Die Melodie der Bienen - Eileen Garvin - E-Book
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Die Melodie der Bienen E-Book

Eileen Garvin

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Beschreibung

Das Leben summt in Gis-Dur Alice ist Imkerin und hat durch den unerwarteten Tod ihres Mannes den Boden unter den Füßen verloren. Jake sitzt seit einem Unfall im Rollstuhl und findet nur noch Freude an der Musik, denn er hat das absolute Gehör. Harry ist äußerst schüchtern und hat Schwierigkeiten, soziale Bindungen einzugehen und einen Job zu finden. Die drei könnten unterschiedlicher nicht sein, doch die Bienen bringen sie zusammen und machen sie zu einer Familie. Die beiden jungen Männer helfen der Imkerin, ihre mehr als hunderttausend Bienen zu versorgen, bis Jake ein Problem erkennt: In einigen Bienenstöcken kann er das Summen der Königin nicht mehr heraushören. Als Die Melodie der Bienen zu verstummen droht, können die drei sie nur mit vereinten Kräften retten.

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Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Anja Mehrmann

© Eileen Garvin, 2021

Titel der englischen Originalausgabe:

»Bee Music«, Dutton, an imprint of Penguin Random House LLC, New York, 2021

© Piper Verlag GmbH, München 2022

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Coverabbildung: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

· 1 ·

ORIENTIERUNGSFLUG

· 2 ·

ZWÖLF KÖNIGINNEN

· 3 ·

FUTTERSUCHE

· 4 ·

DIE JUNGBIENE

· 5 ·

DUFTFÄCHERN

· 6 ·

DIE WAHL DES STANDORTS

· 7 ·

TOLLPATSCHIG

· 8 ·

BIENENABSTAND

· 9 ·

ARBEITERIN

· 10 ·

WARTUNG DES BIENENSTOCKS

· 11 ·

AUF ERKUNDUNGSTOUR

· 12 ·

STÖRUNG

· 13 ·

OBERTÖNE

· 14 ·

DROHNENLEBEN

· 15 ·

WEISELRICHTIG

· 16 ·

UNTERGANG DER KOLONIE

· 17 ·

PRACHTBIENE

· 18 ·

VEREINT

· 19 ·

IN DEN BIENENSTOCK HINEIN

· 20 ·

BIENENTANZ

· 21 ·

UMWEISELN

· 22 ·

SCHWARMALARM

· 23 ·

SCHUTZ

· 24 ·

TEILUNG DES BIENENSTOCKS

· 25 ·

RAUB

· 26 ·

BEE DAY

Dank

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Für alle wilden Geschöpfe und für jene, die sie lieben

· 1 ·

ORIENTIERUNGSFLUG

Wer annimmt, dass neue Kolonien ausschließlich aus jungen Bienen bestehen, die von den älteren zum Auszug gezwungen wurden, wird bei näherer Betrachtung eines neuen Schwarms feststellen, dass manche Bienen zwar die ausgefransten Flügel des Alters aufweisen, andere hingegen noch so jung sind, dass sie kaum zu fliegen vermögen.

EINE PRAKTISCHE ABHANDLUNG ÜBER DEN BIENENSTOCK UND DIE HONIGBIENE,L. L. LANGSTROTH, 1878

Jacob Stevenson hatte den höchsten Irokesen in der Geschichte der Hood River Valley Highschool. Davon war er bereits überzeugt, noch bevor der Rekord offiziell ins Jahrbuch der Schule aufgenommen wurde. Auf seinem Abschlussfoto war ein blau-schwarzes, zu einer Höhe von vierzig Zentimetern aufgetürmtes Kunstwerk zu sehen. Okay, nicht ganz. Es waren eher achtunddreißig Zentimeter, auf jeden Fall aber genug, um etwaige Kritiker verstummen zu lassen. Es hatte einige Zeit gedauert, bis Jacob der Schopf gewachsen war, den er in vier Spikes unterteilte und der seine optimale Höhe kurz vor den Frühjahrsprüfungen des Vorjahres erreicht hatte.

An diesem Morgen betrachtete er sein Kunstwerk aus Haaren im Spiegel und empfand eine gewisse Genugtuung, weil es ihm allen unvorhergesehenen Herausforderungen zum Trotz bereits seit über einem Jahr gelang, diese Pracht zu pflegen und zu bewahren. Die nicht zu leugnende Wahrheit eines Irokesen war, dass man sich ständig im Kampf mit der Schwerkraft befand und diesen Kampf an einem gewissen Punkt immer verlor. Man musste realistisch sein. Der Plan bestand darin, das maximale Volumen anzustreben, das einen ganzen Tag lang halten würde. Ein umgefallener Irokese wäre furchtbar peinlich, vor allem für einen Achtzehnjährigen. Jacob hatte verschiedene Produkte ausprobiert, um sein Dachgeschoss instand zu halten. Er hatte es mit Eiweiß versucht, mit Bartwachs und Haarspray und sogar mit einem Kleber aus der Holzwerkstatt. Eine äußerst unangenehme Erfahrung. Am Ende seiner ausgedehnten Experimente kam er zu dem Ergebnis, dass eine Mischung aus einem extra starken Haarwachs und Haarspray in Profi-Qualität die beste Wahl war, um diesen beinahe vierzig Zentimeter hohen Gipfel des Erfolgs aufrecht zu erhalten.

Noah Katz hatte den Irokesen am Abend vor dem Frühjahrskonzert der Jazzband offiziell vermessen. Sowohl Jacob als auch Noah waren mit dem traditionellen schwarzen Smoking bekleidet gewesen, den die Mitglieder der Jazzband der Hood River Valley Highschool bereits seit zwanzig Jahren trugen. Jacob war der Ansicht, dass seine Haare einen netten Kontrast zu dem taubenblauen Kummerbund und der Fliege bildeten. Er posierte mit seiner Trompete, während Noah leise lachend ein Foto schoss. In seiner riesigen Pranke wirkte das Handy zwergenhaft klein, beim Lachen zitterten seine Wangen.

»Cool, Stevenson!«

Katz sah aus wie ein gutmütiger Holzfäller. Die zwei waren seit der May Street Elementary befreundet, als sie beide in der Band der Fünftklässler spielten – Jacob die Trompete und Noah die Posaune. Noah trug keinen Irokesenschnitt. Seine Haare waren wild gelockt, und wenn er über sie sprach, nannte er sie »den Zustand«. Im Gegensatz zu Jacob brauchte Noah keinerlei Stylingprodukte, damit seine Haare der Schwerkraft trotzten. Er ließ sie einfach munter wachsen, hauptsächlich, um seine Mutter zu ärgern.

»Aufgepasst, Mädels!«, rief er mit geblähter Brust und zupfte an seinen Locken herum, bis er einem menschlichen Löwenzahn im Pusteblumen-Stadium ähnelte. Er machte ein Selfie. Dann stiegen sie rasch in Noahs Pick-up und rasten quer durch die Stadt zur Highschool, wo sie, wie üblich, zu spät ankamen. Mr Schaffer war sauer, aber ihr Musiklehrer schien sowieso immer auf der Suche nach einem Grund zu sein, die beiden Jungs anzubrüllen. Es war also keine große Sache.

Bei der Erinnerung an diesen Abend musste Jacob lächeln. Er drehte den Kopf erst nach rechts, dann nach links. Auf beiden Seiten seiner Haarpracht sah er ein paar Stoppeln aus dem ansonsten glatt rasierten Schädel sprießen. Er drehte den Wasserhahn auf, hielt einen Waschlappen in den lauwarmen Strahl und befeuchtete sich den Kopf. Dann drückte er sich einen Klecks weiche Rasiercreme in die Hand und tupfte sie auf die Stoppeln. Der zitronige Geruch des weißen Schaums erinnerte ihn ans Krankenhaus, und ihm wurde ein bisschen übel. Er atmete durch den Mund und griff nach seinem Rasiermesser.

Ein Irokese erforderte Disziplin. Er musste sich stets erst die Haare waschen oder sie zumindest nass machen und sie anschließend auskämmen, dann das Wachs in den nassen Schopf kneten, ihn in mehrere Teile scheiteln und mit dem Hochleistungsföhn trocknen, ehe er ihn mit Haarspray einsprühte und zum Schluss die seitlichen Stoppeln abrasierte. An einem warmen Tag wie diesem kam er bei der Prozedur ins Schwitzen. Der Zeitaufwand war wirklich enorm. Aber das war okay. Zeit war das Einzige, was er in diesen Tagen im Überfluss hatte. Zwei Stunden zum Frisieren waren überhaupt kein Problem.

Wie so oft, wenn er morgens vor dem Spiegel im Badezimmer saß, traf ihn die Erkenntnis wie ein Schlag. Die dunklen Härchen auf seiner Kopfhaut stachen aus dem weißen Schaum hervor und blieben unbeirrt stehen, etwas, wozu Jacob Stevenson – oder Jake, wie ihn jeder außer seinen Eltern nannte – nicht in der Lage war. Er schluckte schwer. Es kam ihm alles so albern vor, der Haarschnitt selbst und der Rekord, wenn er daran dachte, dass er nicht nur den höchsten Irokesen in der Geschichte der Hood River Valley Highschool hatte, sondern in diesem Bauerndorf, das viel von Rodeos und wenig von Punks hielt, wahrscheinlich der einzige Jugendliche war, der jemals einen Irokesen gehabt hatte. Es war auch deshalb albern, weil er nicht mehr zur Schule ging, nachdem er im letzten Frühling sozusagen seinen Abschluss gemacht hatte. Aber vor allem fand er es albern, weil es an jedem beliebigen Tag so ziemlich das Einzige war, was er zu tun hatte: seine verdammten Haare frisieren. Die Arzttermine wurden immer seltener, und die Physiotherapie fand nur noch einmal im Monat statt. Er hatte alle Zeit der Welt, um der Tatsache ins Gesicht zu sehen, dass er den Rest seines Lebens im Rollstuhl verbringen würde.

