Die Meisterin der Wachsfiguren - Anna-Luise Melle - E-Book
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Die Meisterin der Wachsfiguren E-Book

Anna-Luise Melle

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Beschreibung

Bewegende Romanbiografie über die wahre Madame Tussaud Marie Tussaud: Gefeiert in Versailles, in Lebensgefahr im revolutionären Paris, gerettet durch ihre Kunst Anna-Luise Melle schreibt in ihrem faszinierenden biografischen Roman »Die Meisterin der Wachsfiguren« atmosphärisch dicht und unerhört spannend über das unglaubliche Leben der Frau, die als Madame Tussaud weltberühmt wurde. Paris, 1778: Am glücklichsten ist Marie Tussaud, wenn sie ihrem Onkel bei der höchst anspruchsvollen Fertigung von Wachsbüsten und -figuren helfen darf. Bald wird man in Versailles auf die schöne junge Frau mit dem außergewöhnlichen Talent aufmerksam: Marie darf eine Schwester des Königs unterrichten! Dass sie sich dabei unsterblich in den attraktiven, aber verheirateten Maler Jacques verliebt, bringt sie in Schwierigkeiten. Wenig später jedoch bricht die Französische Revolution mit Gewalt über Paris herein und bringt Marie in Lebensgefahr – nur ihre Kunst kann sie jetzt noch retten … Die unglaubliche Geschichte von Madame Tussaud, der Frau, das weltberühmte Wachsfigurenkabinett schuf In diesem mitreißenden biografischen Roman nimmt Anna-Luise Melle uns mit an den schillernden Hof von Versailles, in das grausame Paris der Französischen Revolution. Wir lernen die wahre Madame Tussaud kennen, die »Meisterin der Wachsfiguren« und ihre einmalige Kunstfertigkeit, die ihr das Leben rettete und sie unsterblich machte. Selfmade-Frau, alleinerziehende Mutter, Vorzeige-Unternehmerin – Die fabelhafte Welt der Marie Tussaud (1761-1850) Sie war die Tochter eines Scharfrichters und einer Dienstmagd, doch aufgrund ihrer Begabung verzauberte sie am Versailler Hof die Adeligen mit ihrer Kunst. Während der Französischen Revolution musste sie dann deren abgeschlagene Köpfe nachbilden. Sie war die Geliebte des Malers und Revolutionärs Jacques Louis Davids und Zeugin der Hinrichtung ihrer Freundin Charlotte Corday. Sie erschuf unter Lebensgefahr die populärsten Kunstwerke ihrer Zeit und wurde mit ihrem Wachsfigurenkabinett zur Legende.

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Für Jakob, meinen Geistführer

© Piper Verlag GmbH, München 2023

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Montasser Medienagentur, München.

Redaktion: Dr. Annika Krummacher

Covergestaltung und -motiv: Johannes Wiebel | punchdesign unter Verwendung von stock.adobe.com und Richard Jenkins

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence, München mit abavo vlow, Buchloe

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

London, 1842

Elsass, 1767

Paris, 1778

Paris, 1778

Paris, 1780

Paris, 1780

Paris, 1780

Paris, 1780

Versailles, 1780

Versailles, 1783

Versailles, 1783

Versailles, 1783

Versailles 1789

Versailles, 1789

Normandie, 1789

Paris, 1789

Versailles, 1789

Paris, 1789

Paris, 1792

Paris, 1793

Paris, 1793

Paris, 1793

Paris, 1793

Paris, 1793

Paris, 1793

Paris, 1794

Paris, 1794

Paris, 1797

Paris, 1799

Paris, 1800

Paris, 1800

Paris, 1802

London, 1842

Epilog

Nachwort

Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

London, 1842

Das Schlurfen ihrer Schritte hallt durch das ganze Haus. Schwer und träge sind sie im Lauf der Jahre geworden, dennoch steht die alte Frau jeden Morgen vor dem ersten Hahnenschrei auf. Sie zieht ein schwarzes Kleid an und wählt eine passende Brosche aus, die sie mit den steifen Fingern mühsam an der Halskrause befestigt, ehe sie eine weiße Seidenhaube über ihr dünn gewordenes Haar spannt. Zum Schluss setzt sie ihre runde Brille auf und betrachtet sich im Spiegel. Ja, sie ist alt geworden, davon hat sie ihr Körper bereits überzeugt, aber ihr Geist, der ist noch wach und bereit, sich den täglichen Aufgaben zu stellen.

Mit einem Lächeln auf den Lippen verlässt sie das Haus. Sie liebt den Morgen, wenn die Sonnenstrahlen die Welt in das schönste Licht tauchen, wenn der seidene Nebel, der nachts als gespenstisches Wesen umhertreibt, als frischer Tau das Land benetzt und die Stadt noch schläft. Sie genießt die Stille, die mit der Einsamkeit einhergeht, aus der sie schon immer Kraft und Inspiration geschöpft hat. Noch nie hat sie oberflächliche Begegnungen und Unterhaltungen geschätzt, die lediglich der Höflichkeit geschuldet sind. Sie wollte immer nur das tun, was sie am liebsten mochte und am besten konnte: die Arbeit mit Wachs. Das ist ihr Handwerk, ihre Kunst, ihr Kapital.

Wenn der große Schlüssel die schwere Holztür zum Museum in der Baker Street öffnet, tritt sie ein in ihre Welt. Zunächst geht sie in den Keller, denn dort ist ihre Werkstatt. Behutsam hängt sie ihren Mantel an den Haken des Türrahmens. Es riecht nach Wachs und Farben. Auf einer kleinen Anrichte steht ein blauer Krug mit weißen Punkten. Er sieht so alt aus wie sie selbst, ist schon einmal geleimt worden und ist doch der einzige Krug, aus dem sie ihre heiße Milch trinkt.

