Galaxias - Stephen Baxter - E-Book

Galaxias E-Book

Stephen Baxter

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein paar Jahrzehnte in der Zukunft. Nach den unruhigen Jahren der Klimakatastrophen blickt die Menschheit nun wieder nach vorne – und nach oben: Über Europa ist eine totale Sonnenfinsternis zu sehen. Doch schon wenige Sekunden nach der Verdunkelung schlagen die Astronomen Alarm: Unsere Sonne ist verschwunden! Ohne ihr Licht und ihre Wärme ist die Menschheit dem Untergang geweiht. Für Tash und ein internationales Wissenschaftlerteam beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 730

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Ein paar Jahrzehnte in der Zukunft. Nur wenige der alten Länder und Organisationen haben die chaotischen Jahre der Klimakatastrophen überlebt. Jetzt scheint das Schlimmste überstanden, und die Menschheit schaut wieder vorsichtig optimistisch nach vorn – und nach oben: Die Erforschung des Weltalls wurde wieder aufgenommen, eine neue Raumstation ist im Orbit, und eine bemannte Mission ist unterwegs zum Mars. Auf der Erde steht das größte astronomische Ereignis seit Langem bevor: eine totale Sonnenfinsternis über Europa. Doch schon wenige Sekunden nach der Verdunkelung schlagen die Astronomen Alarm: Unsere Sonne ist verschwunden! Ohne ihr Licht und ihre Wärme ist die Menschheit dem Untergang geweiht. Für Tash Brand, Angestellte der englischen Regierung, und ein internationales Wissenschaftlerteam beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit …

Der Autor

Stephen Baxter, 1957 in Liverpool geboren, studierte Mathematik und Astronomie, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Er zählt zu den international bedeutendsten Autoren wissenschaftlich orientierter Literatur. Etliche seiner Romane wurden mehrfach preisgekrönt und zu internationalen Bestsellern. Stephen Baxter lebt und arbeitet im englischen Buckinghamshire.

Mehr über Stephen Baxter und seine Werke erfahren Sie auf:

diezukunft.de

STEPHEN BAXTER

ROMAN

Aus dem Englischen vonBernhard Kempen

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Titel der Originalausgabe:

GALAXIAS

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe 01/2023

Redaktion: Ralf-Oliver Dürr

Copyright © 2021 by Stephen Baxter

Copyright © 2023 dieser Ausgabe und der Übersetzungby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München,nach einem Originalentwurf von Orion Books / Blacksheep;Cover Motive: Depositphotos (magann), Shutterstock.com (Vandathai)

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN: 978-3-641-29526-4V001

www.diezukunft.de

Für Elvy May Moylan,geb. 11. April 2021,undMolly Alice Baxter,geb. 17. Juli 2021

Zeitraum

1973–2057

Am 3. Dezember 1973 passierte ein kleines Raumschiff den Jupiter. Die von Amerikanern erbaute Sonde hieß Pioneer 10.

Wie von den Konstrukteuren beabsichtigt, führte die Annäherung an den Jupiter dazu, dass das Schwerkraftfeld des Riesenplaneten die Sonde schneller hinausschleuderte als bei der Ankunft. Und als sie den Jupiter verließ, bewegte sich Pioneer zu schnell, um in die Gravitationssenke der Sonne zurückfallen zu können.

Damit wurde Pioneer 10 zum ersten menschengemachten Artefakt, das dazu bestimmt war, den interstellaren Raum zu erreichen.

Es war der Anfang eines Ausbruchs.

Der Sinus Medii, die »Zentrale Bucht«, ein Meer aus trockenem Staub, befand sich an einer bemerkenswerten Position: genau in der Mitte der Seite des Mondes, die dauerhaft der Erde zugewandt war.

Doch vor den Ereignissen im Jahr 2057 war noch nie ein Mensch hier gewesen, obwohl ein permanenter Außenposten den Mond umkreiste und Landungen an Orten von besonderem Interesse alltäglich geworden waren. Keine menschlichen Fußabdrücke waren im Staub des Sinus Medii hinterlassen worden.

Zu diesem Zeitpunkt war der Sinus jedoch seit fast einem Jahrhundert aufmerksam von menschlichen Augen beobachtet worden.

Zwei automatische Sonden waren hier gelandet.

Im November 1967 hatte ein spinnengleiches Gefährt namens Surveyor 6 hier plump aufgesetzt, um das Raketentriebwerk dann erneut zu zünden und ein paar Meter weit über die Oberfläche zu hüpfen. Auf diese Weise sollte der Rückstart von der Mondoberfläche getestet werden, eine wesentliche technische Voraussetzung, wenn Astronauten auf dem Mond landen und sicher zurückgebracht werden sollten. Nachdem das kleine Gefährt die Ziele seiner Konstrukteure erreicht hatte, starb es kurz darauf – aber zuvor hatte es noch eine zufällige Entdeckung gemacht.

Beide Ereignisse hatten nichts miteinander zu tun. Das nächste geschah mit Absicht und im Verborgenen.

Im Dezember 1972 kam es zu einem schweren Einschlag auf dem Mond. Er wurde durch den gesteuerten Absturz einer abgeworfenen und verbrauchten Rakete ausgelöst, der dritten Stufe der Saturn V, die Apollo 17 und seine Besatzung zum Mond gebracht hatte. Während des Apollo-Programms gab es mehrere solche Einschläge von aufgegebenen Fahrzeugkomponenten, um den Mond mit seismischen Wellen zu erschüttern und dadurch Einblicke in seinen inneren Aufbau zu erhalten.

Doch das war nicht der Zweck dieses Absturzes.

Nie zuvor war ein Einschlag so nahe am Sinus Medii erfolgt, innerhalb weniger Hundert Kilometer. Diese Landung war geplant.

Und noch während der Stoß des Einschlags die Mondmasse erzittern ließ, landete ein anderes kleines Gefährt, das Surveyor 6 nicht unähnlich war, aber nie offiziell benannt worden war, in der Nähe seines deaktivierten Vorgängers.

Dieser spezielle Saturn-Absturz diente der Tarnung. Er sollte die Landung der zweiten Sonde durch eine Gruppe von Menschen vor einer anderen verheimlichen.

Dieses Mal gab es keinen Triebwerkstest, keine kurzlebigen Experimente und Beobachtungen.

Nur Wachsamkeit.

Ruhe kehrte auf den Mond zurück.

Ruhe und Wachsamkeit. Gegenseitige Wachsamkeit.

Bis zum Dezember 1973, als Pioneer 10 den Jupiter passierte.

Auf dem Mond, im Sinus Medii, öffnete sich ein Auge.

Eine Beobachtung wurde gemacht.

Eine Nachricht wurde gesendet.

Eine Antwort konnte erst in Jahren erwartet werden. Dann folgte Geduld. Die Geduld von Äonen.

Ein Auge schloss sich.

Danach kehrte die gegenseitige Wachsamkeit erneut zurück.

1985 wurde eine Bestätigung der Nachricht von 1973 durch den Knotenpunkt der dritten Ebene empfangen.

2008 wurde eine Bestätigung durch den Knotenpunkt der zweiten Ebene empfangen.

2056 wurde eine Bestätigung durch den Knotenpunkt der ersten Ebene empfangen. Und eine Ankündigung dessen, was geschehen würde.

Am 5. Januar 2057 begann es. Im Sinus Medii öffnete sich erneut ein Auge.

Und in England regnete es heftig in das Gesicht von Tash Brand.

Tag

5.–6. JANUAR 2057

1

09:40 GMT

Am Freitag, dem 5. Januar 2057, am Morgen jenes Tages, wie er in der Nähe des Greenwich-Meridians erlebt wurde, waren viele Augen zufällig auf den Mond und die Sonne gerichtet, menschliche und künstliche Augen auf der Erde und außerhalb. Denn an jenem Morgen schob sich der Mond, während er seiner Bahn folgte, in eine Position exakt zwischen der Erde und der Sonne, sodass der Mondschatten über einen Streifen der Erdoberfläche zog, auf der Südhalbkugel im Ozean südlich von Afrika. Damit verbarg er die Sonnenscheibe akkurat und präzise auf diesem Streifen vor menschlichen Blicken.

Bei dieser Sonnenfinsternis sollte der Moment der größten Verfinsterung, der Höhepunkt der Totalität, um 9:48 Uhr Mittlerer Greenwich-Zeit stattfinden.

Um 09:40 GMT begann eine Abfolge von Ereignissen.

Der Zeitpunkt war natürlich absichtlich gewählt worden. In Erwartung der Eklipse.

Doch das Hauptereignis fand an der Position der Sonne statt.

Die allerersten menschlichen Instrumente, die das Ereignis registrierten, gehörten zu einer Flotte von wissenschaftlichen Sonnensatelliten, die von vielen Ländern gestartet worden waren. Sie folgten schnellen, lang gezogenen Orbits um die Sonne, sogar über die Pole hinweg, oder tauchten gefährlich tief in die Corona ein, ihre äußere Atmosphäre.

An diesem Tag zeichneten sie verwirrende, anomale Daten auf, bevor sie ihre orbitale Verankerung im Raum verloren und sich wie aufgescheuchte Vögel zerstreuten.

Es dauerte acht Minuten, bis die ersten beobachtbaren Auswirkungen – hauptsächlich gravitative, elektromagnetische und optische – mit Lichtgeschwindigkeit den Orbit von Mond und Erde erreichten. Wie geplant trafen die Auswirkungen exakt im Moment der größten Verfinsterung ein.

Und in Anbetracht der Ausrichtung von Erde, Mond und Sonne waren sie zuerst auf der erdabgewandten Seite des Mondes wahrnehmbar, die der Sonne am nächsten war, näher als irgendein Punkt auf der Erde.