Jake stieß sich vom Waschbecken ab, rollte etwas nach hinten und betrachtete im Spiegel seinen Körper, der am Rumpf und an den Armen schlank und muskulös war. Seine Beine sahen nicht viel anders aus als vorher, doch es kam ihm manchmal so vor, als gehörten sie einem anderen.

Der Rollstuhl war der Grund, warum er »sozusagen« seinen Abschluss gemacht hatte. Die Schulverwaltung hatte seinen Eltern das Abschlusszeugnis per Post geschickt, während Jake im Krankenhaus lag, hundert Kilometer entfernt in Portland. Die Lehrer hatten ihn bestehen lassen, obwohl sie dafür in manchen Fächern mehr als ein Auge zudrücken mussten, zum Beispiel im Sportunterricht. Er hatte es sich angewöhnt, zu schwänzen und nach der zweiten Stunde zu Noah nach Hause zu gehen, um noch vor dem Mittagessen high zu werden. Bereits vor den Weihnachtsferien war sein Schatten nicht mehr in der Tür zur Sporthalle aufgetaucht. Aber nicht einmal Mr McKenna war Arschloch genug, um einen Schüler durchfallen zu lassen, der den Rest seines Lebens als Querschnittgelähmter verbringen würde. Hallo, Ironie!

Dass Jake seinen Abschluss bekommen würde, hatte ihm seine Mutter an einem der ersten Tage im Krankenhaus mitgeteilt, als er noch mit Medikamenten vollgepumpt war. Sie saß an seinem Bett, die Augen hinter dem rosa gerahmten Brillengestell waren verquollen. Sie versuchte, in seiner Anwesenheit nicht zu weinen, obwohl sie den Stuhl neben seinem Bett so gut wie nie verließ. Stundenlang saß sie da, hielt seine Hand und versicherte ihm flüsternd, dass Gott ihn behüte. Sie hatte ihm die Liste von Leuten vorgelesen, die angerufen oder ihre Gedanken und Gebete per E-Mail geschickt hatten: seine Lehrer, die Nachbarn, der Postbote, Leute aus der Kirchengemeinde. Menschen, von denen er noch nie gehört hatte, aber das sagte er seiner Mutter nicht, denn es hätte sie verletzt. Sie strahlte, als sie auf die Abschlussfeier zu sprechen kam, die zu jenem Zeitpunkt noch mehrere Wochen in der Zukunft lag.

»Wir sind so stolz auf dich, mein Schatz«, sagte sie. »Dein Name wird im Programm stehen. Sie haben Noah gebeten, das Abschlusszeugnis für dich entgegenzunehmen, da du ja nicht in der Lage sein wirst zu …«

Ihre Stimme wurde leiser, dann verstummte sie.

Jake zuckte zusammen, sein Lächeln war eine Grimasse. »Du meinst, da ich nicht in der Lage sein werde zu gehen?«

Er lachte in kurzen Salven, die klangen wie Gebell, und auf einmal konnte er sich nicht mehr beherrschen. Er schob es auf die Medikamente, aber es steckte mehr dahinter. Er konnte nicht aufhören, über das Wort »gehen« zu lachen, das eine völlig andere Bedeutung angenommen hatte, jetzt, wo er seine Beine nicht mehr benutzen konnte. Seine starken Jungenbeine, die Skateboard gefahren, gerannt und geklettert waren, Beine, die er an jedem einzelnen Tag seines erbärmlichen Lebens für absolut selbstverständlich gehalten hatte. Bis zu dem Tag, an dem sie aufhörten zu funktionieren. Er konnte nicht einmal aufhören zu lachen, als seine Mutter ihr Gesicht in den Händen vergrub und schluchzte. Ich bin so ein Arschloch, dachte er, als er nun vor dem Spiegel saß. Er rollte näher heran, betrachtete sich prüfend und bemerkte, dass er viel dünner war als letzten Frühling.

Er hatte gelacht, weil ihn das Wort »gehen« an seinen Vater, Ed Stevenson, und an dessen fleischiges, wütendes Gesicht erinnert hatte.

»Verdammt, man wird ja wohl noch verlangen können, dass du deinen faulen Hintern bewegst und bei der Abschlussfeier zum Podium gehst«, hatte Ed gesagt. »Du bist fast achtzehn, demnächst kannst du deine Sachen packen und sehen, wo du bleibst!«

Das war in den Winterferien des Abschlussjahres gewesen. Jake war gerade klar geworden, dass seine Noten keine Rolle mehr spielten, nachdem er sein Stipendium für die Musikschule verloren hatte, und es schien, als würde er wegen schlechter Leistungen möglicherweise von der Schule fliegen.

»Mach dir um mich mal keine Sorgen, Ed«, hatte Jake geantwortet. Als er auf die Highschool kam, hatte er begonnen, seinen Vater beim Vornamen zu nennen, denn er wusste, dass ihn das ärgerte. »Ich werde schneller von hier verschwunden sein, als du gucken kannst.«

Nachdem der Traum von der Musikschule im letzten Jahr geplatzt war, hatte Jake beschlossen, nach Portland zu ziehen. Er würde in einem Musikladen oder in einem Café irgendwo in der Nähe der Clubs auf der Eastside arbeiten. Genaueres hatte er noch nicht entschieden, aber wie schwer konnte es schon sein, in einer derart großen Stadt einen Job zu finden?

Doch seitdem Jakes Rückenmark verletzt worden war, saß er mit seinem faulen Hintern im Haus seiner Eltern fest. In nächster Zeit würde er nirgendwo hingehen, und weder Ed noch sonst jemand konnte etwas dagegen tun.

Er besserte die rechte Seite seines Kopfes nach, trocknete ihn mit dem Handtuch ab und fing an, das Rasiermesser auf der linken Seite über die Wölbung seines Schädels zu ziehen. Das schabende Geräusch war halb angenehm, halb widerwärtig.

Sein Vater gehörte zu einer sechsköpfigen Baukolonne bei Klare Construction. Das bedeutete, dass er an Wochentagen Überstunden machte, und obwohl diese Stunden Jake lang und gähnend leer vorkamen, empfand er sie doch als Erleichterung. Die Wochenenden waren härter, denn dann richtete sich Ed mit einem halben Kasten Bier und einer Tüte Erdnüsse vor dem Fernseher ein. Jake blieb in seinem Zimmer, hörte Musik oder surfte im Internet. Seine In-Ear-Kopfhörer dämpften das rasselnde Geräusch, wenn sein Vater hustete, den Klang der Erdnussschalen, die in die Schüssel fielen, das weiße Rauschen des Fangebrülls, das bei jeder Sportart und in jeder Saison immer gleich klang.

Jake sah sich im Badezimmer um und betrachtete das tiefer gesetzte Waschbecken und den Spiegel, den Duschstuhl, die Haltegriffe, den verbreiterten Türrahmen. Als erfahrener Tischler hätte sein Vater all diese Renovierungsarbeiten mühelos innerhalb weniger Tage erledigen können, um die Rückkehr seines Sohnes aus der Rehaklinik vorzubereiten, in die Jake nach dem Krankenhausaufenthalt verlegt worden war. Aber Ed hatte keinen Finger gerührt. Die Kirchengruppe seiner Mutter hatte sich um alles gekümmert, eifrig bemüht, Tansy Stevenson, Verwaltungsassistentin des Pastors, und ihrem Sohn Jacob in dieser schwierigen Zeit zu helfen. Sie hatten Geld gesammelt, um die Renovierung zu bezahlen, und eine Arbeitsgruppe von Freiwilligen zusammengestellt, bevor Jake nach Hause kam.

Das hatte ihm seine Mutter bei einem Besuch in der Rehaklinik erzählt. In einem geblümten Kleid und vernünftigen Schuhen, einem Outfit, das normalerweise dem Kirchgang oder Feiertagen vorbehalten war, saß sie neben der Therapieliege. Jake merkte, dass sie in Bezug auf die Renovierung untertrieb, um seinen Stolz nicht zu verletzen. Aber er wusste, dass seine Mom ein Zeichen für Gottes Liebe darin sah, dass all diese Menschen zu ihrem schäbigen, heruntergekommenen Haus hinausgefahren waren, um Tansy Stevenson zu helfen, ihrem Sohn zu helfen. Jake lag auf der Liege, und der Physiotherapeut zeigte seiner Mutter die Übungen, bei denen sie ihn unterstützen musste, um Kontrakturen vorzubeugen. Diese bleibenden Verkürzungen der Muskeln würden sonst einen noch größeren Freak aus ihm machen. Er sah zu, wie sich sein Fuß in der Hand des Physios auf sein Gesicht zu und wieder davon weg bewegte. Er fragte nicht, ob Ed vor der Glotze gesessen und Bier aus Dreiviertelliter-Flaschen geschlürft hatte, während die frommen Gemeindemitglieder das Badezimmer umbauten. Die Frage war überflüssig, denn er wusste ohnehin, dass Ed nicht einmal den Anstand besessen hatte, das Haus zu verlassen, während die anderen die Arbeiten erledigten, für die er zuständig gewesen wäre. Das musste auch für seine Mutter hart gewesen sein. Er war jedenfalls dankbar, dass er das verdammte Bad nun ohne Hilfe benutzen konnte.

