Das Artefakt - Sterneningenieure - Stephen Baxter - E-Book

Das Artefakt - Sterneningenieure E-Book

Stephen Baxter

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Beschreibung

Über vierhundert Jahre in der Zukunft bricht Raumschiffpilot Reid Malenfant, frisch aus dem Kälteschlaf geholt, zum Marsmond Phobos auf, nachdem die Erde einen Notruf von seiner Frau Ema erhalten hat. Was Reid, Deidre und die restliche Besatzung des Raumschiffes Last Small Step dort vorgefunden haben, ist atemberaubend: ein abgestürztes russisches Raumschiff und eine englische Forschungscrew. Schnell wird klar, dass sie alle von Parallelwelten stammen, in denen die Dinge einen anderen Verlauf genommen haben. All diese Universen wurden von den Sterneningenieuren geformt. Doch zu welchem Zweck? Die Antwort, so scheint es, liegt auf einem der Monde des Saturns …

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Seitenzahl: 766

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Das Buch

Über vierhundert Jahre in der Zukunft wird Spaceshuttle-Pilot Reid Malenfant aus dem Kälteschlaf geholt, weil die Erde einen Notruf vom Marsmond Phobos empfangen hat. Die Absenderin ist Reids Frau Emma, die vor Jahrhunderten bei einer Phobos-Mission verschollen ist. Als Malenfant und seine Nachfahrin Greggson Deirdra der Sache auf den Grund gehen wollen, treffen sie auf dem Phobos auf ein abgestürztes russisches Raumschiff und eine englische Forschercrew. Schnell wird klar, dass sie alle aus Parallelwelten stammen, die von den sogenannten Sterneningenieuren konstruiert wurden. Doch welchen Zweck verfolgen diese scheinbar allmächtigen Wesen? Die Antwort auf diese Frage liegt auf einem der Monde des Saturn …

Der Autor

Stephen Baxter, 1957 in Liverpool geboren, studierte Mathematik und Astronomie, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Er zählt zu den international bedeutendsten Autoren wissenschaftlich orientierter Literatur. Etliche seiner Romane wurden mehrfach preisgekrönt und zu internationalen Bestsellern. Stephen Baxter lebt und arbeitet im englischen Buckinghamshire.

Mehr über Stephen Baxter und seine Werke erfahren Sie auf:

www.diezukunft.de

STEPHEN BAXTER

artefakt

STERNENINGENIEURE

Roman

Aus dem Englischen von

Peter Robert

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Titel der Originalausgabe:

WORLD ENGINES: CREATOR

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Ausgabe 03/2022

Redaktion: Ralf-Oliver Dürr

Copyright © 2020 by Stephen Baxter

Copyright © 2022 dieser Ausgabe und der Übersetzung

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,

unter Verwendung von AdobeStock/pechenka_123

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-25669-2V001

www.diezukunft.de

Für Tony und Jacqui Jones

und Guy und Elizabeth Soulsby

Ich heiße Greggson Deirdra.

Mit siebzehn Jahren habe ich mein Elternhaus verlassen. Ich habe die Erde verlassen. Und meiner Mutter versprochen, dass ich zurückkommen würde.

Ich glaube, ich habe so etwas wie Rache gesucht. Rache für die drohende Vernichtung meiner Welt.

Doch was ich gefunden habe, ist großartig. Großartig und schrecklich zugleich …

ERSTER TEIL

ÜBER IHREN ABSTIEG ZUR ZWEITEN PERSEPHONE

Anmerkung: Die Titel der Abschnitte entstammen Greggson Deirdras zweitem Testament, abgefasst von Cdr. Nicola Mott, RAF (a. D.), Neu-Paris, Demeter, 2031 n. Chr.

Hört mir zu.

Ich sage euch, wie es ist, wie es war, wie es so wurde.

Hört zu. Hört einfach nur zu.

Es begann im Nachglühen des Urknalls, in jener kurzen Zeitspanne, als die Sterne noch brannten.

Menschen entstanden auf einer Erde. Vielleicht auf eurer Erde, Deirdra, Emma und Malenfant.

Menschen, die sich auf ihrer Erde fortpflanzten.

Die sich in Wellen im Universum ausbreiteten, ihre Händel austrugen, fruchtbar waren und sich mehrten, vergingen und sich weiterentwickelten.

Die schließlich erkannten, dass sie allein waren.

Die mich mitnahmen.

Mein Name ist Michael.

1

»Ja, erzähl’s ihnen, mein Junge …«

Er hatte geträumt. Von …

Von Michael. Nicht von seinem verlorenen Sohn. Von einem anderen Michael, der irgendwie wichtig war …

Der Traum verblasste.

Er hustete und erwachte vollständig.

Und sah ein Dach über sich.

Das war sein erster Eindruck. Eine schräge, raue Fläche, braun, in flackerndem Licht – eine Kerze? Segeltuch vielleicht. Nein – Leder. Er konnte es riechen, eine Mischung aus Viehhof und neuen Schuhen.

»Aber verdammt große Häute, falls es Leder ist. Ich sehe keine Nähte. Was für ein Tier …«

»Das werden Sie schon noch erfahren.«

»Habe ich das laut ausgesprochen?«

Ein Schattengesicht wie ein Mond über ihm. »Ja, das haben Sie laut ausgesprochen, Malenfant. Obwohl Sie eine Menge vor sich hingemurmelt haben. Irina hat sehr viel Zeit damit verbracht, mit Ihnen zu reden, während Sie immer wieder einmal zu sich gekommen sind.«

»Irina? Wer ist das?«

»Hm … wissen Sie, wer Sie sind?«

»Ja, verdammt.« Er bekam einen Hustenanfall. »Auch wenn ich im Augenblick nur krächzen kann. Ich bin Reid Malenfant. Immer noch. Und du bist …« Ein kurzes Zögern, als würde sein Gehirn erst allmählich hochfahren. »Bartholomew.«

Ein Grinsen auf diesem Gesicht.

»Wo sind wir, Blechmann? In einem Zirkuszelt?« Vorsichtig drehte er den Kopf. Ihm war nicht schwindlig, und es fühlte sich auch nicht so an, als würde er gleich wieder ohnmächtig werden; das war ein gutes Zeichen. Das Zelt war in Wirklichkeit eine Art Tipi, sah er, gestützt von einem einzigen großen, zentralen Pfosten, der wie ein behauener Baumstamm aussah. Allerdings wie ein großer Baumstamm, eine regelrechte Säule, an der noch die Stümpfe abgeschlagener Äste zu sehen waren, das Ganze richtiggehend in den Boden gerammt. Augenblicklich hatte er den Eindruck, dass bei der Errichtung dieser Behausung gewaltige Kräfte am Werk gewesen waren – aber auf primitive Weise.

»Und keine Nähte. In dem großen Zeltdach da oben. Dem Leder. Jedenfalls sehe ich keine.«

»Hören Sie auf, sich zu wiederholen.«

»Tu ich nicht. Hör auf, mich einer Diagnose zu unterziehen.«

»Tu ich nicht. Glauben Sie, dass Sie sich diesmal aufsetzen können?«

»Diesmal …? Schon gut.«

Er holte Luft, schob die Arme unter den Körper, spannte die Bauchmuskeln an und stemmte sich hoch. Er spürte Bartholomews Arm um seine Schultern. Fest, stark, ruhig – zu ruhig, eindeutig künstlich –, aber dennoch ungemein beruhigend. Obwohl er das niemals zugeben würde.

Als er aufrecht saß, schaute er sich erneut um.

Ein Lehmboden, auf dem hier und dort Lederdecken ausgebreitet waren. Dieser große zentrale Pfosten. Kerzen, ja, da hatte er recht gehabt, dicke, brennende Wachsstummel auf flachen Steinen. So etwas wie Strohlager oder Betten – Haufen aus Leder und Stroh, die ungefähr die Größe und Form von Betten besaßen. Kleidungsstücke in Blau, Orange und Schiefergrau, die überall herumlagen und sich deutlich von den Schlammfarben im Gebäude abhoben. Und ein paar moderne Ausrüstungsgegenstände – wobei »modern« bedeutete, dass sie aus jener Zeit stammten, aus der er, Bartholomew und Greggson Deirdra kamen, dem fünfundzwanzigsten Jahrhundert, oder dass sie zu den etwas klobigeren, fast schon steampunkmäßigen Gerätschaften jener britischen Expedition aus dem frühen einundzwanzigsten Jahrhundert gehörten, die sie auf Phobos (oder, rief er sich ins Gedächtnis, auf einer Version des Phobos) angetroffen hatten.

Im Moment war niemand da, außer Malenfant und Bartholomew.

Malenfant stellte fest, dass er nur schmutzige Unterwäsche trug.

Er hob sein knochiges Handgelenk und sah, dass ein bronzener Armreif daran hing. Das war ein hoch entwickeltes Produkt der Technologie des fünfundzwanzigsten Jahrhunderts, das aus seiner Großhirnrinde las und hineinschrieb und auf diese Weise diverse nützliche Wunderwerke vollbrachte; lückenlose Übersetzung war eines davon.

Er trug nichts als Unterwäsche und den Armreif.

