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Die meisten Likes E-Book

Katharina Lindner

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Beschreibung

Sechs psychisch kranke Menschen treffen sich in einer stillgelegten Schule in der Einöde, um ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Angeblich sollen sie als Probanden eine neue, vielversprechende Therapiemethode testen. Tatsächlich sind sie aber unwissentlich Teilnehmer eines perfiden Experiments: Jede ihrer Handlungen wird per Live-Video auf eine Internetseite übertragen. Die Nutzer dieses Netzwerks dürfen darüber abstimmen, in welche Richtung die Therapie gehen soll: Versöhnung oder Streit? Heilung oder Krise? Die Beobachter vor den Bildschirmen haben es in der Hand! Schnell verliert das Experiment alle moralischen Grenzen und bald geht es nicht mehr um kleine Entscheidungen, sondern um die Frage, ob Menschen zu Forschungszwecken an Körper und Seele verletzt werden dürfen. Eine Psychologiestudentin kommt den Initiatoren des Experiments auf die Schliche, doch ist die herannahende Katastrophe noch aufzuhalten?

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Seitenzahl: 445

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Epilog

Prolog

Sie waren wie Mäuse im Käfig, doch sie ahnten nichts davon. Sechs sorgsam ausgewählte Probanden, die dank ihrer spezifischen psychischen Störungen Eingang in die streng geheime Studie gefunden hatten.

Kameras würden Tag und Nacht jeden ihrer Schritte beobachten und aufzeichnen. Fremde Menschen würden ihnen vorgeben, wann sie zu essen und zu schlafen hatten, mit welchen Inhalten ihre Tage gefüllt werden sollten und welchen Verlauf ihre einzel- und gruppentherapeutischen Gespräche nehmen würden. Sechs angeschlagene Menschen, die emotional auf wackligen Füßen standen. Eine kümmerliche, kleine Selbsthilfegruppe, die sich unwissentlich im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit befand. Die Probanden waren wunderbar zu manipulieren, wenn man wusste, wo die Hebel anzusetzen waren.

Die Ausstattung in der stillgelegten Schule hatten sich die Initiatoren etwas kosten lassen. Zumindest sollte es den Teilnehmern des Experiments „Die meisten Likes“ an nichts fehlen, damit sie nicht auf dumme Ideen kamen oder sich vom Weg ihrer Heilung ablenken ließen. Die Zimmer waren groß und geräumig, die einfachen Möbel zweckmäßig, die Bibliothek gut bestückt, das DVD-Angebot umfangreich. Ein Hausmeister, ein Koch und eine Haushälterin kümmerten sich um die Bedürfnisse, sodass den zeitweiligen Bewohnern des altehrwürdigen Gebäudes genug Zeit und Muße blieben, um sich ganz und gar ihren Konflikten zu widmen. Im Schutz der alten Gemäuer konnten sie sich auf ihre Dämonen konzentrieren – die eigenen, die verborgen im Kopf ihr Unwesen trieben. Und die äußeren, die um sie herum ihre Welt in Brand steckten. Auf beide hatten sie weniger Einfluss, als sie glaubten: Es würden Außenstehende sein, die am Ende über Wohl und Wehe und den Ausgang des Experiments entschieden.

Denn nicht sie waren es, die im Zentrum der Forschung standen. Es waren die Menschen abseits der Mauern, deren Handeln die Verantwortlichen interessierte. Die eigentlichen Versuchskaninchen waren all jene, die draußen an ihren Geräten saßen, weit weg von der Gruppe psychisch Versehrter, und doch nur einen Klick von der Eskalation entfernt.

Das Ziel der Studie blieb für alle Teilnehmenden im Dunkeln. Niemand konnte vorhersehen, welche Katastrophen es auslösen würde.

Kapitel 1

Schwer atmend kauerte der Mann sich hinter einem Baum ins Unterholz. Wie lange waren sie schon hinter ihm her? Es konnten nur Minuten gewesen sein, doch es war ihm wie Stunden vorgekommen. Bis eben hatte er noch selig schlummernd unter seiner warmen Decke gelegen und nun versteckte er sich im Gestrüpp wie ein Schwerverbrecher! War er das – ein Verbrecher? Oder waren seine Verfolger die Verbrecher? Waren alle an diesem Spiel Beteiligten Verbrecher?

Seine Frau, anfangs selbst begeistert von ihrer neuen Aufgabe, hatte ihm seit Tagen in den Ohren gelegen, dieses unselige Spiel endlich abzubrechen und auch auf das Geld zu verzichten. Immerhin hatte er verkauft, was ihm nicht gehörte, das konnte dem eigentlichen Eigentümer durchaus missfallen. Allzu maßlose Gier bringt immer ein schlimmes Ende, hatte sie behauptet. Aber würden DIE dafür gleich über Leichen gehen? Er hatte es nicht glauben wollen. Er hatte abgewunken und nicht eine Sekunde ans Aufhören gedacht, wo sich schon einmal eine solch lukrative Möglichkeit bot. Warum auch? Es war doch gut gelaufen! Seine Frau mochte clever sein, aber sie war auch von ängstlicher Natur. Er hatte ihre Bedenken weggelächelt und sie an die Kreuzfahrt erinnern, die sie nach dieser Sache gemeinsam unternehmen wollten. Doch als er die ersten Vermisstenmeldungen im Radio vernommen hatten, war auch ihm mulmig geworden. Und nun hockte er hier, weit weg von zu Hause, während seine Frau wer weiß wo unterwegs war. Hoffentlich blieb sie weg, sonst war sie die nächste auf der Liste dieser Fremden! Er hatte allerdings keine Chance mehr, sie zu warnen, sie würde ihnen ins offene Messer laufen. Nun war allerdings er erstmal der Nächste, über den morgen in den Medien berichtet wurde.

Stimmen kamen näher. Er konnte hören, dass es sich um mindestens drei Männer handeln musste, die sich des Problems annahmen. Das Problem war er. Er und sein Schatz im Brustbeutel, der ihm seinen Ruhestand hatte versüßen sollen. Sie bellten einander knappe Befehle zu. Er hörte sie aus drei verschiedenen Richtungen. Sie hatten ihn umzingelt.

Die noch unbelaubten Bäume boten nur wenig Schutz. Er trug kein passendes Schuhwerk für eine solche Flucht und kannte sich in der Gegend nicht aus. Würden sie ihn erschießen? Erschlagen? Erstechen? Er vermutete, es würde schnell gehen und stümperhaft umgesetzt werden. Und dann verscharrte man ihn hier, zwischen Bäumen und Sträuchern, bis ihn ein Spaziergänger Monate später zufällig fand. Bisher hatte man noch nicht von Leichen berichtet, doch die warteten bestimmt irgendwo in der Einöde unter dichten Blätterhaufen. Er selbst würde wohl bald dazugehören. Erst, als sie heute Morgen in der Tür gestanden hatten, war ihm das klargeworden.

Schweiß rann ihm in die Augen, er wischte sich über die Stirn. Hörte sein eigenes keuchendes Atmen, fühlte Stiche in der Brust, wie damals, als die Herzinfarkte ihn auf die Intensivstation gebracht hatten. Hätte er doch auf seine Frau gehört! 57 Jahre war er alt, er nannte drei Enkelkinder sein Eigen und hätte noch einige zufriedene Jahre vor sich gehabt. Warum hatte er sich mit dieser zwielichtigen Unternehmung alles zerstört?

Er wusste es nicht. Er konnte nicht mehr denken, weil die Stimmen näherkamen. Sie hatten ihn im Morgengrauen aus dem Bett getrieben, weg von diesem Campingplatz, auf dessen Wiese der Morgentau glitzerte. Mit nackten Füßen und im Pyjama war er geflohen, doch die Kälte, die er eigentlich hätte spüren müssen, war von seiner Todesangst in den Hintergrund gedrängt worden. Unter seinen Sohlen spürte er feuchtes Laub und harte Äste. Im Osten bahnte sich eine kraftvolle Sonne ihren Weg. Er schloss die Augen und dachte an seine Familie. Eine Entscheidung seines Lebens hatte er falsch getroffen und sie hatte gleich solch fatale Folgen. Hätte er doch nur…

Dann waren sie da. Er blickte in ihre ausdrucklosen Gesichter und die Mündungen ihrer Waffen. Erschießen würden sie ihn also, den Beutel von seinem Hals reißen, das Laub über seinen leblosen Körper schaufeln. Das war’s. Ein trauriges Ende für eine Handvoll Kohle. Weil er sich diesem schrecklichen Spiel und seiner Faszination nicht hatte entziehen können. Weil ihm das, was er besessen hatte, nicht genug gewesen war. Ein unrühmliches, armseliges Ende! Er hätte es sich etwas später und mit mehr Würde gewünscht.