Alles hat seinen Platz und seine Ordnung – in den Regalen, auf den Tischen und den Werkbänken. Sogar einen eigenen Brunnenanschluss hat sie einrichten lassen, direkt am Fenster. Das erspart viele Arbeitswege, was ihre müden Beine ihr danken. In der Mitte des Raums stehen für gewöhnlich die Figuren und Requisiten, die gerade in Bearbeitung sind. Momentan wartet allerdings nur eine Figur auf ihre Vollendung: ihre eigene. Sie will sich so darstellen, wie sie aussieht, wenn sie morgens aus dem Haus geht. Stück für Stück formt sie seit ein paar Wochen ihr eigenes Spiegelbild, auch wenn sie natürlich die Möglichkeit hätte, sich schöner darzustellen, als sie ist. Die Kunst verbirgt sich in dem, was der Verstand sieht und nicht das Auge, hatte Jacques einmal zu ihr gesagt. Jacques …

Gleich am Eingang steht ein Regal mit Utensilien: Kämme, Pinsel, Farben, Nähzeug. Sie steckt einen Zackenkamm und einen feinen Pinsel in ihre Schürzentasche. Dann trägt sie mit einem groben Pinsel Grundfarben auf eine kleine Palette auf. Früher ging das schneller, weil die Hände ruhiger waren.

Mit der Palette in der Hand steigt sie bedächtig die wuchtigen, ungleichmäßigen Steintreppen zum Erdgeschoss hoch. Dabei bleibt sie auf jeder Stufe stehen, bevor sie die nächste nimmt. Als Voltaire damals zu ihr kam, war er schon über achtzig Jahre alt und beschwerte sich über das Tempo des Winters, mit dem er nicht mehr mithalten könne. Als junges Mädchen konnte sie darüber nur lächeln, doch heute weiß sie, was Altwerden bedeutet – eine Veränderung der Geschwindigkeit.

Die Sitzung zum Maßnehmen mit Voltaire wird sie wohl nie vergessen, genauso wenig wie das Donnerwetter von Onkel Philippe, das danach über sie hereingebrochen war. Sein Vorwurf, dass sie sich geschäftsschädigend und wie eine Anfängerin benommen habe, hatte durchaus seine Berechtigung. Als junge Assistentin des Wachsbildners Philippe Curtius hatte sie Voltaire damals den ganzen Kopf eingegipst und dazu die Hände, sodass er unter der Maske fast erstickt wäre. Noch heute sieht sie ihn röchelnd und stöhnend auf dem Stuhl sitzen, dabei hatte sie es nur gut gemeint. Seine Bemerkung, dass sie eine wahre Meisterin sei, weil er durch ihre zarten Hände in den Genuss gekommen sei, unter der Maske die Hitze der Verdammnis und das Frohlocken des Paradieses gleichermaßen zu spüren, hatte in Voltaires illustren Kreisen die Neugierde geweckt und ihr Ansehen gehoben.

Sobald die Lichter im Museum angezündet sind, wird alles genau inspiziert und nichts dem Zufall überlassen. Die Wachsfiguren dürfen weder dem direkten Sonnenlicht ausgesetzt sein noch zu nahe an einer Lampe stehen.

Sie empfindet die morgendliche Stille im Museum wie ein Gebet. Dann kann sie sich den Figuren auf ihre Weise nähern, in die dunklen Tiefen derer versinken, die längst nicht mehr leben. Dann lauscht sie ihren Stimmen, während sie hartnäckig die Glasaugen fixiert, die sie selbst eingefügt hat. In ihrer Welt sind sie lebendig, erzählen ihr von den Freuden und Ängsten, die ihr Leben ausmachten. Und sie ist die Einzige, die ihre Sprache beherrscht. Jeden Morgen berührt sie jede einzelne Figur und holt dabei das Bild des echten Menschen in ihr Gedächtnis zurück. Hat sie auch nichts vergessen, nichts übersehen? Erkennen die Betrachter die Charaktere so wie sie?

Vor Ludwig XVI. bleibt sie stehen. Sie weiß noch, wie sie ihn am Hof von Versailles modellierte undwie ihre Hände zitterten, als sie seinen abgeschlagenen Kopf aus dem blutverklebten Leinentuch aufdeckte, ein paar Jahre später. Die bewaffneten Sansculotten, die sie dazu zwangen, lachten nur über ihren Ekel. Ach, Eure Majestät, denkt sie, ich gehöre nicht zu denen, die Euch dieses Ende gönnten und freudetaumelnd um Euren abgeschlagenen Kopf tanzten.

Seufzend streift ihr Blick Marie Antoinette. Und Ihr, denkt sie, Ihr habt mich freundlich angelächelt und doch nur durch mich hindurchgelächelt. Ich nehme Euch das nicht übel. Im Gegenteil, ich sorge dafür, dass sich die Leute noch an Euch erinnern. Denn viel ist nicht übrig geblieben von Eurem prächtigen Versailles. Und nun steht Ihr hier und habt nicht einmal mehr Gelegenheit zur Entrüstung, da in diesem Hause ich das letzte Wort habe.

Neben dem Königspaar steht Elisabeth, die jüngste Schwester von Ludwig XVI. Die alte Frau hat ihr diesen Platz gegeben, weil die Prinzessin auch zu Lebzeiten immer an der Seite ihres Bruders blieb und ihn bis zum Schluss verteidigte. Sie war eine warmherzige Gönnerin, der Engel von Versailles, und musste sich dennoch einem so ungerechten, grausamen Ende fügen.

Mit Madame Elisabeth hat alles angefangen. Nein, angefangen hat es eigentlich mit Onkel Philippe in Paris. Die alte Frau kann sich noch sehr genau daran erinnern, wie sie mit Maman vor seiner Tür stand. Damals, kurz nachdem die Welt ihrer Kindheit von einem Tag auf den anderen verloren gegangen war.

Elsass, 1767

Kalte Windböen fegten die letzten bunten Blätter von den Bäumen. »Sie werden in ferne Länder entführt. Dort leben sie bei herrlichem Sonnenschein vergnügt, bis sie der Frühling zurückholt und mit Zauberkräften in neue hellgrüne Blätter am Baum verwandelt …« So hatte ihr Vater es Marie noch vor wenigen Tagen erzählt. Doch nun hörte sie ihn lautstark mit Maman im Nebenzimmer streiten. Die Eltern ahnten sicher nicht, dass sie am Fenster stand und die Reise der Blätter beobachtete, während sie den Streit durch die einen Spalt breit geöffnete Tür belauschte.