»Wo sind die anderen?«

Bartholomew zögerte. »Sie erinnern sich doch noch …«

»Der Absturz. Wir haben Niki verloren … Nicola Mott. Und Bob Nash. Ja, ich erinnere mich. Ich erinnere mich an alles. Glaube ich.« Er schürzte die Lippen. »Und ich weiß auch noch, dass ich das alles schon mit Irina durchgekaut habe. Irina Wiktorenkowa. Die vermutlich schon hier war, als wir vom Himmel gefallen sind. Sie hat uns herausgefischt. Ich habe über all das mit ihr gesprochen.«

»Das stimmt. Ich war auch dabei.«

»Du hast uns belauscht, wie üblich.«

»Was die Frage betrifft, wo die anderen sind – ich sag’s nur ungern, Malenfant, aber die anderen Überlebenden sind auf dem Weg der Genesung alle schon ein Stück weiter als Sie. Niemand hat bei dem Absturz schwere Verletzungen davongetragen, abgesehen von unseren beiden Todesopfern. Sie sind ja auch alle jünger als Sie.«

»Und fitter. Schon klar.«

»Ich meine, dem Kalender zufolge Jahrhunderte jünger, dank der Zeit, die Sie in einer Kälteschlafkapsel auf dem Mond verbracht haben, aber auch in biologischer Hinsicht.«

»Ja, ja.« Er schob Bartholomews Arm weg und schwang die Beine aus dem Bett. »Na schön, ich muss sie trotzdem sehen.«

»Das ist bestimmt nicht Ihr dringendstes Bedürfnis.«

Als sich die Systeme seines Körpers langsam wieder mit dem Gehirn verbanden, musste er ihm beipflichten. »Also, wo ist das Klo in diesem M. A. S. H.?«

»Nicht weit von hier. Im Grunde ein Loch im Boden, aber durchaus hygienisch. In dieser Hinsicht hat Irina alles richtig gemacht, soweit ich sehe. Hier.«

Bartholomew hob einen etwa einen Meter langen Stock auf, der neben dem Strohlager auf dem Boden lag, offensichtlich ein abgeschnittener Ast mit grob zurechtgeschnitztem Knauf. Erneut hatte Malenfant den Eindruck, dass jemand dieses Ding mit großem Kraftaufwand auf primitive Weise angefertigt hatte.

Trotzdem, seine Funktion war klar, und er wich zurück. »Erwartest du von mir, dass ich am Stock herumlaufe?«

»Sie sind ein sehr alter Mann, Malenfant, und haben höllische Strapazen hinter sich. Ich möchte Sie daran erinnern, dass Sie auf Persephone sind. Einer anderen Persephone.«

»Wir haben gesagt, wir nennen sie Persephone II.«

»Wie auch immer. Aber genau wie die Version in der Kometenwolke, die wir zuvor besucht hatten, ist dies eine Supererde. Mit einer um fast ein Drittel höheren Schwerkraft, wissen Sie noch? Also nehmen Sie den Stock, und seien Sie verdammt dankbar, dass ich Sie nicht einfach auf den Armen trage wie ein Baby. Außerdem sollten Sie noch einen Schluck Wasser trinken, bevor …«

»Ach, nun gib mir schon den verdammten Stock.«

Bartholomew ging mit ihm in eine Art Anbau des großen Zelts, offensichtlich die Toilette, zu der man gelangen konnte, ohne in den Regen hinauszumüssen. (Falls es hier überhaupt jemals regnete.) Nur ein Loch im Boden mit ein paar Brettern darüber. Aber es stank erstaunlich wenig; anscheinend hatte man die Ausscheidungen mit Schichten feuchter Erde bedeckt.

Als er fertig war, half ihm Bartholomew, eine belebende Dusche unter einem Eimer lauwarmen Wassers zu nehmen und dann in einen ziemlich sauberen Overall zu schlüpfen – NASA-blau, aber ein Produkt von Materiedruckern aus dem fünfundzwanzigsten Jahrhundert. Scheinbar unbeschädigt, aber Malenfant wusste, dass sich solche Kleidungsstücke bis zu einem gewissen Grad selbst flickten.

Dann führte Bartholomew ihn durch ein Gewirr von Halteseilen. Die dicken Stränge schienen aus Baumrinde zu bestehen – Rinde, die offenbar gekaut worden war, um sie geschmeidig zu machen – und waren mit Pflöcken in einem Boden verankert, der wie Lehm in einem Überschwemmungsgebiet aussah.

Und hinaus ins Freie. Endlich bekam Malenfant die Welt zu sehen, auf der er gestrandet war. Zumindest war es sein erster bewusster Blick vom Boden aus.

»Sie machen sich schon weitaus besser als bei Ihrem ersten Erwachen, Malenfant. Erinnern Sie sich? Irina hatte sehr viel Geduld. Sie waren nur halb bei Bewusstsein. Einiges, was Sie da vor sich hingeplappert haben, war … seltsam. Stundenlang hat sie bei Ihnen gesessen, während Sie pausenlos geredet haben …«

Allmählich begann Malenfant sich zu erinnern. Hören Sie mich? Diese Frage hatte sie immer wieder gestellt …

2

Hören Sie mich?

Ich höre Sie, ja. Aber ich sehe nichts.

Beruhigen Sie sich. Es ist jetzt vorbei.

Vorbei …?

Wissen Sie, wer Sie sind?

Sind wir auf Persephone? Oder wie auch immer wir diese große grüne Version jener Gesteinskugel nennen sollen … Persephone II, nicht so wie die gefrorene Gesteinskugel, die wir im äußeren Sonnensystem in diesem anderen Strang, dieser anderen Realität gefunden haben … all die Kontinente und Meere und … ich erinnere mich … das britische Schiff, die Harmonia … nein, wir waren in der Landefähre, wir hatten sie neu bauen müssen, die Charon II, so haben wir sie genannt. Und, ja, dieses … andere Sonnensystem, in dem wir uns befinden. Ein weiterer Wirklichkeitsstrang, herausgeklaubt aus der Mannigfaltigkeit aller möglichen Realitäten.

Und zwar ein Strang, in dem Saturn keine Ringe hat.

Saturn?

Ja … Inmitten all dieser Seltsamkeiten, einer funkstillen Erde und so weiter, hat das Deirdra am meisten beeindruckt, als wir ihn durch die Teleskope entdeckten. Dabei hat sich herausgestellt, dass sie schon immer ganz vernarrt war in Saturn. Hier also keine Ringe, dafür ein komisch aussehender zusätzlicher Mond … Aber wir sind zuerst hierhergekommen, zur Persephone. Weil sie noch erdähnlicher aussah als die Erde, die hiesige Version jedenfalls. Eine dicke grüne Kugel, wo der Mars sein sollte. Wir gehen runter, runter zur Persephone, wir werden landen. Aber …

Noch mal zurück. Eins nach dem anderen. Wissen Sie, wer Sie sind?

Ich … Ja.

Wie ist Ihr Name?

Mein Name. Ich …

Legen Sie sich wieder hin. Versuchen Sie nicht, die Augen zu öffnen.

Es geht mir gut. Und ich weiß, wie ich heiße. Ich bin Reid Malenfant. Sie kennen mich. Der Kerl, der mit dem Spaceshuttle abgestürzt ist. Und jetzt bin ich wohl noch mal abgestürzt.

Hören Sie mir zu, Reid Malenfant.

Einfach nur Malenfant.

Hören Sie zu. Ihr Russisch ist sehr gut. Aber ich kenne Sie leider nicht. Ihren Namen habe ich noch nie gehört, bevor Sie herkamen. Ich weiß nichts über dieses »Spaceshuttle«. Offenbar nicht das Fahrzeug, mit dem Sie gelandet sind …

Was soll das heißen, mein Russisch ist gut? Ich spreche kein einziges verdammtes Wort Russisch. Abgesehen von ein paar Flüchen, die ich von Wladimir Wiktorenko aufgeschnappt habe, als wir ihn auf Phobos aus seinem Schiffswrack holten.

Hallo.

Hallo? Sind Sie noch da?

Ich bin noch da.

Sie waren gerade einen Moment lang weg. Ich hatte schon Angst … Sie sind verstummt, als ich Wlad erwähnt habe. Wladimir Pawlowitsch Wiktorenko … Kennen Sie dessen Namen?

In gewissem Sinn. Möglicherweise.

Was soll das bedeuten?

Ich heiße Wiktorenkowa. Irina Wiktorenkowa. Das ist mein Ehename. Und ich habe einen Sohn. Einen Sohn namens Wladimir. Wladimir Pawlowitsch Wiktorenko. Er ist nicht hier. Ich bin weit weg von zu Hause.

Ich … ah. Okay. Ich nehme an, das ist kein Zufall. Eines, was wir in Bezug auf die Mannigfaltigkeit gelernt haben, auch wenn sie so etwas wie ein unendliches Multiversum ist: Die … Straßen, aus denen sie besteht – ein Begriff der Briten –, gruppieren sich zu Bündeln. Zu alternativen Geschichten mit einem gemeinsamen Ursprung, einem Verzweigungspunkt. Entweder Amerika fliegt zuerst zum Mond oder Russland. Oder noch weitreichendere Abweichungen. Der Planet Mars existiert – oder nicht. Aber diese Bündel, diese ähnlichen Straßen, können auf subtilere Weise interagieren. Es gibt … Resonanzen. Nicola Mott, die mit mir in der Charon heruntergekommen ist – ich bin schon früher mit ihr geflogen oder mit einer Version von ihr, in einer anderen Realität, einer anderen Straße, einem anderen Raumschiff.

Mannigfaltigkeit. Resonanz. Straßen. Bündel.

Ja?

Wir kennen eure »Mannigfaltigkeit«. Auch wir erkunden sie behutsam. Aber wir haben ein anderes Vokabular. Wir nennen sie »Bewegung in den höheren Dimensionen«. Ihr Russisch ist sehr gut zu verstehen, Malenfant. Selbst wenn es um solche abstrakten Konzepte geht.

Aha. Okay. In Wahrheit kann ich gar kein Russisch. Sehen Sie meinen rechten Arm? Habe ich einen Armreif am Handgelenk? So eine Art Armband aus Kupfer?

Ich … Ja. Haben Sie.

So kommunizieren wir. Mithilfe einer intelligenten Technologie aus einer Zeit Jahrhunderte nach meiner eigenen – aus dem fünfundzwanzigsten Jahrhundert.

Dem fünfundzwanzigsten Jahrhundert. Für mich befinden wir uns im Jahr 1992.

Nicht so wichtig. Ich bin wie immer zu schnell. Aber man gewöhnt sich dran. Glauben Sie mir. Fragen Sie Bartholomew. Vielleicht hat er einen überschüssigen Armreif für Sie. Das wäre sicherlich hilfreich, würde ich meinen.

Bartholomew ist übrigens gerade nicht da. Er kümmert sich um die anderen.

Die anderen.

Verdammt.

Ich muss wissen, was mit meiner Crew ist.

