gutes Stück davon entfernt blieb –, und er hat gesagt: ›Ein andermal.‹ Das Kontrollteam oben auf Jupiter V hat es deutlich gehört. Es ist einer dieser Sprüche, die man auf T-Shirts druckt … Aber in gewissem Sinn hat er recht. Zumindest, was den Jupiter betrifft. Seine Kon-Tiki-Mission war heldenhaft, aber er hat nur an der Oberfläche gekratzt. Der Planet ist voller Strukturen – denken wir. Dort unten könnte man buchstäblich alles finden. Der Jupiter ist ein Meer der Rätsel. Und Howard sucht schon seit seiner Rückkehr vom Jupiter nach Finanzierungsmöglichkeiten für Nachfolgemissionen. Ein Grund, weshalb er sich hier blicken lässt, denke ich.«

Dhoni nickte. »Aber all das ist eine Leugnung seiner persönlichen Realität. Wie können wir ihm helfen?«

»Tja, wenn ich das wüsste. Im Moment ist es mir allerdings auch ziemlich egal.«

6

Wie Falcon bei seiner Rückkehr zu Springers Vortrag feststellte, hatte niemand im Publikum auch nur bemerkt, dass der Pionier der Jupiterwolken kurzzeitig verschwunden war. Erneut brodelte unvernünftiger Groll in ihm empor.

Es half auch nichts, dass Matt Springer eine gute Geschichte zu erzählen hatte. Als wollte er noch Salz in die Wunde streuen, fror er ein letztes Bild von Grandpa Seth – tapfer an den Kontrollen seiner dem Untergang geweihten Apollo-Kapsel – hinter sich ein, während er seine Erzählung beschloss. Falcon war beeindruckt, mit welchem Geschick Springer vor einem Publikum, zu dem auch die Weltpräsidentin gehörte, so viel wie möglich aus dem Moment herausholte.

Schließlich sprach er wieder. »Nun, den Rest kennen Sie. Mein Vorfahr wurde mit einer Zeremonie in Arlington geehrt. Robert Kennedy schlug Richard Nixon bei den Präsidentschaftswahlen und machte den Icarus-Zwischenfall im Januar 1969 zu einem Kernthema seiner Antrittsrede …«

Eine primitive Aufzeichnung von RFK am Präsidentenpult wurde eingespielt. Falcon kannte die Rede Wort für Wort: »Noch vor einem Jahrzehnt hätten wir die für die Raumfahrt erforderlichen Fähigkeiten, die uns gerettet haben, nicht besessen … Jetzt obliegt es uns, diese Fähigkeiten nicht verkümmern zu lassen … Im Gegenteil, wir müssen die zerbrechliche Erde hinter uns lassen und immer tiefer und weiter in den Weltraum vordringen …«

»Und«, bemerkte Springer mit einem Grinsen, »Kennedy war klug genug zu betonen, wie gut Amerika und die Sowjetunion beim Icarus-Projekt zusammengearbeitet hatten.«

»Diese Episode hat bewiesen, dass wir gemeinsam besser sind als jeder für sich allein, und noch mehr, dass wir vereint gemeinsame Ziele erreichen können …«

Springer sah seine Zuhörer eindringlich an. »Genau dort, in diesem Absatz, lag das Fundament der Einigungsbewegungen, die zur Weltregierung geführt haben. Also fand im Dezember 1971 unter dem Kommando von Frank Borman die erste Apollo-Mondlandung statt. Die 1970er-Jahre waren die Apollo-Dekade, weil die RFK-Regierung die NASA als Ausdruck der öffentlichen Dankbarkeit geradezu mit Geld überschüttete: zahlreiche Missionen, Flüge zu den lunaren Polen und zur erdabgewandten Seite, die Anfänge einer dauerhaften Basis im Clavius-Krater. Und dann die ersten Schritte über den Mond hinaus.«

Weitere Bilder von den sowjetisch-amerikanischen Landungen auf dem Mars in den 1980er-Jahren.

»Seither haben wir ein erstaunliches Jahrhundert des Fortschritts erlebt. Rohstoffe aus dem Weltraum haben uns über Hürden hinweggeholfen – Erschöpfung der Brennstoffe, Klimaprobleme –, die uns sonst ins Straucheln gebracht hätten. Der erste Weltpräsident wurde 2060 zu einer Aufzeichnung der Hendrix-Hymne vereidigt, aber ich habe zehn Jahre lang auf den Bermudainseln gelebt, und dort hieß es immer, die Hauptstadt des Planeten zu beherbergen habe vor allem den Vorteil des privilegierten Zugangs zum Globalen Wettersekretariat in puncto Hurrikan-Schutz.«

Höfliches Gelächter.

»Und was Seths Nachkommen betrifft …« Er rief ein Bild seines eigenen Missionsabzeichens auf. Es war eine Variante des Familienwappens, das einen Springbock im Sprung zeigte; die Springers waren eine alte holländische Familie mit umfangreichen Seitenlinien in Südafrika. Jetzt hüpfte dieser Springbock zwischen den Monden des Pluto umher. Applaus brandete auf, und Springer lächelte bescheiden.

»In gewissem Sinn rührte das alles von Grandpa Seths Heldenmut her«, sagte er. »Jedenfalls, da nun das neue Jahr vor der Tür steht – nach Houston-Zeit, der einzigen Uhr, die für einen Astronauten zählt –, beantrage ich mit Ihrer Erlaubnis, Frau Präsidentin, dass wir in die Bar zurückkehren …«

Und in diesem Moment erbebte das U-Boot – ein anderthalb Kilometer langes Fahrzeug, das wie ein Gong dröhnte.

7

Falls Falcon jemals daran gezweifelt hatte, dass die schlanke, bescheidene Frau in dem pastellfliederfarbenen Anzug tatsächlich die Präsidentin einer vereinigten Welt war, so erhielt er nun den Beweis dafür. Sekunden nach diesem Unheil verkündenden Erzittern – während rote Warnleuchten blinkten, ferne Sirenen heulten und Captain Embleton von der Bühne neben dem finster dreinschauenden Matt Springer Anweisungen rief – kam es Falcon so vor, als wimmelte bereits ein guter Teil des Publikums in der Sea Lounge wie teuer gekleidete, schwer bewaffnete Bienen um die Präsidentin herum. Gleich darauf hatte der Schwarm sie aus dem Raum eskortiert.

Falcon machte seinerseits kehrt und rollte mit Höchstgeschwindigkeit aus der Sea Lounge. Die Menschen waren schon auf den Beinen und drängten aus dem Raum – doch selbst jetzt wichen sie vor Falcon zurück, einer über zwei Meter hohen Säule aus Gold.

Hope Dhoni war noch immer dort, wo er sie verlassen hatte, in der Observation Lounge, ihr Glas Eistee halb ausgetrunken auf dem Tisch, an dem sie saß. Und sie starrte auf ein weißes Gebilde, das an dem riesigen Aussichtsfenster klebte.