Die erste technische Einrichtung im Erde-Mond-System, die das Ereignis aufzeichnete, wie später festgestellt wurde, war das Maccone-Observatorium, ein automatischer Weltraumteleskopkomplex nahe dem Zentrum jener abgewandten Seite in einem Krater namens Daedalus. Abgeschirmt von der Helligkeit und den Radiowellenstörungen der Erde, war dort seit einigen Jahren ein Astronomiepark betrieben worden. Die Instrumente von Maccone beobachteten den Himmel unablässig in vielen Wellenlängen – in sichtbarem Licht, Radiowellen, Infrarot, sogar Gravitationswellen. Und das Observatorium war darauf programmiert, automatisch Alarm zu schlagen, falls unerwartete Ereignisse festgestellt wurden.

Und ein solches Ereignis wurde nun beobachtet.

Die Signaldaten, die reich an Anomalien waren, wurden unverzüglich als außergewöhnlich gekennzeichnet. Aufzeichnungen, zusammenfassende Berichte und Alarmmeldungen wurden in aller Eile erstellt. Das alles beanspruchte Nanosekunden.

Dann dauerte es eine Fünfzigstelsekunde, um die Informationen um den Mond zu senden, durch das Glasfaser-Kommunikationsnetz, das im Jahr 2057 unter den staubigen lunaren Hügeln wie ein dünnes Nervensystem verborgen lag.

Fast genau im gleichen Moment bemerkten menschliche Beobachter sichtbare Anzeichen für das Ereignis. In Mondnähe verfolgten die Augen einer mehrköpfigen multinationalen Besatzung den Ablauf der Sonnenfinsternis aus der einzigartigen Perspektive ihres orbitalen Habitats Lunar Gateway III.

Es dauerte noch weniger als zwei Sekunden, bevor die sichtbaren Anzeichen für das Ereignis die Erde selbst erreichten.

Und die Konsequenzen entfalteten sich.

Während sich im Sinus Medii ein Auge öffnete, um die Reaktionen zu beobachten.

2

09:48 GMT

Um zwölf Minuten vor zehn an diesem Freitagmorgen, unter einem bedeckten Winterhimmel, überquerte Tash Brand auf dem Heimweg von ihrer Arbeit im Government House den River Tyne in Richtung Norden.

Die Gateshead Millennium Bridge, die zur Feier eines kalendarischen Übergangs errichtet worden war, der siebenundzwanzig Jahre, bevor die inzwischen dreißigjährige Tash überhaupt auf die Welt gekommen war, stattgefunden hatte, war ihr Alter anzusehen, dachte sie immer wieder. Sie war eine reine Fußgängerbrücke, eine Kippbrücke, die schon seit Langem zur Unbeweglichkeit verrostet war, und der Bodenbelag, der vielfach ausgebessert worden war, konnte manchmal so uneben sein, dass man vorsichtig auftreten sollte, selbst bei Tageslicht, zumindest an einem düsteren, bedeckten Wintermorgen wie diesem.

Aber Tash ging gern zu Fuß. Sie ließ sich Zeit.

Sogar schon einige Minuten vor 9:48 Uhr, wie sie sich später erinnern würde, war sie langsamer geworden, fühlte sich immer entspannter, je mehr sie sich vom Regierungsgebäude mit seiner adrenalingetriebenen Kultur der Dringlichkeit entfernte. So war es auch an relativ ruhigen Tagen, und davon gab es nur wenige. An diesem Morgen kam sie von einer weiteren außerplanmäßigen Nachtschicht zurück, die durch eine neue versuchte Landung von französischen Bootsflüchtlingen im Wash ausgelöst worden war, unzufriedenen Bürgern des föderalen Europa.

Auf halber Strecke über den Fluss blieb sie stehen, nahm einen tiefen Atemzug, lehnte sich gegen das Geländer und schaute einfach nur. Das Licht war schwach, was für diese Jahreszeit nicht ungewöhnlich war. Sie war in Surrey aufgewachsen und musste sich noch an die kürzeren Mittwintertage hier oben gewöhnen, wo die Sonne erst vor eineinhalb Stunden aufgegangen war. Ihr Vater rief ihr oft in Erinnerung, dass ihre in Nigeria geborene Mutter sich selbst im Süden des Landes nie an die englischen Wintertage gewöhnt hatte.

Trotzdem war der Ausblick beeindruckend. Hinter ihr der große Kasten des Government House am Ufer von Gateshead, ein Monument aus Smartholz, eine kolossale Kohlenstoffsenke von den Fundamenten aus Holzstapeln bis hinauf zum grasbedeckten Dach. Es gab nichts Moderneres als das, nichts Neueres. Es war erst ein Jahr her, dass die englische Bundesregierung, die längst das überflutete London verlassen hatte und begierig darauf war, ihre Legitimation als einigende Kraft eines neuen England aus quasi unabhängigen Regionen zu etablieren, nach einem fünfjährigen Aufenthalt in Birmingham hierher umgezogen war. Es hatte Kontroversen gegeben, ob die Regierung so weit im Norden funktionsfähig war. Durch die Kommunikationsverbindungen war es natürlich irrelevant, wo das Parlament ansässig war, aber man fand, dass es der unfreundlichen internationalen Grenze zu Schottland undiplomatisch nahe war.

Was zum Teufel, dachte Tash und blickte zurück. Das Government House selbst war eine spektakuläre Sehenswürdigkeit, und die Ausblicke von innen konnten sogar noch spektakulärer sein, wenn die Sonne über der Nordsee aufging. An guten Tagen, schworen manche, konnte man die sich drehenden Rotorblätter der riesigen Windparks auf der Doggerinsel weit draußen auf dem Meer erkennen. Als sie nun zum östlichen Horizont blickte, sah sie, dass die Wolken aufgerissen wurden und das tiefe Blau eines winterlichen Morgenhimmels offenbarten.

Währenddessen breitete sich links von ihr das alte Newcastle auf seinem hügeligen Ufer aus, mit Gateshead auf der anderen Seite durch mehrere Brücken über den Tyne verbunden, etliche Jahrhunderte alt, allesamt Echos der Originale, die zu einer Zeit errichtet worden waren, als dieser Ort ein Endpunkt des Hadrianswalls gewesen war. Die Stadt selbst bot einen sehr modernen Anblick mit den grasbewachsenen Dächern, den baumbestandenen Alleen und weiß verputzten Gebäuden. Heutzutage wirkte sie wie ein Themenpark, hatte ihr Vater oft gemurrt, wenn die Sonne im richtigen Winkel stand.

Nicht viele ihrer Kollegen gingen diesen Weg, obwohl es ein einigermaßen kurzer Fußmarsch zum Manors-Bezirk war, östlich des Stadtzentrums, wo man Unterkünfte für junge Mitarbeiter wie Tash requiriert hatte, als die Regierung in die Stadt gezogen war. Die meisten nutzten den Verkehrstunnel, der unter dem Fluss angelegt worden war, weil es schneller und sicherer war. Tash jedoch war es tatsächlich lieber, wenn sie gezwungen war, sich etwas mehr Zeit als das Minimum zu nehmen, wenn sie die Gelegenheit dazu hatte.

Allmählich wurde ihr bewusst, dass sie sich auch gern in der Nähe des Flusses aufhielt. Wie alle britischen Flüsse war der Tyne gut reguliert, von den Drainagesystemen in den Überschwemmungsgebieten weiter im Westen bis zum Sperrwerk an der Mündung an der Ostküste, die dem Schutz vor Sturmwellen der Nordsee diente. Wenn sie auf das Wasser hinabblickte, das grau im wolkenverhangenen Licht dalag, hatte sie immer die Empfindung von etwas, das größer als sie selbst war, von Prozessen, die die Welt in einem Maßstab gestalteten, der alles weit übertraf, was sie vermutlich jemals direkt betreffen würde. Selbst wenn sie nun ein Wurm im Kerngehäuse des Apfels der Regierung war, wie Mel sie einmal bezeichnet hatte.

Sie lächelte, als sie daran zurückdachte. Mel Kapur war jederzeit bereit, sie mit einer klugscheißerischen Bemerkung runterzumachen, falls sie jemals überheblich wurde – ganz zu schweigen von Zhi, der ähnlich bissig war. Obwohl Tash sich stets bemühte, ihnen Paroli zu bieten. Sie waren ihre besten Freunde seit ihrer Collegezeit vor zehn Jahren: Wu Zhi und Mel Kapur. In Gedanken war sie immer bei ihnen, wie es schien.

Während sie hier stand und herumtrödelte, bevor sie nach Hause ging, war es vielleicht Tashs Unterbewusstsein, das sie drängte, sie anzurufen. Schließlich war es ein ungewöhnlicher Tag.

Sie wusste, dass Mel die Sonnenfinsternis über dem Südlichen Ozean beobachtete, ein Glückspilz an Bord von Skythrust Two, doch das galt erst recht für Zhi, der sich tatsächlich im Weltraum aufhielt, an Bord der Lodestone-Station, bereit, seine eigenen Beobachtungen zu machen. Sie warteten auf eine Eklipse, die ungefähr jetzt fällig war, wie sie sich vage erinnerte. Was für eine Erfahrung für die beiden!

Die Insiderwitze, wie sie sich seit einem tristen Lockdown-Semester an der Yale genannt hatten. Sie alle waren fleißig und umsichtig. Ziemlich ernst, dachte sie jetzt, wenn sie zurückschaute. Gemeinsam waren sie dahingetrieben, während sich um sie herum andere Gruppen bildeten, die sich häufig im Zusammenhang mit irgendwelchen Insiderwitzen identifizierten, Relikte von Partys oder Bezüge zu Studentenverbindungen, die selbst nicht mehr als ausgedehnte Insiderwitze waren. Es war Zhi, der, als die drei eines Abends betrübt in der Ecke irgendeiner Bar gehockt hatten, den Namen vorgeschlagen hatte. »Wir sind die Insiderwitze. Und für uns ist der Insiderwitz, dass es gar keinen Insiderwitz gibt.«

Zumindest damals war es eine lustige Idee gewesen.