Sie sind gerade erst aufgewacht. Sie haben einen Absturz und ein schweres medizinisches Trauma hinter sich. Ich denke, da kann man nicht erwarten …

Sagen Sie’s mir, verdammt noch mal.

Na schön. Aber eins nach dem anderen.

Sagen Sie mir, woran Sie sich erinnern.

3

Ich erinnere mich …

Zu acht sind wir durch die Phobos-Passagen in dieses neue System gekommen. Zu acht, einschließlich Bartholomew.

Allerdings stellten wir dann fest, dass Phobos hier um die Venus kreiste, nicht um den Mars. Ich weiß noch, wie uns die Sonne geblendet hat. Es kam so unerwartet; wir haben nicht damit gerechnet, dass wir so tief im Innern des Sonnensystems herauskommen würden.

Aber wir haben uns im System umgeschaut. Auf der Erde herrschte Funkstille. Sie sah nicht mal wie die Erde aus. Aber Persephone – nun, mit bloßem Auge konnten wir ihre Meere schimmern sehen, über astronomische Einheiten hinweg.

Wir waren nicht dort, wo wir eigentlich sein sollten, verstehen Sie.

Wo war das?

Vielleicht auch wann. Wir hatten versucht, in die Frühzeit des Sonnensystems zurückzugelangen. So verrückt es klingt. Wir wollten herausfinden, weshalb wir durch eine Mannigfaltigkeit möglicher Realitäten mit unterschiedlichen Geschichtsverläufen trudeln – sogar die Planeten sind extrem unterschiedlich. Verschiedene Zeitlinien, die durch … Portale miteinander verbunden sind. Nun, die Briten hatten Passagen – Kamine, wie sie sie nannten – in jenem Gewirr von Raumzeit-Anomalien gefunden, die man durch Phobos erreichen kann, Kamine, die sich ihrer Meinung nach nicht nur quer durch die Mannigfaltigkeit erstreckten, sondern auch in die tiefe Vergangenheit.

Sie dachten, sie hätten anomales Sonnenlicht durch die Kamine kommen sehen. Zu schwach und mit einer etwas anderen Spektralmischung … Sie nahmen an, es wäre das Licht einer viel jüngeren Sonne. Sonnenlicht aus der Vergangenheit. Also dachten wir uns, wir könnten … nun ja, diese tiefe Vergangenheit erforschen. Sie sogar besuchen. Und herausfinden, wer damals die Finger im Spiel gehabt haben könnte. Um diese starken Divergenzen in der Gegenwart zu erzeugen.

Wir sind also wieder in den Marsmond Phobos hinabgetaucht. Aber vielleicht haben wir uns verirrt. Dort, wo wir herauskamen, sah die Sonne … neuzeitlich aus. Und selbst Phobos war nicht mehr Phobos. Oder zumindest nicht mehr am selben Ort.

Ja. Der Portal-Mond. Aber wir nennen ihn Anteros. Dort, wo ich herkomme, ist er tatsächlich einer der beiden Venusmonde. So wie hier.

Zwei Monde, ja. Ich erinnere mich jetzt, dass wir es beim Übertritt gesehen haben … Hier hat die Venus zwei Monde.

Statt in einem jungen Sonnensystem kamen wir also … hier heraus. Woanders. Für uns sah es wie die Gegenwart aus – wie unsere Gegenwart, heißt das –, aber mit den Planeten stimmte so gut wie nichts. Eine andere Venus, ein anderer Merkur, eine andere Erde. Eine stille Erde, keinerlei Funksignale, die wir entdecken konnten. Und anstelle des Mars – das hier. Ein Planet, der wie Persephone am Rand des Sonnensystems aussah, zu der wir uns hinausgeschleppt hatten, aber hier, nicht draußen in der Kälte, sondern hier, wo eigentlich der Mars sein sollte … gleich und doch anders. Wie bei James Bond in den Filmen, mit einem neuen Gesicht alle zehn Jahre. Wir haben diese Welt sogar Persephone II genannt, wie eine Fortsetzung in einer Filmreihe. Ha!

Ich weiß nicht viel über diesen James Bond.

Vergessen Sie’s. Popkultur, meine Achillesferse.

Allerdings sind wir offensichtlich schon länger hier als ihr …

Wer ist »wir«?

Dazu kommen wir gleich. Was jedoch die Jahreszahl betrifft, so haben wir Schätzungen auf der Grundlage der Positionen der Sterne und sogar der äußeren Planeten vorgenommen. Vom Jupiter an … Bis auf Pluto scheinen sie sich weitgehend auf denselben Umlaufbahnen zu bewegen wie, ähm, wie dort, woher wir kommen.

Ja. Das ist uns auch aufgefallen. Wenn es in all diesen verschiedenen parallelen Realitäten zu einer Störung bei der Entstehung des Sonnensystems kommt – und danach sieht es ja aus –, nun, dann ist vielleicht eine verdammt starke Störung nötig, um Jupiter wirkungsvoll abzulenken. Wie bei einer Kanonenkugel, die auf einem Billardtisch liegt; dieses Baby lenkt man nicht ab, ganz egal, wie geschickt man die weiße Kugel stößt.

Wir schätzen, dass wir uns in dieser Version des Sonnensystems jetzt im Jahr 2020 nach Christus befinden. Genauer geht es nicht.

Das ist ziemlich eindrucksvoll … Aber Sie haben gesagt, dass es dort, woher Sie kommen, nicht 2020 ist?

Nein. 1992, nach dem westlichen christlichen Kalender.

Zeitverschiebungen sowie Unterschiede im Geschichtsverlauf. Das haben wir auch vorher schon beobachtet.

Vorher?

Lange Geschichte. Auf unserem Weg hierher haben wir … Verdammt. Wir. Meine Leute. Ich schweife immer wieder ab. Dieses verdammte Schiff habe ich gesteuert, den Charon-Lander, zusammen mit Nicola Mott …

Dann erzählen Sie es mir. Lassen Sie sich Zeit. Fangen Sie noch mal von vorn an.

Sie haben gesagt, ihr wäret zu acht gewesen.

Ja. Wir sind zu acht durch Phobos hierhergekommen, in der Harmonia. Einem großen interplanetarischen Forschungsschiff.

Sobald wir genügend Abstand zum Phobos – oder zum Anteros – hatten, brach eine heftige Diskussion darüber aus, wohin wir fliegen sollten: zur Persephone oder zur Erde oder sogar zum ringlosen Saturn. Dieser zusätzliche Saturnmond – wissen Sie, wir haben festgestellt, dass er leuchtet, aber dieses Licht ist nicht … natürlich. Wie reflektiertes Sonnenlicht, aber nicht ganz. Als wäre es das Licht einer anderen Sonne – oder einer jüngeren Sonne, hat Josh Morris gesagt, einer seiner intuitiven Geistesblitze … Und das erwies sich als der Köder, der uns durch das Portal hierhergelockt hat. Dieses junge Sonnenlicht, das aus dem Eismond sickerte.

Letztendlich zog uns jedoch Persephone an, diese dicke, fruchtbare, sonnenbeschienene Version jener Persephone, die wir zuvor besucht hatten. Und als wir hier eintrafen, konnten wir schon vom Orbit aus eine Menge sehen. Leben, eine Art Wald, Grasland. Manchmal auch riesige Tierherden auf diesen großen, weitläufigen Kontinenten.

Und Rauchfahnen, das Kennzeichen von Feuern, die … nun ja, das Werk von Menschen zu sein schienen. Möglicherweise. Wir sahen zwei bemerkenswerte, ziemlich lange aktive Brandstellen. Und beide auf diesem großen Kontinent, den wir Kaina nennen, nördlich vom Äquator. Das eine waren eure Lagerfeuer hier an der Südküste, an der Mündung eines großen Flusses, stimmt’s? Und das andere war vielleicht sogar ein Anzeichen irgendeines technischen Prozesses, weit weg auf einer großen vulkanischen Hochebene in der Mitte des Kontinents. Wir haben auch so etwas wie eine Gasfackel gesehen, aber unsere Umlaufbahn war ungünstig …

Bei uns heißt die Hochebene »der Schild«. Wir haben keinen Namen für diesen Kontinent. Euer Kaina.

Wir mussten herunterkommen und uns die Sache genauer anschauen. Außerdem wäre es auch eine gute Idee gewesen, unsere Vorräte aufzustocken. Und wir wollten herausfinden, wer bereits hier war. Also steckten wir unseren Landeplatz ab. Dabei entschieden wir uns für diejenige der beiden möglicherweise von Menschen angelegten Siedlungen, die weniger hoch entwickelt zu sein schien.

Ihr wart vorsichtig. Verständlicherweise. Für euch ist es eine fremde Welt; ihr hattet keine Ahnung, wer wir sind und was wir hier machen.

Außerdem brauchten wir einen Landeplatz am Äquator. Wir wollten auch überprüfen, ob es irgendwelche Spuren von den Türmen gab, die wir auf dieser anderen Persephone draußen in der Kometenwolke gesehen hatten.

Türme?

Um den ganzen Äquator herum … Egal. Wenn es sie hier gäbe, wüsstet ihr von ihnen. Unser Plan bestand darin, auf Ischariot zu landen – dem Kontinent, der einem Äquatorialgürtel ähnelt –, ein gutes Stück südlich von hier, auf der anderen Seite der Meerenge, gegenüber vom Flussdelta, eurem Lager. Sobald wir wohlbehalten gelandet wären, wollten wir herüberkommen.

Bevor wir aus der Umlaufbahn absteigen konnten, mussten wir jedoch erst einmal eine neue Landefähre bauen, weil wir die alte in jener anderen Realität bei jener anderen Persephone verloren hatten, zusammen mit zwei Mitgliedern unserer Besatzung, zwei Briten. Aber die Harmonia ist für Langzeitflüge ohne Versorgungs- und Überholungsstopps konzipiert; ihr Hauptladeraum sieht wie ein Museum für Ersatzteile aus. Den haben wir geplündert, und wir haben auch das Mutterschiff ein wenig ausgeschlachtet, und so ist es uns gelungen, die Charon II zu bauen.