Ein gedämpfter Knall durchschnitt die Luft. Ein zweiter folgte. Krähen stoben laut flatternd in die Luft. Der Mann hielt sich im Fallen die Hand an die Brust, um seinen Schatz im Brustbeutel bis zur letzten Sekunde zu schützen. Er war längst tot, als sein Kopf den Boden berührte. Die Verfolger hielten sich nicht lang mit dem Toten auf. Sie befestigten eine große goldene Münze, ausgeschnitten aus Pappe, an seinem gestreiften Schlafanzugoberteil und leerten seinen Brustbeutel. Dann ließen sie ihn im abgeknickten Geäst liegen. Sie hatten alles, was sie brauchten.

Kapitel 2

Auszüge aus den Akten von Hermann Graf

Probanden im „Zentrum“ (SOCIETAS-Studie)

Berg, Sebastian

49 Jahre, ledig, Kinderbuchautor, wohnhaft in H.

Diagnose: ICD 10 – F60.8 / narzisstische Persönlichkeitsstörung (Verdachtsdiagnose)

Prognose: eher günstig

Böhning, Norbert

67 Jahre, verwitwet, keine Kinder, in Rente, früher Buchhalter, wohnhaft in M.

Diagnose: ICD 10 - F32.3 / schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen

Prognose: eher ungünstig

Elster, Mia

23 Jahre, ledig, Grafikdesignerin, wohnhaft in L.

Diagnose: ICD 10 – F60.1 / schizoide Persönlichkeitsstörung

Prognose: sehr ungünstig, keine Krankheitseinsicht

Bemerkungen: unfreiwilliger Aufenthalt, verurteilt vom Landgericht L. wegen Verstoßes gegen § 204 StGB / Verwertung fremder Geheimnisse

Koch, Martha

54 Jahre, geschieden, keine Kinder, Statistin am Staatstheater S., wohnhaft in S.

Diagnose: ICD 10 – F60.4 / histrionische Persönlichkeitsstörung

Prognose: eher günstig

Schröder, Kerstin

30 Jahre, verheiratet, zwei Kinder (5 und 3), keine abgeschlossene Ausbildung, keine Berufstätigkeit, wohnhaft in B.

Diagnose: ICD 10 – F60.7 / abhängige – asthenische Persönlichkeitsstörung

Prognose: ungünstig

Schröder, Silvio:

32 Jahre, verheiratet, zwei Kinder (5 und 3), Fliesenleger, wohnhaft in B.

Diagnose: ICD 10 - F60.30 / emotional-instabile Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typ

Prognose: sehr ungünstig

Kapitel 3

Norbert Böhning bezog sein Zimmer am frühen Nachmittag. Die Sonne schickte ihre letzten Strahlen durch die blank geputzten Fensterscheiben, als er seinen kleinen Koffer auf das Bett warf und damit begann, die Handvoll Kleidung einzuräumen, die er mitgebracht hatte. Früher hatte seine Frau Ingrid ihm die Sachen gepackt und sie nachher auch in den Schrank geräumt. Unzählige Schränke in Ferienwohnungen und Hotels hatte sie bestückt, mit ihrer und mit seiner Kleidung, denn Ingrid hatte immer reisen wollen. Nun war keine Ingrid mehr da und Norbert überprüfte mit dem Zeigefinger die Regalbretter auf Staub, ehe er seine Hosen und Hemden zu kleinen Stapeln aufschichtete, genauso, wie es Ingrid immer getan hatte.

Das Zimmer war riesig und ließ deutlich erkennen, dass es eigentlich zu einem anderen Zweck erschaffen worden war, als einen einzelnen Schlafgast zu beherbergen. Das Mobiliar wirkte verloren angesichts der hohen Wände und der großen Fläche. Der ganze Raum strahlte eine gewisse altmodische Behäbigkeit aus. Zwar war die ursprüngliche Nutzung schon lange Geschichte, doch nistete sie noch immer als Gedanke in dem kalten, robusten Mauerwerk: Man konnte sich Schultische mit kleinen Stühlen, eine dunkelgrüne Tafel und aus Buntpapier ausgeschnittene Blumen an den Wänden gut vorstellen. Inzwischen jedoch standen schlichte, leidlich hübsche Möbel aus hellem Holz darin: Ein Bett, daneben ein Nachttisch, ein Schreibtisch mit Stuhl, eine Kommode und der Schrank, in dessen Untiefen sich ein zweites Kissen und eine weitere Decke befanden. Als würde er nachts verbotenen Besuch bekommen! Norbert dachte daran, dass Ingrid längst ihre Nase in die Bettwäsche gesteckt hätte, um festzustellen, ob sie nach Hund, Schimmel oder anderen Menschen roch.

Oder Weichspüler. Den Geruch von Weichspüler hasst Ingrid ganz besonders. Hatte sie ganz besonders gehasst, berichtigte sich Norbert. Er lächelte. Doch es war keine Freude in seinen Augen.

Der Blick aus einem der Fenster offenbarte einen wundervollen Rundum-Ausblick in eine weite, hügelige Landschaft. Vor dem Gebäude, in dem sie sich befanden, führte eine gekieste Auffahrt zu einem schmalen Weg, der gerade so ein Auto durchließ, wenn es sich nicht gerade um einen SUV handelte. Er war umgeben von Hecken und Bäumen und führte in Richtung der einzigen Landstraße, die das Anwesen mit der Außenwelt verband. In etwas größerer Entfernung wurde die Vegetation weniger und ging schließlich über in weite Felder, die wie grüne und braune Teppiche in den Himmel leuchteten.

Norbert, noch immer ein trauriges Lächeln auf den Lippen, wendete sich ab und zog die Vorhänge zu. Seit Ingrids Tod mochte er weder die unbeherrschte Aufdringlichkeit der vorfrühlingshaften Landschaft, noch das in den Augen stechende Sonnenlicht. Eine dämmrige, schwüle Höhle kam seinem innerlichen Befinden am nächsten. Deshalb gestaltete er seine Umgebung in diesem Sinne, auch wenn andere ihn für verrückt erklärten. Es habe keinen Sinn, sich selbst zu bestrafen, sagten sie dann, Rückzug und Isolation seien schädlich und überdies sei die Trauerzeit längst ausgereizt. Als hätten Uhr und Kalender darüber zu bestimmen, wie lange und wie intensiv er zu leiden hatte! Norbert hatte aufgehört, über seinen Kummer zu sprechen und wenn ihm jemand erklärte, Ingrid sei nun schon so lange tot, er könne es sich doch einmal wieder gut gehen lassen, dann winkte er ab und wechselte das Thema. Die Gespräche über Ingrid waren sowieso immer weniger geworden, wie das Wasser in einer Pfütze, die langsam von der Wüstensonne aufgezehrt wird. Für Verwandte, Freunde und Bekannte ging das Leben weiter und Ingrid hatte niemandem wirklich nahegestanden. Nur ihm, Norbert, der sie mit verzweifelter Innigkeit geliebt hatte, selbst dann noch, als ihr weicher Kern schon nicht mehr da war, um diese Liebe zu empfangen und zurückzugeben.

Norbert schichtete kleine Sockenkugeln neben den Hosenstapel und hängte seine drei fadenscheinigen Pullover auf einen Bügel. Dunkelblau, grau, schwarz. Der ist hässlich, hörte er Ingrid zu dem Pullover mit dem schwarzen Zopfmuster sagen. Er macht dich fett. Fett allein geht ja noch. Aber fett UND unattraktiv ist eine schlechte Mischung. Norbert sah an sich herunter. Nackte Füße mit verhornten Zehennägeln in ausgetretenen Hausschuhen, spitze Knie, dürre Oberschenkel. Fett war er nie gewesen, doch inzwischen war er nicht mal mehr mollig. Der Wohlstandsbauch seiner mittleren Jahre hatte sich längst verabschiedet. Sein Appetit hatte sich zusammen mit Ingrid ins Grab gesenkt, vor vier Jahren auf diesem nebligen Friedhof. Dünn und auf eine unansehnliche, fast unwürdige Weise gebeugt, schleppte sich sein 67 Jahre alter Körper durch den Rest seines Lebens, das hoffentlich kein langes Nachspiel mehr beinhaltete.