Jake öffnete das Fenster einen Spaltbreit und hörte einen Wagen vorbeirumpeln, aus dessen Radio I Will Wait von Mumford & Sons plärrte. Ausgerechnet. Ihm wurde flau im Magen. Er drehte den Rollstuhl herum und griff nach dem Haarspray. Er betrachtete seine nackte Brust und die Schultern im Spiegel, spannte den Bizeps an und lächelte finster entschlossen. Sein Oberkörper war stärker als jemals zuvor, denn um die langen Tage zu füllen hatte er angefangen, Gewichte zu heben.

Als er im Herbst aus der Rehaklinik zurückgekommen war, wollte seine Mutter ihn überreden, weiterhin seine Selbsthilfegruppe in Portland zu besuchen. Ständig nervte sie ihn, er solle den Mentor vor Ort anrufen, der ihm zugeteilt worden war – ein paralympischer Skifahrer, der ganz in der Nähe in Mosier wohnte. Sie stand im Türrahmen seines Zimmers, die Handtasche am Arm, bereit, zur Kirche aufzubrechen.

»Du solltest aus dem Haus gehen, Jacob«, sagte sie. »Du musst unter Menschen kommen, wieder anfangen zu leben.«

Wieder anfangen zu leben. Ihm wurde heiß vor Wut, aber er schwieg. Er schob sich nur die Kopfhörer ins Ohr und drehte sich wieder zu seinem Computer. Jake spielte Tomb Raider, und er gewann. Es war allerdings ein hohler Sieg, denn er spielte gegen sich selbst. Wenigstens hatte er nichts Hässliches zu ihr gesagt. Sie war lieb, seine Jesus liebende Mom. Es war nicht ihre Schuld, dass ihr einziger Sohn, der irgendwie von Anfang an ein Reinfall gewesen war, sich selbst so übel mitgespielt hatte.

Sie waren nicht betrunken, nicht mal leicht angeheitert gewesen an jenem eigenartig warmen Apriltag im vergangenen Jahr. Jemand hatte im Garten von Tom Pomeroys Elternhaus eine Wasserrutsche aufgebaut, und sie rutschten abwechselnd auf dem Bauch die glitschige gelbe Plastikbahn hinunter. Ungefähr zwanzig Leute waren da, alle aus dem elften und zwölften Jahrgang. Die Jungs jauchzten, und die Mädels kreischten, wenn sie über den Rasen schlitterten. Als Jake sich auf die nasse Rutschbahn warf, empfand er einen Anflug von Glück. Für eine Weile erlaubte er sich, den Druck des Lebens nach dem Abschluss und den Stress der Examensprüfungen zu vergessen, bei denen er mit ziemlicher Sicherheit durchfallen würde. Er lenkte sich von der Tatsache ab, dass er das Stipendium für die Musikschule verloren hatte. Anfangs hatte das sehr wehgetan, sich schließlich aber in einen dumpfen Schmerz verwandelt, den er von Zeit zu Zeit ignorieren konnte. Im warmen Sonnenschein, umgeben von seinen Freunden, fühlte er sich so unbeschwert wie ein Kind. Er stieg gerade die Treppe zur Veranda hinauf, als jemand die Stereoanlage aufdrehte. Mumford. Dieses Lied. Es war nur ein Moment, eine gewöhnliche Ansammlung von Sekunden, der außergewöhnliche Auswirkungen auf sein Leben haben sollte.

Jake nahm sich ein Bier aus der Kühlbox und schnorrte eine American Spirit. Eigentlich rauchte er nicht, aber das hier war eine Party, so what? Er stieg die Treppe zum ersten Stock hinauf, hinter Megan Shine her, die irgendeine Geschichte über ihre Reise nach Mazatlán erzählte. Dort waren sie und ihre Schwestern mit ihren reichen Eltern in den Frühjahrsferien gewesen. Megan war supernett, obwohl sie das gar nicht nötig hatte, weil sie nämlich auch noch fantastisch aussah. Heiß wie eine Cheerleaderin. Blond und so. Nicht sein Typ, aber trotzdem. Sie lachte über etwas, das er gesagt hatte. Sie nahm ihm sein Bier aus der Hand, legte den Kopf zurück, um zu trinken, und er warf verstohlen einen Blick auf ihre schönen Brüste. Vermutlich hätte es sie nicht mal gestört, wenn sie gemerkt hätte, wie sein Blick in ihr Bikinioberteil eintauchte und dann zu ihrem hübschen, flachen Bauch und den knapp sitzenden pinken Shorts wanderte. Jemand griff von hinten nach ihm. Pomeroy drückte Jake mit einem Arm an sich und versetzte ihm scherzhaft einen Klaps auf die rasierte Seite seines Kopfes.

Tom Pomeroy war ein cooler Typ, wenn auch ein bisschen grobschlächtig. Er gehörte zu denen, die immer etwas Körperliches tun mussten: einen Liegestütz-Wettbewerb, von der Eisenbahnbrücke in den Fluss springen oder im Dunkeln auf dem Skateboard durch die Tunnel bei Mosier rasen. Tom war einer von denen, die ihre Kumpels um sich versammelten, damit sie dasselbe taten. Nichts konnte ihn aus der Fassung bringen. Der Typ stellte ständig irgendwelchen Scheiß an, bei dem er sich eigentlich nur wehtun konnte, aber er war wie eine Katze, landete immer auf den Füßen.

Er war größer und stärker als Jake. Pomeroy spielte Football, darum ging Jake dieser Art Ringkampf normalerweise aus dem Weg. Aber aus irgendeinem Grund ließ er nun seine Zigarette fallen und wirbelte herum, um nach Pomeroys fleischigem Oberkörper zu greifen. Vielleicht, weil Megan zusah und lachte. Jake stürzte sich auf den größeren Jungen und schlang ihm die Arme um die Taille. Sein Freund begann unter seinem Gewicht zu schwanken.

»Herrgott noch mal, Stevenson!«, brüllte er, als er ausrutschte.

Es wäre keine große Sache gewesen, hätten sie nicht auf der Terrasse im ersten Stock gestanden. Jake fiel, sein Körper verdrehte sich in der Luft und landete mit einem scheußlichen dumpfen Geräusch auf der niedrigen Mauer, die Mrs Pomeroys Rosengarten von der Einfahrt trennte. Er blickte auf und sah Megan und Pomeroy über den Rand des Vordaches spähen. Er wollte lachen und ihnen zurufen, dass er okay war, aber das stimmte nicht. Und danach war nichts mehr wie früher.

Unglücklich, sagten die Ärzte später zu ihm. Er hatte eine inkomplette Rückenmarksverletzung zwischen den Wirbeln Th 11 und Th 12 im unteren Rücken.

Bei der Erinnerung wurde Jake schlecht. Er atmete tief durch und rollte über den Flur zu seinem Zimmer. Die Dauerschleife in seinem Kopf war wieder angelaufen. Er würde nie wieder gehen können, sagte der Chirurg, aber immerhin hatte er keine Einschränkungen seines Oberkörpers, weil die Schädigung nur partiell war. »Dafür kannst du dankbar sein.«

Jake hatte den Typen angestarrt. Dankbar? Dankbarkeit war das Letzte, was ihm damals in den Sinn gekommen war.

Er zog sein graues Lieblingshemd von Dickies an, knöpfte es zu, griff nach seinem Rucksack und schlang die Riemen um die Lehne des Rollstuhls.

Er habe Glück, weil er seine Hände und Arme noch gebrauchen könne, hatte die rothaarige Krankenschwester gesagt, obwohl er auf einer Körperseite schwächer war als auf der anderen.

Er schob seine Sonnenbrille in die Hemdtasche.

Er sei jung und ansonsten gesund, sagte sein Physiotherapeut immer wieder. Er könne ein richtig tolles Leben haben.

Jake hob erst das eine Bein mit beiden Händen auf die Fußstütze, dann das andere. Er zog seine Doc Martens an, schnürte sie zu und rollte durch den Hausflur, zur Tür hinaus und die Rampe hinunter.

»Eine erfolgreiche Karriere«, meinte sein Therapeut.

Er setzte die Sonnenbrille auf und schob sich die In-Ear-Kopfhörer ins Ohr. Er drehte die Lautstärke seines iPhones auf, und der vertraute kratzige Sound von Ska Punk erfüllte seinen Kopf.

»Computer programmieren vielleicht«,schlug seine Mom vor und nickte erst dem Sozialarbeiter und dann Jake zu. »Du magst doch diese Spiele so gern, oder?«

Er manövrierte den Rollstuhl über die gekieste Zufahrt und hinaus auf den Radweg, der sich entlang der Belmont Avenue schlängelte. Die Räder wirbelten Staub und Kieselsteinchen auf. Er lächelte, denn er hatte richtig Speed drauf. Der Rollstuhl war cool. Seine Mitschüler hatten Geld dafür gesammelt. Andernfalls hätte es nur für das beschissene Ding gereicht, für das die Versicherung seines Dads aufgekommen wäre. Sie hatten die Sache mit der Spende bei der Abschlussfeier verkündet, hatte Noah ihm erzählt. Jake war froh, dass er nicht dort gewesen war und sich deshalb auch nicht hatte bedanken müssen. Das wäre sehr demütigend gewesen, obwohl er tatsächlich dankbar dafür war. Jetzt, wo die Frühlingsniederschläge allmählich nachließen, würde er den Nachmittag wie so oft in letzter Zeit draußen in der Nähe der Obstplantagen verbringen, denn er wusste, dass er dort keinem seiner Freunde begegnen würde. Wer nicht aufs College ging – wie Noah, der arbeitete, um Geld für eine Reise zu sparen –, war entweder bei der Arbeit oder im Skatepark.