Wir beschlossen, mit sieben unserer acht Besatzungsmitglieder herunterzugehen. Wir dachten, es würde eine Weile dauern, bis wir uns auf dieser neuen Welt zurechtfänden, auch wenn viele von uns daran arbeiteten …

Lighthill blieb in der Umlaufbahn. Wing Commander Geoff Lighthill. Cambridge-Absolvent, was er einem auch mehrmals am Tag unter die Nase reibt … Ha! Ein guter Offizier und der Kommandant des Schiffes. Er blieb oben, um das Funkgerät zu bedienen, die Harmonia instand zu halten und eine astronomische Durchmusterung vorzunehmen.

Und wir anderen – die sieben von der Charon, darunter ich selbst und Bartholomew, Emma, Deirdra und die Briten: Nicola, Josh Morris, Bob Nash. Genau genommen war ich Nicola Motts Co-Pilot – und wie ich vielleicht schon erwähnt habe, hatten im Jahr 2019, in einer anderen Version der Geschichte, zwei Versionen von uns versucht, die Spaceshuttle-Trägerstufe Constitution aus der Umlaufbahn nach Cape Canaveral zurückzubringen. Leider erfolglos, und bei diesem Abstieg kam jene Version von Nicola ums Leben. Und jetzt …

Nicola. Die zweite Nicola. Sie hat den Abstieg zur Persephone nicht überlebt.

Ich weiß. Ich weiß. Ich war lange genug bei Bewusstsein, um es zu sehen … Verdammt, sie saß direkt neben mir. Wieder einmal. Diese verdammten Mannigfaltigkeitsresonanzen.

Bleiben Sie ruhig.

Sie ist an meiner Seite gestorben, zweimal. Wie zum Teufel soll ich da ruhig bleiben?

Aber die anderen … Sie müssen sich vorstellen, wie sie im Lander hinter uns beiden Piloten hocken, auf Liegesitzen zusammengepfercht. Während der Landung waren sie still, wie es von ihnen erwartet wurde. Worauf sie sogar trainiert waren, die britischen Besatzungsmitglieder jedenfalls. Da waren Deirdra und Emma II …

Nennen Sie sie wirklich Emma II?

Sagen Sie mir einfach, ob mit ihnen alles in Ordnung ist.

Fünf von euch haben überlebt. Einschließlich Bartholomew. Alle außer Nicola und einer anderen Person. Die Übrigen sind unverletzt – meiner Einschätzung zufolge. Bartholomew spricht von geringfügigen gesundheitlichen Beschwerden …

Wer noch? Wen haben wir verloren?

Bob Nash.

Verdammt. Verdammt. Lighthill hat ihn »Oxford« genannt. Pfeifenraucher. Und Ingenieur der britischen Crew. Er wird uns fehlen. Ich nehme an, wir sitzen hier unten fest, bis wir die Charon reparieren können, damit sie uns wieder in die Umlaufbahn und zur Harmonia zurückbringt, und er hätte dabei eine führende Rolle gespielt.

Aber die anderen haben überlebt. Greggson Deirdra …

Die habe ich kennengelernt, als sie noch ein Teenager war. Als ich in einem überschwemmten London aufgetaut wurde, war sie dabei. Sie kommt aus dem fünfundzwanzigsten Jahrhundert und ist trotz ihrer Jugend eine der stärksten Persönlichkeiten, denen ich je begegnet bin. Noch so eine lange Geschichte. Und der junge Wissenschaftler – Josh Morris?

Er ist wohlauf. Traumatisiert, sagt Bartholomew, aber …

Wer könnte es ihm verdenken. Ein junger, linkischer Bursche. Seine wissenschaftlichen Grundkenntnisse aus dem zwanzigsten, einundzwanzigsten Jahrhundert sind überholt, aber mit seinem Verstand würde er in jeder Epoche glänzen, und er wird in der kommenden Zeit von unschätzbarem Wert für uns sein. Aber wir werden uns um ihn kümmern müssen.

Hallo?

Sind Sie noch da?

Ich mache mir Notizen.

Ha! Keine schlechte Idee. Als ich noch klein war, hat mein Vater immer versucht, mir gute Angewohnheiten beizubringen. Dazu gehörte auch, mir Notizen zu machen, wenn ich mich mit Amateurastronomie und dergleichen beschäftigt habe …

Erzählen Sie mir von Ihrem Vater.

Ich erinnere mich jetzt an mehr. An den Abstieg in der Charon. Alles lief gut … Dann etwas am Himmel vor uns … Ein riesengroßes Hindernis, strahlend blau, ein … ein Kreis, wie sich herausstellte, wir haben ihn zuerst als Oval gesehen, fast von der Seite.

Malenfant.

Phobos-Blau. Ja, wie die Räder, die wir im Skulpturengarten gesehen hatten, wie wir ihn nannten, ein Ort im Innern von Phobos. Mannigfaltigkeitstechnologie.

Malenfant.

Sterneningenieurstechnologie. Ja. Und wir sind geradewegs auf das verdammte Ding zugeflogen, es kam aus dem Nichts …

Malenfant …

In diesem Kahn konnten wir nicht schnell genug ausweichen, er war nicht viel mehr als ein Gleiter …

Bleiben Sie ruhig.

Ruhig. Ja.

Erzählen Sie mir von Ihrem Vater.

4

Bartholomew half ihm nach draußen.

Sie befanden sich in einem Flusstal. Nun ja, zum Teufel, da war der Fluss, vielleicht einen halben Kilometer entfernt, ein grauer, schnell dahinfließender Strom. Aber der Talboden war breit und wurde auf beiden Seiten von niedrigen Sandsteinwänden eingefasst – er sah dicke, gebänderte Schichten in dem rotbraunen Gestein –, und dahinter erhoben sich in der dunstigen Luft weitere, noch viel weiter entfernte Wände. Als hätte sich der Fluss seinen Weg durch eine riesige, schon vorher existierende Schlucht gebahnt. Das Licht war diffus, zerstreut von einer tief hängenden Wolkenschicht. Die Wolken schienen sogar bis unter den oberen Rand der fernen Schluchtwände zu reichen, wie er jetzt sah, sodass sie bis zur Unsichtbarkeit verschwammen.

Er drehte sich um, schaute stromabwärts und sah die Sonne, die hoch am Himmel über diesem langen, vielschichtigen Tal hing. Fast genau über ihm – aber sie wirkte schwächer und kleiner, denn dies war nicht die Erde. Diese Version Persephones, so erdähnlich sie auch zu sein schien, befand sich an der Position des Mars, nicht der Erde, also mindestens um gute fünfzig Prozent weiter von der Sonne entfernt.

Ein Wind wehte, nicht besonders stark, aber ungleichmäßig und beunruhigend. Die höheren Wolken zogen schnell dahin.

»Das Wetter fühlt sich irgendwie stürmisch an. Welche Jahreszeit haben wir – Frühling, Herbst? Alles macht so einen wechselhaften Eindruck.«

»Eigentlich haben wir hier jetzt fast Hochsommer«, sagte Bartholomew. »Die Jahreszeiten sind nicht so ausgeprägt, hat man mir erklärt. Keine besonders starke Achsneigung. Aber es ist eine große Welt mit ausgedehnten, energiereichen Wettersystemen.«

»Und nicht besonders anheimelnd, vermute ich mal.«

Bartholomew zuckte die Achseln. »Sie ist nicht für Menschen gemacht. Oder vielmehr, hier haben sich keine Menschen entwickelt. Euer Problem. Ihr seid die tropischen Affen. Ich bin ein wasserdichter Mech mit eingebautem Hundert-Jahre-Akku.«

»Angeber.«

Malenfant ließ den Blick über die kleine Siedlung auf dem Talboden schweifen. Das große Zelt, das er gerade verlassen hatte, war das beherrschende Gebäude, sah er. Aber es gab kleinere Zelte, die vielleicht als Lagerräume benutzt wurden; sie waren sorgfältig verankert – offensichtlich musste man hier mit starken Winden rechnen. Supererde, Malenfant. Superwetter.

Und nun sah er, wonach er Ausschau gehalten hatte. Menschen.

Eine kleine Gruppe, zu weit entfernt, als dass er einzelne Personen unterscheiden konnte; manche in blauen oder grauen Overalls, andere ohne, und ein paar trugen Kleidungsstücke aus Leder oder grob gefertigtem Stoff … Einige saßen neben zwei Gestellen auf dem Boden, die selbst gebauten Tragen ähnelten, auf denen in Tuch gehüllte Bündel lagen. Der Rauch eines kleinen Feuers schlängelte sich in die Luft und zerstreute sich rasch, so wie der dickere Rauch, der von dem Feuer im großen Tipi kam.

Und zwei weitere Bündel, die auf dem Boden lagen. Länger. Etwas abseits. Körperlang.

Er machte einen hinkenden Schritt in diese Richtung, bevor Bartholomew ihn am Arm fasste.

Malenfant riss sich los. »Dort muss ich sein. Bei meinen Leuten.«

Bartholomew warf ihm einen Blick zu, in dem Malenfant vielleicht Mitgefühl gelesen hätte, wenn er nicht gewusst hätte, dass sich hinter dem wasserdichten Äußeren seines medizinischen Betreuers nichts anderes verbarg als eine Art animierter Regelsatz. Behauptete Bartholomew zumindest.