Er seufzte. Zog die Tagesdecke glatt, weil der Koffer Spuren hinterlassen hatte, (Ingrid mochte keine Unordnung), schaltete probeweise die Nachttischlampe ein und wieder aus, die ein trübes Licht zeigte und legte ein zerlesenes Buch auf den Nachttisch. Daneben seine Lesebrille, die Augentropfen, eine Packung Taschentücher. Er hatte kein Foto von Ingrid bei sich. Ihr Bild trug er auch nicht im Herzen, wie man so schön sagt. Seine Vorstellung von Ingrid war so tief in den dunklen Katakomben seiner verlorenen Gefühle verborgen, dass er nicht mehr herankam. Alles, was geblieben war, war ihre Stimme: Räum den Tisch ab! Beeil dich ein bisschen! Lass den Motor nicht so lange laufen! Mäh den Rasen, aber sei nicht so laut dabei, sonst beschweren sich die Nachbarn! Krempel deine Jeans auf links, bevor du sie in den Wäschekorb wirfst! Kannst du denn überhaupt nichts, Norbert Böhning? Verdammt noch mal!

Nachdem Norbert sein Gepäck verstaut hatte, wusste er nicht mehr, was er tun sollte. Abendessen gab es um sechs, wie ihm gesagt worden war. Jetzt konnte es kaum fünf sein. Er überlegte, ob er seine Nase in das eselsohrige Buch stecken sollte, das auf dem Nachttisch lag, doch ihm fehlten häufig die Ruhe und Konzentration für jede Art von Lektüre. Er würde ein, zwei Seiten lesen, dann aufstehen, rastlos durchs Zimmer tigern und direkt vergessen, was er gelesen hatte. Schon auf Seite drei gelangte er nicht mehr zum roten Faden der Geschichte zurück und wäre genauso gelangweilt wie vorher. Nur diesmal mit dem Zusatz, sich wie ein Versager zu fühlen. Weil er es nicht mal hinkriegte, drei Seiten zu lesen und sich zu merken, was darinstand. Als ihm einfiel, dass er seine Kulturtasche noch nicht ausgeleert hatte, überkam ihn Erleichterung: Wieder zehn Minuten sinnvoll gefüllt. Er konnte damit, wenn er sich Zeit ließ, die Stunde bis zum Abendessen überbrücken. Zwar gab es im „Zentrum“, wie sein Psychiater den Ort seiner neuen Therapie genannt hatte, Gemeinschaftsduschen und -toiletten, in die er seinen Kulturbeutel in Gänze mitnehmen musste, doch es sprach nichts dagegen, nachzusehen, ob er alles dabeihatte. Falls etwas fehlte, hatte der Therapeut gesagt, konnte man den Fahrer informieren, der die Bewohner im Lauf des Tages vom Bahnhof abgeholt hatte, und die notwendigen Besorgungen erledigte. Vorsicht ist besser als Nachsicht, hörte er Ingrid in seinem Kopf. Und, etwas lauter: Hast du etwa schon wieder etwas vergessen?

Als Norbert gerade Zahnbürste, Kamm und Seifendose auf den Schreibtisch legte und feststellte, dass tatsächlich etwas fehlte – nämlich sein Rasierpinsel – hörte er Stimmen. Ein Mann und eine Frau stritten sich. Sie schimpfte, er schrie. Erfolglos unterdrücktes, eindeutig weibliches Schluchzen. Stille, nur ein paar Sekunden lang. Eine Tür knallte, dann brüllten beide im Duett. Waren sie auf dem Flur oder im Nebenraum? Norbert trat wieder in sein Zimmer und spitzte die Ohren, um herauszufinden, aus welcher Richtung der Lärm kam. Ob es an den dicken Wänden oder an der Inkompetenz seiner gealterten Ohren lag, dass er keine Worte vernehmen konnte, war unklar. Aber es ärgerte ihn, den Inhalt der Auseinandersetzung nicht verstehen zu können. Eigentlich hätten ihm bei einem Streit die Haare zu Berge stehen sollen – es hatte im Lauf seines Lebens Tausende davon gegeben und nicht einer davon war fair oder glimpflich verlaufen. Doch anstatt erleichtert aufzuatmen, weil das Gekeife und Gemotze endlich ein Ende hatte, vermisste er es ebenso sehr wie Ingrids sauer eingelegte Bohnen oder die Farbe ihres Nagellacks. Selbst das größte Elend war ein vertrauter Freund, weil das Unbekannte sich immer als Feind entpuppte. Er hätte alles dafür gegeben, Ingrid noch einmal fluchen zu hören.

Bevor Ingrids altbekannte Litanei (Steh mir nicht im Weg herum! Räum dein Zeug weg! Sei doch nicht immer so grässlich konservativ!) erneut die Aufmerksamkeit seines Bewusstseins ergaunern konnte, setzte der Konflikt sich fort. Die beiden Streithähne waren den Stimmen nach zu urteilen zwischen zwanzig und dreißig und hatten das Nebenzimmer belegt. Norbert legte das Ohr an die Wand und konnte nun einzelne Fetzen des leidenschaftlich gebrüllten Disputs verstehen. Es ging um eine Klamotte, die nicht eingepackt und vergessen worden war, aber dringend benötigt wurde, und um einen Blick, den die junge Frau dem Fahrer beim Aussteigen wohl geschenkt hatte. Norbert labte sich an den streitenden Stimmen. Er selbst hatte seine eigene Stimme selten erhoben. Er erinnerte sich nicht einmal daran, wie sie klang, wenn er wütend war. Aber Ingrid… Er lächelte sein maskenhaftes Geisterlächeln. Eifersucht, der Klassiker. In seinem Haus hatte er bei den Gründen für eine Auseinandersetzung ungefähr auf Platz fünf gestanden. Vierzig Jahre lang hatte Norbert, wenn er einer Frau vorgestellt worden war, nur auf deren Füße gestarrt. Er kannte alle Farben, Formen und Arten weiblicher Schuhe. Sogar die Designer wusste er zu benennen, die sie hergestellt hatten. Doch es hatte nie genügt: Ingrid wurde fuchsteufelswild, wenn ein weibliches Wesen, egal, wie unscheinbar oder alt es sein mochte, auch nur in seine Nähe kam.

Glas klirrte. Die Unbekannte stauchte den Mann zusammen, der offenbar im Eifer des Gefechts die Lampe vom Nachttisch gefegt hatte. Dann begann sie wieder zu weinen. Norbert entschied sich, nebenan zu klopfen und zu fragen, ob alles in Ordnung war. Zwar fühlte er sich irgendwie wohl in seiner Rolle als unbeteiligter Beobachter eines heftigen Konflikts, doch wenn nun schon Gegenstände zu Bruch gingen, dann war es bis zur ersten Gewalthandlung nicht mehr weit. Das durfte er nicht zulassen. Auch, wenn er nur ein peinlicher kleiner Gaffer war, der sich an den Dramen der anderen berauschte, hatte er doch genug Moral im Leib, um zumindest eine körperliche Versehrtheit der Beteiligten zu verhindern. Zugleich konnte er sich noch vor dem Abendessen die Duschräume anschauen.

Norbert verließ sein Zimmer und wandte sich im Flur nach rechts. Er hatte das letzte Zimmer bekommen und musste daher den Weg durch das gesamte Gebäude zurücklegen, um zum Klo zu gelangen. Das hatte er beim Hereinkommen bereits geprüft. Während die Zimmer durch die Möbel zumindest ein bisschen den Anschein eines billigen, aber durchaus gemütlichen Hotels hatten, empfingen die Flure ihre Besucher mit einem fast geisterhaften Flair.

Das zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts erbaute Gebäude war augenscheinlich niemals saniert worden und zeigte noch immer die gleichen grau melierten Steinböden und massiven Türen wie eh und je. An der linken Seite prangten spinnwebenverzierte, fest eingebaute Garderoben aus Holz, deren dunkelgraue Farbe abblätterte. Darüber befanden sich Fenster, die nicht zu öffnen waren. Norbert konnte sich gut vorstellen, wie hier die Schüler von einst durch die Flure gerannt und auf die Garderoben geklettert waren, um nach draußen zu blicken. Rechts befanden sich die Zimmer der Bewohner, die an der Studie teilnehmen, sechs an der Zahl. Es gab vier Etagen und darüber einen Dachboden, den vermutlich seit fünfzig Jahren niemand mehr betreten hatte. Norbert war mit seinem Koffer in der Hand die Wege bei seiner Ankunft einmal alle abgelaufen, um eine erste Orientierung zu erhalten. Die untere Etage beherbergte eine Turnhalle, einen Aufenthalts- und einen Speiseraum, hinter dessen Theke sich die Küche befand, sowie die Therapieräume und Mitarbeiterbüros. Darüber waren die Schlafräume der Gäste, von denen Norbert noch keinen kennengelernt hatte. Im dritten Stockwerk schliefen die Angestellten, die den Studienteilnehmern ihren Aufenthalt versüßen sollten. Auch in diesem Flur herrschte ein hohles Echo, wenn man seine Stimme erhob. In der obersten Etage hatte er sich nicht lange umgesehen. Sie war kleiner als die unteren, als liefe das gesamte Gebäude nach oben hin spitz zu, und war ihm nicht interessant genug erschienen. Außerdem war der Koffer schwer gewesen. Zu viel eingepackt, hätte Ingrid genörgelt.