Obwohl es vermutlich der Pazifische Zwischenfall gewesen war, der sie zusammengeschweißt hatte. Bei einer verpatzten Überlebensübung wären sie fast gestorben, bei einem der Tests im Rahmen von Zhis Astronautenausbildung, als sie mit einem Hubschrauber ins Wasser stürzten. Mit vereinten Kräften waren sie herausgekommen und hatten seitdem nie mehr den Kontakt verloren. Auch nachdem sich ihre Karrieren in unterschiedliche Richtungen entwickelt hatten: Zhi war in die Weltraumforschung gegangen, Mel in die Astronomie, und Tash, die schon immer am wenigsten akademisch geprägt war, hatte ihren Abschluss in Wissenschaftssoziologie gemacht und arbeitete nun für die Regierung. Trotzdem waren sie zusammengeblieben.

Später würde sie sich daran erinnern, woran sie gedacht hatte. An ihre Freunde.

Woran sie gedacht hatte, als der Blink kam.

Als das Licht verschwand.

Schlagartig, während sie dort auf der Brücke stand, wurde es stockfinster.

Und es regnete heftig in das Gesicht von Tash Brand.

Es war ein kurzer und starker Schauer aus dem Nichts, von einem wolkenverhangenen Himmel. Schockiert, verwirrt und in plötzlicher Dunkelheit wandte Tash den Kopf ab und tastete nach ihrer Kapuze.

Doch sie schwankte, verlor die Orientierung, stolperte von einem Bordstein auf den Gehweg in der Mitte, wobei sie sich fast den Fußknöchel verstauchte.

Stockfinster. Was zum Teufel? Das Licht war einfach verschwunden, vielleicht innerhalb einiger Sekunden verblasst, aber in diesem Punkt war sie sich nicht ganz sicher.

Es war, als wäre sie tief in den Eingeweiden des Regierungsgebäudes, während der Strom ausfiel. Nicht dass so etwas jemals geschehen würde. Aber sie befand sich im Freien.

Irgendwo auf der Brücke schrie jemand. Sie hörte ferne Autohupen.

Stockfinster.

Draußen unter freiem Himmel, um Gottes willen. Es gab keine Stromausfälle im Freien. Als sie dort stand, sich keinen Schritt von der Stelle bewegen wollte, erkannte sie, dass sie wie ein Kind dachte, langsam, völlig verwirrt, unlogisch. Aber sie fühlte sich so hilflos wie ein Kind, aller Kontrolle entblößt, die sie über ihre Welt zu haben glaubte.

Sie machte einen Schritt, wäre fast noch einmal über diesen Bordstein gestolpert.

Ein Geländer – sie hatte sich gegen ein Geländer gelehnt, das unmittelbar vor ihr sein musste. Tastend streckte sie die Hände aus. Fand das Geländer. Klammerte sich mit ihren Handschuhen daran. Mit etwas mehr Selbstvertrauen stieg sie auf den erhöhten Bordstein zurück.

Sie versuchte, Bilanz zu ziehen. Sie stand immer noch auf der Brücke, sie spürte die raue Oberfläche unter ihren Füßen, sie hatte auf das Wasser hinausgeblickt. Genau hier. Sie glaubte ein Plätschern zu hören. Also war es noch da.

Sie verspürte eine tiefe, instinktive, fast abergläubische Furcht. Im Freien gab es keine Stromausfälle. Was sonst könnte also geschehen sein?

Sie hatte ihr Augenlicht verloren.

Nein.

Sie hörte sich selbst schluchzen.

Aber sie hatte diesen Schrei gehört, von jemand anderem auf der Brücke. Jetzt riefen immer mehr Stimmen. Denk nach, Tash! Warum sollten andere Leute schreien, wenn du blind geworden bist? Warum sollten sie hupen?

Sie hielt sich am Geländer fest und blickte sich um – da. Ein Lichtfunke, wie von einem Handy. Ein Weg von der Brücke herunter – dorthin, von wo sie gekommen war, Richtung Süden. War dahinter ein blasser Lichtfleck am Himmel? Vielleicht gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit …

Ein Handy. Der Lichtfunke war ein Handy. Wie dumm von ihr! Sie kramte in ihrer Tasche nach ihrem eigenen Handy – lass es bloß nicht fallen, um Gottes willen – und klappte es auf.

Ein kleines Rechteck aus strahlendem Licht, das übliche banale Menü.

»Scheiße, scheiße. Danke, danke!«

Sie schwenkte das Handy wie eine Fackel. Es verbreitete einen Schein um sie, ein paar Meter weit in jede Richtung. Sie war immer noch auf der Brücke. Da war der Fluss, eine ebene Fläche, in der sich ganz schwach das Licht von ihrem Handy spiegelte.

Sie hatte das Gefühl, dass sich ihre Wahrnehmungsblase, ihr Sichtfenster zur Welt, ganz langsam öffnete. Sie trat einen Schritt vom Geländer zurück, ihrem Geländer, doch zur Sicherheit hielt sie sich weiterhin daran fest und schaute sich nun richtig um.

Überall war es dunkel. Es war plötzlich Nacht geworden. Unter ihr war der Fluss jetzt ein tiefes, öliges Schwarz. Doch über ihr gab es ein vereinzeltes Licht, das wie eine vergessene Weihnachtsdekoration irgendwo von der Brückenkonstruktion hing.

Links von ihr war die Stadt am Nordufer mit ein paar wenigen Lichtern sichtbar, erhellte Fenster, einige Werbetafeln. Vielleicht passten sich ihre Augen an die Dunkelheit an. Rechts von ihr wurde jetzt auch der große Regierungskomplex am Südufer deutlicher erkennbar, als Teile davon in künstlicher Beleuchtung schimmerten, die strahlenden Rechtecke der großen Klarholzfenster, jedoch viel schwächer als Tageslicht, wie ihr nun klar wurde.

Und da waren noch diese Leute neben ihr auf der Brücke. Vor Anbruch der Finsternis hatte sie ihre Anwesenheit gar nicht registriert. Immer mehr leuchtende Punkte im Dunkeln, als sie ihre Handys und Uhren und Stirnbänder hervorkramten. Die Lichttupfer glänzten und hüpften wie ein Schwarm Glühwürmchen auf dem Bogen der Brücke. Alle schienen stehen geblieben zu sein, ihre Gesichter waren bleiche Masken in den Lichtsprenkeln.

Sie fühlte sich nicht mehr so existenziell verängstigt. Zumindest bin ich nicht blind. Aber sie war zutiefst irritiert. Sie verstand, dass niemand auf dieser Brücke, in der ganzen Stadt, wissen konnte, was zum Teufel in diesen ersten Sekunden und Minuten geschah. Niemand. Ihnen allen war es ein Rätsel. Millionen abrupte Albträume. Und vielleicht wirkte es sich noch viel weiter aus.

Mit einem Mal war ihr kälter, und sie griff nach den Aufschlägen, um ihren Mantel enger zusammenzuziehen. Aber das war sicherlich nur Einbildung, ein Reflex. Oder vielleicht auch nicht. War irgendein Wettersystem herangerast? Das war möglich. Ihr Vater hatte immer zu ihr gesagt, dass sie zu einer Generation gehörte, die gleichgültig aufgewachsen war, an verrückte klimatische Ereignisse von einer Häufigkeit und Intensität gewöhnt, die ihre Eltern nie erlebt hatten.

Doch der Himmel über ihr sah pechschwarz aus. Nicht das Grau eines gewöhnlichen, dicht bewölkten Morgens. Eher wie ein bedeckter Nachthimmel.

Eine Straßenlaterne ging an, nicht weit von der Brücke entfernt. Nur eine einzige. War es irgendeine Notfallreaktion? Jemand jubelte mit rauer Stimme. Weil sie davon geblendet wurde, wandte sie sich ab.

Dann gingen immer mehr Lichter an, sah sie nun, an beiden Ufern, überall im zweigeteilten städtischen Ballungsraum, weitere Straßenlaternen und erhellte Hauseingänge. Sie stellte sich vor, wie die Leute in der plötzlichen Finsternis nach Schaltern tasteten. Auf der Brücke bewegten sich die Menschen wieder, nachdem sie aus der Schockstarre entlassen wurden, und liefen in die eine oder andere Richtung. Manche rannten an ihr vorbei, manche starrten auf ihr Handy und sprachen hinein. Als würden sie vom Licht der Handys geführt.

Tash jedoch blieb, wo sie war, schaute sich um, versuchte immer noch zu ergründen, was geschehen war. Der Himmel war das, was zählte, nicht der Boden, nicht die Leute. Mit dem Himmel stimmte etwas nicht. Die Wolkendecke war im Süden und Osten aufgebrochen, erinnerte sie sich, und vorher war dort klarer blauer Himmel gewesen. Noch einmal blickte sie in diese Richtung, auf den Horizont hinter dem Government House, in Richtung Meer. Dort sah sie jetzt keinen blauen Himmel. Ihre Augen, die sich immer besser anpassten, erkannten nur ein Stück dunkleren Himmel, wo die Wolken aufgerissen waren.

Und sie sah Sterne, die über diesen ozeanischen Horizont verstreut waren.

Sterne? Zu dieser Morgenstunde?

Sie hatte immer noch keine Angst. Nicht mehr, seit der erste Schock abgeklungen war. Sie war nur verwirrt. Oder … überwältigt. Irgendwie war das alles zu groß, um sich davor zu fürchten. Größer als der Fluss, dachte sie, genauso wie der Fluss größer als sie war. Man konnte nicht darauf hoffen, es unter Kontrolle zu bekommen.

Doch als sie über den Himmel und die Sterne nachdachte, hatte sie eine wirklich idiotische Idee, was das alles ausgelöst haben könnte oder zumindest was für eine Verbindung es geben könnte. Wirklich idiotisch. Aber es war der einzige Anhaltspunkt, den sie hatte. Und sie wusste, wen sie anrufen konnte.