»Erstens«, sagte Bartholomew sanft, »sind es nicht Ihre irgendwas. Zweitens sind sie bisher auch ohne Sie bestens zurechtgekommen – okay, vielleicht nicht ganz so gut, aber gut genug. Und sie können bestimmt darauf verzichten, dass Sie halb wach und ohne jede Vorbereitung in sie hineinstolpern. Zum Beispiel, wissen Sie überhaupt, wo Sie sich befinden?«

»Auf Persephone. Ja, aber wo genau?« Er kramte in seinem Gedächtnis. Erinnerte sich undeutlich daran, dass er alles mit Irina rekonstruiert hatte, seiner Muse während seiner Genesungsphase. »Okay. Wir wollten an der Nordküste von Ischariot landen, südlich der Meerenge zwischen Ischariot und Kaina. Stattdessen sind wir aber südlich von Kaina ins Meer gestürzt …«

Er versuchte, es sich zu vergegenwärtigen, und schaute sich erneut um – das Flusstal, die steilen Sandsteinwände, die undeutlich erkennbare Struktur der Schlucht dahinter, alles unter dem Deckel turbulenter Wolken. »Wenn ich mich recht entsinne, liegt ein großer Teil von Kaina ziemlich hoch. So war es auch schon auf dieser anderen, unbelebten Persephone draußen im Dunkeln. Das war ein großer Granitdom. Aber hier gibt’s eine Menge Sandstein … Der Fluss.« Malenfant dachte noch immer langsam. »Der zur Küste fließen muss, richtig? Also« – er zeigte das Tal entlang – »muss dort Süden sein. Wie weit sind wir von der Küste entfernt?«

»Weiter, als Sie vielleicht glauben, Malenfant.«

»Na schön. Wir sind nicht so weit vom Äquator entfernt, wenn man bedenkt, wie hoch die Sonne steht … Ich nehme an, die Ortszeit ist ungefähr Mittag? Die Mitte eines Fünfundzwanzigstundentages.«

»Gar nicht schlecht.«

Er fuhr herum, drehte sich an seinem Stock. Wäre hingefallen, wenn Bartholomew ihn nicht mehr oder weniger diskret um die Hüfte gepackt hätte.

Greggson Deirdra kam zusammen mit Emma Stoney auf ihn zu.

Zum Teufel damit. Er warf den Stock weg und lief zu ihnen.

5

Mein Vater. In Ordnung.

Dem christlichen Kalender zufolge bin ich im Jahr 1960 geboren.

Ich entstamme einer Familie von Fliegern. Mein Vater ist im Koreakrieg geflogen, mein Großvater im Zweiten Weltkrieg. Ähm … ich denke, Stalin hat ihn als euren »Großen Vaterländischen Krieg« bezeichnet.

Wer?

Jetzt geht das schon wieder los. Bleib beim Thema, Malenfant. Also, in meiner Kindheit hatte ich nur die Fliegerei und den Weltraum im Kopf. Bei der Landung von Apollo 11 – den ersten Menschen auf dem Mond – war ich neun Jahre alt, und ich habe Rotz und Wasser geheult, als bekannt wurde, dass Armstrong im Augenblick des Aufsetzens gestorben war.

Hallo?

Sie sind schon wieder verstummt.

Sprechen Sie von amerikanischen Raumfahrtprogrammen? Der erste Amerikaner, der den Mond betreten hat, war John Glenn, wenn ich mich recht entsinne, als Gast an Bord der Wernadski im Jahr … Egal. Sie haben mir aus Ihrem Leben erzählt. Sie waren neun, zehn Jahre alt, als dieser Armstrong auf dem Mond landete?

Ja. Das perfekte Alter, oder? Danach hatte ich nur noch den Weltraum im Kopf. Mein Vater hat mich immer darin bestärkt.

Okay. Nach dem Triumph und der Tragödie von Apollo sind wir – Amerika – zu einer nachhaltigeren Raumfahrtstrategie übergegangen. Wir hatten das Spaceshuttle, ein zweistufiges Transportmittel für Flüge von der Erde in die Umlaufbahn, zwei vollständig wiederverwendbare Fluggeräte, die beim Start aneinandergekoppelt waren. Wir hatten Raumstationen – die Skylabs und später die Raumstation Freedom. Und wir haben auf Apollo-Saturn aufgebaut – jener Technologie, die uns zum Mond gebracht hatte –, um uns weiter hinauszuwagen. Die ersten Menschen, die zum Mars flogen, waren Amerikaner; sie landeten dort im Jahr 1986. Es gab also jede Menge Möglichkeiten, in den Weltraum zu gelangen.

Emma und ich waren in dieser Zeit zusammen aufgewachsen – gewissermaßen, sie war ja zehn Jahre jünger. Unsere Wege hatten sich getrennt und wieder vereint … Wir heirateten 1992. Sie war zweiundzwanzig. Aber zu diesem Zeitpunkt …

Flogen Sie bereits in den Weltraum?

Eigentlich nicht. Ich hatte mich bei der NASA beworben, unserer Raumfahrtbehörde, und war zunächst einmal durchgefallen. Das war in den 1980er-Jahren. Also beschloss ich, eine Auszeit zu nehmen, um meine Fähigkeiten als Flieger weiterzuentwickeln, und ging zur USAF. Unserer Luftwaffe.

Emma hatte jedoch mittlerweile ihre eigenen Ziele. Sie wählte eine klügere Taktik. Phobos war schon seit den späten Achtzigern ein großes Thema in den Nachrichten gewesen, als Carl Sagan die NASA gedrängt hatte, eine Spezialsonde dorthin zu schicken. Und die Phobos-Anomalien waren natürlich auch schon seit Jahrzehnten ein Rätsel gewesen. Also hatte Emma diesen Ball aufgegriffen …

Phobos, der Marsmond. Anteros, der Venusmond.

Richtig. Ich glaube, es ist Anteros. Und gleichzeitig auch Phobos. Keine Kopie. Derselbe. Eines, was wir in Bezug auf die Mannigfaltigkeit gelernt haben, ist, dass sich ein Objekt an zwei Stellen zugleich befinden kann … Es ist nicht die Realität, wie wir sie kennen. Irgendeine Quantensache wahrscheinlich.

Aber was Phobos betrifft, so war es tatsächlich ein russischer Astronom, der als Erster auf die von der Erde aus sichtbaren Anomalien hinwies. Ein Bursche namens Schklowski …

Das Hauptproblem war die sogenannte säkulare Abbremsung von Phobos. Die Umlaufbahn des Mondes verengte sich offensichtlich, wie beim ersten Skylab – ähm, wie bei einer Raumstation, die in einer zu niedrigen Umlaufbahn kreiste und die Erdatmosphäre streifte. Der Luftwiderstand bringt sie schließlich zum Absturz. Nun, Phobos war ein recht stattlicher Felsbrocken, und seine Umlaufbahn hätte sich nicht so schnell verengen dürfen. Schklowski äußerte den Gedanken, dass der Mond hohl sein könnte. Jedenfalls steigerte das die Erregung, und man beschloss, eine spezielle, gut ausgerüstete bemannte Mission dorthin zu schicken, statt die Besatzung der Mangala-Station auf dem Mars einen Abstecher dorthin machen zu lassen.

Für uns sind die Phobos-Anomalien der Schlüssel zu allem. Aber das wissen Sie ja. Selbst wenn wir anfangs keine Ahnung hatten, in was wir da hineingerieten.

Erzählen Sie mir von Emma und von Phobos.

Okay. Sehen Sie, Emma hatte schon immer selbst das Ziel gehabt, in den Weltraum zu fliegen. Sie hat mir vorgeworfen, ich hätte sie mit diesem Bazillus infiziert, als sie noch ein kleines Kind und ich ein Teenager mit nichts als Sternen und Planeten und Astronauten im Kopf gewesen war. Doch als sie dann heranwuchs, war sie klüger, als ich es je war. Und wie gesagt, sie suchte sich einen schlaueren Weg ins All.

Die NASA ist – war – war irgendwo – jedenfalls in den 1970er- und 1980er-Jahren ein Laden mit einem zutiefst patriarchalischen Touch. Die ersten Astronauten waren Testpiloten und Angehörige des Militärs gewesen, daher stammte dieser hypermaskuline, enorm stark von Konkurrenzdenken geprägte Geist. Klar, überall in der Organisation gab es Frauen, im technischen Bereich, im Management, sogar als Fliegerinnen. Aber Emma konnte erkennen, dass es verdammt hart werden würde, mit den männlichen Piloten zu konkurrieren, von denen es ohnehin schon zu viele gab.

Aber sie erkannte auch, dass sie das gar nicht zu tun brauchte. Sie konzentrierte sich einfach darauf, an dieser Phobos-Mission teilnehmen zu können. Bei den Piloten würde sie es niemals bis ganz an die Spitze schaffen, und an den technischen Aspekten war sie nicht übermäßig interessiert. Also arbeitete sie schon seit ihrer Anfangszeit im College darauf hin, die beste Phobos-Spezialistin zu werden, die es nur geben konnte.

Nun, das hat geklappt. Mit Ende zwanzig – zu dieser Zeit hatten wir schon einen Jungen, Michael – begann sie, sich bei den NASA-Rekrutierungsrunden zu bewerben, und brachte es im zweiten Anlauf zur Kandidatin für den Posten der Missionsspezialistin, und binnen eines Jahres unterrichtete sie den Rest der NASA mehr oder minder darin, wie man Phobos erforschen konnte.

Und Sie sind ihr gefolgt?

Nein. Jedenfalls damals noch nicht. Ich wurde immer wieder abgelehnt, obwohl ich mich später gefragt habe, ob die Tatsache, dass Emma als Erste angenommen worden war, meiner Bewerbung schadete.

Wollte man keine Ehepaare nehmen?

Das nicht … Vielleicht hat es mich beeinflusst. Die Haltung, die ich an den Tag gelegt habe. In Wahrheit war ich neidisch, weil meine jüngere, klügere Frau es vor mir geschafft hatte. Klingt das verständlich? Obwohl ich sie mehr liebte als das Leben. Und obwohl ich tief im Innern befürchtete, dass ich unserem Sohn, Michael, Schaden zufügte. Mein lieber Mann, wie ich dafür im Jahr 2469 bezahlt habe, als … Egal. Eine andere Geschichte.

Also blieb ich beim Militär. Ich flog sogar Militäreinsätze – Stratotankerflüge über dem Irak. Lange Jahre hindurch rechtfertigte ich das damit, dass es eine nützliche Erfahrung war, wenn man einen Shuttle-Booster fliegen wollte. Das ist im Grunde auch nur ein großer fliegender Treibstofftank.

Ein Krieg im Irak? Nein, ignorieren Sie das; ich bezweifle, dass mir die Antwort viel sagen würde. Bleiben wir bei Emma und Phobos …

Sie bekam also einen Platz bei der Phobos-Mission. Das Schiff hatte man auf der Basis der Ares-Saturn-Technik zusammengeschustert, das heißt des Systems, mit dem wir zum Mars geflogen waren und die Mangala-Station errichtet hatten. Emma und ihre Mannschaft verließen die Erde im Startfenster 2004–2005.