»Du solltest das Angebot annehmen und mit Marie nach Paris gehen. Bei Curtius hättest du eine gute Anstellung«, sagte ihr Vater gerade. »Mit ihm hast du es gut getroffen, und er wird gewiss für Marie sorgen. Sie ist ein kluges, begabtes Kind, dessen Zukunft ich nicht durch meinen Stand gefährden will. Mit ihren sechs Jahren ist sie alt genug, dass ich euch gehen lassen kann. Außerdem will ich frei sein. Wenn du ehrlich bist, dann willst du das auch. Ich werde weggehen, in eine fremde Stadt, und niemand wird mich mit euch in Verbindung bringen.«

»Du bist und bleibst ein selbstsüchtiger Narr! Du willst die Verpflichtungen loswerden, die eine Familie mit sich bringt, aber schiebst deine unschuldige Tochter vor.«

»Meine Tochter? Hältst du mich für blind oder für dumm? Von Anfang an wusste ich, dass sie nicht von mir ist, und doch liebe ich sie wie mein eigen Fleisch und Blut. Ich werfe dir das nicht einmal vor, denn Curtius kann sehr charmant sein. Es ist das Beste, wenn wir beide ab jetzt getrennte Wege gehen. Curtius kann euch eine bessere Zukunft bieten als ich. Und das weißt du auch.«

»Was redest du da? Marie ist deine Tochter! Du setzt mich vor die Tür und behauptest, Marie sei nicht dein Kind? Das behauptest du doch nur, um dich besser zu fühlen, weil wir dir eine Last sind. Welche Schande tust du mir an?«

»Ich habe dich beobachtet, wie du mit Curtius umgegangen bist und er mit dir.«

»Wo willst du das denn gesehen haben?«

»Du hast mich von jeher unterschätzt.«

»Deine Schnüffeleien waren mir schon immer unheimlich.«

»Du bist regelrecht verrückt nach diesem Curtius, wie du es zu mir nie warst. Es verletzt mich, weil du mein Weib bist, aber es tut mir nicht weh, weil wir uns nicht lieben. Marie ist ganz anders als wir beide. Wenn sie mit ihrer Puppe spielt, will sie ständig etwas an ihr verändern. Sie liest Geschichten aus Wolkengebilden und malt sie anschließend in den Sand. Sie lebt in ihrer ganz eigenen Welt, die mit unserer nichts zu tun hat – mit der von Curtius allerdings schon. Sieh es doch, wie es ist: Ich entlasse dich und Marie in die Freiheit. Sie wird in Curtius einen guten Mentor finden und in gehobenen Kreisen aufwachsen. Ob du ihr jemals sagst, wer ihr leiblicher Vater ist, bleibt dir überlassen. Du kannst jetzt endlich das Leben führen, das du dir immer gewünscht hast. Geh nach Paris, nimm deinen Mädchennamen an, und behaupte, dass ich im Krieg gefallen sei, aber verlasst nun beide mein Haus!«

Wortlos ging Maman an ihm vorbei und fing an zu packen. Als sie ins Schlafzimmer kam, hatte sich Marie bereits schlafend gestellt und wartete mit geschlossenen Augen auf das, was Maman ihr wohl jetzt erklären würde.

Auf einmal fiel die Haustür laut ins Schloss. Marie erschrak und befürchtete, Maman hätte sie allein zurückgelassen, aber die suchte nur aufgebracht ihre Sachen im Haus zusammen. Als Marie zum Fenster lief, sah sie ihren Vater vor dem Haus stehen. Er blickte aus seinen kristallklaren, blauen Augen nach oben. Ob er sie im Dunkeln am Fenster erkannt hatte? Dann ging er mit entschlossenen Schritten davon, sein Rock wehte im Wind.

Was hatte er eben gesagt? Sie sei gar nicht seine Tochter? Warum mussten sie und Maman auf einmal von hier weg?

Plötzlich stand ihre Mutter mit eisiger Miene vor ihr. »Zieh dich an, wir gehen.«

»Aber warum? Und wohin?« Marie versuchte, sich unwissend zu stellen.

»Frag nicht«, erwiderte Maman und packte sie fest am Arm. »Wir verreisen heute noch.«

Offenbar hatte sie gemerkt, dass Marie den Tränen nahe war, denn sie ging vor ihr in die Knie und nahm sie sanft in die Arme. »Wir schlafen in einem Gasthof, und morgen fahren wir für immer nach Paris.«

Marie sah sie mit großen Augen an und versuchte, ihren Schmerz zu unterdrücken. »Aber Papa …«

Sogleich fiel ihr Maman ins Wort: »Dein Papa ist im Krieg gestorben. Noch vor deiner Geburt. Hast du das verstanden?«

Als Marie das Gesicht zum Weinen verzog, schüttelte ihre Mutter sie ärgerlich.

»Hast du das verstanden?«

Ängstlich nickte Marie.

»Dann sprich es mir nach«, befahl Maman.

Vorsichtig formulierte Marie die Worte, obwohl ihr dabei die Kehle eng wurde: »Mein Papa ist im Krieg gestorben, noch vor meiner Geburt.«

»Braves Mädchen.« Der Griff ihrer Mutter wurde wieder sanft, und Maman streichelte ihr zärtlich über die Wange.

Noch in derselben Nacht hatten sie ihre Habseligkeiten in einem großen Sack zusammengeschnürt, den Maman über den Rücken warf. Schweigend ging sie mit Marie an der Hand durch die Dunkelheit bis in einen Nachbarort, wo sie den Holzriegel eines fremden Stalles so leise wie möglich hochzog. Sie hielt den Zeigefinger auf den Mund, als sie Marie mit einem Kopfnicken anwies, in den Stall zu gehen. Marie wagte nicht zu fragen, warum sie denn nicht in einem Gasthof schliefen, wie Maman es ihr versprochen hatte.