Sie blickte auf ihr Handy. Ihr Vater rief an, sah sie. »Handy. Dad auf Warteschleife«, sagte sie. »Gib mir Melissa …«

Ein lächelndes Gesicht, eine Mähne aus rotblondem Haar. Hier ist Mel Kapur. Wenn Sie etwas …

»Hallo, Mel. Falls du das hier hörst, ich bin in Newcastle … eben aus dem Büro gekommen. Schau mal, wie dunkel es hier ist. Und … nun ja, wo sich die Wolken gelichtet haben, sehe ich Sterne. Sterne! Und es ist noch nicht ganz zehn Uhr morgens, glaube ich. Schau mal! Könnte das etwas mit der Sonnenfinsternis zu tun haben?«

Sie selbst hatte noch nie eine totale Sonnenfinsternis gesehen. Aber sie wusste, dass genau jetzt eine stattfand. Wenn das Licht der Sonne vom Mond ausgeblendet wurde und man sich im Schatten aufhielt, der vom Mond auf die Erde geworfen wurde, ja, dann konnte man am Tageshimmel Sterne oder Planeten sehen. Aber sie wusste auch, dass sich der Schatten während einer Eklipse auf einen schmalen Streifen quer über die Erde beschränkte, abhängig von der relativen Position von Sonne, Mond und Erde. Und heute war dieser schmale Streifen dort, wo Mel war, irgendwo auf dem Meer südlich von Afrika. Eine halbe Welt entfernt. Nicht über Newcastle.

Sie ließ nicht locker. »Ich weiß, das klingt völlig bescheuert. Aber es scheint genau im Moment der Sonnenfinsternis passiert zu sein. Könnte etwas …? Scheiße, ich weiß nicht einmal, wie ich die Frage formulieren soll … Hier oben sollten wir nicht einmal eine partielle Eklipse haben. Ist irgendwas … hm … mit der Sonnenfinsternis schiefgelaufen?«

Jetzt zeigte sich Mel Kapurs Gesicht auf ihrem Handy, nur als zweidimensionales Bild, aber live. Rotes Haar, blaue Augen, vor einem dunklen Hintergrund. Das ist wirklich richtig bescheuert. Hallo, Tash. Hör zu, ich bin hier mit der Hofastronomin. Wenn irgendjemand sich einen Reim darauf machen kann, dann sie.

Tash versuchte es zu verarbeiten. »Also … ähm … passiert es auch da unten?«

Genau. Wenn jemand die Sonne ausknipst, müssen die Folgen sehr weitreichend sein.

»Die Sonne ausknipsen? Glaubst du …?«

Im Moment glaube ich noch gar nichts, Tash. Nicht genug Daten. Es dauert erst seit wenigen Minuten an – was auch immer es sein mag. Tash, wir sollten versuchen, Zhi zu erreichen.

Das war auch Tashs erster Gedanke gewesen, ihre Freunde. »Ja. Alle Insiderwitze. Er ist auf der Lodestone. Im Weltraum …« Sie blätterte sich durch das Menü, drückte auf einen Link, der zur internationalen Raumfahrtbehörde führte, der NHSA, und wartete ohne allzu große Hoffnung auf eine Verbindung, die nur für Notfälle vorgesehen war.

Und dies war ein Notfall. Vermutete sie.

Nun hörte Tash vom Newcastle-Ufer etwas, das wie ein splitterndes Krachen klang, dann ein heulender Autoalarm, ein Schrei. Und anderswo Gelächter. Eine Polizeisirene.

Die Dunkelheit hielt weiterhin an.

»Ich denke, ich sollte zum House zurückkehren«, sagte sie. »Was auch immer das ist, ich glaube, die Regierungsmitarbeiter werden jetzt eine Zeit lang wie kopflose Hühner herumlaufen.«

Mel lächelte. Dann kehr in deinen Hühnerstall zurück. Ich muss Jane anrufen. Das war Mels Tochter.

»Sag ihr, Tantchen Tash lässt grüßen.«

Ich werde es auch mit Zhi probieren. Und wenn ich hier mehr herausfinde, melde ich mich bei dir. Lass dein Handy eingeschaltet.

Tash steckte sich einen Hörer ins rechte Ohr. »Wird gemacht. Und ich sollte meinen Vater anrufen. Handy, tu das jetzt.«

Sie eilte über die Brücke zurück, passte auf, wohin sie trat, zum weiterhin hell erleuchteten Government House. Mit jedem Schritt hoffte sie, dass sich der Himmel klären würde. Dass die Sonne wieder anging. Dass diese Sache einfach aufhörte. Aber das tat sie nicht.

»Mel. Bist du noch da?«

Ja. Mel klang außer Atem, als wäre auch sie in Eile.

»Das wird das Leben von uns allen ändern, nicht wahr?«

Mehr als nur das, Schätzchen. Mehr als nur das.

Irgendwo heulte eine Ambulanz.

Und ein weiterer Regenschauer spritzte ihr ins Gesicht und auf das Haar. Es fühlte sich an, als würde es jede Minute kälter werden. Der Regen war sogar eher wie Graupel.

Sie eilte weiter durch die beunruhigende Dunkelheit.

3

09:48 GMT

Melissa Kapur hatte ebenfalls einen großartigen Blick auf das Ereignis in den Minuten, bevor sie Tashs Anruf entgegennahm.

Obwohl sie selbst professionelle Astronomin und von anderen professionellen und prominenten Beobachtern der Sonnenfinsternis umgeben war, hatte sie sich durch den Anblick der Erde ablenken lassen.

Und was für ein Anblick es war!

Skythrust Two war eine menschengemachte Insel im Himmel. Und zwar sehr hoch im Himmel, zwanzig Kilometer über dem Südlichen Ozean, über der Troposphäre mit ihren Wolken und ihrer Düsternis. Aus dieser Perspektive sah sogar die tiefere Lufthülle wie ein Meer aus, wie ein tiefblauer Ozean des Himmels. Und über ihr kein einziger Wolkenfetzen, der die Sicht auf die Sonne störte, auf die sie aus dem Innern dieser luftdichten Blase schaute – eine Beobachtungslounge mit durchsichtigen Wänden, die auf einem weiten, offenen Deck stand. Der Schatten des Mondes hatte langsam die Sonnenscheibe verzehrt, während er dem magischen Moment der Totalität entgegenstrebte und sich die allgemeine Helligkeit kaum merklich verringerte, Stück um Stück.

Nichts lenkte ihren Blick ab, bestenfalls die erstaunliche Masse von Skythrust, einer Beobachtungsplattform so unerschütterlich wie ein Felsen.

Diese Insel im Himmel war zwischen zwei Rümpfen aufgehängt, gleichermaßen gigantische Zylinder mit je einem Kraftwerk, den Strahltriebwerken, die die Positionierung des Gefährts kontrollierten, und anderer Infrastruktur. Von überall schlängelten sich dünne Kabel aus Kohlenstofffasern höher in den Himmel hinauf zur höchstgelegenen Ebene der Konstruktion, der Auftriebfarm. Es war keine Sphäre wie ein Heißluftballon oder eine Torpedoform wie die alten Luftschiffe, sondern eine Art lichtdurchlässige Steppdecke, die im seltsamen, sich abschwächenden Licht der teilweise verfinsterten Sonne schimmerte. Doch die Oberseite war ein Solarkraftwerk, das einen Teil dieses Lichtes auffing.

Die riesigen Tanks der Farm waren völlig leer.

Skythrust war ein Luftschiff, das nicht durch heiße Luft, Helium oder Wasserstoff in der Schwebe gehalten wurde, nicht wie die alte Hindenburg, mit der sie viel gemeinsam hatte, was die Ausstattung und die Kosten betraf, sondern durch Vakuum, dem ultimativen Auftriebsmittel, das leichter als Luft war. Vor einigen Tagen, als das Schiff, von Johannesburg kommend, an dieser Beobachtungsstation der Sonnenfinsternis eingetroffen war, hatte man Mel auf einer Themenparktour um diese Auftriebfarm herum und hinein mitgenommen, in eine Kathedrale, die aus ultraleichtem und ultrafestem Material errichtet worden war, das über oktogonal angeordneten Gerüststreben gespannt war. Zwei der Schiffskonstrukteure hatten sich während der ganzen Tour immer wieder gerühmt, hatten selbstgefällig darauf hingewiesen, dass die Auftriebfarm genau eine englische Meile lang war und dass man Hunderte von Hindenburgs innerhalb dieses gewaltigen Volumens unterbringen könnte …

Skythrust war in der Tat eine englisch-australische Konstruktion, die aus riesigen Lufttankern entwickelt worden war, die dazu dienten, Wasserstoff als Treibstoff zu transportieren, was inzwischen ein bedeutendes Exportgut für Australien war, wo es auf weitläufigen Solarenergiefarmen durch Wasserelektrolyse gewonnen wurde. Mel wusste, dass die Australier sich rühmten, sie würden Sonnenschein exportieren. Wie konnte man diesen Sonnenschein besser befördern als in einem Fahrzeug, das um absolut gar nichts herum aufgebaut war?

Doch heute war Skythrust lediglich eine spektakuläre Plattform, von der sich etwas noch viel Größeres beobachten ließ. Mels Blase war eine von mehreren auf dem Deck, und in jeder befanden sich weitere Passagiere, die vor einer Außenatmosphäre geschützt waren, die zu dünn war, um sie atmen zu können. Das Zentrum der Deckfläche wurde von einer Anordnung von Instrumenten dominiert, mit denen das sich entfaltende Schauspiel am Himmel studiert werden sollte, und alle waren stumm auf denselben Winkel ausgerichtet, genau zur Sonne – wie die Gesichter der Menschen, dachte Mel amüsiert.