Norbert ging ein paar Schritte bis zum nächsten Zimmer und wollte gerade bei dem streitenden Paar an die Tür klopfen, als sich eine weitere Tür öffnete. Er ließ die Hand sinken. Eine Frau trat in den Flur, der bereits reichlich dämmrig wurde, weil die Flurfenster Richtung Norden zeigten und Regenwolken sich vor die Sonne geschoben hatten.

„Oh, Guten Tag!“

Die Frau kam auf ihn zu. Norbert hob den Kopf ein Stück, stellte fest, dass Ingrids Stimme nur in seinem Inneren war und wagte es, nicht ohne Trotz, ganz aufzusehen. Er konnte ja wohl auch nicht so unhöflich sein, den Gruß nicht zu erwidern.

„Guten Tag“, gab er zurück, griff aber nicht nach der Hand, die ihm dargereicht wurde. Die Frau war vielleicht Mitte fünfzig, klein und korpulent. Durch ihre ungewöhnliche Aufmachung wirkte sie älter, als sie war: Sie trug ein rotes Kostüm, einen farblich passenden Hut und ebensolche Pumps aus glänzendem Lack. Dicke Schminke hatte sich in ihren Fältchen abgesetzt. Die Wimpern waren stark getuscht, die Lippen knallig angepinselt, die Augen in blauem Lidschatten ertränkt. Er schauderte, aber er wusste nicht, ob wegen des Anblicks oder weil er Ingrid schon wieder hörte: Was will DIE denn hier! Angemaltes Miststück! Schleppt sich auf ihren fetten Beinen nur durch die Weltgeschichte, um treusorgenden Frauen den Mann auszuspannen! Ganz so radikal hätte Norbert die Fremde wohl nicht beurteilt, doch er war sich nicht einig, ob er sie attraktiv oder abstoßend finden sollte. Sie bot für beide Varianten genug Gelegenheit.

„Ein gestandener Mann in diesen düsteren Hallen!“, ließ sich nun die Dame vernehmen. „Wunderbar, ich dachte schon, ich müsste darben! Wochenlang eingesperrt und keine Gelegenheit für eine kleine Streicheleinheit!“ Ihr Busen wogte, als sie tief Luft holte. Er konnte ihr pudriges Parfüm riechen. Es machte ihr anscheinend überhaupt nichts aus, dass er ihren Händedruck nicht erwidert hatte. Sie zündete sich eine Zigarette an und wedelte mit den Händen den Rauch beiseite. Der Rotton ihrer Fingernägel harmonierte nicht mit den Farben von Kleidung und Lippenstift. Es fiel Norbert sofort ins Auge. Ingrid legte großen Wert darauf, immer wie aus dem Ei gepellt auszusehen. Und weil sie im Lauf der Jahre all ihre Freundinnen wegen irgendwelcher Kleinigkeiten verprellt hatte, war ihr nur der Gatte geblieben, um sie in Stylingfragen zu beraten.

„Man darf hier sicher nicht rauchen“, wagte er schüchtern einzuwerfen. Hinter der Tür ging der Streit munter weiter. Die Pärchen hatte wieder damit angefangen, sich anzuschreien und irgendein weiterer zerbrechlicher Gegenstand war gegen eine Wand geflogen.

„Bis ich den Flur durchquert habe, hab ich sie fertiggeraucht“, gab die Fremde zurück. „Diese Flure sind ja länger als eine Rennstrecke im Stadion! Das wird schon keiner merken. Wer sind Sie?“

„Norbert Böhning“, beeilte sich Norbert zu sagen. Willst du sie nicht gleich fragen, ob sie die Nacht bei dir verbringen will? Ingrid. Sie stichelte wieder, obwohl sie seit Jahren unter der Erde lag.

„Norbert Böhning aus…“, wiederholte er und schnell genug fiel ihm ein, dass zu den Regeln gehörte, seinen Wohnort nicht zu verraten. Alles andere durften sie mit der Gruppe teilen. Norbert fand diese kleine Einschränkung nicht schlimm. Er war ohnehin ein Mensch, der sich immer an die Regeln hielt. „Ich bin Buchhalter“, ergänzte er, weil ihm nur der Name als zu unbedeutend erschien. „Ich war Buchhalter, wollte ich sagen. Ich bin im Ruhestand seit…“

„Ich bin Marlene Koch“, unterbrach die rotgekleidete Frau ihn und nahm einen Zug. „Marlene, wie die Dietrich. Ich bin Schauspielerin. Hast du Fragen dazu? Bestimmt hast du Fragen. Die Leute haben immer Fragen. Schauspieler sind faszinierende Geschöpfe und jeder will sie um sich haben.“ Sie ging nicht auf das ein, was Norbert gesagt hatte. Norbert zeigte zur Tür.

„Sollten wir nicht mal klopfen und fragen, ob alles in Ordnung ist?“

Marlene verzog das Gesicht. Sie wirkte nun ein bisschen wie der Joker aus Batman. Einen Moment lang überwog das Gruselgefühl die Faszination. Schlampe!, rief Ingrid. Sie bezeichnete alle stark geschminkten Frauen als Schlampen und wenn sie eine gesehen hatte, schimpfte sie eine Weile. Danach ging sie in die Drogerie und suchte nach genau dem Lippenstift, den die jeweilige Schlampe getragen hatte. Hatte gesucht, berichtigte Norbert sich. Er musste wirklich damit aufhören, so zu tun, als sei sie noch da.

„Was gehen uns die Streitereien fremder Leute an!“ Marlene paffte ungerührt weiter. Nach einer kurzen Überlegung hellte sich ihr Gesicht auf und sie verkündete:

„Aber vielleicht wollen die jungen Leute auch mal eine berühmte Schauspielerin kennenlernen! Ich gebe auch Autogramme! Ich hab das Gretchen gespielt, wissen Sie, Herr… Aus dem „Faust“. Es ist schon lang her…“

Erstaunt und etwas angewidert beobachtete Norbert, wie ihr die Tränen in die Augen traten. In ebenso schnellem Wechsel kehrte das breite Grinsen in ihr Gesicht zurück, das sie zu Anfang bei der Begrüßung gezeigt hatte. Mitleid stieg in ihm auf, ungewollt. Und Scham, ein ganz scheußliches Gefühl. Du solltest dich was schämen, Norbert! Du bist kein richtiger Mann!

Wieder stieg ihm Marlenes Parfüm in die Nase, irgendwas Schweres und Sinnliches, das Übelkeit in ihm weckte. Sie war ganz nah herangetreten. Instinktiv ging er einen Schritt zurück.

„Ich wollte eigentlich schauen, wo die Toiletten sind“, hauchte sie in einem völlig unangemessenen Tonfall, als wolle sie ihn zu einem Stelldichein verführen.

„Kommen Sie mit, Herr…?“

„Böhning.“ Bewusst bemühte sich Norbert, seiner Stimme einen festen Klang zu geben. Machte ihn diese Madam (Schlampe!) gerade an? Das war ja nicht zu glauben! Ingrid würde ausrasten! Und ihn auslachen! Du alter Sack, würde sie rufen, wer will dich denn schon zum Galan? Und wehe, du machst ihr schöne Augen!

Er wendete den Blick ab. Lauschte zur Tür hin. Stille. Es war nur Marlene zu vernehmen, die den Rauch hörbar aus dem Mund pustete. Ein hallendes Klackern, als sie zum Waschbecken an der Wand ging, ein uraltes Ding. Quietschen, Wasserplätschern. Sie hielt den Zigarettenstummel darunter. Im Zimmer der Streithähne war es leise geworden.