Die Luft roch grün und frisch. Der Duft versetzte seinem Herzen einen kleinen Stich. Diese Jahreszeit, in der immer wieder überraschend Regengüsse über die Talsohle fegten und der Wind die Obstgärten in wogende Blütenteppiche verwandelte, hatte ihn immer schon mit Hoffnung erfüllt. Froschchöre sangen in den Bewässerungsgräben, und die Tage wurden unmerklich länger. Habichte saßen auf den Zäunen an den Landstraßen, und winzige Finken sausten durch die Luft. Goldspechte riefen im Schatten des Waldes. Er hatte noch nie jemandem erzählt, dass ihm solche Dinge auffielen, aber der Frühling brachte ihm immer eine heimliche Freude, das Versprechen auf etwas Neues. Er spürte, wie sein Herz sich zu dieser Freude zu erheben versuchte, aber gleich wieder entmutigt zurücksank.

Er drehte die Musik lauter. Es war Connecticut Ska von Spring Heeled Jack, das Stück, mit dem die Band in den frühen Neunzigern in der US-Punkszene aufgetaucht war, kurz vor Jakes Geburt. Jake hatte sich auf Pat Gingras’ Trompete konzentriert und analysiert, wie sich der Sound der Band veränderte, bevor Gingras durch Tyler Jones ersetzt wurde. Er dachte sich Argumente aus, vertrat an diesem Tag sogar die Meinung, Jones’ Stil habe den klassischen Ska-Punk-Sound der Band fortgeführt, was aber im Grunde niemand glauben konnte. Jeder, der ein Ohr für Musik hatte, hörte, wie sich Spring Heeled Jack immer mehr dem Mainstream-Sound der Mighty Mighty Bosstones annäherten, die schließlich einige Mitglieder der Band schluckten. An anderen Tagen stellte Jake Mutmaßungen darüber an, dass Gingras’ Sound authentisch und der wahren Mission der Musik treu war, was tatsächlich seine Meinung und auch die jedes anderen echten Ska-Fans war. Es spielte keine Rolle. Es war wie seine Tomb-Raider-Spiele: nur ein Zeitvertreib in dem Gefängnis, das nun sein Leben war. Dieses Leben war an die Stelle dessen getreten, das er eigentlich führen sollte – ein Leben voller Musik und Versprechen, dieses andere Leben, das sich nun wie etwas anfühlte, das er sich nur eingebildet hatte.

Jakes musikalische Fähigkeiten, die bereits im Kindesalter offensichtlich gewesen waren, stellten für seine Eltern, die keine musikalischen Menschen waren, ein Rätsel dar. Glücklicherweise war er seinen Lehrern aufgefallen, und sie hatten ihm vorgeschlagen, sich der Schulband anzuschließen. Seit der Mittelstufe spielte er Trompete. An ein Leben ohne Musik konnte er sich nicht mehr erinnern, und es gab keine Worte, um es zu erklären, dieses quicklebendige Ding, das da in ihm wohnte.

Im Herbst seines Abschlussjahres hatte man Jake ein Dreiviertel-Stipendium für das Cornish College of the Arts in Seattle angeboten, hauptsächlich aufgrund seiner musikalischen Fähigkeiten und einiger Empfehlungsschreiben. Wären seine Noten besser gewesen, hätte er vielleicht ein Vollstipendium erhalten, aber fünfundsiebzig Prozent waren genug. Er wollte Musiktheorie, Musikgeschichte und künstlerische Praxis studieren mit Trompete als Hauptinstrument. Die schriftliche Zusage hatte er monatelang in seinem Trompetenkoffer aufbewahrt und sie, sobald er allein war, immer wieder hervorgeholt und gelesen, obwohl er sie inzwischen fast auswendig konnte.

»Lieber Mr Stevenson, wir freuen uns sehr, dass wir Sie in der Gemeinschaft des Cornish College of the Arts willkommen heißen dürfen …« Bei diesen Worten wurde ihm schwindelig. Aber als es dann an der Zeit war, eine Anzahlung zu leisten, hatte sich sein Vater geweigert, ihm das Geld zu leihen. Ed hatte dem Flehen seiner Frau keinerlei Beachtung geschenkt und kaum den Blick vom Fernseher gelöst, um ihr zu antworten.

»Musikschule? Na hör mal!«, sagte er verächtlich. »In seinem Alter habe ich bereits voll gearbeitet.«

Damit war der Fall erledigt. Jake wollte an diesen herben Verlust nicht mehr denken. Aber beim Wehklagen von Gingras’ Trompete überfielen offene Fragen seinen Geist und spielten in Dauerschleife: Was wäre, wenn sein Vater ihm das Geld geliehen hätte? Wenn er einen besseren Notendurchschnitt erreicht und das Vollstipendium bekommen hätte? Was, wenn er an den Wochenenden gearbeitet und ein bisschen eigenes Geld angespart hätte? Wie erbärmlich, dass ihm diese Sache, die er so sehr gewollt hatte, entglitten war, weil er sich zu spät ein bisschen mehr Mühe gegeben hatte.

Wie jedes Mal uferten die Fragen aus und wurden immer unerträglicher. Was, wenn er an jenem Tag nicht bei Pomeroy gewesen wäre, sondern für seine Mom den Garten aufgeräumt hätte, worum sie ihn gebeten hatte? Stattdessen hatte er Rechen und Laubsack links liegen gelassen und sich fest vorgenommen, nur eine Stunde auf der Party zu bleiben und den Garten fertig zu machen, bevor sie nach Hause kam. Was, wenn er wegen Megan Shine nicht so eine Show abgezogen hätte? Wenn er noch einmal ganz von vorn anfangen könnte?

Jake drehte die Musik lauter, um seine Gedanken zu übertönen. Beim Indian Creek Golfplatz erreichte er den Fuß des Hügels und nahm sofort die Steigung in Angriff. Die Wolken hatten sich verzogen, oberhalb der Kammlinie veränderte sich die Farbe des Himmels von orange zu gelb. Die Apfel- und Birnbäume hatten eine verwirrende Schönheit entfaltet, die Blüten wehten leicht über die Talsohle dahin bis zum Fuß des schneebedeckten Mount Hood. Die Temperatur fiel, und Jake atmete den feucht-grünen Duft der bewässerten Obstplantagen ein. Er spürte den schwachen, leicht bitteren Geschmack des Zeugs in der Kehle, mit dem die Bäume gespritzt wurden. Er redete sich ein, dass es die Pestizide waren, die seine Augen brennen ließen.

Er fuhr den nächsten Hügel hinunter, ohne auf den alten Mann zu achten, der seinen Golfwagen angehalten hatte, um dem Jungen mit dem Irokesen hinterherzustarren, der im Rollstuhl auf die Kreuzung zuraste. Mach dir keine Sorgen um mich, alter Mann, dachte er. Das Schlimmste ist längst passiert.

Aber stimmte das? Vielleicht bestand das Schlimmste ja darin, dass in seinem jämmerlichen Leben nie wieder etwas passieren würde. Im nächsten Monat richtete die Hood River Valley Highschool wieder eine Abschlussfeier aus, die des Jahrgangs 2014. Hipp, hipp, hurra! Zweihundert junge Menschen würden im Leben vorankommen, aufs College oder zur Arbeit gehen oder wenigstens aus diesem Provinznest fortziehen. Die ganze Woche dachte er schon darüber nach. Er stand unmittelbar bevor, der erste Jahrestag des Ereignisses, das seinem bisherigen Leben ein Ende gesetzt hatte. Sauber, Jake. Du hast es vermasselt. Genau, wie dein Alter es dir dein Leben lang prophezeit hat. Gute Arbeit, du Niete.

Der Nachmittag neigte sich, die Dämmerung kam näher, und Jake fuhr schnell am alten Schulhaus in Oak Grove vorbei, das seinen langen Schatten auf die Apfelplantage warf. Er sah, wie in den Schuppen der Plantagenarbeiter die Lichter angingen, und erblickte Gestalten, die auf Leitern standen und deren Schatten zwischen den Baumreihen allmählich länger wurden. Er fuhr nach Süden auf die Silhouette des Mount Hood zu, der vor dem grüngelben Horizont im Abendlicht zu glühen schien.

»Demnächst kannst du deine Sachen packen und sehen, wo du bleibst.«

Die Worte hallten in seinem Schädel wider, und Jake stellte die Musik auf volle Lautstärke. Er nahm den Geruch seines Schweißes wahr, der nun anders roch als früher. Wie der eines alten Mannes oder eines Kranken, und er kam sich selbst wie ein Fremder vor. Er versuchte, sich auf die weiße Linie am Straßenrand zu konzentrieren, neben der so weit außerhalb der Stadt kein Radweg, sondern nur ein schmaler Seitenstreifen verlief.