Hm. Mehr als ein Jahrzehnt in meiner Zukunft.

Aber sie kam nie dort an. Das Raumschiff verstummte während der finalen Annäherung an Phobos. Höchstwahrscheinlich hat während der letzten Brennphasen eine nukleare Antriebsstufe versagt. Das waren schon immer halb experimentelle, launische Mistdinger.

Mein Beileid. Für Sie und Ihren Sohn.

Danke. Die Jahre danach – nun, ich erinnere mich nur noch vage daran.

Damals war ich schon mit einem privaten Raumfahrt-Start-up namens Bootstrap Inc. beschäftigt. Im Rückblick war ich dafür sogar noch öfter auf Reisen als bei meinen militärischen Einsätzen. Von diesem Moment an – wahrscheinlich dem Moment, als wir Emma verloren – haben Michael und ich uns auseinandergelebt. Damals habe ich das gar nicht bemerkt. Verdammt, ich habe überhaupt nichts bemerkt.

Dann habe ich mich erneut bei der NASA beworben, und diesmal wurde ich angenommen.

Wirklich? Sie haben diesen Moment des größten Kummers für Sie selbst und Ihren kleinen Sohn gewählt, um im Raumfahrtprogramm abzutauchen?

Wenn man es so ausdrückt, klingt es nicht so gut. Weitgehend dasselbe Argument hat Emma später vorgebracht, als ich sie zurückbekam. Oder vielmehr eine Art … Avatar aus dem fünfundzwanzigsten Jahrhundert … Darauf komme ich vielleicht noch.

Diesmal schaffte ich es also. Wie erwartet passte ich mit meinen USAF-Erfahrungen jetzt ins Profil eines Shuttle-Booster-Piloten, und ich nahm den Job sofort an. Formal gesehen würde ich nie in den Weltraum gelangen – wir trennten uns vom Orbiter, bevor wir diese Höhe erreichten –, aber ich würde eins der ungewöhnlichsten Luftfahrzeuge fliegen können, die jemals gebaut worden waren.

Und das war weitgehend mein Leben während des letzten Jahrzehnts oder so, bevor – nun, bevor es praktisch zu Ende ging. Michael wurde erwachsen. Er bekam eine Menge Unterstützung von Emmas Familie, von ihrer Mutter Blanche und ihrer Schwester Joan … Ging aufs College. Sprach von einem guten Job in der Kohlebranche. Und dann …

Ging Ihr Leben praktisch zu Ende. Mit Ihren eigenen lakonischen Worten.

Ja, ganz recht.

STS-719. Ein Flug im Jahr 2019. Ich war Missionskommandant, und Nicola Mott war meine Pilotin. Die technischen Details spare ich mir. Kurz gesagt, ein kleiner Fehler im Fahrzeug eskalierte. Der Orbiter kam unbeschädigt weg, aber wir verloren die Kontrolle über die Trägerstufe. Nicola kam bei einem Ausstiegsversuch ums Leben. Ich konnte das Schiff nicht retten und stürzte ins Meer. Es gab keine Todesopfer oder Schäden an der Infrastruktur an Land. Ich kam nur um Haaresbreite mit dem Leben davon.

Das klingt … heldenhaft. Und, ja, wie ein Vorläufer Ihres Erlebnisses hier auf Persephone.

Wir haben unser Bestes getan, das ist alles. Und dann haben die Ärzte ihr Bestes für mich getan.

Ah. Sie konnten Sie nicht wieder gesund machen. Also …

Also haben sie mich in den Gefrierschrank gesteckt.

6

Deirdra und Emma trugen die extra für sie angefertigten britischen Overalls mit den dazugehörigen Abzeichen, die sie auch an Bord der Harmonia getragen hatten.

Deirdra, ein Kind des fünfundzwanzigsten Jahrhunderts, inzwischen – er stolperte über die Zahlen in seinem Kopf – so um die dreiundzwanzig Jahre alt, nachdem sie sechs Jahre lang mit Malenfant durchs Sonnensystem oder eine von dessen Versionen geflogen war. Sie war groß geworden, kräftig, dunkel, ernst und schweigsam. Ungemein charismatisch, fand Malenfant, und ein richtiger Fels in der Brandung.

Und Emma, jetzt Anfang vierzig, ungefähr aus Malenfants eigener Epoche, aber nun aus einer ganz anderen Zeitlinie zu ihm gekommen.

Doch als er seinen Schock überwunden hatte und vorwärtstaumelte, wollte sie sich anfangs nicht von ihm in die Arme nehmen lassen. Sie wich zurück und schaute ihm in die Augen.

»Du weißt doch noch, wer ich bin, oder? Welche ich bin? Nicht die Emma, die du geheiratet hast. Nicht Michaels Mutter.« Ihre Stimme stockte.

Er grinste. »Du bist Emma. Die Emma, die mit einem verrückten Russen auf Phobos gestrandet ist und um Hilfe rufen musste.«

»Und du bist gekommen …«

»Du bist Emma. Ihr alle seid es.«

Er streckte die Arme aus, packte sie schließlich und zog sie in eine Umarmung, die sie mit doppelter Inbrunst erwiderte. Sie passten einfach zusammen, hatte er Zeit zu denken. Zwei Hälften ein und derselben Person, getrennt und nun wieder vereint. Ein und dieselbe Person in allen Realitäten.

Und schon kam Deirdra herbei, die Malenfant auf Gedeih und Verderb gefolgt war und ihr Zuhause dabei so weit hinter sich gelassen hatte. Sie gesellte sich zu ihnen und schlang die Arme um sie beide.

Malenfant nahm undeutlich wahr, dass Bartholomew den Gehstock aufhob und zurücktrat. Der Roboterarzt war zur Empathie fähig oder tat jedenfalls so als ob. Gute Programmierung.

Er hörte auf zu denken.

Nach einer Weile wich Deirdra ein kleines Stück zurück. »Kommen Sie. Sie müssen mit Josh reden.« Sie drehte sich um und ging davon; Emma und er folgten ihr.

»Armer alter Josh«, sagte Malenfant leise. »Allein hier unten, als Letzter seiner Crew bis auf Lighthill, und zu dem haben wir keinen Kontakt mehr.«

»Deirdra leistet wirklich gute Arbeit bei ihm. Wie nicht anders zu erwarten.«

»Ja. Aber wie geht es ihr selbst?«

Emma runzelte die Stirn. »Es ist kompliziert. Sie ist sehr mit den Leuten in ihrer Umgebung beschäftigt. So wie immer. Und besonders mit Josh, der sie offenkundig braucht. Sie kann sehr … sanft sein. Verständnisvoll. Aber manchmal denke ich, dass sie von einer nagenden Ungeduld erfüllt ist.«

»Hm. Nun ja, wir sind nicht in dieses System gekommen, um gestrandete Russen und was weiß ich noch wen zu treffen. Wir waren auf der Suche nach den Sterneningenieuren …«

»Und das scheint jetzt in weiter Ferne zu liegen. Sie wird schon durchhalten, denke ich. Aber das Leben besteht nicht nur aus Zielen, Malenfant. Sie ist schließlich auch allein. Die Einzige aus ihrer Epoche, meine ich. Sie hat Bartholomew, und sie scheint viel Zeit mit ihm zu verbringen. Begleitet ihn ständig auf seinen Runden.«

»Besser er als gar kein Gefährte aus dem fünfundzwanzigsten Jahrhundert.«

»Stimmt.«

»Vielleicht vermisst sie ihre Mutter.«

Emma sah zu ihm auf. »Das ist vielleicht eins der klügsten Dinge, die du je gesagt hast, Malenfant.« Sie hängte sich bei ihm ein. »Komm. Gehen wir Josh besuchen.«

7

Also, Malenfant. Nach Ihrem Absturz wurden Sie eingefroren.

Nicht sofort. Die Kälteschlafmedizin steckte damals noch in den Kinderschuhen – sie war eigentlich noch im Versuchsstadium. Zunächst wurde ich in einer geheimen Einrichtung der Air Force untergebracht und dann in ein Krankenhaus in London – England – verlegt, wo sie Vorreiter dieser Technik waren. Und irgendwann hat man mich dann als Langzeitschläfer in eine Art Hibernakel auf dem Mond verfrachtet.

Während unten auf der Erde alles vor die Hunde ging.

Das alles liegt für mich in der Zukunft. Oder in einer möglichen Zukunft …

Klimakollaps. Steigende Meeresspiegel. Gewaltige Flüchtlingsströme. Krieg. Wenn Sie nähere Einzelheiten wissen wollen, fragen Sie Greggson Deirdra, meine Begleiterin. Obwohl das für sie alles schon Geschichte ist.

Wie auch immer. Im Jahr 2469, als ich schließlich aufgeweckt wurde, hatten sie all das längst hinter sich. Und die Welt hatte sich … verändert. Erholt, würde ich sagen, aber auch verändert.

Klingt nicht so, als wären Sie damit so richtig zufrieden. Oder davon begeistert.

Zum Teufel, ich war ein Mann aus einer anderen Zeit, Irina. Ich war ein Produkt jener großartigen, aber mit Fehlern behafteten Kultur, die letztendlich außerstande gewesen war, ihre Bremsen zu reparieren, bevor sie von der Klippe geschleudert wurde. Und ich glaube, das merkte man mir auch an, sobald ich den Mund aufmachte.

Na ja – fragen Sie Deirdra. Ich kann Ihnen nur flüchtige Eindrücke vermitteln. Zum Beispiel hatten sich die Menschen Jahrhunderte zuvor von der bemannten Raumfahrt verabschiedet und sich schwerpunktmäßig wieder auf die Erde konzentriert. So wollten sie etwa die Sahara begrünen, um überschüssiges Kohlendioxid aus der Luft zu filtern. Ich hab’s gesehen, sowohl vom Weltraum wie auch vom Boden aus. Die Bevölkerungszahlen waren drastisch gesunken. Das Baugewerbe, die Industrie im Allgemeinen – alles lief auf Sparflamme. Sie stellten beispielsweise Autos her, die so konstruiert waren, dass sie Jahrhunderte hielten, ohne ersetzt werden zu müssen.