Es war warm und roch nach Stroh und Tieren. Im Dunkeln nahm sie die Umrisse von Pferden wahr, die in einer großen Box standen. Eines von ihnen gab ein kurzes Schnauben von sich, als sie näher kamen. Ängstlich klammerte sich Marie an Maman, die unerschrocken Stroh zusammensuchte und ein kleines Lager für die beiden herrichtete.

»Schlaf jetzt«, sagte sie, »noch vor dem ersten Hahnenschrei verschwinden wir von hier, bevor uns jemand entdeckt. Wir fahren ab morgen mit der Postkutsche.«

Marie bekam das Bild nicht aus dem Kopf, wie Papas Rock geweht hatte, als er mit energischen Schritten hinaus in den Nebel gegangen und sich immer mehr von ihr entfernt hatte. Doch im Stillen wiederholte sie unentwegt die Worte, die sie lernen musste, bis sie irgendwann zwischen Pferden, Stroh und Maman einschlief: Papa ist im Krieg gestorben, noch vor meiner Geburt.

Paris, 1778

»Unsere Österreicherin Marie Antoinette wird dem König ein Kuckuckskind als Thronfolger schenken«, beschwerte sich eine der Marktfrauen bei ihrer Standnachbarin, die emsig Besen aus Birkenreisig band. Ihre Hände waren groß und von Schwielen gezeichnet. Hin und wieder fiel aus ihrer Haube eine Haarsträhne, die sie verdrossen wegblies.

Gegenüber gackerten braungescheckte Hennen in Käfigen, daneben stellte eine alte Bäuerin gerade ihren Tragekorb ab, der bis oben hin mit frischen Blaubeeren gefüllt war. Kinder in kurzen Hosen sausten barfuß zwischen den Marktständen herum und spielten Fangen. Es passierte schon mal, dass dabei etwas von den Ständen verschwand, aber ein Reisigbesen war in der Regel kein begehrtes Objekt, denn er konnte keinen Hunger stillen.

»Gestern muss es wieder eine lange Nacht im Opernhaus gewesen sein«, ereiferte sich die Marktfrau weiter. »Erst in den frühen Morgenstunden fuhr die königliche Kutsche nach Versailles. Dieser ausländische Prinz soll auch dabei gewesen sein.« Sie schnäuzte sich kräftig in ihre Schürze.

»Zwei Ausländer unter sich – na, das passt ja«, erwiderte die Marktfrau mit den Reisigbesen und lachte kehlig. »Wenigstens bekommt sie endlich mal ein Kind. Wäre der alte König noch am Leben, dann hätte er den Thronfolger doch noch am liebsten selbst gezeugt. Der hat ja vor keinem Rock haltgemacht, der alte Schwerenöter. Aber schließlich ist er mit der Last seiner Sünden in die Grube gefahren. Geschah ihm recht. Dann lassen wir uns mal überraschen, was da wohl für ein Kuckuck rauskommt.«

Marie und ihre Freundin Marianne kicherten. Sie kauften regelmäßig hier ein und waren mit dem Getratsche der Marktfrauen bestens vertraut.

»Welcher Prinz?«, fragte Marie leise.

»Sie meint sicher den schwedischen Grafen von Fersen«, gab Marianne zur Antwort. »Er und die Königin sollen ja unsterblich ineinander verliebt sein. Aber ist es ihnen zu verdenken? Ich meine, sie sind beide bildhübsch. Unser König hingegen … na ja …«

Marie holte zwei Äpfel aus ihrem Korb und reichte sie ihrer Freundin. »Nimm. Für heute Nachmittag.«

»Aber Marie, du kannst mir doch nicht immer …«

»Doch, lass es dir schmecken. Onkel Philippes Wachsgeschäft läuft gut. Mach dir keine Gedanken.«

Die beiden umarmten sich, bevor sich ihre Wege wieder trennten. Marianne war mit ihren sechzehn Jahren genauso alt wie Marie, aber schon mit einem Wagenmacher in der Rue Guisarde verheiratet. Als die beiden jungen Frauen sich vor einem Jahr beim Einkaufen auf dem Markt kennenlernten, hatte Marianne ihre beiden jüngsten Geschwister dabeigehabt, die an ihrem Rockzipfel gehangen hatten, während diese in ihrer Geldbörse alle Münzen zusammengesucht hatte, um bei der Marktfrau das Gemüse bezahlen zu können. Sie war ebenso wie ihre Geschwister schlicht gekleidet und schien nicht gerade wohlhabend zu sein. Da sie Marie leidtat, hatte sie kurzerhand die Summe beglichen, die im Übrigen nicht besonders hoch gewesen war. Dann hatte sie Marianne geholfen, die Einkäufe nach Hause zu tragen.

Sie hatten sich für die darauffolgende Woche zur selben Zeit am selben Marktstand verabredet, und aus der gegenseitigen Sympathie, die schon vom ersten Moment an bestanden hatte, wurde allmählich ein freundschaftliches Band. Auch Mariannes Mann, der ein ebenso freundlicher Mann mit einem eigenen Handwerksbetrieb war, hatte nichts gegen Maries Besuche einzuwenden.

Marie fragte sich, wann sie wohl selbst eine Familie haben würde. Eine Familie mit Kindern und einem eigenen Heim. Bisher war sie nur einmal einem Mann begegnet, der ihr gefiel. Er hatte mit halbgeschlossenen Augen an der Île de la Cité im Gras gelegen, auf einem Grashalm gekaut und seine Füße in die Seine baumeln lassen. Doch leider hatte er sie so unverschämt angesprochen, dass sie gar nicht anders konnte, als es ihm mit gleicher Münze heimzuzahlen. Sie wusste bis heute nicht, wer er war, und sie hatte ihn seitdem auch nicht wiedergesehen. Trotzdem dachte sie manchmal an sein hübsches Gesicht mit dem kleinen Leberfleck über der Lippe.