„Die versöhnen sich jetzt auf der Matratze.“ Marlene warf den nassen Stummel in die Garderobe und hakte sich bei Norbert unter, um ihn mitzuziehen.

„Was ist jetzt, suchen wir die Klos oder wollen wir ewig hier rumstehen?“

Eigentlich hätte Norbert sich losmachen wollen, doch er wagte es nicht. Er ließ sich führen wie ein Kind und hatte, bis sie bei den Waschräumen ankamen, ein flaues Gefühl im Magen.

Kapitel 4

Herr im Himmel! Das waren tatsächlich lauter Bekloppte hier! Sebastian Berg, Kinderbuchautor mit Schreibblockade, hatte nur zwei von ihnen bereits vor dem Haus und im Flur getroffen. Trotzdem war ihm längst klar, dass seine fünf Mitbewohner seitenlange Akten in Klinikschränken füllten. Die rote Frau mit den ordinären Krallen, die sich den Koffer tragen ließ und sogleich den Fahrer angebaggert hatte, woraufhin diesem die Röte ins Gesicht gestiegen war. Das Pärchen, das vor der Blumenrabatte knutschte, als sei es frisch in den Flitterwochen gelandet, und sich zwei Minuten später anfauchte wie zwei gereizte Katzen, Er: Typ arbeitslos in Jogginghose, Sie: Typ unscheinbares Hausmütterchen ohne eigenen Willen. Wer mochte hier noch absteigen? Eine Sekunde lang wurde ihm heiß und kalt und er bereute, sich darauf eingelassen zu haben. Hieß es nicht, dass Verrücktheit ansteckend war? Doch wenn er diese Schreibblockade, die ihn langsam aber sicher in den Ruin trieb, nicht in den Griff bekam, dann blühte ihm das gleiche Schicksal wie der Jogginghose: Kein Cent mehr auf dem Konto, nicht mal mehr für das abendliche Pils.

Hier, da war er sich sicher, würde er genug Stoff für seine neue Geschichte finden. Er konnte ganz im Geheimen die Verrückten studieren und mit seinen Beobachtungen die Seiten seines Notizbuchs füllen. Elektronische Geräte wie ein Laptop oder ein Handy waren verboten im „Zentrum“, daran würde er sich auch halten. Denn wenn er dabei erwischt wurde, flog er raus und das womöglich, bevor er seine Recherchen vollendet hatte. Aber das war in Ordnung. Er hatte Papier und einen Zehnerpack Bleistifte im Gepäck und er schrieb schnell. Viele Autoren von Weltrang hatten ihre Werke auf diese Art festgehalten. Für ihn würde es auch gut genug sein. Mit den Kinderbüchern war er überdies fertig. Diesmal sollte es etwas Hochwertiges werden: ein wirklich wichtiges Produkt, das einen ernsthaften und tiefgehenden Blick auf die Welt von Menschen ermöglichte, deren Seelen zerbrochen waren.

Sebastian Berg warf die Tasche aufs Bett. Hässliches Riesenzimmer. Schlecht verputzte Wände, abgeschabter Holzboden, knarrendes Bett. Sammelduschen für die Verrückten, Klos mit Spülkästen, die unter der Decke hingen, mit einem Porzellangriff an einer Kette. Und dafür war er sieben Stunden gefahren? Nicht dafür, sagte er sich, um sich aufzuheitern. Sondern für deine literarische Zukunft.

Die Matratze war viel zu weich, aber vermutlich neu. In diesem Bett hatten noch nicht viele Leute geschlafen. Er zog sein Notizbuch aus der Reisetasche und hielt stichwortartig seine Eindrücke fest.

Es klopfte. Noch bevor er den Störer hereinrufen konnte, stand dieser schon in der geöffneten Tür. „Er“ war jedoch eine „Sie“. Zarter Porzellanteint, fransiges schwarzes Haar mit einem stumpf geschnittenen Pony, der ihr in die Augen hing, harmonische Züge, grimmiger Gesichtsausdruck. Hübsches Ding! Und jung! Höchstens Mitte zwanzig! Schlagartig hellte sich seine Miene auf. Ihre wurde noch verschlossener. Diesen Blick, wenn Männer unerwartet ihre Reize entdeckten, kannte sie wohl schon.

Sie hielt sich nicht damit auf, sich vorzustellen, wer sie war oder ihn nach seinem Namen zu fragen.

„Jeder kriegt hier Aufgaben übertragen“, sagte sie mit einer melodischen Stimme, die gar nicht zu ihrem ablehnenden Auftreten passte. „Meine erste Aufgabe lautet, alle morgens zu wecken.“ Sie sagte es, als müsse sie ein besonders ekliges Essen hinunterwürgen.

„Ich mach das bestimmt nicht und fordere Sie deshalb auf, sich einen Wecker zu stellen.“

Sebastian konnte nicht anders, als zu grinsen. Das fing ja gut an. Da weigerte sich die Erste schon, die ihr zugetragenen Tätigkeiten auszuführen? Das würde bestimmt für Reibereien sorgen. Machte sie sich gar keine Sorgen darüber, dass sie rausfliegen konnte?

„Ich bin nicht freiwillig hier“, beantwortete sie seine Frage, obwohl er sie nicht laut gestellt hatte. „Sprich mich nicht an und halt dich fern von mir.“

Zimmer drei, notierte Sebastian. Weiblich, jung, sexy, kratzbürstig, ohne Manieren, zwangseingewiesen. Er hatte gedacht, die Teilnahme an der vielversprechenden Studie erfolge aus freien Stücken. Gut, es gab da diese Klausel, die alle hatten unterzeichnen müssen. Aber jeder hatte vorher entscheiden dürfen, ob er teilnehmen wollte. Oder etwa nicht?

„Ich hab keinen Wecker dabei, denn wie du bestimmt weißt, mussten wir ja beim Einchecken unsere Telefone abgeben. Du wirst uns also alle wie befohlen pünktlich in den Tag begleiten.“ Er grinste immer noch. Mädels wie sie verschlang er noch vor dem Frühstück als Appetithäppchen. Auch dieses hier würde bestimmt auftauen, wenn er seinen Charme erst einmal hatte spielen lassen.

„Fick dich“, gab sie zurück und verschwand.

„Lieber dich“, sagte Sebastian zum leeren Zimmer. Im Flur erhob sich Geschrei. Entweder, die widerspenstige Süße aus Zimmer drei hatte einem weniger verständnisvollen Nachbarn ihre Arbeitsverweigerung verkündet, oder das Pärchen aus Nummer fünf hatte eine neue Runde seines permanenten Ehestreits eingeläutet.

Kapitel 5

Für Sandra Kliewer gab es eine Menge zu tun, wenn sie eigentlich auch über ihrer Hausarbeit hätte sitzen sollen:

Es war Wäsche zu waschen, der Keller musste aufgeräumt werden, die Kleidung aussortiert, ein neues Kuchenrezept ausprobiert, zur Entspannung ein Buch gelesen, die Blumen gegossen werden. Freunde zogen sie damit auf, dass sie die Königin der Prokrastination sei. Es grenzte an ein Wunder, dass sie trotzdem jedes Semester die Abgabefristen einhielt. Dafür arbeitete sie die Nächte zuvor durch, weil erst eine wirklich knappe Deadline sie an den Computer zwang. Und hier, vor der Tastatur, da lauerte die größte Hürde: Sieben Spiele lockten aus den Tiefen der Festplatte mit neuen Levels. Und die sozialen Netzwerke schliefen nie. Sie zappelten wie lebendige kleine Tiere, die beachtet werden wollten. Sie liefen über von einer Flut an Informationen, welche die Leute aus aller Welt für wichtig hielten und stupsten ständig an Sandras virtuelles Knie. Sie buhlten mit allen Mitteln um ihre Aufmerksamkeit. Mindestens fünfzigmal am Tag klickte Sandra sich in die Fülle der Postings hinein und las Artikel über verkehrspolitische Fehlentscheidungen, Anzeigen für Hundefutterwerbung und Abnehmtipps.

Sie schaute Videos von maunzenden Kätzchen, tanzenden Pinguinen und über die richtige Methode zum Einpacken von Geschenken, statt die Liste von Medikamenten zu lernen, die nächste Woche in der Klausur drankamen. Sie kommentierte, likte, gratulierte, verschickte Herzchen und Blümchen und stellte jede Woche ein neues Selfie online. Sie fühlte sich angenommen und geliebt im Kreis ihrer „Freunde“ im Netz und vergaß, wann sie das letzte Mal auf einer echten Party gewesen war.