Alle Passagiere verfügten über einen Audioguide mit einem optionalen und vor allem enthusiastischen Kommentar. Mel hatte ihren ausgeschaltet, aber sie hatte das Keuchen der Leute gehört, als der vorderste Rand des Mondes erstmals die Sonnenscheibe berührt hatte, und noch häufiger, je näher der magische Moment der Totalität kam. Und noch vor der Totalität hatte die Verdunkelung den Punkt erreicht, an dem sie glaubte, tief am blauen Himmel einen ersten Stern zu erkennen – nein, das musste ein Planet sein, Venus. Ein magischer Anblick.

Nun versuchte sie sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren. Sie musste das Beste aus den Beobachtungsgelegenheiten der nächsten paar Minuten herausholen.

Es war eine Art Leckerbissen, dass sie überhaupt hier oben war, wo sie das Ereignis mit bloßem Auge verfolgen konnte. Ihre nominelle Chefin, Astronomer Royal Charlie Marlowe, die Hofastronomin von England, war unten in der Masse des Schiffs begraben, in einem großen Speisesaal namens Games Room. Sie würde die hereinkommenden Datenfeeds im Auge behalten, die Messungen von einer Instrumentenstaffel, die von Infrarot bis Gammastrahlung reichte, und parallel dazu ihren Kommentar für mehrere globale Kanäle abgeben. Eine privilegierte Position, aber praktisch im Keller eingesperrt und vor dem prächtigen Himmel verborgen. Im Gegensatz zu Mel.

Konzentriere dich, Mel, sagte sie sich. Sei im Hier und Jetzt, wie ihre Yogalehrer es ihr beigebracht hatten. Ein solcher Moment kam vielleicht nie wieder.

Das Licht schwächte sich weiter ab. Nun wurde sie durch die Enthüllung der Korona abgelenkt, der hellen, weitreichenden äußeren Atmosphäre der Sonne – eine glänzende Wolke mit sanften Helligkeitsabstufungen rund um die zentrale schockierende Finsternis, eine Himmelsskulptur, die normalerweise durch das Sonnenlicht überstrahlt wurde. Und dann …

Dann die abschließende, perfekte Ausrichtung der Scheiben von Sonne und Mond. Der Moment der Totalität.

Auch die Helligkeit des Tageslichts selbst nahm plötzlich und dramatisch ab, ein Effekt, der bis zum Horizont reichte, wo sich ein unheimliches grünliches Zwielicht ballte. Es war ein immenses, zusammenhängendes Phänomen, das sie zutiefst zu schockieren schien, eine Veränderung von globalen Ausmaßen, das in ihr ein Gefühl der Winzigkeit hinterließ. Wie sie jetzt sah, war es ein Phänomen, das zu erfassen jedes einzelne Instrument außerstande war.

Die Leute schnappten nach Luft, juchzten oder applaudierten sogar. Dies ging weit über sie hinaus, über die Menschheit hinaus, obwohl alle versuchten, die flüchtigen wissenschaftlichen Symptome mit Augen, Gehirnen und Instrumenten zu erfassen. Das war der Grund, warum Leute Sonnenfinsternisse jagten. Und es war der Grund, dachte sie, warum trotz der technischen Ausgereiftheit von Robotern immer noch Menschen in den Weltraum geschickt wurden. Um solche Sachen zu sehen. Man musste dabei sein.

Doch dieser Moment war es, wie sie sich später erinnerte, als sich alles änderte. Denn nun folgte eine schockierende Vertiefung der Dunkelheit, über den gesamten wolkenlosen Morgenhimmel der Sonnenfinsternis hinweg.

Es war, als hätte jemand einen Regler auf einem Mischpult heruntergezogen, als das strahlende Blau zu Schwarz verblasste, einschließlich des grünlichen Lichts am Horizont.

Für Mel – im Gegensatz zu Tash, wie sich herausstellte – gab es keinen schlagartigen Moment der völligen Finsternis. Skythrust selbst leuchtete ein wenig, selbst am Tag, sogar während einer Sonnenfinsternis, da Licht durch die Fenster der Kabinen und Säle drang. Die Venus schimmerte genauso hell, an derselben Stelle, wo sie gewesen war, wie Mel verblüfft bemerkte.

Um die Position der verfinsterten Sonne strahlte weiterhin die Korona, wirkte vor dem verdunkelten Himmel sogar heller als zuvor, wie es schien. Dennoch breitete sich auch dort allmählich eine Art von Dunkelheit aus, die vom schwarzen Kreis im Herzen von allem ausging, als würde sich die Gesamtstruktur in den Weltraum verteilen. Es dauerte einige lange Sekunden, bis die Korona vollständig erlosch, Sekunden, die sie unwillkürlich auf die Art der Astronomen abzählte: »Tausendundvier, tausendundfünf …«

Als die Korona verschwunden war, wurde die Dunkelheit noch tiefer. Nun konnte Mel immer mehr Sterne sehen, die sich zur Venus gesellten.

Doch die »Eklipse« endete nicht.

Die Leute murmelten. Innerhalb der Beobachtungsblasen wurde in der zunehmenden Dunkelheit die künstliche Beleuchtung eingeschaltet. Im allgemeinen Audiokommentar hörte sie die Stimme einer Frau, die wehleidig fragte: »Sollte so etwas passieren?« Mel glaubte die Stimme zu kennen – wahrscheinlich irgendeine astrologische Influencerin, die nun völlig ratlos war.

Nein. So etwas sollte nicht passieren. Das Ganze war völlig falsch.

Ihr Handy vibrierte. Sie griff danach, sah, dass es ein Anruf von Tash war, drückte es sich ans Ohr. »Tash auf Warteschleife. Ruf Jane an.«

Keine sofortige Antwort von ihrer elfjährigen Tochter.

»Dann stell Tash durch.«

Hallo, Mel. Falls du das hier hörst, ich bin in Newcastle … eben aus dem Büro gekommen. Schau mal, wie dunkel es hier ist …

Mel versuchte es noch einmal mit Jane. Keine Antwort. Sie rief Zhi an. Dann noch einmal Jane.

Und diesmal antwortete Jane. Hallo, Mum. Ich wollte gerade anrufen. Wir sitzen vor dem Fernseher. Und draußen ist es irgendwie dunkel geworden.

Mel wusste, dass sich Jane in einem gemieteten Landhaus nicht weit vom Observatorium bei Bouldershaw Fell in Yorkshire aufhielt, Charlie Marlowes derzeitige Operationsbasis und demzufolge auch Mels.

»Bleib im Haus, Schatz.«

Das werde ich tun. Ich …

»Ist Sarah bei dir?« Eine Cousine zweiten Grades und gelegentliches Kindermädchen.

Ja. Willst du mit ihr sprechen?

»Nein. Schließt nur die Türen, sag ihr, dass sie alles verriegeln soll.«

Alles in Ordnung mit dir, Mum? Du bist genau darunter.

Worunter auch immer. Der Himmel blieb weiterhin dunkel. Jetzt waren viele Sterne sichtbar, erkannte sie, rund um diese leere schwarze Scheibe, während sich ihre Augen an die Dunkelheit anpassten. Wie lange sollte eine Totalität andauern? Die Zahl war ihr entfallen. Außerdem sollte sie die Zeit messen. Sie verhielt sich genauso naiv wie die verdutzte Influencerin in der anderen Blase. Ganz und gar nicht wie eine Wissenschaftlerin.

Andererseits war dies keine gewöhnliche Totalität.

»Schatz, ich werde mich wieder bei dir melden. Wir versuchen herauszufinden, was vor sich geht. Bleibt einfach im Haus, okay?«

Ja. Ich liebe dich.

»Ich dich auch.« Sie trennte die Verbindung, machte sich daran, Marlowe anzurufen, doch die Hofastronomin hatte bereits versucht, sie zu erreichen. »Charlie, hier ist Mel, jetzt bin ich da. Ich bin auf dem Weg nach unten …«

Nein. Nicht. Bleib da oben. Ein schroffer Manchester-Akzent.

Auf dem Handybildschirm war Charlie Marlow ein greller Farbklecks. Sie war sechzig Jahre alt, nicht groß, korpulent und trug stets knallbunte Hosenanzüge. Ihr kurz geschnittenes Haar war silbergrau gefärbt. Tashs Vater sagte immer, sie würde ihn an Judi Dench als M in den alten James-Bond-Filmen erinnern. Sie stach aus jeder Menschenmenge hervor, und als Mel auf ihr Handy blickte, dachte sie, dass die Frau sich gut in den farbenfrohen, etwas albernen Hintergrund des Games Room von Skythrust einfügte, eine ausgefallene Lounge mit einem Fußboden in Schachbrettmuster und riesigen Spielkarten an den Wänden.

Wir haben genug Augen, die hier unten auf Bildschirme starren, sagte Marlowe jetzt. Ich will außerdem einen Blick mit bloßem Auge. Abgesehen von einer luftdichten Kuppel. Bleib da oben, solange es sicher ist.

»Sicher wovor?«

Woher zum Teufel soll ich das wissen, hier in diesem verrückten Luftschiff? Atmosphärische Turbulenzen? Auftriebsverlust, wenn die Wärme abklingt? Ich wünschte, ich wäre da oben bei dir. Verdammt, ich bin die Hofastronomin, und hier haben wir das wahrscheinlich bedeutendste astronomische Ereignis der Menschheitsgeschichte, und ich habe es verpasst. Aber ich muss jetzt ein paar Anrufe tätigen.

»Mit wem?«

Nun, mit der englischen Bundesregierung, die für diese Spritztour bezahlt hat … Oder vielleicht kürze ich das Verfahren ab und wende mich direkt an die FIS. Wie ich früher den alten Sicherheitsrat der Vereinten Nationen angerufen hätte. Natürlich werden sie bald anfangen, mich anzurufen. Wen sonst sollten sie anrufen? War ich die erste Person, die du angerufen hast?