Oh, und niemand arbeitete für seinen Lebensunterhalt. Alle grundlegend wichtigen Dinge – Nahrung, Kleidung, Heizung, Daten – gab es umsonst. Man arbeitete, was man wollte, warum auch immer man es wollte. Oder eben nicht.

Das kommt mir gar nicht so fremdartig vor.

Nein?

Was Sie da beschreiben, hat gewisse Ähnlichkeit mit der sozialen Lösung meiner russischen Heimat. Amerikaner mokieren sich für gewöhnlich über uns wegen unserer Monarchie unter Zar Alexander IV., wegen unserer zentralisierten Planwirtschaft. Aber es ist eine konstitutionelle Monarchie, wie bei unseren engen Verbündeten, den Briten. Und wir haben Wege gesucht, die technischen Neuerungen des amerikanischen Freimarktsystems ohne die sozialen Missstände und ökonomischen Instabilitäten des entfesselten Kapitalismus in unsere Wirtschaft zu integrieren. Dadurch ist es Russland gelungen, die Depressionskrisen der 1930er-Jahre besser zu überstehen als die Westmächte. Und darum ist unsere Wirtschaft zu meiner Zeit die zweitgrößte nach der deutschen.

Wirklich? Ich muss das besser verstehen. Ihr habt immer noch einen Zaren? Und keinen Stalin?

Von Stalin habe ich noch nie gehört. Aber ich bin Kosmonautin, keine Historikerin.

Nun ja, wie bei alternativen Geschichtsverläufen üblich gibt es da … Unterschiede. Aber Deirdras Zukunft funktioniert offenbar – auch wenn sie selbst ein Sonderfall ist.

Ein Sonderfall? In welcher Hinsicht?

Weil das, was mich an ihrer Welt störte, als ich dort eintraf, auch sie zunehmend beunruhigt hat – nein, instinktiv hatte es sie schon immer beunruhigt.

Aber das war nicht der eigentliche Grund, weshalb man mich aufgeweckt hat. Im Jahr 2469, meine ich. Dort war nämlich aus heiterem Himmel eine Nachricht von Emma Stoney auf Phobos eingetroffen, die um Hilfe bat – und insbesondere um meine Hilfe. Eine bruchstückhafte, kurze Nachricht, in einer zu diesem Zeitpunkt schon archaischen Sprache …

Archaisch. Die Sprache des Jahres 2005. Ich ziehe meine Notizen zurate. Ich kann verstehen, wie Sie, ein Mann, der im Jahr 1960 geboren wurde, im Jahr 2469 landeten.

Ich habe die meiste Zeit geschlafen.

Aber Emma, die von Phobos aus um Hilfe rief, hatte keine solche … Konservierung erhalten.

Nein. Sie dachte vermutlich, es wäre noch immer das Jahr 2005 oder ’06. Bis zum Beweis des Gegenteils.

Die Phobos-Anomalien hatten euch zusammengebracht.

Hm. Gewissermaßen. Wie das bei Anomalien nun mal so ist. Aber noch bevor ich in einem antiken Raumfahrzeug zusammen mit Deirdra und Bartholomew hinflog, um sie zu retten, wusste ich schon, dass dies nicht meine Emma war … Wie gesagt. Eine Zeit lang nannten wir sie sogar Emma II. Manchmal nennen wir sie immer noch so.

Sie war ein Flüchtling aus einem anderen Bereich der Mannigfaltigkeit. Von einer anderen Straße als Sie und Deirdra. Emma II.

Genau. Aber Phobos hat uns zusammengeführt.

Und später haben wir dank der Phobos-Anomalien auch noch andere … äh … Flüchtlinge getroffen. Die Briten – Lighthill, Morris und die anderen –, mit einer weiteren Version von Nicola Mott. Deren inneren Uhren zufolge befinden wir uns jetzt ungefähr im Jahr 2011 nach Christus, denke ich.

Noch mehr von Ihren Mannigfaltigkeitsresonanzen.

Sieht so aus, nicht wahr? Und hören Sie, auch das sollte ich Ihnen erzählen: Meine Emma ist im Rahmen einer rein amerikanischen Mission zum Phobos geflogen. Aber die Emma, die Sie hier kennengelernt haben – Emma II, die ich auf dem Phobos gefunden habe –, nun, bei ihr war es anders. Bei ihr hatte sich Amerika nach den Mondlandungen weitgehend aus der bemannten Raumfahrt zurückgezogen. Wir sind zum Beispiel nie zum Mars geflogen. Aber die Sowjets haben trotzdem weitergemacht …

Die Sowjets? Ich kenne dieses Wort als einen ziemlich archaischen politischen Begriff.

Hm. Dort, wo ich und Emma II herkommen, war die Sowjetunion ein kommunistischer Staat. Ein russisches Weltreich, könnte man sagen. Totalitär. Eigentlich war sie sogar das globale Muster für Totalitarismus.

Hallo.

Hallo? Sie waren schon wieder weg. Sind Sie noch da?

Entschuldigung. Ich bin einfach … verblüfft von Ihren Worten. Oder entsetzt. Sie sprechen von Stalin, nehme ich an. Es wird bestimmt faszinierend sein, das eingehender zu erörtern.

Jedenfalls hatten die Sowjets in Emmas Realität mit einem eigenen begrenzten Raumfahrtprogramm weitergemacht. Darum haben die Vereinigten Staaten und die UdSSR – Sowjetrussland – vermutlich im Geiste angespannter Kooperation eine gemeinsame Mission nach Phobos auf die Beine gestellt. Kombinierte Technologien und so weiter. Währenddessen hatte Emma II eine ähnliche berufliche Laufbahn eingeschlagen wie meine Emma und war Hauptkandidatin für eine Phobos-Mission, ganz gleich, wer sie unternehmen würde.

Sie schafften es also bis zum Phobos. Und Emma landete mit einem russischen Gefährten auf diesem kleinen Mond.

Nicht mit Wladimir …

Nicht in diesem Strang, Irina. Tut mir leid.

Dann war es also diese Emma, die Sie vom Phobos aus zu Hilfe gerufen hat. Oder eine Version von Ihnen.

Und dieser Hilferuf hat dafür gesorgt, dass ich im Jahr 2469 wiederbelebt wurde. Was wiederum Deirdra anlockte, als ich aufwachte.

Aber da gab es auch noch einen anderen Faktor, haben Sie gesagt. Für Deirdra. Ein anderes Motiv.

Ja. Einen anderen Faktor.

Eine andere Kleinigkeit.

Das Ende der Welt. Oder zumindest das Ende von Deirdras Welt.

Sie hat mir einiges darüber erzählt. Über Shiva.

Ja. Ein vagabundierender Planet, ein Riese, aus dem Sonnensystem geschleudert durch zufällige Perturbationen in der Kinderzeit des Systems, als die Gasriesen hin und her wanderten, hin zur Sonne und weg von ihr …

Ein vagabundierender Planet, der nach seinem Rücksturz ins innere Sonnensystem und einem Zusammenstoß mit Neptun zum Zerstörer werden wird. Er wird die Venus vollständig zertrümmern. Und die Erde in eine Umlaufbahn außerhalb der habitablen Zone ziehen. Oh, und wir werden den Mond verlieren.

Die Erde wird überleben. Die Menschheit nicht. Nicht auf der Erde.

Nicht auf der Erde, nein. Deshalb sind wir zur Persephone hinausgeflogen – vorher.

Ich verstehe nicht.

Nun, in meiner und Deirdras Zeitlinie wissen wir im Jahr 2469, dass Shiva irgendwo da draußen ist, jenseits vom Neptun, auf dem Weg zu seinem Rendezvous mit dem Schicksal. Aber wie wir feststellen, ist auch Persephone da draußen. Nicht dort, wo der Mars sein sollte.

Ah. Weitere solche zufälligen Ablenkungen bei der Geburt des Sonnensystems?

So ist es, ja … aber nicht ganz. Um Persephone in die Kälte hinauszustoßen, hatte jemand – die Sterneningenieure, wie wir sie nennen – auf dieser potenziell reichen, fruchtbaren Welt Raketen installiert.

Raketen?

Riesige, mit Fusionsenergie arbeitende Schubaggregate, die um den Äquator herum aufgestellt worden waren – am Rückgrat des Äquatorialkontinents entlang, den wir Ischariot nennen. Sie haben die Meere der Welt und wahrscheinlich auch flüchtige Stoffe der Riesenplaneten als Brennstoff benutzt. Und die Raketen haben ununterbrochen gefeuert. Wir haben ausgerechnet, dass es eine Million Jahre gedauert haben könnte, Persephone tausend Astronomische Einheiten weit hinauszuschieben – das heißt, in die tausendfache Entfernung der Erde von der Sonne. Hinaus an den inneren Rand der Kometenwolke.

Warum? Zu welchem Zweck?

Tja, zum Teufel, das wissen wir nicht. Wir haben uns gefragt, ob es im Rahmen eines größeren Projekts geschah. Vielleicht sollte es dazu dienen, die umfassenderen Wanderungsprozesse im inneren System zu regulieren.

Ah. Ein kleiner Schubs …

Relativ klein. Um viel größere Ergebnisse zu erzielen. Die Geburt des Sonnensystems verlief chaotisch. Massen von der Größe kleiner Planeten sausten überall herum und kollidierten miteinander; sogar die Umlaufbahnen großer Gasriesen waren instabil. So etwas bietet Möglichkeiten zur Manipulation, gerade weil es chaotisch ist.

Also sollte der Schubs, den Persephone bekam, vielleicht Shiva aus dem inneren System hinausbefördern. Und zwar auf eine solche Weise, dass der Planet bei der Rückkehr von seiner langen Umlaufbahn schließlich diese Störung verursachen würde.

Kann sein. Wir wissen es nicht. Noch nicht.

Sie haben diese Manipulateure als »Sterneningenieure« bezeichnet.

Das ist vielleicht zu höflich.