Vor kurzem war sie auf ein neues Netzwerk gestoßen, in dem sich schnell „Freunde“ fanden. Dort tummelten sich Leute, die nach eigener Aussage Interesse an Psychologie – Sandras Studienfach – hatten und so hoffte sie, auf Gleichgesinnte, vielleicht sogar Lernpartner, zu treffen. Natürlich war das nur die halbe Wahrheit, denn auch hier wurden süße Katzenfotos, politische Kritiken und Prominente in kurzen Kleidchen geteilt. SOCIETAS war ständig verfügbar, überaus unterhaltsam und es gab immer jemanden, der sich zu einem Gespräch fand. Für Sandra war das reizvoller als die Liste von Neuroleptika, die es zu erarbeiten galt. Obwohl sie chattete und Bildchen anklickte, statt zu lernen, konnte sie sich selbst mit der Ausrede beruhigen, sich immerhin mit psychologischen Themen zu befassen. Mehr oder weniger jedenfalls. Das genügte, um dem schlechten Gewissen den Garaus zu machen. Immerhin gab es ja auch Foren für Menschen mit langen Haaren, in denen Pflege- und Frisurentipps ausgetauscht wurden. Oder welche für Jäger… Motorradfans… Modepüppchen… Bücherliebhaber. Da regte sich auch niemand darüber auf, dass Menschen Stunden damit verbrachten, sich durch die Beiträge zu klicken, statt einer sinnvollen Tätigkeit nachzugehen! Der Tag war hart gewesen und sie hatte es sich verdient, ein bisschen zu entspannen! Ein halbes Stündchen noch, bevor das Lehrbuch rief…

Sandra ließ sich, nachdem die Wäsche aufgehängt und der Kuchen gebacken war, auf dem Sessel nieder und las ein bisschen in den neusten Meldungen ihrer Timeline bei SOCIETAS. Einen Unfall, der in der Nacht passiert war, und die Diskussion über den mutmaßlich betrunkenen Fahrer klickte sie weg. So etwas mochte sie nicht lesen. Gab es nicht einen witzigen Spruch, der sie aufheiterte, bevor sie sich dem Lernstoff widmen musste? Ein rotes Herzchen und ein helles PLING zeigten neue Nachrichten an. Na endlich! Nun würde sie doch um den öden Lernstoff herumkommen! Nachrichten mussten schließlich sofort beantwortet werden, das gebot die Höflichkeit. Und bestimmt würde sich daraus ein Gespräch ergeben, das bis in die Nacht hinein dauerte. Doch bevor sie die Nachricht anklicken konnte, fiel ihr der Beitrag einer offenen Gruppe namens „Die meisten Likes“ ins Auge. Er ploppte in einem Pop-up-Fenster auf wie eine Werbung und lockte mit der Aufschrift: Willst du die Welt verändern? Zwar ärgerte sich Sandra, dass sie auf diese plumpe Masche hineinfiel, doch sie konnte es nicht verhindern: Sie hatte die Seite der Gruppe schneller angeklickt, als sie überlegen konnte, ob sie tatsächlich die Welt verändern wollte, und wurde auf eine schlicht gestaltete Seite weitergeleitet. In diesem virtuellen externen Raum wurde sie mit einer direkten Ansprache und einer sehr merkwürdigen Frage begrüßt.

Herzlich willkommen,

liebe Nutzerin, lieber Nutzer!

Alle Teilnehmer des Experiments sind sicher gelandet!

Welchen Verlauf wird der erste Abend im „Zentrum“ wohl nehmen? Bitte stimmt ab!

Kerstin und Silvio küssen sich

Mia trinkt ein Glas Essig

Norbert erzählt, warum er hier ist

Bislang hatten nur wenige Leute abgestimmt, zwei für Norbert, zwei für Mia und drei für Kerstin und Silvio. Die Abstimmungsergebnisse befanden sich hinter den Antwortoptionen in Klammern. Es gab keine Kommentare, obwohl die Möglichkeit bestand, welche zu posten.

Sandra las den Beitrag erneut. Was war das denn für ein Käse?! Sie scrollte ein Stück nach unten und stieß auf ein Video, das von recht guter Qualität war. Es zeigte eine Gruppe von Menschen, die an einem großen Tisch saßen und offenbar speisten. Die Gesichter waren klein, aber erkennbar. Niemand sprach. Kantine stand darunter. Sandra scrollte weiter. Es gab noch mehr Videos, die allerdings leere Räume zeigten. Sie waren mit Zimmer zwei bis Zimmer sechs beschriftet. In einem der Zimmer stand eine Reisetasche auf dem Bett. In einem anderen lag ein Notizbuch auf dem Tisch, daneben eine Packung mit Stiften. In einem dritten hing ein roter Hut an einem Haken an der Tür.

Sandra schüttelte ungläubig den Kopf. Zentrum? Abstimmen? War das eine dieser Big-Brother-Shows, die in den Nuller Jahren so beliebt gewesen waren? Die Leute auf dem Video sahen allerdings nicht so aus, als ob sie ahnten, dass sie gefilmt wurden.

Unter dem Beitrag mit der Bitte um Abstimmung blinkte ein Satz rot auf: Abstimmung endet in zehn Sekunden! Die Ergebnisse hatten sich nicht verändert. Im Video griff ein hagerer Mann mit schütterem Haar und einem schwarzen Anzug zu einem Handy, überprüfte etwas, legte es weg. Sagte in die Runde kauender, schweigender Menschen:

„Ich finde es schön, dass ihr euch wieder versöhnt habt, Kerstin und Silvio. Vielleicht möchtet ihr euren Frieden mit einem Kuss krönen?“

Zwei junge Leute blickten auf und sich dann zögernd an. Die Frau mit schmutzigblonden, schlecht geschnittenen Haaren beugte ihren Kopf zu dem Mann an ihrer Seite und ließ sich ein scheues Küsschen auf die Lippen drücken. Dann widmete sie sich wieder ihrem Fisch und den Kartoffeln.

Danke für die Abstimmung!, blinkte es unter dem Beitrag. Verpasst nicht das nächste Highlight! Dranbleiben!

Sandra kam diese Seite ganz und gar nicht geheuer vor. Sie hatte das Gefühl bei etwas Verbotenem ertappt worden zu sein, so stark, dass ihre Wangen glühten. War es ein Gefühl von Scham, weil sie diese Fremden anglotzte wie Fische in einem Aquarium? Oder wurde sie hier nach Strich und Faden verarscht?

Es gab weitere Videos: Gesellschaftsraum, Therapieraum, Turnhalle, Flur eins bis zehn. Sogar in die Duschen erhielt man Einblick, allerdings waren diese Kameras freundlicherweise auf die Fliesen an der Wand gerichtet. Man würde aber sicherlich hören können, was gesprochen wurde. Ein letztes Video war gerade nicht eingeschaltet und zeigte ein Fragezeichen. Sandra lief es kalt über den Rücken. Wussten diese Menschen, dass sie auf Schritt und Tritt gefilmt wurden? Und welche Spinner sahen sich so etwas an? Was sollten diese ominösen Abstimmungen? Dienten sie der Unterhaltung? Belustigung? Sie scrollte und klickte noch ein bisschen herum, aber bis auf die Videos und den einen Beitrag ganz oben auf der Startseite gab es keine Erklärungen. Die Gruppe selbst, die zum SOCIETAS-Netzwerk gehörte, hatte zehn Likes. In der Welt des Internets war das gar nichts, nicht mal ein Achtungserfolg.

Sandra mochte sich nicht mehr mit der Absurdität der menschlichen Erheiterung befassen. Sie war müde und frustriert, weil sie es nicht schaffte, sich den Lernstoff anzueignen. Deshalb beschloss sie, ein Stück von dem frischgebackenen Kuchen zu essen und sich dann mit dem dicken Wälzer „Klinische Psychologie“ ins Bett zu verziehen. Sie stand kurz vor dem Abschluss und konnte es sich nicht leisten, Zeit zu verlieren, und schon gar nicht an so eine bescheuerte Seite in einem Netzwerk, das auf peinliche Art Menschen zur Schau stellte wie Affen in einem Zoo. Sandra schaltete den Computer aus und nahm sich vor, ihn das ganze kommende Wochenende nicht mehr einzuschalten.

