Die Melodie der Wellen - Jessica Stirling - E-Book
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Die Melodie der Wellen E-Book

Jessica Stirling

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Beschreibung

Fesselnder Auftakt der historischen Saga um die Familien Franklin und McCulloch

Glasgow, 1898. Lindsay Franklin ist mit ihren achtzehn Jahren im heiratsfähigen Alter. Als ihr Großvater die Verantwortung für seine Schiffswerft an die nächste Generation weitergeben möchte, ändert sich Lindsays Leben schlagartig. Sie lernt ihren irischen Cousin Owen Forbes McCulloch kennen, der wie sie Anteile an der Firma erhalten hat. Während Lindsay sich ihren neuen Aufgaben im Geschäft stellt, fühlt sie sich von dem attraktiven Cousin immer mehr angezogen. Doch Forbes verbirgt ein Geheimnis. Ist er der Mann ihrer Träume - oder ein skrupelloser Geschäftsmann, der sie ins Unglück stürzt?

"Die Melodie der Wellen" ist der erste Band der Trilogie über die Franklins und McCullochs. Die Familiensaga setzt sich fort in "Die Stürme des Himmels" und "Die Träume des Windes".

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Inhalt

CoverWeitere Titel der AutorinÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumTEIL I – 18981 Das Haus auf dem Hügel2 Blick in die Zukunft3 Der Frauenheld4 Ein Sonntag im Park5 Ein Kuss und ein VersprechenTEIL II – 19016 Der Coral Strand7 Postkarte aus Portsmouth8 Kapitalfluss9 Ein musikalischer Abend10 Die Weltausstellung11 Der Stapellauf12 Aus Schaden wird nicht jeder klug13 WinterregenTEIL III – 190614 Ehealltag15 Große Geschütze16 Der Lauf der Zeit17 Unter Freunden18 Der entscheidende Faktor19 Eine endlose Nacht20 Für immer und ewig21 Das Ende vom Lied

Weitere Titel der Autorin

Die McCulloch-Trilogie Band 2: Die Stürme des Himmels Band 3: Die Träume des Windes

Die Patterson-Schwestern Band 1: Sturm über Schottland Band 2: Die Schwestern aus Balnesmoor Band 3: Die Früchte der Erde

Die Highland-Schwestern Band 1: Die Frauen von der Insel Band 2: Im Schatten der Stürme Band 3: Die Insel der Zuversicht

Über dieses Buch

Fesselnder Auftakt der historischen Saga um die Familien Franklin und McCulloch

Glasgow, 1898. Lindsay Franklin ist mit ihren achtzehn Jahren im heiratsfähigen Alter. Als ihr Großvater die Verantwortung für seine Schiffswerft an die nächste Generation weitergeben möchte, ändert sich Lindsays Leben schlagartig. Sie lernt ihren irischen Cousin Owen Forbes McCulloch kennen, der wie sie Anteile an der Firma erhalten hat. Während Lindsay sich ihren neuen Aufgaben im Geschäft stellt, fühlt sie sich von dem attraktiven Cousin immer mehr angezogen. Doch Forbes verbirgt ein Geheimnis. Ist er der Mann ihrer Träume – oder ein skrupelloser Geschäftsmann, der sie ins Unglück stürzt?

»Die Melodie der Wellen« ist der erste Band der Trilogie über die Franklins und McCullochs. Ihre Geschichte setzt sich fort in »Die Stürme des Himmels« und »Die Träume des Windes«.