»Nein. Meine Tochter. Als ich sie nicht erreichen konnte, eine Freundin …«

Eine gute Wahl. Hör zu, Mel. Ich möchte, dass du in den nächsten Tagen in meiner Nähe bleibst. Während sich das alles entwirrt. Du bist vielleicht nicht meine schärfste Klinge, aber du dürftest das größte Herz haben. Ich habe das Gefühl, dass das von großer Wichtigkeit sein wird. Denn das hier wird alle Menschen auf dem Planeten betreffen.

Das verblüffte Mel. Sie wusste, dass Marlowe zu enormen intuitiven Sprüngen imstande war. Bereits nach wenigen Minuten dieses Ereignisses schien sie die globalen Auswirkungen zu erkennen. »Ich fühle mich geschmeichelt, glaube ich. Gut, ich werde Wache halten.«

Gut. Im Moment können wir nicht mehr tun. Außer Wache halten und messen.

»Was messen?« Sie biss sich auf die Zunge. Marlowe reagierte nicht allzu nachsichtig auf dumme Fragen.

Was auch immer dir einfällt.

Mel dachte darüber nach, suchte nach etwas, das nicht naheliegend war. »Gravitationswellen?«

Marlowe hielt kurz inne. Ja. Genau. Gute Idee. Wir können die Sonne nicht sehen. Wenn das nicht nur irgendein optischer Effekt ist – ein Strahlungseffekt, verdammt, was weiß ich? –, wenn die Sonne selbst irgendwie beeinflusst wurde, müssten wir dieses Todesröcheln registrieren können. Ich werde auch Bouldershaw anrufen. Irgendjemand wird es gemessen haben, also werde ich dafür sorgen, dass wir die Daten bekommen. Tun wir einfach, was wir können, solange wir es können. Ich werde mich auf dich verlassen, Mel. Oh, und achte auf die Venus.

»Die Venus?«

Ich … Stimmen wurden im Hintergrund laut. Wer ruft an? Jetzt schon? Oh, verdammt, ich komme. Pass auf dich auf, Mel.

Dann war sie weg.

Mel wandte sich wieder dem Himmel zu. Immer noch diese unheimliche Mitternachtsfinsternis. Zahllose Sterne waren jetzt sichtbar geworden. Ein großes Schwarzes Loch, wo die Eklipse stattgefunden hatte – natürlich der Mond, der nun ferne Sterne verfinsterte, wie er zuvor die Sonne verdeckt hatte. Aber die Eklipse hätte inzwischen längst vorbei sein müssen. Die Sonne hätte wieder hinter dem Mond hervorkommen sollen.

Dann erinnerte sie sich an Marlowes Aufforderung und suchte nach der Venus.

Und die Venus erlosch, genau in diesem Moment. Als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Mel murmelte in ihr Handy, um eine Zeitangabe zu haben.

Auf dem Deck schien sonst niemand es bemerkt zu haben.

Was jetzt? Denk nach, Mel! Was ist gerade passiert? Nun, wir sehen die Venus im Licht, das sie von der Sonne empfängt und reflektiert …

Licht, das von der Sonne direkt zur Erde kam, war etwa acht Minuten unterwegs. Doch das Licht, das über die Venus kam, brauchte ein wenig länger, da es zuerst von der Wolkendecke dieses Planeten zurückgeworfen wurde und sich dann durch den Weltraum zur Erde bewegte. Und nun hatte dieser Strom von reflektierten Photonen aufgehört, wie es schien.

Das war nicht nur ein Schatten über der Erde. Es kam überhaupt kein Licht mehr von der Sonne, nirgendwo, in keiner Richtung. Als wäre sie … erloschen?

Und was jetzt?

Aktualisierung, Dummkopf. Und hol dir eine Bestätigung. Sie machte sich auf ihrem Handy eine verbale Notiz über die Venusbeobachtung, den Zeitpunkt, ihre vorläufige Interpretation.

Die Leute um sie herum reagierten. Lachten. Einige riefen nach Getränken. Die meisten starrten einfach nur. Sie hatte das Gefühl, dass Skythrust, mochte es noch so massiv und solide sein, plötzlich keine allzu sichere Zuflucht mehr war. Wie groß wäre ihre Angst, wenn ihre Position noch höher wäre – oder sogar im Weltraum?

Sie hob erneut ihr Handy. »Versuch noch einmal, Zhi auf der Lodestone zu erreichen.«

4

09:59 GMT

An Bord der Lodestone war Wu Zhi, obwohl er sich tatsächlich im Weltraum aufhielt, der letzte der Insiderwitze, der die schlechten Neuigkeiten über die Sonne erhielt, dank Mels Anruf. Obwohl er der Erste der dreiköpfigen Besatzung der Station war, der auf die Probleme des Tages aufmerksam wurde. Was eine gewisse Ironie hatte, wie ihm später bewusst wurde.

Mels hektischem, verwirrtem Anruf hörte er nicht allzu genau zu, um alles sofort zu verstehen. Anfangs dachte er, es wäre ein Problem mit der Korona, der äußeren Atmosphäre der Sonne.

Es war kein Zufall, dass Zhi an diesem Freitagmorgen – nach Mels und Tashs Zeitzone – ohnehin schon die Sonnenkorona beobachtet hatte, über diverse Monitore und sogar mit bloßem Auge durch ein Fenster in der Wand des Shelter-Moduls, das sie alle als Observatorium bezeichneten. Schließlich war es der Sinn der Lodestone-Station, hinter der Erde eingebettet in den langen Schattenkegel des Planeten, dass man im Normalbetrieb die Sonne hier nicht sehen konnte, zumindest größtenteils.

Die Lodestone hielt ihre Position mithilfe eines Magsegel-Boosters, einer magnetischen Falle, die den Wind aus geladenen Partikeln auffing, der unablässig von der Sonne heranströmte und um die Erde wehte, sodass sich eine stetige kleine, aber nützliche Kraft ernten ließ. Eine Kraft, die es der Station im Gleichgewicht der Gravitation von Sonne und Erde ermöglichte, der Erde auf präzisem Kurs zu folgen und innerhalb des Schattenkegels zu bleiben. Dank dieses Schattenkegels war die Station einer der dunkelsten Orte im Sonnensystem und damit einer, der ideal für Astronomie war. Selbst außerhalb direkter Sonneneinstrahlung konnten Weltraumteleskope in der Nähe der Erde durch helle Reflexionen von Meer, Land und Eis geblendet werden – zumindest von dem, was noch an Eis vorhanden war.

Deshalb gab es im Kernschatten Teleskope, die im tiefen Infrarotbereich nach flüchtigen Spuren uralter Strahlung suchten, nach Hinweisen auf die frühen Tage des Universums, die anderswo unmöglich zu erfassen waren. Große Teleskope. Das größte Teleskop der Station wurde als das L3T – L hoch drei T – bezeichnet, das Lodestone Ludicrously Large Telescope, weil es buchstäblich »irrsinnig groß« war. Mit anderen Sensoren wurden noch viel flüchtigere Phänomene erforscht, einige mit Instrumenten, die von Jones Inc. selbst gesponsert worden waren, dem wichtigsten Technikunternehmen hinter dieser Station, hauptsächlich aufgrund der Initiative ihrer launenhaften Gründerin und Hauptaktionärin Serena Jones. Die Jones-Instrumente suchten beispielsweise nach Spuren von Dunkler Energie, dem schwer zu fassenden Gegenschwerkraftfeld, das die eigentliche langfristige Expansion des Universums anzutreiben schien.

Was die Sonne betraf, musste man hier nicht auf eine Eklipse warten, sondern man konnte die Korona zu jeder beliebigen Zeit sehen, indem man künstliche Sonnenfinsternisse erzeugte, durch eine genau berechnete Positionierung der Instrumente, sodass die Sonne selbst hinter der Erde verborgen war. Ja, Wu Zhi kannte sich mit der Korona aus. Er hatte sie viele Stunden lang studiert.

Doch heute bot sich eine seltene Gelegenheit, genau das zu tun. Denn für nur zwei Minuten wäre die Korona von zwei weit auseinanderliegenden Orten aus sichtbar, von der Lodestone und vom Verfinsterungsstreifen auf der Erde. Damit bot sich die Chance, die dreidimensionale Struktur der Korona zu untersuchen. Zumindest war es so geplant.

Das Problem war nur, dass sich das Universum zum Zeitpunkt der Eklipse ungebührlich verhielt.

Nach Mels Vorwarnung war er der eigenartigen Verdunklungssequenz gefolgt, für etwa fünfzehn Sekunden, während die Korona … sich auflöste. Oder etwas in der Art. Gespenstisch. Rätselhaft. Zhi sah sich die Aufzeichnungen mehrere Male an, suchte nach Hinweisen, was zum Teufel das zu bedeuten hatte. Es war, als würde die Eklipse auf unmögliche Weise viel zu lange anhalten.

Er fragte sich, wie es seinem Verlobten Jim Boyd genau in diesem Moment ging. Jim, der irgendwo im Weltraum zwischen Mars und Erde hing, an Bord eines Raumschiffs namens Al-miriykh, sogar noch viel weiter von zu Hause entfernt als Zhi – inmitten von etwas, das eine Anomalie war, die das gesamte Sonnensystem zu umfassen schien.

Außerdem fragte er sich, was zum Teufel er tun sollte.