In der Werkstatt in der Rue Saint-Honoré roch es nach ausgekühltem Bienenwachs. Die Büste des Herzogs von Orléans wartete auf ihre Fertigstellung. Die Schichtdicke des Wachses war ausgehärtet, und die Gipsform, die es gehalten hatte, konnte nun entfernt werden. Vorsichtig zog Marie an einer Schnur, um die einzelnen Gipsteile behutsam vom Wachs zu lösen. Das war der entscheidende Moment, denn nun stellte sich heraus, ob sie den richtigen Zeitpunkt und das richtige Mischverhältnis der geheimen Rezeptur gewählt und ob sie den Tonkopf technisch gut gearbeitet hatte. Hatte sie die Farbpigmentierung für das spätere Kolorieren getroffen? War die Form des Abgusses verzogen oder gar voller Bläschen oder Risse? Es hatte viele Jahre gebraucht, bis Onkel Philippe so viel Vertrauen in Maries Arbeit gewonnen hatte, dass er ihr diesen Arbeitsschritt überlassen konnte.

Schon als Kind begeisterte sich Marie für seine Köpfe und Figuren und wollte das Handwerk der Wachsbildnerei von ihm erlernen. Inzwischen übernahm sie sämtliche Aufgaben der Wachsmodellierung, sodass sich Onkel Philippe bedenkenlos seiner Ausstellung widmen konnte. Er wusste, dass er in ihr eine gelehrige und talentierte Schülerin gefunden hatte, die ganz in seinem Sinne arbeitete und den hohen Ansprüchen an das Handwerk gerecht wurde. Was Onkel Philippe vor allem an Marie schätzte, war ihr ruhiger und konzentrierter Arbeitsstil.

Die ausgekühlte Wachsbüste musste nun noch gesäubert und geglättet werden. Dazu nahm Marie ein reines Leinentuch und wischte die Rückstände ab, die von der Gipsmaske hängen geblieben waren. Die Modellierwerkzeuge, die sie anschließend benötigte, erwärmte sie kurz, dann schnitt sie Gussnähte und Unebenheiten weg. Mit einem Metallstift bohrte sie die Nasenlöcher in Tiefe und Breite aus, um sie anschließend zusammen mit der übrigen Nase abzurunden.

Ähnlich ging sie beim Mund vor, indem sie mit dem Messer eine Vertiefung einkerbte und dann den Lippen die passende Rundung verlieh. Onkel Philippe staunte immer wieder, dass sie sich an kleinste Details des Gesichts erinnern konnte, was das Modell am Ende umso echter wirken ließ. Sie tauchte einen Schwamm in Balsamharztinktur und bearbeitete damit die ganze Büste. Der wichtigste Arbeitsschritt jedoch war das Ausschneiden der Augenhöhlen, in welche die Glasaugen eingesetzt wurden, die dem Gesicht erst wahres Leben einhauchten.

Schließlich nahm sie die Büste vom Tisch. Philippe II., der Herzog von Orléans, war fertig gegossen und geformt. Zufrieden betrachtete sie ihr Werk.

Das Geklapper von Pferdehufen vor dem Haus kündigte Onkel Philippes Kutsche an. Er wusste, dass Marie die Büste des Herzogs heute zu Ende bringen wollte, und war gespannt auf das Ergebnis.

»Ich konnte es kaum erwarten, Marie«, sagte er, als er die Werkstatt betreten und seinen Mantel achtlos auf einen Stuhl geworfen hatte. »Lass mich den Herzog anschauen.«

Er nahm die Büste, die sie ihm wie einen Pokal reichte, ging zum Fenster und inspizierte ihn von allen Seiten.

»Keine Leinwandfetzen mehr, alle Fugen und störenden Abdrücke von der Maske sind sauber zugeschabt, keine Unebenheiten zu sehen, die Muskeln glatt gestrichen, aber erkennbar.« Er drehte sie erneut im Licht, hielt sie von sich weg und lächelte. »Die Form der Augen, die Form der Lippen – tadellos. Es ist genau der Gesichtsausdruck des Herzogs, den ich haben wollte.« Stolz sah er sie an. »Das hast du gut gemacht, Marie!«

Früher hatte Onkel Philippe ihr immer prüfend über die Schulter geblickt, meist hatte er etwas anzumerken gehabt und ihr weitere Anweisungen gegeben. Ihre erste Prüfung war die Büste von Dauphin Louis Auguste gewesen, der inzwischen König war. Sie hatte die Augäpfel aus dem Wachs herausschneiden und die Glasaugen durch das Halsloch von innen einfügen müssen. Dabei hatte sie sich immer wieder vergewissert, ob alles passgenau war. Spätestens da hatte Onkel Philippe erkannt, dass sie ein großes Talent besaß und dass es die richtige Entscheidung gewesen war, ihr die Wachsbildnerei zu vermitteln, wie sie es sich immer so sehr gewünscht hatte.

Philippe Curtius war Arzt und ein angesehener Wachsbildner aus Bern, der nach einem längeren Aufenthalt in Straßburg auf die Einladung des Prinzen de Conti nach Paris gekommen war, um in der Metropole der Vergnügungen mit seinem Können aufzuwarten, denn da gehörte er – nach Ansicht des Prinzen – hin. Die Entscheidung, das Angebot des Prinzen anzunehmen, das auch das Wohnrecht in einem Haus in der teuren Rue Saint-Honoré beinhaltete, hatte sich schon bald als richtig erwiesen.

Curtius führte inzwischen eine eigene Ausstellung und modellierte alles, was Rang und Namen hatte. Seine Geldbörse wurde dicker, und sein Bekanntheitsgrad stieg ebenso wie sein Ansehen. Obwohl er gar nicht Maries richtiger Onkel war, hatte er sie und ihre Mutter einst bei sich aufgenommen. Doch schon bald wurde der fremde Mann für Marie zu einem verständnisvollen und warmherzigen Beschützer, wohingegen Maman nichts von ihrer bisherigen Strenge verloren hatte. Glaubte diese sich allerdings mit Curtius allein, so konnte sie die äußere Härte wie eine Rüstung ablegen und in seltsam vertraulicher Weise Curtius’ Nähe suchen, manchmal sogar bis unter seine Bettdecke.