Über die Autorin

Jessica Stirling ist ein Pseudonym, unter dem Hugh Crauford Rae (1935-2014) erfolgreich Liebesgeschichten und historische Familiensagas veröffentlicht hat. In Glasgow geboren, arbeitete Rae nach der Schule vierzehn Jahre lang in einer Buchhandlung, bevor er sich auf das Schreiben konzentrierte. Als Jessica Stirling hat Rae zunächst zusammen mit der befreundeten Autorin Peggy Coghlan gearbeitet. Nach einigen Jahren zog sich Coghlan altersbedingt zurück, und Rae schrieb fortan mit Coghlans Zustimmung allein unter dem Pseudonym Jessica Stirling weiter. Er war Präsident der Scottish Association of Writers und hat Kurse in Kreativem Schreiben an der Universität Glasgow gegeben. Bis zu seinem Tod am 24. September 2014 hat er über siebzig Romane veröffentlicht, die meisten unter Pseudonymen.

JESSICA STIRLING

MELODIE derWELLEN

Aus dem Englischen vonCécile G. Lecaux

beHEARTBEAT

Digitale Originalausgabe

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Für die Originalausgabe: Copyright © 2004 by Jessica Stirling Titel der englischen Originalausgabe: »The Piper’s Tune« Originalverlag: Hodder & Stoughton

Für diese Ausgabe: Copyright © 2007/2019 by Bastei Lübbe AG, Köln Covergestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de unter Verwendung von Motiven © shutterstock: Luca Quadrio; © Period Images

eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-6481-1

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

TEIL I

1898

1Das Haus auf dem Hügel

Früher einmal hatten die Franklins alle gemeinsam im Haus ihres Großvaters auf dem Harper’s Hill gewohnt, aber Ehefrauen, Nachwuchs und der Alterungsprozess, ein Phänomen, das Lindsay noch völlig fremd war, hatten schließlich eine entscheidende Wende herbeigeführt. Paarweise wie die Tiere auf Noahs Arche hatten Owen Franklins Söhne und Töchter das große verschachtelte Haus im Herzen Glasgows verlassen, um sich dem Trend folgend »außerhalb« niederzulassen, wenn auch nicht allzu weit außerhalb, nur etwa eine Meile entfernt in einem der eleganten Reihenhäuser von Brunswick Park im Clyde-Tal.

Der Park an sich war klein und unspektakulär: Es gab weder einen See zum Bootfahren noch eine Curling-Bahn, keinen Musikpavillon und ebenso wenig einen Grünstreifen zum Bowlen. Tatsächlich beschränkte sich die Anlage auf ein paar mickrige Sträucher, ein Blumenbeet, so geheimnisumwittert wie ein Grabhügel, und eine einzelne recht rustikale Sitzbank. Oberhalb lag Brunswick Crescent mit seinen stuckverzierten Fensterstürzen im Erdgeschoss, breiten Fensterstreben und Ziergiebeln, die der ansonsten recht nüchternen Architektur ein wenig Menschlichkeit einhauchten. Die Brüder Franklin waren sofort angetan gewesen von den schmucken Häuschen, nicht zuletzt auch deshalb, weil man von den Fenstern im ersten Stock aus über den Fluss hinwegblicken und nicht nur die Docks und Molen sehen konnte, sondern dazu auch das Meer von Kaminschloten, Fabrikdächern und Kirchtürmen am Fuß der kahlen Renfrewshire Hills.

Im letzten Haus des Brunswick Crescent war Anna Lindsay Franklin geboren und aufgewachsen, und eine Zeit lang hatten auch Onkel Donald und Tante Lilias ganz in der Nähe gewohnt, während ihre Tanten Kay und Helen gemeinsam eine Wohnung in einem Sandsteinblock auf der gegenüberliegenden Seite des Parks bezogen hatten.