Kapitel 6

Dieser Job war eine Goldgrube! Er war nicht wahnsinnig aufwendig, alles andere als schwierig und er wurde hervorragend bezahlt. Die zeitlich befristete Stelle brachte alle Antworten auf Hermann Grafs Fragen: Wie sollte er die längst fällige Reparatur der Heizung im Eigenheim finanzieren? War noch die dringend nötige Durchsicht für das Auto drin? Konnte er seine Heidi einmal wieder ins Theater und Restaurant ausführen und trotzdem die Miete für die fleißig studierende Tochter Sina in der fernen Universitätsstadt bezahlen? Hermann konnte. Er war kein besonders guter Psychologe, weil ihm das endlose Gejammer der Patienten schnell auf den Keks ging. Aber er war offenbar gut genug, diese Stelle auszufüllen, die eine Vielzahl seiner Probleme in Luft auflösen und seine schlaflosen, sorgenvollen Nächte beenden würde.

Blieb der kleine Haken. Die klitzekleine, mickrige, kaum erkennbare, dennoch durchaus vorhandene Fußangel: Während der Therapiegespräche und im Zusammensein mit seinen Patienten im Rahmen des Projekts durfte Hermann frei schalten und walten. Aber nur bis zu diesem Moment, wenn sein Handy vibrierte und ihm das Ergebnis einer Abstimmung unmissverständlich mitgeteilt wurde. Dieses Ergebnis hatte er augenblicklich umzusetzen und jede Weigerung, jedes Nachfragen würde unweigerlich zu einer Rückkehr in seine alten Sorgen führen. Er bekam Anweisungen – er führte sie aus. Ein Verständnis der Zusammenhänge war dafür nicht notwendig. Wer ihm die Nachrichten schrieb, wusste Hermann nicht. Seine Bewerbung und das Auswahlverfahren zur Besetzung seiner Stelle waren ausschließlich über Internet-Korrespondenz gelaufen. Das Mobiltelefon hatte ihm bei seiner Ankunft der Typ in die Hand gedrückt, der in diesem Gebäude den Hausmeister spielte und sich um kaputte Leuchten oder verstopfte Toiletten kümmerte, um einen reibungslosen Ablauf zu gewähren. Ein grobschlächtiger Kerl ohne Manieren, der zustimmend oder ablehnend knurrte, wenn er etwas gefragt wurde. Im Gegensatz zu Graf selbst und der verhuschten, grauhaarigen Haushälterin schaute der Hausmeister nur sporadisch vorbei, aber so viel war auch nicht kaputt im Haus. Ein Wunder angesichts der vielen Jahre, die das Anwesen auf dem Buckel hatte. Es gab auch einen Koch, der wohl aus dem nächstgelegenen Ort kam. Er verschwand nach dem Abendessen nach Hause und stand morgens wieder vor der Tür, um Gemüse zu schneiden und Soße zu rühren. Ein hübscher und fähiger Kerl, der bestimmt eine lukrativere Stelle hätten finden können. Von den Angestellten hatte, soweit es Graf mitbekommen hatte, niemand Familie. Nun gut, für die nächsten Wochen würden diese Menschen hier ihre Familie sein. Eine merkwürdige Familie voller Eigenheiten, in der nicht alles rund lief.

Seine Anweisungen erhielt Graf von der ersten Stunde an via SMS oder Anruf. Der unbekannte Befehlsgeber – bislang immer freundlich und höflich – blieb eine nichtssagende Nummer in einem hell leuchtenden Display. Hermann Graf dachte nicht viel darüber nach. Ihm konnte es egal sein, wer auf welche Weise die Aufgaben verteilte. Hauptsache, sein Gehalt landete pünktlich auf seinem Konto und betrug die vereinbarte, durchaus üppige Höhe.

Die erste Sitzung fand mit Martha Koch statt, die Hermann schon beim ersten Anblick unangenehm fand. Freilich verbot es ihm seine Professionalität, auch nur den geringsten Hauch seines persönlichen Urteils über die Anwesenden zu zeigen. Deshalb begrüßte er sie mit einem Handschlag und bat sie mit einer jovialen Geste, Platz zu nehmen.

Das erste gemeinsame Frühstück am Morgen war einsilbig verlaufen. Man hatte Besteckklirren und Kaffeeplätschern gehört, höchstens mal die schüchterne Bitte: „Kannst du mir bitte den Brötchenkorb reichen?“ oder „Weiß jemand, wo das Salz steht?“. Niemand war über wenige Sätze Smalltalk hinausgekommen. Gut geschlafen? Kopfnicken. Die Sonne scheint heute, wie schön. Dezentes Lächeln. Namen wurden zwischen Sechs-Minuten-Ei, Honigtoast und Gurkenscheiben ausgetauscht, doch eine angespannte Stille behielt die Oberhand. Das Pärchen hatte missmutig und abweisend vor sich hin gekaut. Recht schnell war deutlich geworden, wie sie die Nacht verbracht hatten: ER mahlte nicht nur Kürbiskerne, sondern auch mühsam verdrängte Wut mit den Kiefern, SIE schmollte beleidigt vor sich hin, wendete sich demonstrativ von ihrem Mann ab und blies solange in ihren Tee, bis er kalt war.

Einzig Martha hatte sich um die seltsam stumme Atmosphäre nicht gekümmert, sie vermutlich nicht einmal wahrgenommen. Das Umfeld war für sie nur eine Ansammlung von Statisten, die wie ein Publikum im Theater ihre ganz persönliche Aufführung aufmerksam zu verfolgen hatten. Martha hatte munter zwischen zwei Bissen von ihren Katzen, verflossenen Beziehungen und schlimmen Trennungen, dem englischen Königshaus und ihrer „extrem schweren“ psychischen Krankheit erzählt. Niemand war auf ihr exaltiertes Geplapper eingegangen, doch auch das kümmerte Martha nicht. Erst, als die Haushälterin den Tisch einschließlich der leeren Kaffeekanne abräumte und verkündete, sie würde erst wieder zum Nachmittag welchen kochen, war Martha in Tränen ausgebrochen und hatte die ganze Welt verflucht, die ihr nicht mal das jämmerliche Vergnügen eines weiteren heißen, frischen Kaffees gönnte.

Jetzt setzte sie sich auf den Stuhl, der dem seinen gegenüberstand, mit rosigen Wangen und eine Parfümwolke verbreitend. Sie trug ein Millefleur-Kleid in Pastelltönen, das nicht nur ihrem Alter nicht angemessen war, sondern auch ihre breiten Hüften und den gigantischen Busen betonte. Das mausbraune Haar hatte sie zu einem unordentlichen Nest aufgesteckt und ihr intensives Make-up mochte schon vor dem Frühstück mindestens eine halbe Stunde in Anspruch genommen haben. Hermann seufzte.

„Sie sind also Frau Martha Koch?“, begann er, um die Personaldaten abzugleichen.

„Ich bin Marlene, wie die Dietrich“, erwiderte sie und lehnte sich im Stuhl zurück. In ihre aufgesetzt fröhliche Miene hatten sich bereits beim ersten Wort Skepsis und Unmut geschlichen. „Ich bin Schauspielerin“, ergänzte sie, in einem Ton, als müsse sie sich für ihren Beruf rechtfertigen. Sie rechnete wohl schon mit der Skepsis ihres Gegenübers. Wunder Punkt: Unerfüllter Berufswunsch, notierte der Therapeut. Selbstvertrauen desaströs. Steckt viel Energie in die Bemühungen, die gewünschte Fassade aufrechtzuerhalten. Wenig Empathie, egozentrisch, konfliktzentriert.

„Gut“, sagte Hermann Graf. Die Situation war mehr als gewöhnlich, die Diagnose der Dame eindeutig. Menschen wie sie, die sich immer in den Mittelpunkt drängten, mochte er nicht. Martha Koch war der Typ Mensch, der wie ein fauler Apfel mit lautem Getöse vom Baum fiel, unter Wehklagen und theatralischem Gejammer seine matschigen Fetzen in alle Richtungen versprühte und die Leute um sich herum damit besudelte.

„Wie geht es Ihnen heute, Frau Koch?“

„Ich habe schlecht geschlafen. Die Matratze ist viel zu weich und der Mond schien ins Zimmer, weil die Vorhänge nicht blickdicht sind! Auf dem Flur war Geschrei mitten in der Nacht, ich dachte, mir bleibt das Herz im Leibe stehen, weil ich mich so erschreckt hab!“

Er ließ die Beschwerden unkommentiert. Die Empörung würde sowieso schnell verrauchen und dann würde eine andere Empfindung sich die Aufmerksamkeit erobern oder sie kam an anderer Stelle mit neuen Begründungen zurück.