Nie hatte Marie verstanden, warum ihr Vater sie damals weggeschickt hatte und was es mit dem Stand auf sich hatte, vor dem er Marie schützen wollte. Und warum hatte er zu Maman gesagt, dass er gar nicht ihr Vater sei? Nur noch nebulös konnte sie sich an sein Gesicht erinnern, an die kristallklaren blauen Augen, doch an seine Stimme gar nicht mehr. Würde sie ihn wiedererkennen, wenn er ihr heute über den Weg liefe? Wünschte sie sich das denn überhaupt?

Paris, 1778

Nach Voltaires Tod im Mai 1778 erlebte Curtius’ Ausstellung auf dem Jahrmarkt Saint-Laurent einen wahren Besucheransturm. Jeder kam, um das Abbild des großen Philosophen zu sehen. Da es die erste von Marie gefertigte Wachsfigur war, die sie nur wenige Monate vor seinem Tod modelliert hatte, wurde man auf sie aufmerksam. Es musste ja niemand erfahren, dass Voltaire während der Sitzung unter der Gipsmaske fast erstickt wäre. Bei einem Besuch der Ausstellung, wo Marie sich von der Begeisterung der Besucher überzeugen wollte, lernte sie Jean-Jacques Rousseau kennen. Er hatte nur darauf gewartet, von ihr gefragt zu werden, ob sie auch seine Büste modellieren wolle. Denn noch kurz vor seinem Tod hatte Voltaire erzählt, dass die junge Wachsbildnerin sehr anspruchsvoll in der Wahl ihrer Modelle sei.

Marie nahm Rousseaus Auftrag an. Für die Sitzung, bei der Maß genommen wurde, hatte er die Werkstatt besucht, und nun fuhr sie mit der Kutsche nach Ermenonville, um die frisch gefertigte Büste auszuliefern. Wie bei der von Voltaire hatte sie auch bei Rousseaus Büste für die Wachsmischung ein Quantum Zinnober verwendet, um der Haut die passende Farbe zu verleihen, und sie und Curtius waren sehr zufrieden mit dem Ergebnis.

Es war Sommer, und die Natur zeigte sich in ihrem bezauberndsten Kleid. Auf den Feldern, an denen Maries Kutsche vorbeiholperte, wendeten Bauern das Heu. Greifvögel zogen in luftiger Höhe ihre Kreise, Mückenschwärme tanzten im Sonnenlicht, und die Weizenfelder standen in üppiger Pracht. Feldlerchen zwitscherten. Als sie gegen Mittag am Hause von Monsieur Rousseau ankam, stand die Sonne im Zenit. Ein Dienstmädchen öffnete ihr und ließ sie an der Tür warten.

Wenig später kam Rousseau mit offenen Armen auf sie zu. Seine Verbeugung war knapp. »Sind Sie etwa gekommen, um mir die Büste zu überbringen? Ist sie schon fertig? Bitte, folgen Sie mir doch in den Garten, und erweisen Sie uns die Ehre, mit uns zu essen.« Plötzlich unterbrach er sich und sah Marie besorgt an. »Oh, ich rede und rede. Dabei ist die Kutschfahrt von Paris hierher lang und mühsam. Wollen Sie sich vielleicht erst ein wenig erfrischen? Ich gebe unserer Dienstmagd Adelais Bescheid, damit sie Ihnen das Gästezimmer zeigt. Aber natürlich hat mich die Neugier gepackt. Gestatten Sie mir, meine Liebe, vorher noch die Büste zu sehen.«

Marie hätte nicht gedacht, dass es auch Männer gab, die ohne Unterlass reden konnten. Sagte man diese Angewohnheit nicht eher den Frauen nach? Rousseau sprudelte noch mehr vor Begeisterung, als er die Büste sah. Er hatte bereits einen Platz im Haus gewählt, wo sie stehen sollte. Marie sah es als ihre Aufgabe, die Büste eigenhändig auf den dafür vorgesehenen Sockel zu stellen. Vorsichtig entfernte sie die Tücher, in die das Kunstwerk eingepackt war.

Während sie beschäftigt war, traf ein junger Mann ein, der auch zu Rousseau wollte und von ihm auf das Herzlichste empfangen wurde. Marie war auf ihre Arbeit konzentriert und hörte daher nicht, worüber sich die beiden unterhielten.

Wenig später kam Rousseau zusammen mit dem jungen Mann zu ihr. »Mademoiselle Marie, darf ich Ihnen Maximilien de Robespierre vorstellen, einen Freund und großen Anhänger meiner Literatur?«

Marie drehte sich um und überlegte ganz kurz, woher sie den jungen, gut aussehenden Mann mit dem Leberfleck über der Lippe kannte. Auch er schien sich zu fragen, wo sie sich schon einmal begegnet sein könnten, doch ihr fiel es schneller ein. Es war der freche junge Mann von der Île de la Cité, der im Gras gelegen hatte und ihr aufgefallen war. Diesmal machte er allerdings keinerlei Anstalten, sie unverschämt anzusprechen.

Marie kam Rousseaus Bitte nach, zum Essen zu bleiben, und so lernte sie nicht nur seine Ehefrau Thérèse, sondern auch den jungen Anwalt Robespierre kennen, der Rousseau regelmäßig besuchte, um mit ihm zu philosophieren. Das Verhältnis zwischen den beiden erinnerte an das von Vater und Sohn und schien auf gegenseitiger Wertschätzung gegründet zu sein. Heute allerdings war Marie diejenige, die Robespierres Interesse auf sich zog und damit die allgemeine Aufmerksamkeit von Rousseaus Plaudereien ablenkte. Während Voltaire sich bei seiner Sitzung fast nur nach familiären Angelegenheiten erkundigt hatte, interessierte sich Rousseau für ihr Handwerk. Als sie von Monsieur Robespierre gefragt wurde, ob sie einen Spaziergang mit ihm machen wolle, wurde die Dienstmagd geholt, die die beiden in sicherem Abstand begleiten sollte.