Im selben Jahr, in dem Lindsays Mutter gestorben war, war jedoch auch Tante Helen schwer erkrankt und ihrem Leiden schon kurze Zeit später erlegen. Lindsays tieftraurige Tante Kay war daraufhin zu ihnen gezogen, um ihrem verwitweten Bruder den Haushalt zu führen und sich um das Neugeborene zu kümmern. Kay hatte jedoch schon kurze Zeit später überraschend geheiratet und war mit ihrem frisch gebackenen Ehemann nach Dublin gezogen, wo sie, wie Onkel Donald es formulierte, irischer wurde als eine ganze Horde von Kobolden und fruchtbarer als Macgillicuddys Ziege. So lebten zehn von Lindsays Cousins und Cousinen, die McCullochs, in der Nähe von Dublin, während ihre sechs schottischen Basen und Vettern alle in Großvaters Haus in Harper’s Hill wohnten. Donald und Lilias waren nach Katherines Tod wieder dort eingezogen, zumal Owen, Donalds Vater, sich ganz allein in dem vierstöckigen Gebäude ziemlich verloren gefühlt hatte.

Die Franklins waren eine eingeschworene Gemeinschaft, eine Familie, in der alle sehr liebevoll miteinander umgingen. Lindsay war mit den Mädchen zur Schule gegangen, hatte mit den Jungs auf Partys und Picknicks herumgealbert und alles in allem genauso viel Zeit in Harper’s Hill verbracht wie daheim. An jenem tristen Sonntagnachmittag fühlte sie sich jedoch seltsam beklommen, als sie ihren Vater zum Haus ihres Großvaters begleitete, so als spürte sie, dass eine einschneidende Veränderung bevorstand, die sich auch auf ihr eigenes Leben auswirken würde, ob ihr das nun passte oder nicht.

Sie war im Februar achtzehn geworden und hatte das Fischgrätkorsett, die ausladenden gebauschten Röcke und die gräss-lichen Kämme, die ihre widerspenstige blonde Mähne bändigten, abgelegt. Sogar Vetter Martin, der drei Jahre älter war als sie und ein unverbesserlicher Witzbold, begegnete ihr nun mit einem gewissen Respekt. Natürlich hatten die Jungen sie auch früher schon fraulicher gekleidet gesehen, beispielsweise in Sommerkleidern oder im Tennisdress, aber erst seitdem sie lange schmale Röcke und taillierte kurze Blazer tragen durfte, hatten Martin, Johnny und der kleine Ross erkannt, dass Lindsay kein unverwüstlicher Wildfang mehr war, mit dem man umspringen konnte wie mit einem Kumpel beim Rugby.

Sie war jetzt ausgewachsen und musste sich wohl oder übel damit abfinden, dass sich an ihrer eher bescheidenen Größe nicht mehr viel ändern würde. Ihr Haar hatte sie solcher Art frisiert, dass es trotz der Naturwellen und Korkenzieherlocken an den Schläfen, die sie liebevoll hegte und pflegte, nicht zu aufreizend wirkte. Außerdem hatte Papa ihr einen Hut mit heller Krempe spendiert und dazu Wildlederschuhe mit runder Kappe und halbhohem Absatz, die sie Tante Lilias zufolge ein wenig größer erscheinen ließen, was ihr gut zu Gesicht stand, hatte sie doch die zierliche Gestalt ihrer Mutter geerbt.

Es war ein frischer, trockener Aprilnachmittag. Ganz Glasgow schlenderte die Dumbarton Road entlang oder durch das Kelvingrove-Wäldchen. Arbeiter, Handwerker, Ehefrauen, Liebespaare und Kinder mischten sich unter Sekretäre und Geschäftsleute, ja sogar Fabrikdirektoren und Werfteigner. Die Gentlemen mit Zylinder und elegantem Gehrock und ihre nach der neuesten Mode gekleideten Gattinnen scheuten sich nicht, am Sabbat einige Mußestunden mit ihren Angestellten an der frischen Luft zu teilen.

Lindsays Vater hielt es genauso. Er war eitel und trug meist auch unter der Woche »Sonntagsstaat«, und so war es nicht ungewöhnlich, ihn beim Abendessen im selben Gehrock anzutreffen, den er bereits am Morgen zur Arbeit getragen hatte. Er sagte, er halte es so, weil er ein überzeugter Verfechter der traditionellen Werte sei. Lindsay hingegen argwöhnte, dass ihn die knabenhaften Züge verlegen machten, die er früher sogar versucht hatte, durch einen riesigen Schnauzbart künstlich reifen zu lassen, bis Nanny Cheadle gemeint hatte, er sähe aus wie ein Bandit, woraufhin er die Oberlippe eilig wieder glatt rasiert hatte.