Er wehrte sich gegen eine Flut von Bildern: Megan Shines Lächeln und die Sonne, die hell auf ihr Bikinioberteil scheint. Seine Finger, die über die Ventile fliegen, während er beim Jazz-Wettbewerb des Bundesstaats ein Trompetensolo bläst und ihm das Herz bis zum Hals schlägt. Noah, der die Halfpipe im Skatepark rippt. Wie er, Jake, im Bandbus eine Dose Kaubonbons herumgehen lässt. Und wie er am Strand seinem gefleckten Hund hinterherrennt. Alles vorbei. Diese Dinge waren ein Teil des Lebens, das er einmal gehabt … und das er verloren hatte. Ihm blutete das Herz, und er hasste sich dafür. Er hasste die Tränen, die ihm über die Wangen liefen und die er sich selbst nicht mehr als Schweiß verkaufen konnte. Er hasste das, was er aus seinem verdammten Leben gemacht hatte und wofür er niemand anders verantwortlich machen konnte als sich selbst. In diesem Moment hatte er das Gefühl, auf unwiderrufliche Art gebrochen zu sein.

Jake war so tief in seine Gedanken versunken, dass er den Pick-up nicht hörte, der sich ihm von hinten näherte. Er blickte nach vorn und sah nicht, dass ein Rad des Wagens jenseits der weißen Linie auf dem Seitenstreifen fuhr. Ein großer Pick-up, dessen Fahrer den Jungen in der Dämmerung erst entdeckte, als die Scheinwerfer auf die Rückseite des Rollstuhls trafen. Jake hörte das Kreischen der Bremsen über die Musik hinweg, dann stand alles still.

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ZWÖLF KÖNIGINNEN

Die Bienenkönigin ist das einzige geschlechtsreife Weibchen im Bienenstock, und sie legt sämtliche Eier.

L. L. LANGSTROTH

Schon bevor sie auf die Verkehrslawine traf, die sich über die Interstate 84 in Richtung Hood River wälzte, hätte Alice Holtzman ihre Laune als unterdurchschnittlich bezeichnet. Schuld daran waren diese jungen Schwachköpfe bei der Sunnyvale Bee Company in Portland, die ihre Bestellung verwechselt, ihren Aufbruch verzögert und dafür gesorgt hatten, dass sie am Spätnachmittag in diesem Meer aus Pkws und Trucks gelandet war. Um genau zu sein: Sie hatten ihren Auftrag verloren, und das war frustrierend, weil Alice Stammkundin bei Sunnyvale war, und auch, weil sie aus Gründen des persönlichen Stolzes immer sehr gewissenhaft vorging.

Am Bee Day, der jedes Jahr im April stattfand, ging immer etwas schief, das ließ sich nicht leugnen. Immerhin flogen an diesem Tag Hunderte Millionen Bienen im Hof der Sunnyvale Bee Company herum. Bei ihrer Ankunft sah Alice unzählige verpackte Jungvölker, die darauf warteten, abgeholt zu werden. Jeder der kleinen, mit einem Gitternetz abgeschirmten Kästen enthielt zehntausend Bienen, die alle verwirrt summten, weil sie kurz zuvor aus den Imkereien im Süden von Oregon aussortiert worden waren. Diese kostbare, vor Tagesanbruch in die Wagen verladene Fracht musste innerhalb von vierundzwanzig Stunden abgeholt, weitertransportiert und in die neuen Bienenstöcke gebracht werden. Wenn also Schwärme von Imkern an einem typischen Bee Day Sunnyvale heimsuchten, um ihre neu erworbenen Bienen abzuholen, konnte es sehr hektisch werden.

Der Wagen vor ihr kroch weiter und bremste dann abrupt. Alice schnaubte ungeduldig, blickte auf die Uhr und seufzte. Ja, sie wusste, dass am Bee Day immer Chaos herrschte. Genau darum hatte sie sich einen Tag frei genommen. Es war Donnerstag, denn natürlich kamen die neuen Bienen nie an einem Wochenende. Wie Babys kündigten sie sich unvorhergesehen und oftmals zu einem ungünstigen Zeitpunkt an. Alice und die anderen erwartungsvollen Bienenzüchter mussten sich gedulden, bis die Bienenstöcke im Süden sich um junge Völker vermehrt und die Regenfälle zu Beginn des Frühjahrs nachgelassen hatten. Die Abholtermine wurden ständig verschoben. Kein professioneller Wettanbieter würde jemals Geld auf den Bee Day setzen, so kompromisslos lief dieses Geschäft. Alice wusste das. Darum hatte sie wie immer zwei Tage vorher angerufen, um sich ihre Bestellung erneut von Tim, dem stets gut gelaunten Verkaufsstellenleiter, bestätigen zu lassen. Er arbeitete seit mehr als zwanzig Jahren dort, und trotzdem war es unmöglich zu sagen, wie alt Tim war. Er gehörte zu den Männern, die mit zwanzig alt aussahen, weil sie gleich nach der Highschool ihre Haare verloren, später dann aber alterslos wirkten. Der unerschütterliche Tim. Alice kannte nicht mal seinen Nachnamen, aber seit einigen Jahren war er ein regelmäßiger Bestandteil ihres Lebens. Nicht gerade ein Freund, eher ein willkommener Meilenstein, eine fröhliche Wegmarkierung, die besagte, dass der Frühling nahte, dass der Winter in Oregon endlich zu Ende ging und es an der Zeit für neues Leben im Bienenvolk war. Trotz aller Unannehmlichkeiten liebte Alice den Bee Day.

Aber in diesem Jahr war nicht Tim ans Telefon gegangen, als sie anrief, sondern eine junge Frau, die sich als Joyful zu erkennen gab.

»Wie kann ich Ihren Tag schöner machen?«, fragte sie zur Begrüßung.

Alice nannte ihren Namen und die Auftragsnummer, während sie sich fragte, ob Joyful tatsächlich ihr echter Name war. Joyful versicherte ihr, dass alle Bestellungen wie üblich ausgeführt werden würden und dass sie sich sehr darauf freute, Alice bei der Abholung zwei Tage später zu sehen. Die junge Frau weigerte sich zwar nicht direkt, nach Alices Auftrag zu suchen, machte aber auch keine Anstalten, wirklich nachzusehen.

»Alles Gute!«, hatte sie gerufen und aufgelegt, ehe Alice noch etwas sagen konnte.

Als Alice nun dort stand und zusah, wie Joyful, der die blonden Dreadlocks ins Gesicht hingen, in einem Stapel von Bestellungen vergeblich nach der von Alice suchte, lagen ihr deshalb die Worte »Hab ich’s nicht gesagt?« auf der Zunge. Ihr lagen auch noch andere Worte auf der Zunge – solche, die ihre Mutter enttäuscht hätten. Alice verschränkte die Arme vor der Brust, atmete tief durch und beugte sich über den Tresen.

»Miss, ich habe vor zwei Tagen angerufen. Mein Name ist Holtzman. Alice Holtzman. Hood River. Ich habe zwölf Ableger Russische Honigbienen bestellt. Zwölf Ableger für meinen Bienengarten.«

Sie versuchte, gleichmütig zu klingen und richtete sich ein wenig auf, als sie bemerkte, dass sie mit dem Zeigefinger deutlich hörbar auf den Tresen tippte.

»Keine zusätzlichen Königinnen und keine Transportboxen. Tim stellt meine Sachen normalerweise im Hinterhof ab.« Alice deutete auf einen abgesperrten Bereich auf der linken Seite. Schon seit Jahren trennte Tim die Bestellungen erfahrener Imker von denen der Anfänger, die oftmals länger blieben, um Fragen zu stellen und damit ihrerseits zur summenden Verwirrung am Bee Day beitrugen. »Warum lassen Sie mich nicht einfach selbst nachschauen? Ich bin mir sicher, dass ich sie finden werde.«

Aber Joyful, deren zusammengezogene Brauen und die ins Gesicht hängenden Dreadlocks verrieten, dass sie keinen schönen Tag hatte, ließ sich nicht erweichen. Sie blickte von dem chaotischen Papierhaufen auf und fixierte Alice mit strengem Blick.

»Ma’am, Sie haben gesagt, dass Sie eine langjährige Kundin sind, und ich weiß das zu schätzen. Aber wir arbeiten hier nach einem bestimmten System, und Sie werden warten müssen, bis Sie an der Reihe sind wie alle anderen auch.«

Alice errötete vor Verlegenheit und wich zurück. Sie presste die Lippen aufeinander und fühlte sich wie ein Kind, das bestraft wird. Sie spürte, dass ihr der Atem stockte, und dachte an Dr. Zimmerman, die sie gebeten hatte, auf solche Augenblicke zu achten. Alice zog die Träger ihrer Latzhose hoch und gesellte sich zu der Schar von Bienenzüchtern, die überall herumliefen und miteinander plauderten, während sie auf ihre Bestellungen warteten. Nur Alice plauderte mit niemandem.

Die Frühlingssonne schien unerbittlich auf sie herab. Sie nahm ihren Sonnenhut ab und strich sich das schweißfeuchte Haar aus dem Nacken. Sie blickte auf ihre bis aufs Nagelbett abgekauten Fingernägel und schob die Hände in die Gesäßtaschen. Sie verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen, denn in den Arbeitsschuhen waren ihre Füße angeschwollen. Sie hob den Kopf, entdeckte ihr Bild auf dem Sicherheitsmonitor und wandte den Blick wieder ab, während sie an den Trägern ihrer Latzhose zog. Es machte sie wahnsinnig, untätig herumzustehen. Eine halbe Stunde später fand sich ihre Bestellung auf dem Fußboden vor Joyfuls in Birkenstocks steckenden Füßen.