Die Lodestone war ein Torus, den man aus mehr als fünfhundert standardisierten Shelter-Modulen von Jones Inc. zusammengefügt hatte, ein nahtlos geschlossener Ring, der über vier Speichen mit einer zentralen Nabe verbunden war. Die gesamte Konstruktion drehte sich etwa alle fünfzig Sekunden einmal um sich selbst, um etwas Ähnliches wie irdische Normalschwerkraft im äußeren Torus zu erzeugen, eine wichtige Voraussetzung für die Gesundheit der Besatzung wie auch der wachsenden Pflanzen. Die Lodestone enthielt ein Lebenserhaltungssystem, das nahezu ein geschlossener Kreislauf war, ein Ökosystem aus Menschen und Kulturpflanzen. Wie jedes andere moderne Raumschiff war sie in der Lage, sich weit von der Erde zu entfernen, dank des Schutzes eines Magschildes, einer supraleitenden Schleife, die die geladenen Teilchen der tödlichen kosmischen Strahlung abwehrte.

Die Lodestone war ein angenehmer Ort zum Leben und zum Arbeiten gewesen. Und um Spaß zu haben.

Doch nun war diese Anomalie mit der Korona aufgetreten. Zhi verspürte eine vage Beklemmung.

Er war erleichtert, als er ein vertrautes Trippeln von rennenden Füßen hörte, ein Geräusch, das kaum gedämpft wurde, während es sich von ein paar Modulen weiter in der Kette fortpflanzte, die den Haupttorus der Station bildeten.

Er brauchte jemanden, mit dem er hierüber reden konnte. Und der einzige Schnellläufer im Schiff war Ange Costello, seine Kommandantin.

»Ange. Hallo. Komm und schau dir das an. Hier stimmt etwas nicht.«

Sie hielt an der Tür an, atmete schwer, strich sich eine Strähne angegrauten Haars aus der schweißüberströmten Stirn und nahm einen Schluck aus einer Wasserflasche. Sie zeigte die aufblitzende Ungeduld, die Zhi von ihr erwartete, denn niemand mochte es, wenn die Laufroutine unterbrochen wurde. Andererseits befanden sie sich im Weltraum, und zu ignorieren, wenn »etwas nicht stimmte«, war langfristig gesehen keine gute Überlebensstrategie.

Sie beugte sich vor, um ihm über die Schulter zu schauen. »Und was stimmt nicht? Die Korona? Wir sehen sie jeden Tag. Der Umstand, dass es eine Eklipse gibt, sollte nicht den winzigsten Unterschied machen.« Das war der irritierende Aspekt an Ange, ihre Angewohnheit, sich zu überlegen, was man als Nächstes sagen würde.

»Natürlich nicht. Aber sie ist trotzdem anders. Schau es dir an. Ich bin es mehrere Male durchgegangen.« Er blickte auf eine Uhr, seit der Totalität waren erst wenige Minuten vergangen. »Behalte die Zeitangabe im Auge. Genau zum Höhepunkt der Verfinsterung …«

Inzwischen war ihm klar, dass Mel Kapur genau das an Bord der Skythrust beobachtet hatte. Da war die prächtige Korona der Eklipse. Doch dann dieses eigenartige Verblassen, das am inneren Rand der Korona begann, bis zur völligen Dunkelheit.

Ange beugte sich näher heran. Er konnte ihren Schweiß riechen, ihr Lycra-Shirt. »Hm. Das ist seltsam. Lass es noch einmal ablaufen …«

Sie schauten zu, besprachen es und sahen es sich noch ein paarmal an.

»Wir wollen uns überlegen, was die Korona ist«, sagte Ange, die Sonnenspezialistin, die vielleicht eine Spur zu wichtigtuerisch damit war, dachte Zhi. »Die Korona ist die äußere Atmosphäre der Sonne. Sehr dünn, aber sehr heiß. Heiß genug, um von der Erde aus sichtbar zu sein, wenn die Sonnenscheibe selbst verdeckt ist. Energie wird durch Sonnenstrahlung und Magnetismus hineingepumpt. Und nun ist sie einfach erloschen. Wie?«

Zhi machte einen Gedankensprung. »Was wäre, wenn man diesen Strom abschalten würde?«

Sie runzelte die Stirn. »Du meinst, wenn man das Sonnenlicht irgendwie ausblendet? Wie? … Egal. Ja. Wenn man es tun könnte, würden die Gase der Korona ihre Energie sehr schnell als Strahlung abgeben. Alles würde schon bald in den Infrarotbereich verblassen.«

»Die Korona hat einen Durchmesser von einigen Lichtsekunden. Also würde es ein paar Sekunden dauern, eine wahrnehmbare Zeitspanne, bis der letzte Rest des Sonnenlichts, äh, hindurchgerauscht wäre.«

»Genau, wie wir es in der Aufzeichnung sehen.«

»Ja.«

Sie sah ihn an. »Was also könnte das Sonnenlicht von der Korona abschirmen?«

Diesmal gab es keinen Gedankensprung. »Ich habe keine Ahnung. Irgendein Schild rund um die Sonne?«

Sie schnaufte. »Erstens. Ein Schild um eine fusionierende Masse, die mehr als eine Million Kilometer durchmisst? Der mit einem Schlag aktiv wird? Und zweitens. Willst du mit ›Schild‹ irgendein Artefakt implizieren? Auf diesem Schiff suchen wir nach natürlichen Ursachen, Wu. Nicht nach Wundern. Nicht nach jemandem, der dem Himmel ins Handwerk pfuscht.«

Früher an der Raumfahrtakademie in Yale war Ange Costello seine Promotionsbetreuerin gewesen. Jetzt, viele Jahre später, war sie es noch immer. Es war, als wäre er in diese Zeit zurückgesprungen.

Doch das war der Moment, als der Hauptalarm ertönte.

Ange blickte auf die Kontrollkonsole vor Zhi und legte genau den richtigen Schalter um.

Der Alarm fiel zu einem Flüstern ab.

»Okay, Harry«, rief Ange. »Bist du in der Nabe?«

Harry Regent war der Dritte der dreiköpfigen Besatzung. Seine Stimme wurde klar und deutlich übertragen. »Ich mache meine Schicht und überprüfe die Anzeigen.«

Ange ließ ihm dafür eine Sekunde Zeit.

Die Regel lautete, dass sich für den Fall, dass eine Katastrophe eintrat, jederzeit mindestens eine Person in der stark abgeschirmten Nabe aufhalten musste, ihrem Notfallschutzraum im Zentrum des Torus. Die Nabe war mit Reservesystemen aller wichtigen Funktionen des Habitats ausgestattet, also war sie ein guter Standort, um einen Alarm zu bemerken und Pannen zu bewältigen.

Natürlich schummelten die Leute, kamen herüber, um bei irgendetwas zu helfen, um Pause zu machen oder Gesellschaft zu haben. Aber nicht Harry. Harry war ein Offizier der US Air Force. Zhi stellte sich vor, wie er in der Nabe saß, aufrecht, alle Sinne geschärft, während er die Monitore in dieser anomalen Situation überwachte. Als wäre er in irgendeinem Atomraketensilo des Kalten Krieges. Das war Captain Harry Regent.

»Hier drinnen ist alles in Ordnung«, gab Harry nun zurück.

»Okay. Zhi …« Ange überflog die Anzeigen. »Ich sehe keinen Grund …«

»Ich hab’s. Die Ursache für den Alarm. Hört zu. Wir driften von unserer Position ab. Vielleicht nur zehn Meter pro Minute, aber …«

»Das kann nicht sein«, sagte Ange. »Ich sehe hier die Werte des Magsegels. Alle Anzeigen entsprechen den Vorgaben. Das Segel treibt uns an und hält uns genau dort, wo wir sein sollten.«

»Oder es glaubt nur, dass es das tut.« Zhi rief eine andere Anzeige auf, die die Position der Station zeigte, wie sie anhand der Radarimpulse von Satelliten im Erdorbit mehr als eine Million Kilometer entfernt ermittelt wurde. »Aber die Positionsanomalie steigert sich. Beschleunigt. Und, hallo, schaut euch mal die Zeitangaben an! Die Probleme begannen ziemlich genau im Moment des Höhepunkts der Eklipse. Als die Korona anfing verrücktzuspielen.« Er verspürte ein Echo seiner früheren, fast abergläubischen Furcht. »Aber es kann keine Verbindung geben. Oder?«

Ange versteifte sich, nahm sichtlich ihre Rolle als Kommandantin der Station an. »Okay. Harry, bleib da unten im Loch. Sorg dafür, dass alles zur Erde kopiert wird. Aber bleib im Loch. Wir wollen gründlich überlegen. Wir weichen allmählich von unserer Position ab. Was hält uns überhaupt auf Position?«

Fast schon automatisch gingen Zhi und Ange das Konstruktionsprinzip und die Systeme des Schiffs eines nach dem anderen durch, um nach der fehlerhaften Stelle zu suchen.

Zhi wusste genauso wie Ange, dass die Station eine komplizierte Konstruktion war, ein Ausgleich der Kräfte. Streng genommen war die Lodestone ein Statit: ein Satellit, der nicht nur durch die Gravitation der Sonne oder der Erde oder anderer Himmelskörper in der Umlaufbahn gehalten wurde, sondern mit Unterstützung durch künstliche Antriebssysteme.

Eine natürliche stabile Position für ein Observatorium wie die Lodestone wäre der sogenannte zweite Lagrange-Punkt des Erde-Sonne-Systems gewesen, L2, eineinhalb Millionen Kilometer von der Erde entfernt. Dort würde ein Satellit an Ort und Stelle bleiben – oder vielmehr gemeinsam mit der Erde um die Sonne herumgewirbelt werden, dank der kombinierten Anziehungskraft von Erde und Sonne. Deshalb war das altehrwürdige James Webb Space Telescope dort stationiert worden – und befand sich sogar immer noch irgendwo da draußen, als sein eigenes stummes Orbitalmuseum.

Doch L2 lag mehr als einhunderttausend Kilometer außerhalb der Umbra, des Kernschattens der Erde. Wenn man hier arbeiten wollte, innerhalb der Umbra, an diesem für astronomische Forschungen günstigen Ort, funktionierte der gravitative Balanceakt nicht mehr. In viel größerer Nähe zerrten die Schwerkraftfelder von Erde und Sonne zu stark an der Lodestone, wodurch sie ihre Position nicht halten könnte.