Ha! Ein sehr russischer Scherz. Düster, aber angemessen. Und die Menschen dieses Jahres 2469. Nehmen sie das Schicksal hin, das ihnen bevorsteht? Oder wehren sie sich?

Tja, das ist der Punkt. Sie nehmen es hin. Ich habe eine Weile gebraucht, um das herauszufinden, aber es ist so. Wir hätten es nicht hingenommen. Und ich sage nicht ohne Stolz, dass zumindest eine Person aus dieser verwirrten Kultur schließlich auf die Idee kam, etwas dagegen zu unternehmen.

Sie meinen Greggson Deirdra.

An dieser Stelle kam Persephone ins Spiel. Persephone I.

Das werden Sie erklären müssen.

Wir flogen also zur Persephone I außerhalb des Systems hinaus … Ich sage wir.

Wir waren zum Phobos geflogen und hatten dort die Briten getroffen, die aus einer ganz anderen Zeitlinie kamen. Sie waren bereits auf dem Weg zur Persephone und zum noch weiter entfernten Shiva … In der Tat beruhte ihr Missionsplan auf der Planetenkonstellation in Deirdras Realitätsstrang zu dieser Zeit.

Wie es sich ergab, befand sich Persephone – rein zufällig, denken wir – fast genau auf der Linie zwischen dem herannahenden Shiva und der Sonne. Deshalb hatten die Briten vor, Persephone als Zwischenstopp zum Auftanken zu benutzen und dann weiter zu Shiva hinauszufliegen. Im Grunde eine wissenschaftliche oder möglicherweise auch kolonialistische Expedition. So sind sie nun mal, die Briten.

Vielleicht bot das alles jedoch auch eine Chance für Deirdras Leute. Das war es, was Deirdra schon sehr früh intuitiv erfasst hatte, denke ich.

Einer Eingebung folgend reisten wir also im Schiff der Briten mit. Und bei Persephone fanden wir – nun ja, diese Welt, dieselbe grundlegende Geologie und so weiter, aber ohne Leben; die Luft gefroren, die Meere unter Eis eingeschlossen – hoch aufragende Berge, weil die Erosion keine Gelegenheit gehabt hatte, ihr Werk zu tun. Persephone, draußen im Dunkeln. Und was wir taten – wir versuchten, diese uralten Raketen noch einmal zu zünden, um die verdammte Welt ein kleines Stück weiterzuschieben …

Ah. Sodass Shiva auf dem Weg ins System vielleicht mit Persephone kollidieren würde.

Eine weitere kleine Ablenkung, die gewaltige Ergebnisse zeitigen würde. Unsere Modellierung war schrecklich; wir konnten nicht sicher sein, dass es funktionieren würde. Aber falls wir Shiva von seinem Weg zum Neptun ablenken könnten … Es war einen Versuch wert.

Es war großartig.

Ja. Aber es hat nicht funktioniert.

Und wir waren mit unserem Latein am Ende.

Und darum …

Und darum beschlossen wir herauszufinden, worum es bei all dem geht. Warum unser Sonnensystem solch ein Flickwerk äußerer Eingriffe ist.

Ah. Ihr habt beschlossen, die Sterneningenieure zu finden. Und sie zur Rede zu stellen?

Ja, das war das Ziel. Also kehrten wir zum Phobos zurück, dem Autobahnkreuz der Mannigfaltigkeit. Die Briten hatten einiges Geschick darin erworben, sich dort hindurchzunavigieren.

Ja. Und Sie haben mir erzählt, dass ihr Routen nicht nur über die Zeitlinien hinweg, sondern auch in die tiefe Vergangenheit gefunden zu haben glaubtet. Vielleicht zum Ursprung von allem.

Aber es ging schief. Wir wissen nicht, warum. Stattdessen landeten wir hier. In einer Version von 2020, in der alles … anders aussieht. Persephone, sogar die Erde.

Vielleicht hätten wir weiterfliegen sollen. Wieder in Phobos hinein, auf der Suche nach den Zeitkaminen. Aber das haben wir nicht getan. Wir sind hierhergekommen. Zur Persephone, um sie zu erkunden. Wir haben uns in die Landefähre gezwängt, alle sieben.

Und ihr seid abgestürzt.

Und wir sind abgestürzt.

8

Auf dem Weg zu Josh Morris kamen sie an den beiden eingewickelten Bündeln vorbei, die ordentlich nebeneinander auf den Boden gelegt worden waren.

Leichen, keine Frage. Nicola Mott, Bob Nash.

Malenfant gab sich Mühe, die Bündel nicht anzustarren. Er sah, dass jemand sie mit Blumen bestreut hatte – für ihn sahen sie wie Mohnblumen und Magnolien aus. Emma wusste es vielleicht besser, dachte er geistesabwesend und versuchte, sich nicht in die Frage zu verbeißen, von welchem Tier diese Felle wohl stammen mochten. Wirklich nicht der entscheidende Punkt, Malenfant.

Er fühlte nichts, als ob er innerlich hohl wäre.

Mit einiger Anstrengung konzentrierte er sich auf Josh, der herbeikam, um sie zu begrüßen.

Joshua Philip Morris war einunddreißig Jahre alt, das wusste Malenfant. Wie er nun so über den Bündeln auf dem Boden stand, einen Pelzumhang über einem abgetragenen RASF-Overall, sah er viel jünger aus. Er hatte schon immer jünger gewirkt, als er wirklich war, ging es Malenfant durch den Kopf, schon bei ihrer ersten Begegnung, ein schlaksiger, großäugiger Eierkopf voller Theorien über das Leben auf dem Eismond einer anderen Persephone.

Und nun das. Jetzt hatte er sich um die beiden Toten kümmern müssen, die sie bei der missglückten Landung zu beklagen gehabt hatten – um Nicola Mott, in dieser Realität eine Astronautin und gute Fliegerin der Royal Air and Space Force, und um Bob Nash, einen eleganten, an einer Privatschule und in Oxford ausgebildeten Ingenieur, der früher für ein Großbritannien, das gestärkt statt geschwächt aus Hitlers Krieg hervorgegangen war, an Atomwaffen gearbeitet hatte … Sie waren Morris’ Kollegen gewesen, und mehr als das, eine Verbindung zur Heimat, zu seiner eigenen verlorenen Zeitlinie. Und da sein Commander, Geoff Lighthill, in der Umlaufbahn festhing, war Joshua praktisch allein, der einzige Vertreter seiner Kultur auf dieser Welt. So wie Malenfant jener der seinen.

»Er war den ganzen Tag hier«, flüsterte Deirdra Malenfant ins Ohr. »Er würde auch die ganze Nacht hierbleiben, alle fünfundzwanzig Stunden lang, wenn wir ihn ließen. Vielleicht können Sie mit ihm reden.«

Er warf ihr einen Blick zu. »Wieso ich?«

Sie lächelte. »Na los, seien Sie Malenfant.« Sie berührte ihn am Arm und blieb zurück. Also ging Malenfant, auf seinen Stock gestützt, allein auf Josh Morris zu.

»Hey, Josh.«

Morris sah ihn unsicher an. Malenfant bemerkte jetzt, dass seine John-Lennon-Brille beschädigt worden war. Die Gläser hatten alles heil überstanden, aber der Steg war zerbrochen und mit Draht und so etwas wie Gummi repariert worden. Er hätte schwören können, Zahnabdrücke in der Masse zu erkennen.

»Freut mich zu sehen, dass Sie wieder auf den Beinen sind, Sir«, sagte Morris leise.

»Nach all dieser Zeit – nennen Sie mich Malenfant.«

»Die anderen haben weniger schwere Verletzungen davongetragen als Sie, Emma und Deirdra. Und ich habe noch weniger abbekommen. Am schlimmsten hats meine Brille erwischt, und das auch nur, weil ich draufgetreten bin, als wir aus dem Wasser ans Ufer geschleift wurden. Das war alles. Bloß meine Brille. Hm.«

Malenfant dachte darüber nach. »Und was ist mit Commander Lighthill? Kein Kontakt, seit wir den Lander verloren haben, nehme ich an.«

»Wir haben keinen Funk. Das ist alles im Lander. Wir wissen nicht, wie es ihm geht.«

»Er wird seine Pflicht tun, Josh. Wie man es von ihm erwarten würde. Ich denke, dazu kenne ich ihn gut genug.« Malenfant wählte seine Worte sorgfältig. »Hören Sie, Josh, das ist nicht das erste Mal, dass ich einen Absturz überlebt habe. Nicht mal das zweite Mal. Und ich kann Ihnen sagen …«

»Mir geht das sehr nahe. Ich träume schlecht. Ich habe meine Brille kaputt gemacht. Bob Nash und Nicola Mott sind tot. Sagen Sie mir nicht, es sei bloß blinder Zufall, Sir, das weiß ich. Wenn ich auf Bobs Platz gesessen hätte statt auf meinem eigenen …«

»Ich weiß, ich weiß. Und ich wäre ein Lügner, wenn ich behaupten würde, dass Sie das nicht für den Rest Ihres Lebens immer wieder beschäftigt – hätte ich doch nur dies oder jenes getan. Aber letztendlich, Sie sagen es. Blinder Zufall. Pures Glück. Jetzt müssen wir dafür sorgen, dass ihr Tod nicht umsonst war. Wir müssen unsere Aufgaben hier unten erledigen …«

Malenfant wusste, dass er nicht zu diesem Jungen im Körper eines Mannes, diesem verlorenen Kind durchdrang.

Aus irgendeinem Grund dachte er an seinen Sohn, Michael, den er auch nie hatte trösten können, nicht einmal beim Tod seiner Mutter – einer anderen Emma Stoney. Also schon bevor Malenfant für den Rest von Michaels Leben in einer Kälteschlafröhre verschwunden war. Er warf Emma einen Blick zu, die ein paar Schritte entfernt mit Deirdra auf irgendwelchem Plunder saß und sich leise mit ihr unterhielt. Was würde Emma sagen, wenn er sie um Rat bäte? Oder sogar Deirdra.

Sag ihm, was er deiner Meinung nach hören will, Malenfant.