»Alice Holtzman, Hood River. 12 Ableger Russische Honigbienen. Keine zusätzlichen Königinnen. Hinterhof. ***VIP!!!«, hatte jemand mit rotem Stift quer über die ganze Seite gekritzelt.

Joyful wirkte leicht geknickt, entschuldigte sich aber nicht. Sie reichte Alice das zerknitterte Blatt Papier und deutete auf den Hinterhof.

Diese Situation war für Alice nichts Neues. Schließlich war sie eine Holtzman. Als Deutsch-Amerikanerin war sie stets vernünftig, plante immer im Voraus und überdachte alles mehrmals gründlich, so, wie ihre Eltern es ihr beigebracht hatten. Sie versuchte vorherzusehen, was schiefgehen konnte, und bereitete sich immer gut vor, um Problemen aus dem Weg zu gehen. Sie wusste, dass die meisten Menschen weniger gewissenhaft waren als sie. Häufig musste sie warten, bis andere ihren Gedanken folgen konnten, nur um zu beobachten, wie sie oftmals schon scheiterten, ehe sie überhaupt angefangen hatten. Wie sollte sie sich also dieses Gefühl erklären, diese Ungeduld, den kindischen Drang, über den Tresen zu fassen und Joyful kräftig an den Dreadlocks zu ziehen? Sie nahm das Blatt Papier und ging zum Hinterhof.

Nick und Steve, zwei Mitglieder der festen Belegschaft, halfen Alice, die Deckel der Pappkästen mit Klebeband zu verschließen und die Behälter vorsichtig einen nach dem anderen auf die Ladefläche ihres Pick-ups zu stellen. Sie legte einen Spanngurt um die Kästen, damit sie während der Fahrt nicht herumrutschen konnten.

»Tut mir leid, Alice«, sagte Nick, blickte zu Joyful hinüber und verdrehte die Augen. Er war ein netter Typ ungefähr in ihrem Alter und trug einen Schnauzbart.

»Neue Leitung, solange Tim in Arizona ist. Irgendwas Familiäres, nehme ich an.«

Alice zuckte mit den Schultern und versuchte zu lächeln, was ihr aber misslang. Es war zwar nicht Nicks Schuld, dass sie hier mehr als eine Stunde vergeudet hatte, obwohl nur ein Zwischenstopp von fünfzehn Minuten vorgesehen war, aber sie würde trotzdem nicht weiter hier herumstehen und Small Talk machen.

»Danke, Nick«, sagte sie. »Sag Tim, er soll mich wegen der Honigschleuder anrufen, wenn er wieder da ist.«

Nun stand Alice auf dem verstopften Highway im Stau und schnaubte verärgert. Sie griff nach der Tüte Minikekse auf dem Beifahrersitz, die sie wider besseres Wissen früher am Tag bei Costco gekauft hatte. Sie holte eine Handvoll Cookies heraus und warf sie sich in den Mund.

Alice gab es nur ungern zu, aber sie war schon lange vor ihrer Ankunft bei Sunnyvale spät dran gewesen. Sie hatte erst bei Tillicum Lumberyard, dem Holzlager, und dann bei Costco angehalten, diesem Koloss von Einkaufszentrum, den es im kleinen Hood River nicht gab. Die Leute drängten sich an ihr vorbei, und jede zweite abgespannt wirkende Mutter mit zwei Kindern im Schlepptau stieß Alice den Einkaufswagen in die Hacken, ohne sich dafür zu entschuldigen. In der Kassenschlange musste sie ewig warten und fühlte sich anschließend ziemlich gestresst. Danach hatte sie eine Stunde beim Warten auf ihre Bienen verloren. Und jetzt steckte sie mitten im Feierabendverkehr, den sie unbedingt hatte vermeiden wollen. Genau darum hatte sie zwei Tage zuvor bei Sunnyvale angerufen. Genau darum hatte sie sich an diesem Tag frei genommen und war früh aufgestanden. Sie gab sich große Mühe, alles zu organisieren. Es waren die anderen, die es verpfuschten. Auf einmal verspürte sie einen Anflug von Angst. Die Autoschlange schob sich langsam vorwärts, ihr wurde eng um die Brust. Sie öffnete das Fenster einen Spaltbreit, aber als ihr der Geruch des heißen Asphalts in die Nase drang, schloss sie es gleich wieder. Sie blickte zu den Autos links und rechts von ihr. Niemandem schien es etwas auszumachen, hier zu sitzen. Alle blickten auf ihre Handys. Sie umklammerte das Lenkrad und spürte, wie es ihr die Kehle zuschnürte. Auf einmal hörte sie Dr. Zimmermans ruhige Stimme in ihrem Kopf: »Wissen Sie, wo dieses Gefühl herkommt, Alice? Können Sie seiner Spur bis zum Ursprung folgen?«

Alice atmete tief durch, beugte die Finger und streckte sie wieder. Einfach ruhig zu bleiben fiel ihr in letzter Zeit sehr schwer. Wenn sie sich konzentrierte und immer beschäftigt war, hatten ihre Gedanken keine Chance, sie aus heiterem Himmel zu überwältigen. Nein, Dr. Zimmerman, dachte sie, ich kann die Spur nicht zurückverfolgen. Nicht mit hundertzwanzigtausend Russischen Honigbienen hinten im Pick-up.

Sie aß noch eine Handvoll trockener Kekse und spähte im Rückspiegel auf die jungen Bienenvölker, die auf der Ladefläche des Wagens eingekeilt waren. Die Frühlingssonne war mild, sodass sie nicht befürchten musste, dass die Bienen auf der Heimfahrt überhitzt wurden, obwohl es so langsam voranging. Zu Hause angekommen, würde sie die Tiere noch vor Sonnenuntergang in ihre neue Behausung, die Magazinbeuten im Bienengarten, bringen. Das ließ sich schnell erledigen, sie würde allein mit den zwölf Kästen fertigwerden, davon war sie überzeugt. Sie arbeitete effizient und hatte ihre Werkzeuge, allesamt sauber und poliert, schon am Abend zuvor in der Werkstatt bereitgelegt. Bei diesem Gedanken wurde das Angstgefühl wieder stärker. Sie war lange aufgeblieben, um alles vorzubereiten, damit sie früh zurück sein und die Tiere vor Einbruch der Dunkelheit in die Beuten bringen konnte. Sie atmete tief durch und versuchte, ihren pochenden Herzschlag zu verlangsamen. Sie warf die Kekstüte auf die Rückbank, sodass sie nicht mehr drankam.

An der Ausfahrt nach Multnomah Falls, die exakt auf halbem Weg nach Hood River lag, sah Alice zwei Wagen auf dem Seitenstreifen stehen – offenbar nur ein Blechschaden. Die Fahrbahn daneben war leer, aber jeder, der vorbeifuhr, gaffte neugierig hinüber. Zwei Männer standen neben ihren ramponierten Wagen und telefonierten mit ihren Handys. Wahrscheinlich war mindestens einer von ihnen ein Tourist, der für ein Landschaftsfoto nicht extra anhalten wollte. So etwas passierte hier ständig: Die Leute lehnten sich einfach zum Fenster hinaus, um eine Aufnahme von dem einhundertneunzig Meter hohen Wasserfall zu machen.

Nach der Unfallstelle war der Highway auf einmal frei, und bald fuhr Alice mit hundertdreißig Stundenkilometern nach Osten, während hinter ihr die Sonne unterging. Die Freiheit der Bewegung beruhigte sie. Sie nahm ihren Hut und die Sonnenbrille ab und löste einen Träger ihrer Latzhose als Eingeständnis, dass sie ihr tatsächlich nicht mehr passte, aber es machte ihr nichts aus. Sie drehte die Musik lauter. Springsteens Born to Run.

Alice hasste Portland mit seinem verwirrenden Netz von Brücken, dem brummenden Verkehr und den aggressiven Bettlern. Aber sie liebte die offene Straße, die aus der Stadt hinaus und von ihr weg führte. Basaltklippen überlappten sich zu einer Aussicht, die sich Kilometer um Kilometer am Columbia River entlang entfaltete. Sie kannte die Namen der einzelnen Monolithen auswendig: Rooster Rock, Wind Mountain, Beacon Rock. Der beginnende Sonnenuntergang hüllte die grünen Hügel und felsigen Klippen in einen rosa Schleier. Es sah aus wie ein Gemälde, wie ein Traum. Alice wurde dieses Anblicks nie müde, dieser unglaublichen Schönheit, in der sie seit vierundvierzig Jahren lebte. Sie überholte einen Sattelzug und blickte auf den breiten Fluss zu ihrer Linken. Das dunkelgrüne Wasser schäumte im Wind, weiße Gischt peitschte hoch und wehte gegen die Strömung. Sie sah eine Ansammlung von Pelikanen auf einer schimmernden Sandbank und gewaltige Douglaskiefern, die sich über das Wasser beugten. Ein Fischadler kreiste schreiend über dem Fluss. Auf der rechten Seite erblickte sie den Scheinwerfer eines entgegenkommenden Zugs. Als er an ihr vorbeifuhr, hörte sie die Zugpfeife schrillen und wieder verklingen. Die untergehende Sonne warf ein durchscheinendes Licht auf das Wasser, und Alice spürte, wie sich ihr Körper entspannte.