Robespierre führte Marie durch einen Park mit jungen Bäumen und einem See. Sie war begeistert von der Anlage, die ihr wie eine Liebeserklärung an die Natur vorkam.

»Der See ist künstlich angelegt«, erklärte Robespierre. »Das wollten Sie doch sicher wissen.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Weil man in Ihrem Gesicht lesen kann wie in einem Buch. In einem sehr hübschen Buch, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf.«

»Und was lesen Sie sonst noch darin?«

»Nun, dass Sie sich fragen, wie alt die Bäume sein mögen.«

»Das interessiert mich in der Tat.«

»Als der Marquis von einem Aufenthalt in England zurückkam, begann er, diesen Park im Stile eines englischen Gartens zu gestalten. Dafür holte er eigens zweihundert Engländer und einen schottischen Gärtner hierher. Die vielen Bäumchen, die unseren Weg säumen, sind junge Pappeln.«

»Welcher Marquis?«

»Marquis René Louis de Girardin, dem das Schloss Ermenonville gehört. Er hat Monsieur Rousseau und seine Frau hierher eingeladen und ihnen ein Haus zur Verfügung gestellt. Sie sind seine Gäste.«

»Wie kommt es, dass Sie mit Monsieur Rousseau so eng befreundet sind? Ist er nicht viel zu alt für Sie?«

»Das mag schon sein«, entgegnete Robespierre lächelnd. »Aber ich schätze seine Werke. Sie sind von einer erstaunlichen Kraft und Ehrlichkeit. Er ruft darin zu Veränderungen auf und fordert, dass die staatliche Gewalt vom Volk ausgeht. Ich verehre ihn sehr und finde es bedauerlich, dass Philosophen wie er zum Teil geächtet und vertrieben werden. Doch glücklicherweise gibt es auch in Adelskreisen durchaus Menschen mit einem offenen Blick für unaufhaltsame Veränderungen, wie etwa den Prinzen de Conti.«

Abrupt blieb Marie stehen und sah ihn irritiert an. »Der Prinz de Conti?«

Marie hatte diesen Mann seit ihrer Kindheit in der Werkstatt von Onkel Philippe ein und aus gehen sehen. Jedes Mal, wenn er kam, verschwand er mit Curtius in einem kleinen Zimmer hinter der Werkstatt und ließ, wenn er wieder ging, einen dicken Beutel mit Münzen generös auf die Werkbank fallen.

»Kennen Sie ihn etwa auch?«, wollte Robespierre wissen.

»Nicht persönlich. Und woher kennen Sie ihn?«

»Ich kenne ihn auch nicht persönlich, aber ich weiß, dass er nicht nur ein Kunstliebhaber ist, sondern auch ein großer Förderer und Beschützer von Rousseau, daher schätze ich ihn. Rousseau hat ihm viel zu verdanken.«

»Bitte entschuldigen Sie mich, ich habe Sie unterbrochen. Sie wollten mir eigentlich von Ihrer Freundschaft mit Rousseau erzählen.«

»Nachdem ich ein paar seiner Bücher gelesen hatte, wollte ich diesen großartigen Schriftsteller unbedingt kennenlernen, und schon nach unserer ersten Begegnung fühlte ich eine starke Verbundenheit auf literarischer Ebene. Seine Romane sind von einer Philosophie geprägt, die ich politisch durchaus befürworte.«

»Sind Sie denn oft hier, da Sie sich so gut auskennen?«

»Nun, ich versuche zumindest, ihn regelmäßig zu besuchen. Doch jetzt möchte ich als examinierter Anwalt zurück in meinen Heimatort Arras, und so werden die Besuche wohl leider seltener werden.«

Beim Gehen hielt sich Robespierre die ganze Zeit sehr aufrecht und hatte dabei die Hände auf dem Rücken verschränkt. Marie genoss die Konversation mit diesem gut aussehenden und klugen Mann.

»Doch nun spannen Sie mich bitte nicht länger auf die Folter«, sagte er schließlich. »Kann es sein, dass wir uns schon einmal begegnet sind?«

»Ja, das sind wir.«

»Bitte verzeihen Sie mir diese Unaufmerksamkeit, aber ich kann mich beim besten Willen nicht entsinnen, wo wir uns kennengelernt haben.«

»Wir haben uns nicht kennengelernt, weil Sie das nicht wollten.«

»Ich verstehe nicht, was Sie meinen.«

»Nun, ich weiß nicht mehr den genauen Wortlaut, aber ich glaube, Sie haben etwas Ähnliches gesagt wie … Nun, dass ich es bloß nicht wagen solle, Sie anzusprechen, weil Ihnen nicht der Sinn nach Konversation stünde …«

»Das soll ich gesagt haben?«

»Ich lüge Sie gewiss nicht an.«

»Nein, nein, ich glaube Ihnen schon, doch verraten Sie mir bitte, wann und wo das war.«

»Das war vor etwa einem Jahr auf der Île de la Cité. Sie saßen am Wasser und …«

»Jetzt weiß ich es wieder! Sie waren die Mademoiselle mit der kecken Antwort! Verzeihen Sie mir diesen gänzlich unangemessenen Ausbruch. Als eine Art Wiedergutmachung möchte ich Sie bitten, mich künftig bei meinem Vornamen zu nennen, Mademoiselle. Vorausgesetzt, Sie sind damit einverstanden.« Er nahm den Hut ab und verneigte sich.