Also war die Station mit einem Magsegel verbunden, einem vierzig Kilometer weiten supraleitenden Band, dessen Magnetfeld gegen den Sonnenwind drückte, den stetigen Strom geladener Partikel, der von der Sonnenoberfläche ausging und um das Magnetfeld der Erde herumsauste, als wäre es gar nicht vorhanden. Das Magsegel drückte die Station nach außen, mit genau der Kraft, die nötig war, um die nach innen ziehenden Gravitationsfelder von Erde und Sonne zu kompensieren, damit sie ihrem Orbit innerhalb des Schattens der Erde folgen konnte.

Dem Magsegel verdankte die Station außerdem ihren Namen, wie Zhi fasziniert erfahren hatte, als er diesem Posten erstmals zugewiesen worden war. In Gullivers Reisen wurde die fliegende Insel Laputa – wenn auch unplausibel – durch einen lodestone in der Schwebe gehalten, einen riesigen Stabmagneten …

Doch dieser komplexe Balanceakt zwischen Magnetismus und Gravitation versagte nun.

Verärgert schüttelte Ange den Kopf, wie es ihre Angewohnheit war, wenn bestimmte Fakten keinen Sinn ergaben. Sie blickte noch einmal auf die Instrumente. »Das kann nicht richtig sein. Wir haben nur eine aktive Komponente, das Magsegel, und das arbeitet einwandfrei. Es gibt nichts, das falsch laufen könnte.«

»Überlegen wir noch einmal«, sagte Zhi. »Wir haben hier drei Kräfte im Gleichgewicht. Die Gravitation der Sonne beträgt hier draußen etwa sechshundert Mikro-g.« Eine Beschleunigung, die etwa einem Sechshundertmillionstel der Gravitation an der Erdoberfläche entsprach. »Die Erde selbst trägt einundzwanzig Mikro-g bei. Und das Magsegel sollte uns mit vierzehn Mikro-g antreiben, was es tatsächlich tut. Womit ein Ausgleich von sechshundertundsieben Mikro-g fehlt, den wir brauchen, um auf der vorgesehenen Umlaufbahn zu bleiben.«

»Okay«, sagte Ange. »Und der Fehlbetrag ist wie hoch, Harry?«

»Nun, er ist ziemlich groß«, räumte Harry Regent ein. »Fast sechshundert Mikro-g.«

Zhi hielt den Mund, aus Furcht vor Anges Reaktion, wenn er das Offensichtliche laut aussprach. Sie sollte es selbst sagen.

Was sie schließlich tat. »Der Fehlbetrag ist genauso groß wie die gesamte Gravitation der Sonne. Das ist unmöglich.«

Zhi dachte schnell nach – er dachte hektisch, fand er – und sagte: »Harry, kopiere mir deine Zeitangaben, bitte. Für den Verlust der Korona und den Moment, als wir abzudriften begannen … Danke. Scheiße. Es ist derselbe Zeitpunkt. Genauso wie hier in meinen Werten. Wir haben die Gravitation in dem Moment verloren, als die Korona verblasste.«

»Es muss irgendeine Ausgasung von der Station selbst sein«, murmelte Ange. »Eine Verdampfung. Die Lackierung, die in der Kälte ihre Feuchtigkeit abgegeben hat. Das muss es sein.«

Zhi grinste. Er konnte nicht anders. »Die Lackierung?«

»Trotzdem«, sagte Harry etwas zurückhaltender, »wäre es ein ungewöhnlicher Zufall, wenn dadurch ein Schub erzeugt würde, der exakt dem Beitrag der Sonnengravitation entspricht.«

Zhi vermutete, dass Harry zur gleichen Schlussfolgerung gelangte wie er, vielleicht sogar Ange. Vorsichtig sagte er: »Also sieht es danach aus, dass das Licht der Sonne abgeschaltet wurde. Und genauso ihre Gravitation? Es scheint fast, als … nun, als wäre die Sonne selbst verschwunden.«

Ein Bildschirm blinkte gelb. Ein weiteres Alarmsignal. Ange tippte auf die Konsole, las den Text.

»Wow!«, sagte Harry, der in der Nabe offensichtlich dieselben Daten erhalten hatte.

Zhi war der Einzige, der sie nicht sehen konnte. »Was ist das? Ein Bericht von der Bodenkontrolle?«

»Das kommt nicht von der Bodenkontrolle«, sagte Ange. »Sondern aus dem Weltraum. Eine allgemeine Übertragung.« Sie sah Zhi an. »Sie kommt von der Al-miriykh. Sie haben irgendwelche Schwierigkeiten.«

Zhi versuchte es zu verstehen. Wenn die Sonne auch aus Jims Universum verschwunden ist …

Er schüttelte den Kopf, war außerstande, weiterzudenken, über Jim hinaus zu denken.

Ange legte eine Hand auf seine Schulter. »Wir werden der Sache auf den Grund gehen. Komm. Wir reden mit der Bodenkontrolle.«

Auf Stationen wie der Lodestone wurden alle Unterhaltungen der Besatzung routinemäßig aufgezeichnet.

Später wurde festgestellt, dass niemand in diesen Aufzeichnungen, irgendwo im von Menschen erkundeten Weltraum, die Hypothese, dass die Sonne selbst um 09:48 GMT dieses Tages verschwunden war, zu einem früheren Zeitpunkt geäußert hatte als Wu Zhi.

5

10:02 GMT

An Bord der Al-miriykh im Weltraum zwischen Mars und Erde war der Hauptalarm ein wenig vor 12:48 Uhr Moskauer Zeit ausgelöst worden.

Jim Boyd hatte während seiner kurzen Wache an der Hauptkontrollkonsole geglaubt, er hätte etwas gesehen. Einen Blitz? Eine Veränderung des Lichts? Kurz bevor der Alarm ertönte.

Jim hatte automatisch auf seine Uhr geschaut.

Oder eher auf seine Uhren. Er trug immer zwei an seinem Handgelenk, eine, die auf die Mittlere Greenwich-Zeit eingestellt war, damit er wusste, in welchem Zeitrahmen man sich in der Missionskontrolle in Houston bewegte, genauso wie Wu Zhi, sein Verlobter, der auf der Lodestone ebenfalls die GMT benutzte, während die andere Uhr die Moskauer Zeit anzeigte, der das ZUP folgte. Das russische Raumfahrtkontrollzentrum war in einer Baracke in einem schmuddeligen Vorort im Norden der Stadt untergebracht. Beide Zentren mussten sich natürlich mit der NHSA koordinieren, der vereinten Northern Hemisphere Space Agency, doch sie hielten sich hartnäckig an ihre nationalen Zeitrechnungstraditionen.

Und ganz gleich, welche Uhrzeit man benutzte, lohnte es sich immer, die Uhrzeit zu notieren, wenn etwas den Bach runterging, allein, um später den zeitlichen Ablauf der Ereignisse rekonstruieren zu können. Wenn es um die Zuteilung der Verantwortung ging.

Falls es ein Später gab.

Also 09:48 GMT. Er schaute sich im Habitat um, suchte automatisch nach offensichtlichen Problemen.

Hier war das Zentrum von Al-miriykh, wie es nun für die Rückkehr zur Erde konfiguriert war. Im Wesentlichen ein amerikanisch-englisch-russisch-japanisches Gemeinschaftsprojekt.

Nicht dass es allzu viel zu sehen gab. Ein Shelter von Jones Inc. war einfach nur ein großer Zylinder, eine intelligente, kompakte Konstruktion. Genauso wie der, in dem Zhi jetzt saß, dachte er. Den meisten Platz in diesem speziellen Modul nahm der Schutzraum ein, ein dicker, robuster Zylinder innerhalb eines Zylinders, eine Zuflucht, die Schutz bot, wenn »narrensichere« Vorkehrungen gegen Druckverlust oder Strahlenbelastung versagten. Russische Konstrukteure waren sehr konservativ, weshalb dieses dickwandige Notsystem mitten im Habitat eingerichtet worden war, mit unabhängiger Luftversorgung und Heizung.

Abgesehen vom Getöse des Alarms schien alles in Ordnung zu sein. Die verschiedenen Kontrollkonsolen und Displays zeigten offenbar allesamt die üblichen Konstellationen der normalen Einstellungen.

Jetzt sah Jim, dass seine beiden Besatzungskollegen auf den Alarm reagierten, wie er es von ihnen erwartete. Beide überprüften wie Jim die leichtgewichtigen Druckmessgeräte, die sie am Gürtel trugen. Das gefährlichste plausible Ereignis, das einen Alarm auslösen konnte, wäre ein katastrophales Leck, vielleicht durch eine Kollision oder den Riss einer Dichtung mit rapidem Luftverlust. Gleichzeitig bestätigte Ito Katsuo die angezeigten Werte der Hauptkonsole.

Marina Petko hatte den Schutzraum bereits geöffnet. Sie warf einen bedauernden Blick zurück auf die Mahlzeit, die sie zubereitet hatte, eine reichhaltige russische Kohlsuppe.

Jim schaute sich weiter um und fragte sich, was ihm entging. Mit dem Habitat selbst schien alles in Ordnung zu sein.

Er schlug auf einen grünen Knopf, um den Alarm abzuschalten. »Okay. Ich werde es melden. An ZUP, hier Al-miriykh. Äh, die Missionsuhr zeigt dreizehn Uhr zwei Ihrer Zeit. Wir hatten soeben einen Hauptalarm. Ursache unbekannt. Schneller Druckabfall ausgeschlossen. Ermitteln weiter die Ursache.«

Das Kommunikationssystem war intelligent genug, um sich selbst einzuschalten, wenn es eine derart strukturierte Botschaft hörte, und die Nachricht zu senden.

Natürlich kam keine unverzügliche Antwort. Die Al-miriykh