»Guten Tag, Mr. Franklin. Schöner Tag heute, nicht wahr?«

»In der Tat.« Hut ab, eine knappe Verbeugung, nichts Überschwängliches. »Und das ist Ihre werte Gattin?«

»Wenn sie es nicht wäre, säße ich jetzt ganz schön in der Tinte«, entgegnete der Mann.

»Dann behalten wir das für uns.« Arthur Franklin tippte sich mit dem Finger seitlich an die Nase und zwinkerte der Matrone zu, der die Verblüffung, von einem so feinen Herrn wahrgenommen und angesprochen zu werden, an den glanzlosen braunen Augen abzulesen war. »Auch Ihnen einen wunderschönen guten Tag, Ma’am.«

»G-G-Guten Tag, Mr. F-F-Franklin«, stammelte sie.

Lindsay lächelte ebenfalls; sie konnte sich den Verpflichtungen, die ihre Herkunft mit sich brachte, nicht entziehen, auch wenn sie nur eine Frau war. Ihr Vater hakte sie unter und zog sie mit einer Entschlossenheit, die mehr von Dringlichkeit kündete denn von Ungeduld, in Richtung Springbrunnen, auf die Straße zu, die den Harper’s Hill hinaufführte.

»Wer war das?«, fragte Lindsay.

»Ich glaube, er heißt McGregor.«

»Einer deiner Angestellten?«

»Ein Lieferant.«

»Es überrascht mich, dass du ihn erkannt hast.«

»Aber, aber, Lindsay.«

»Ich wollte damit nicht sagen, dass sie alle gleich aussehen«, erklärte Lindsay, »sondern vielmehr, dass sie völlig anders aussehen, wenn sie sich fein anziehen.«

Eilig folgten sie dem ansteigenden Kiesweg hinauf zum Tor. Hinter ihnen reckte sich der Turm der Universität in den blassgrauen Himmel, und weiter vorn waren, optisch seltsam verkürzt, die Villen von Park Circus und Harper’s Hill zu sehen. Das Haus ihres Großvaters war vom Kelvingrove aus nicht zu erkennen. Es befand sich etwas abseits, ein paar hundert Meter entfernt von der Lynedoch Street, wo Lindsay zur Schule gegangen war. Sie war mit dem Westen Glasgows so vertraut, dass sie sich blind in dem Gewirr von Plätzen und Reihenhäusern oberhalb des grünen Ufers des Kelvin zurechtgefunden hätte.

»Tag, Mr. Franklin.«

»Tag, Tag.« Arthur verlangsamte den Schritt. »Calder? Ich hatte Sie gar nicht dort sitzen sehen. Bitte entschuldigen Sie, alter Freund, aber ich habe keine Zeit für einen Plausch. Wir sind schon zu spät dran.«

»Ist schon gut, Sir.« Der groß gewachsene Mann lüftete den Hut und verbeugte sich ein wenig ungelenk vor Lindsay. »Miss Lindsay.« Doch ihr Vater zog sie bereits weiter.

»Hättest du nicht wenigstens ein, zwei Minuten erübrigen können?«

»Keine Zeit.«

»Wenn wir es so schrecklich eilig haben, warum hast du dann keine Droschke gerufen?«

»Wir sind gleich da, Liebes. Nur noch ein paar Schritte.«

»Warum sagst du mir nicht, was los ist?«

»Das kann ich nicht«, entgegnete er.