Sie nahm die Ausfahrt 62, drosselte das Tempo und hielt am Ende des Anstiegs an. Sie kurbelte das Fenster herunter und ließ den kühlen Wind vom Columbia River durch den Wagen wehen und mit den Haarsträhnen rund um ihr Gesicht spielen. Sie konnte das Wasser riechen, die Kiefern entlang der Straße und den schwachen Geruch von Holzrauch. Sie nahm den klaren, grünen Atem des Frühlings wahr. Sie fuhr weiter, vorbei an der Red Carpet Tavern, deren Dach traurig durchhing, und bemerkte, dass der Parkplatz wie üblich von den Pick-ups der Männer besetzt war, die hier auf dem Heimweg von der Arbeit auf ein Feierabendbier anhielten. Sie lächelte, als sie sich an ihren Vater erinnerte, der so häufig unter ihnen gewesen war. Obwohl sehnig und wortkarg, hatte er auf andere Menschen aufgrund der Kraft seiner Freundlichkeit, die sich hinter einem sarkastischen Humor verbarg, anziehend gewirkt. Nach der Bar führte die Straße sie nach Süden zu ihrem kleinen Haus, das außerhalb der Stadt in einer Talsenke am Ende der Reed Road lag. Auf der einen Seite erstreckten sich Obstplantagen, auf der anderen Wälder. Es war die perfekte Stelle für Honigbienen: Sie war windgeschützt, und der Susan Creek, der den Hang hinunterfloss, versorgte ihre Mädels, wie sie sie gern nannte, mit Wasser. Neben den Bewässerungsgräben breitete sich kilometerweit ein Wirrwarr von Klee, Brombeeren und Löwenzahn aus. Ein Paradies für Bienen.

Die Talsenke war auch für Alice perfekt, denn hier draußen bekam sie kaum jemanden zu Gesicht. Außer Doug Ransom, dessen große Obstplantage sich wohltuend auf dem Gebiet westlich von ihr erstreckte, hatte sie keine richtigen Nachbarn, es sei denn, man zählte Strawberry Hollow dazu, eine chaotische Ansammlung von Wohnwagen am Ende der Anson Road. Sie kannte niemanden, der dort wohnte, und blieb auf Distanz. Vermutlich Methheads und Pitbulls. Vergewaltiger und alle möglichen Widerlinge, dachte sie und fing an, sich Schlagzeilen auszudenken.

»Zehn Personen bei Drogenrazzia in Trailerpark festgenommen!«

»Flachgrab in Strawberry Hollow entdeckt!«

Dann hörte sie auf. Genau wie die Angst war auch dieses Verhalten neu für sie – sich hässliche Geschichten über Menschen auszudenken, die sie nicht kannte.

»Es sind nur Gedanken, Alice, aber ihre Struktur fördert einen negativen Blick auf die Welt«, hatte Dr. Zimmerman gesagt. »Sie können diese Muster verändern und Ihr Denken neu ausrichten. Dazu braucht es nur etwas Übung.«

Dr. Zimmerman war offensichtlich sehr intelligent. An ihrer Wand hingen Diplome aus Harvard und Stanford. Sie hatte in Palo Alto gearbeitet und dort anscheinend die Hightech-Irren geheilt, bevor sie in Altersteilzeit gegangen und nach Hood River gezogen war. Trotz der Diplome und ihrer schicken Klamotten, die in diesem ländlichen Außenposten unüblich waren, wirkte sie nicht arrogant. Nur selbstbewusst. Und nett. Dennoch war die Tatsache, dass sie, Alice Holtzman, eine Therapeutin konsultierte, absurd. Du hast darüber gelacht, dachte sie. Aber eigentlich war es gar nicht lustig, stimmt’s?

Alice steuerte den Pick-up nach Süden auf den Mount Hood und das Haus zu, das sie sich mit der Hilfe ihrer Eltern gekauft hatte. Sie waren beide Obstbauern in dritter Generation gewesen. Die Arbeit war hart, aber sie hatten sie geliebt.

»Fürchte dich niemals vor schwerer Arbeit, Alice«,hatte ihre Mutter immer gesagt.

»Sonst steige ich aus dem Grab und trete dir in den Po, mein Floh«, fügte ihr Vater dann schelmisch grinsend hinzu.

Ein Leben draußen an der frischen Luft, so ihr Credo, war ein gutes Leben.

»Ein gutes Leben«, sagte Alice nun laut, als sie im Rückspiegel nach den zwölf Kästen sah, von denen jeder einzelne eine Königin mit ihren Arbeiterinnen und ein großes Versprechen beinhaltete.

»Wir sind fast zu Hause, Mädels. Ihr werdet ein gutes Leben haben, das verspreche ich euch.«

Obwohl Hood River kein stilles Kaff mehr war wie zur Zeit von Alices Geburt, war es doch noch immer ein Ort, an dem es sich wunderbar leben ließ. Die Achtzigerjahre hatten die Windsurfer mit ihren Transportern und den langen Haaren hierhergebracht. Gelegentlich hatten sie Streit mit den örtlichen Holzarbeitern oder Farmern, die im Red Carpet herumhingen. Aber die Hippies, die Schwierigkeiten machten, verschwanden schließlich wieder. Diejenigen, die blieben, gründeten Familien, brachten die alten Häuser des Städtchens in Schuss und eröffneten Geschäfte: Cafés, Pizzerien und Windsurfing-Shops. Die kleine Stadt wurde größer. Im letzten Jahrzehnt war die Anzahl an Weingütern, schicken Boutiquen, Brauereien und Restaurants förmlich explodiert. Es war nicht mehr dieselbe Stadt, aber für Einheimische wie die Holtzmans, die außerhalb des Ortes lebten, spielte das keine Rolle. Ihr Leben verlief in denselben Bahnen wie immer. Die sonnenverbrannten Touristen, die mit einem Becher Eiskaffee in der Hand durch die Innenstadt trotteten, hatten keine Ahnung, dass das Herz dieses Ortes weit entfernt von der Oak Street schlug, talaufwärts, draußen auf den Obstplantagen. Die langen Baumreihen waren sehr viel mehr als nur ein Postkartenmotiv für Panoramafahrten. Sie waren Geschichte, Teil einer mehr als hundert Jahre alten Tradition.

Auch Alices Familie war ein Teil dieser Geschichte. Die Plantagen der Holtzmans waren klein, aber sie bauten ausschließlich alte Sorten aus der Zeit um 1900 an – Gravensteiner, Pepping und Winesap –, die mit den allzu mürben Red-Delicious-Äpfeln eines durchschnittlichen Schul-Mittagessens nichts gemein hatten. Es waren schöne und geschmacksintensive Früchte. Al und Marina Holtzman hatten die Plantage von Als Eltern übernommen, die sie wiederum von seinen Großeltern geerbt hatten, deutschen Immigranten, die vor dem Ersten Weltkrieg in das Tal gekommen waren. Al und Marina hatten für sich und Alice, ihr einziges Kind, ein gutes Auskommen gehabt. Sie waren hier glücklich gewesen.

In der Country Club Road brachte Alice den Wagen zum Stehen, setzte den rechten Blinker und schaute nach links in Erwartung eines schwerfälligen Traktors, mit dem sie an einem Frühlingsabend wie diesem hier rechnete. Aber das stille Sträßchen war leer. Sie bog rechts ab und fuhr weiter in Richtung ihres Hauses.

Bereits mit zehn Jahren hatte Alice sich vorgenommen, eines Tages die Plantage ihrer Eltern zu übernehmen. Als es so weit war, wusste sie, dass sie schwer arbeiten und ihren Job bei der Countyverwaltung würde behalten müssen, um über die Runden zu kommen. Umso schockierter war sie, als Al und Marina vor acht Jahren beschlossen, alles zu verkaufen. Die Veränderungen innerhalb der Branche hatten ihren Vater entmutigt. Die großen Erzeuger hatten Bestimmungen für den Einsatz von Pestiziden erzwungen, die die kleineren Farmer überforderten. Zwar hatte der Holtzman-Betrieb nie zu hundert Prozent biologisch gearbeitet, denn Al Holtzman war viel zu freiheitsliebend, um dieses Wort auch nur über die Lippen zu bringen. Aber schließlich war er Deutscher, oder anders ausgedrückt: vernünftig. Er spritzte so wenig wie möglich und nur von Hand. Der Bezirk hatte zu viele Vorschriften erlassen, sagte er, und außerdem gingen sie zu weit.

»Es ist Gift, Alice«, sagte er kopfschüttelnd. »Diese Trottel schneiden sich ins eigene Fleisch.«

Sie fand es schrecklich, mit ansehen zu müssen, wie ihre Eltern von den Forderungen der größeren Obstbauern beiseitegeschoben wurden, die zu eigensinnig, zu beschäftigt oder einfach zu starrköpfig waren, um andere Meinungen zu berücksichtigen. Und was das County betraf, nun, Alice arbeitete in dessen Planungsabteilung. Sie wusste, wie rückständig vieles dort war. Es konnte Jahre dauern, eine schlichte Briefkastenverordnung zu ändern. Später bereute Alice, dass sie sich mit ihrem Vater nicht gestritten, ihm nicht gesagt hatte, wie viel ihr an dem Betrieb lag. Aber sie wollte nicht, dass er sich noch schlechter fühlte. Bei der Erinnerung brannten ihr Tränen in den Augen. Sie wischte sie mit dem Handrücken fort.