„Wie gefällt es Ihnen hier? Abgesehen von der Matratze und den Vorhängen?“

„Und dem Geschrei! Diesen beiden jungen Leute, die sind eine Zumutung! Unsereins braucht seinen Nachtschlaf und da wird keinerlei, wirklich keinerlei Rücksicht drauf genommen!“ Sie plapperte noch weiter und erwähnte den attraktiven Rentner aus Zimmer sechs, doch Hermann driftete gedanklich ein bisschen ab. Sein Unterbewusstsein war inzwischen so geschult, dass es automatisch wusste, wann Zuhören angesagt war und wann der Verstand und die Sinnesorgane eine unbemerkte Pause einlegen durften.

Der Therapieraum war ebenso hoch und schlicht wie alle anderen. Vor Jahrzehnten hatte man hier kleine Erstklässler unterrichtet, die mit ihren Zuckertüten im Arm durch die Tür getreten waren und sich furchtsam umgeblickt hatten. Heute könnte er als Ballsaal dienen, würde sich jemand die Mühe machen, den Raum mal wieder hübsch herzurichten. Er sah aus wie eine alte Diva, die inzwischen verheerend herumlief, aber in ihrer Jugend einmal sehr schön gewesen sein musste. In einer Nische vor dem Fenster stand die Sitzecke, auf der sie sich befanden. Daneben ein großer, aber einfacher Schreibtisch, damit der Raum mehr den Anstrich einer Praxis erhielt. Bestückt mit der neusten PC-Technik, in die Graf allabendlich seine Dokumentationen eintrug. An den Wänden klebten zwei Poster, welche die Pharmalobby gesponsert hatte. Sie zeigten Werbung für Vitaminpillen und Baldriantee. Die Möbel im hinteren Teil des Raums waren Jahrzehnte älter. Massive Schränke standen an den Wänden, deren Türen sich nicht mehr schließen ließen. Die Regalbretter waren von Staub und Spinnweben bedeckt. Es gab auch ein paar halbhohe, tintenfleckige Kommoden. Hier hatten die Kinder ihre Schulsachen untergebracht. Hier waren sie herumgetobt, hatten gelernt, gestritten, gespielt, mittags geschlafen. Eine helle Stelle auf dem Holzboden ließ auf eine Ecke mit Teppich schließen, in der sich vielleicht Puppenbett und Bauklötze befunden hatten. Diese Kinder standen inzwischen selbst in der Mitte des Lebens oder hatten sie längst hinter sich gelassen. Ihr Fehlen verlieh dem Raum eine traurige Atmosphäre, denn zu den Zwecken, zu denen er jetzt genutzt wurde, war er eigentlich nicht gemacht.

Martha kümmerte das nicht. Sie plapperte von den zu harten Brötchen, dem Kaffeemangel, den Duschen ohne Sichtschutzwände, der Rentenversicherung, ihren Katzen, (Paul, Philippa und Leisetreter, notierte sich Hermann), und tausend anderen Dingen, die niemanden interessierten und die sich auch Psychotherapeuten nur anhörten, weil sie dafür bezahlt wurden.

Hermann hatte nun ein paar Möglichkeiten: Er konnte aufdeckend mit ihr arbeiten und sich an die eigentlichen Traumata herantasten, die sich hinter ihren übertrieben dramatischen Auftritten versteckten. Er konnte ihr Geplapper in eine eindeutige Richtung umleiten und die aktuellen Probleme mit Übungen in den Fokus nehmen, um die heftigen Auswirkungen ihrer Persönlichkeitsstörung in ihrem Alltag abzumildern. Er konnte beruhigend oder stärkend einwirken und einer sinnvollen Verhaltensänderung mit kleinen Schritten, die ständig wiederholt wurden, den Weg ebnen. Jedenfalls hätte ein moralisch einwandfreier und fachlich kompetenter Kollege eine von diesen Optionen gewählt. Sein Auftrag war ein anderer. Und zum Glück, sagte er sich, war nicht er selbst es, der diese Entscheidung traf. Wie auf Kommando piepte sein Handy und zeigte eine eingehende Nachricht an: Bring sie zum Heulen. Das war nicht sehr mitfühlend, aber einfach. Hermann löste die übereinandergeschlagenen Beine und lehnte sich etwas vor, um Nähe herzustellen. Das Handy legte er weg, den Stift ebenfalls.

Martha war davon so irritiert, dass sie ihren Redefluss unterbrach. Sie lebte zum Glück in ihrem eigenen Film und kam daher nicht auf die Idee, dass in dieser intimen Umgebung, im Gespräch unter vier Augen, zwei Kameras zugeschaltet waren. Eine, die Hermann, der gar keine Sehschwäche hatte, in seiner Brille trug. Und eine, die ganz unverhohlen in einer Ecke des Raums thronte, wie man es aus Agenten- und Actionfilmen kannte. Manchmal auch aus modernen Horrorgeschichten, welche die Alte Welt der dunklen Monster mit der Neuen Welt und ihren neuen Medien verband. Und war das hier nicht auch eine Art Geschichte? Irgendwie gefiel es ihm, dass er sie mitgestalten konnte, auch, wenn er nicht der Drehbuchautor war. Beide Kameras liefen nicht rund um die Uhr, im Gegensatz zu den anderen im Gebäude. Hermann Graf brauchte ja auch ein bisschen Privatsphäre.

Hermann setzte seinen Ich-muss-Ihnen-etwas-sagenTherapeutenblick auf und schaute Martha in die Augen.

„Martha… Darf ich Martha sagen?“ Eine Verbindung herstellen. Du brauchst ihre ganze Aufmerksamkeit.

„Marlene! Wie die…“

„Wie die Dietrich, ja, ich weiß. Gut. Marlene, ich muss Ihnen etwas mitteilen.“ Es war nicht so leicht wie gedacht, den Betrübten zu simulieren. Einfühlsam und doch distanziert, aufrecht und souverän. Ein geistiger Spagat. Und es wirkte albern auf ihn, diese furchtbaren Klischeeworte nutzen zu müssen, doch erstaunlicherweise funktionierten sie immer zuverlässig. Martha hielt nun ihrerseits an dem Blickkontakt fest und quatschte auch nicht mehr vor sich hin. Es gab etwas zu erfahren, vielleicht eine Sensation, mit der sie sich bei ihren Mitbewohnern beim Mittagessen wichtigmachen konnte.

„Marlene… Sie wissen ja, dass Sie während Ihres Aufenthalts hier keinen Kontakt zur Außenwelt haben dürfen. Das würde das Forschungsergebnis gefährden und die Ergebnisse verfälschen.“

Martha spitzte die Lippen, in deren Fältchen der Lippenstift verwischt war. Sie saß nun aufrecht und hatte die Hände auf die Knie gelegt, wie eine brave Klosterschülerin. Sie lauerte auf Neuigkeiten, die selbst im kleinen Kreis ihr Ansehen zu steigern vermochten.

„Da uns Ihrer aller Wohlergehen natürlich am Herzen liegt, halten wir Kontakt mit Ihren Angehörigen draußen, um über alle Entwicklungen im Bilde zu sein.“ Hermann sprach nun auch mit seiner Ich-muss-Ihnen-etwas-sagenTherapeutenstimme und bei dieser Gelegenheit wurde ihm bewusst, wie sehr er das Gejammer und Geheule seiner Patienten im Grunde bereits seit langer Zeit hasste. Immer diese gefühlsduseligen Übertreibungen, lauter schwache Menschen, die ihr Leben nicht auf die Kette bekamen! Die Welt um ihn herum war voller Wahn und Störungen und er selbst saß im Zentrum davon, bisher noch gesund – aber wer wusste, wie lange noch? Er hatte es satt! Wie egoistisch und egozentrisch sie sich alle in den Vordergrund drängelten, als ginge es immer und überall nur um ihre ganz persönlichen Bedürfnisse! Als habe die Welt nur darauf gewartet, ihnen den roten Teppich auszurollen und alle Schwierigkeiten von den Schultern zu nehmen! Sie forderten, dass ihnen zugehört und Rat gegeben wurde, obwohl er zumindest Letzteres streng genommen gar nicht durfte! Sie kamen überhaupt nicht auf die Idee, dass der Experte vor ihnen auch nur ein Mensch war, der vielleicht eigene Probleme zu lösen hatte, für die ihm keine Zeit und Muße blieben, weil sein Kopf mit dem Müll fremder Menschen gefüllt war! Zurück zur Mission. Führe deine Aufgabe aus. Bring sie zum Heulen!