»Ich nehme Ihre Entschuldigung an, bestehe allerdings darauf, dass auch Sie mich bei meinem Vornamen nennen, Monsieur Maximilien.«

»Selbstverständlich, Mademoiselle Marie. Und nun lassen Sie mich eine Frage stellen. Wie kamen Sie dazu, Wachsbildnerin zu werden?«

»Nun, ich hatte als Kind in Onkel Philippes Werkstatt zum ersten Mal die Wachsfigur von Jeanne Dubarry gesehen. Sie war so wunderschön«, schwärmte sie mit glänzenden Augen. »Seitdem wollte ich nichts anderes, als dieses Handwerk zu erlernen.«

»Und wer ist Onkel Philippe?«

»Das ist … mein Onkel«, kam es ihr ein wenig holprig über die Lippen.

Er lachte. »Das sagten Sie bereits.«

»Ich bin bei Philippe Curtius aufgewachsen. Meine Mutter ist seine Haushälterin.«

»Und was ist mit Ihrem Vater?«

Wie ein Dorn traf sie dieses Wort ins Herz. Vor ihrem inneren Auge sah sie ihren Vater durch den Nebel gehen und sprach dann die Worte, die sie einst auswendig lernen musste: »Mein Vater ist im Krieg gestorben, noch vor meiner Geburt.«

»Im Siebenjährigen Krieg? Ein Held also?«

»Ja.«

»Das tut mir leid. Und Ihr Onkel Philippe lehrte Sie dieses Handwerk? Obwohl Sie eine Frau sind?«

»Ist es denn nicht so, dass wir leben, was uns vorgelebt wird, dass wir wählen, was wir kennen, und anfangen zu begehren, was wir täglich sehen? Sind Sie denn nicht auch aus diesem Grund Anwalt geworden?«

»Aber Kunst ist doch etwas Gottgegebenes, das nicht erlernbar ist, oder?«

»Kunst vielleicht, aber Handwerk nicht.«

»Auch für das Handwerk braucht es Talent.«

»Das Talent ist, zu erkennen, welches Handwerk Gott für mich vorgesehen hat. Und ist es nicht zuletzt die innere Stimme, die in jedem von uns spricht?«

»Sie lassen sich von einem Gefühl leiten? Auch wenn es vielleicht nur eingebildet ist?«

»Sie etwa nicht?«

»Nicht, wenn es um große Veränderungen im Leben geht.«

»Und wenn es nun um die Liebe ginge?«

»Die Liebe! Sie ist das beste Beispiel dafür, wie der Verstand durch Gefühle irregeleitet wird.«

»Doch ist die Liebe nicht etwas Großes?«

»Liebe ist ein ganz eigenes Universum. Wer den Zutritt erhält, bekommt auch die Kraft zu grenzenloser Hingabe und grenzenloser Zerstörung. Ich für meinen Teil betrachte die Dinge lieber nüchtern. Und das meine ich durchaus auch im physischen Sinne. Ich möchte nicht zu einem kritiklosen, blinden Narren werden.«

Sie blieb stehen und wartete, bis er sie ansah. Das Dienstmädchen Adelais hatte sich ungehörig weit genähert und hielt verlegen inne.

»Wie überaus schade«, bemerkte Marie.

»Sie reden, als hätten Sie dieses Universum bereits betreten.«

»Leider muss ich Sie enttäuschen. Ich habe dieses Universum noch nicht betreten, aber ich würde mich jederzeit dazu einladen lassen, würde es mir meine innere Stimme sagen.«

»Diese Verklärung scheint mir etwas Frauentypisches zu sein.«

»Aber sind es nicht die Männer, die all das erst in uns auslösen? Und würden sie es nicht tun, wenn sie nicht selbst Gast dieses Universums sein wollten?«

»Ich fürchte, wir haben, was das betrifft, unterschiedliche Auffassungen.«

»Liebe ist für alle gleich, und sie ist für alle da.«

»Die Menschen denken und fühlen nicht gleich, Marie, aber sie haben eine Welt verdient, in der sie frei entscheiden können, was sie tun. Niemand hat das Recht, einen anderen zu befehligen. Niemand hat das Recht, über einen anderen Menschen zu bestimmen. Ein Volk kann trotzdem eine Gesellschaft sein, wenn sie in freier Wahl ihren eigenen Weg bestimmt. Niemand braucht dazu einen König!« Seine Gesichtszüge verhärteten sich.

»Was sagen Sie da?«

»Der Absolutismus ist eine verachtenswerte Staatsform. Das sage ich freiheraus. Die Arbeiter und Bauern, die dieses Land ernähren, haben ein Recht darauf, angehört zu werden und mitbestimmen zu dürfen.«

Ein Ruf unterbrach jäh ihr Gespräch. Rousseaus Ehefrau Thérèse kam aufgeregt herbeigerannt. »Maximilien!«, rief sie ganz außer Atem. »Kommen Sie schnell! Jean … er …«

»Hat er wieder einen Rückfall?«, fragte Maximilien.

»Ja, bitte, kommen Sie mit, und helfen Sie mir, ihn ins Haus zu bringen.«

Maximilien verbeugte sich vor Marie und bat um Entschuldigung, bevor er mit Thérèse zur Terrasse zurückeilte. Marie folgte ihnen.

Als sie eintraf, bot sich ihr ein Bild des Entsetzens. Rousseau saß in seinem Gartenstuhl, starrte mit kalten Augen ins Leere und schrie, als trachtete man ihm nach dem Leben.

»Geht weg, geht alle weg! Ihr wollt mich vernichten! Vernichten wollt ihr mich! Ihr alle!«

Dieser Mann hatte nichts mehr mit dem klugen Philosophen gemeinsam, dessen Büste Marie modelliert hatte. Thérèse nickte Maximilien zu, dann packten sie die Lehnen von Rousseaus Stuhl, um ihn nach drinnen zu tragen. Immer wieder schrie er aus Leibeskräften: »Weg mit euch! Weg mit euch! Ihr seid Gesindel! Kleinkriegen wollt ihr mich, jawohl! Ihr wünscht meinen Tod. Ich sehe es euch doch an, aber den Gefallen tue ich euch nicht. O nein! Ich werde verreisen. In England nimmt man mich auf. Die Engländer, die verstehen mich. Hier versteht mich keiner.«

»Wir alle verstehen dich, Liebster«, meinte Thérèse und strich ihm über die Wange.