Al und Marina gaben Alice nach dem Verkauf der Plantage etwas Geld, das sie für den Kauf ihres Hauses in der stillen Talsenke verwendete: ein einstöckiges Farmhaus und ein paar Hektar Land. Sie dachte, dass ihre Eltern vielleicht bei ihr einziehen würden, aber sie wollten unabhängig sein und waren in ein Haus in der Stadt gezogen. Sie starben im Abstand von einem halben Jahr, Al zuerst. Alice vermisste sie.

Sie redete auch mit Dr. Zimmerman über ihre Eltern. Sie erwähnte, dass sie ihre Stimmen in ihrem Kopf zu hören glaubte und manchmal mit ihnen redete, obwohl das vermutlich bescheuert klang. Dr. Zimmerman blickte Alice über den Brillenrand hinweg an. Alice errötete. Wahrscheinlich war es nicht sehr höflich, »bescheuert« zu sagen.

Dr. Zimmerman nickte nur. »Das ist bestimmt tröstlich für Sie«, sagte sie. Allerdings wussten sie beide, dass Alice nicht deshalb zu der netten Frau Doktor kam, weil sie ihre Eltern vermisste.

Alice bremste für einen großen Obstlaster, der über die Kreuzung nahe der Straße zum Kingsley Reservoir bretterte. Sie blickte nach Süden und entdeckte am Horizont den Mount Hood, der im Licht des Sonnenuntergangs zu glühen schien. Sie drehte das Radio auf, in dem gerade einer ihrer Lieblingssongs von Springsteen lief, Thunder Road.

Alice ging zu Dr. Zimmerman, seit sie vor drei Monaten mitten in der Obst- und Gemüseabteilung des Little Bit Grocery and Ranch Supply etwas erlebt hatte, das sich wie eine Herzattacke anfühlte. Sie stand neben Carlos, dem netten, gut aussehenden Verkäufer, der sie immer »Madame« oder »Miss Alice« nannte und stets eine Geschichte über seine Kinder oder aus den Nachrichten zu erzählen wusste. Da hatte sie zum ersten Mal gespürt, wie sich dieses unsichtbare Band fest um ihre Brust schloss, bis sie keine Luft mehr bekam. Sie sank auf den Boden und zog einen Haufen Grünkohl mit sich. Carlos half ihr, sich vorsichtig aufzurichten und sich an einen Ständer mit Rosenkohl zu lehnen, der absurderweise noch nicht von den Strünken entfernt worden war. Sie sah, dass sich Carlos’ Lippen bewegten, konnte ihn aber nicht hören. Sie war ihm nahe genug, um einen winzigen Klecks Rasiercreme auf der glatten braunen Haut hinter seinem Ohr zu sehen. Sie verspürte das dringende Bedürfnis, ihn darauf hinzuweisen, und hätte über diesen Drang am liebsten gelacht. Die Sanitäter kamen, und auf einmal schien das halbe Hood River County um sie herum zu stehen und auf Alice Holtzman herabzuschauen, die auf dem Boden saß, mit rotem Gesicht und wogender Brust. Bei dieser Erinnerung schoss ihr noch immer das Blut in die Wangen.

Auch in der kleinen Notaufnahme waren ihr die meisten Leute vertraut. In jener Nacht hatte Jim Verk Dienst, den sie seit der zweiten Klasse kannte, und er erklärte ihr, dass sie eine Panikattacke gehabt hatte. Zu Dr. Zimmerman war sie auf seine Empfehlung hin gegangen. In der Geschichte der Familie Holtzman war nie zuvor jemand bei einem Therapeuten gewesen, aber die Erfahrung im Little Bit war für Alice dermaßen beschämend, dass sie zu allem bereit war, damit sich so etwas nicht wiederholte.

Sie starrte auf die Straße und ertappte sich dabei, dass sie bei diesen Erinnerungen das Lenkrad fest umklammert hielt. Sie zwang sich, die Hände zu entspannen. Als sie bei der Schule in Oak Grove ankam, gewann der Sonnenuntergang ihren kleinen Wettlauf. Sie raste den von hohen Douglaskiefern beschatteten Hügel hinauf, der die Grenze der dem County gehörenden Waldflächen markierte. Durch das offene Fenster spürte sie oben auf der Anhöhe die kühle Luft und blickte erneut im Rückspiegel nach den Bienen. Sie waren der Grund ihrer Besorgnis, wurde ihr auf einmal klar. Jeder ihrer Schritte an diesem sorgfältig geplanten Tag zielte auf das erfolgreiche Einsetzen der Neuankömmlinge in die Bienenstöcke ab. Die Tiere waren auf sie angewiesen. Um diese Zeit würde es unten in ihrer schattigen Schlucht aber noch kälter sein als tagsüber, und sie wollte die Mädels nicht stressen, indem sie sie Kälte, Dunkelheit und dem künstlichen Licht der Werkstatt aussetzte. Sie werden bis morgen warten müssen, sagte sie sich. In den Waben befand sich Honig, den die Bienen essen konnten, und eine Nacht in ihren Transportkästen würden sie unbeschadet überstehen. Um dumme Fehler zu vermeiden, war es besser, die Tiere umzusetzen, wenn sie wieder ausgeruht war.

»Jetzt sei vernünftig und reiß dich zusammen«, sagte die Stimme ihrer Mutter.

Alice seufzte und kapitulierte angesichts der Vorstellung, diese lästige Arbeit jetzt noch erledigen zu müssen.

»Dann also morgen früh vor der Arbeit«, sagte sie laut.

Alice sank entspannt im Fahrersitz zurück und strich über das Lenkrad, während sie den vertrauten Kurven der Reed Road folgte. Sie ließ ihre Gedanken im Vertrauen darauf schweifen, dass sie sich benehmen würden, in der Erwartung, dass ihre übliche Selbstdisziplin die lästigen Erinnerungen zusammenhalten würde wie ein Collie die folgsamen Schafe einer Herde. Aber dann fiel ihr ihre letzte Sitzung bei Dr. Zimmerman ein. Die Therapeutin hatte Alice bereits seit einiger Zeit näher an das verbotene Thema herangeführt, aber noch waren sie nicht dort angekommen. Bestimmte Gedanken hielt Alice hinter einer Tür in ihrem Geist fest verschlossen, und sie hatte Dr. Zimmermans sanftem Drängen bislang widerstanden. Nun, ohne Vorwarnung, öffnete sich diese Tür ein kleines Stück. Später würde sie ihre Erschöpfung für das sorglose Feilschen mit sich selbst verantwortlich machen. Ich werde mir nur sein Gesicht vorstellen, dachte sie. Mehr nicht. Aber dann flog die Tür auf, und die Erinnerungen überwältigten sie.

Bud, wie er lachend im John-Deere-Laden hinter dem Tresen stand. Ein Foto von Bud in seiner Uniform der Stadtgärtnerei auf der Titelseite der Hood River News. Bud, der so ernst aussah, dass sie glaubte, er wolle mit ihr Schluss machen, und der sie stattdessen bat, seine Frau zu werden. Der Tag im Gerichtsgebäude, der Tag, an dem er bei ihr einzog, der Tag, als sie die Küken aus dem Little Bit mit nach Hause genommen hatten und auf dem Boden saßen, um zuzusehen, wie sie piepsend unter der Wärmelampe herumhüpften. Buddy, wie er sonntags nach dem Dinner mit seiner lachenden Mutter zu Sinatras Fly me to the Moon im Walzerschritt durch das Wohnzimmer fegte. Buddy, der seine kleinen Neffen in den Pick-up klettern ließ, um mit ihnen fischen zu gehen, und dann zurück zum Haus lief, um Alice einen Abschiedskuss zu geben.

Alice merkte nicht, dass sie zu schnell fuhr, als sie oben auf dem Hügel die Kurve nahm. Sie dachte an ihren Ehemann, Robert Ryan, den jeder unter dem Namen Buddy kannte. Buddy, der so unverhofft in ihrem ruhigen Leben aufgetaucht und ihr so viel unerwartetes Glück gebracht hatte. Buddy, den es nun nicht mehr gab.

Der Druck in ihrem Inneren stieg sprunghaft an, ihre Kehle war wie zugeschnürt. Ihr Atem ging flach und stoßweise und brach sich schließlich in heißen Schluchzern Bahn. Als ihr die Tränen in die Augen schossen, trübte sich ihr Blick. Einmal angestoßen, löste sich der Kummer wie eine Ladung Baumstämme von einem der Langholzlaster, die sie auf dem Highway überholt hatte.

Alice fuhr sich gerade mit dem Unterarm über die Augen, aus denen Tränen strömten, da scherte der Wagen plötzlich zum Straßenrand hin aus. Die parallelen Lichtstrahlen der Scheinwerfer waren auf eine Gestalt auf dem Seitenstreifen gerichtet. Sie bremste scharf, geriet ins Schleudern und kam zum Stehen, indem sie gegen einen Zaunpfahl prallte.

Alice spürte, wie die hundertzwanzigtausend Russischen Honigbienen auf der Ladefläche ihres Pick-ups zusammenkrachten. Ihr Kopf schnellte vor, als der Sicherheitsgurt den Rest ihres Körpers im Sitz zurückhielt. Die Zeit verlangsamte sich, in ihrem Kopf klingelte es. Weiße und blaue Flecken rasten in ihrem Blickfeld hin und her. Sie sah in den Rückspiegel und entdeckte einen Rollstuhl, der auf der Seite lag. Ein Rad drehte sich so schnell wie ein außer Kontrolle geratenes Riesenrad.