»Du meinst, du willst nicht.«

»Ich kann nicht, weil ich es selbst nicht weiß. Eine Überraschung deines Großvaters.«

»Er hat doch nicht Geburtstag, oder?«

»Nein, der ist erst im kommenden Monat.«

Papa half ihr den hohen Bordstein hinauf vom Straßenpflaster auf den Bürgersteig. Er hielt inne, um sich mit dem Leinentaschentuch, das Miss Runciman ihm wie jeden Morgen in die Tasche gesteckt hatte, einen Schweißtropfen von der Stirn zu wischen. Dann steckte er das Taschentuch wieder ein und schaute auf die Uhr. Er setzte die souverän-blasierte Miene auf, die dem jüngeren Sohn eines erfolgreichen Werftbetreibers angemessen war, und führte seine hübsche Tochter um die Ecke und die Stufen zur imposanten Haustür mit dem schweren Messingklopfer hinauf.

Owen Franklin hatte keinen zweiten Vornamen und besaß auch keinen jener altertümlichen Titel, die sich oft genug zu wahren Zungenbrechern potenzierten. Genau genommen konnte er sich glücklich schätzen, überhaupt einen Namen zu haben, da er als Säugling in Franklin, am Fuß von Penarth Head auf der Kohlenhalde, ausgesetzt worden war.

Er schämte sich seiner bescheidenen Herkunft jedoch ganz und gar nicht. Gern prahlte er mit schwerem walisischen Akzent vor seinen Enkeln damit, dass er wohl nie würde verleugnen können, der Sohn eines Minenarbeiters und eines Fischweibes zu sein, der statt mit Muttermilch mit Meerwasser groß geworden war und sich dann später statt von Brot von Kohlenstaub ernährt hatte. Die traurige Wahrheit aber war, dass er keinen Schimmer hatte, wer seine Eltern gewesen waren. Er war in einem Waisenhaus an der schlammigen Mündung des Ely aufgewachsen und hatte dort gelebt, bis er im Alter von zehn Jahren angefangen hatte zu arbeiten. Wenn man so wie Owen an das Schicksal glaubte, hatte an diesem Punkt in seinem Leben die Vorsehung eingegriffen und ihn vor einem elenden Dasein an Deck eines Küstenschiffes oder Fischerbootes bewahrt.

Stattdessen ging er bei einem gewissen Hugh Pemberton in die Lehre, der in einer verrauchten kleinen Schmiede am Ufer des Glamorganshire an der Optimierung der Effizienz von Dampfventilen arbeitete. Der junge Owen legte schon in diesem zarten Alter ein solches technisches Geschick an den Tag, dass es beinahe an Genialität grenzte, und eignete sich in den folgenden fünfzehn Jahren zudem ein außergewöhnliches Geschick im Umgang mit Finanzen an. Als Cardiff schließlich zu klein wurde für einen Mann seines Könnens, zog er gen Norden nach Schottland. Sein angespartes Kapital reichte gerade so aus, um sich selbstständig zu machen und sicherzustellen, dass seine Geistesblitze nicht irgendeinem Arbeitgeber Profit brachten, sondern ihm selbst zugute kamen.

Aber erst 1874 wagte Owen den nächsten Schritt und erwarb bei einer Zwangsversteigerung das kleine Unternehmen »Patrick Hagen and Hall«, eine heruntergewirtschaftete Werft zwischen Cotstoun und Whiteinch, wo er mithilfe eines Darlehens der Bank of Scotland Flussschiffe, Fähren und kleine schnelle Dampfbarkassen baute.

Obgleich er fast seine ganze Aufmerksamkeit Stahl und Geld widmete, fand er noch Zeit, sich zu verlieben. Er lernte Katherine Forbes bei einem Konzert kennen, das gemeinschaftlich von der Pertshire Choral Union und der Glasgow Tonic Sol Fa Society organisiert wurde. Mitten während einer an Haydns Gott erhalte Franz, den Kaiser angelehnten Komposition mit dem Titel Gott ist unser Kaiser erkannte Owen, dass er in Katherine eine Seelenverwandte gefunden hatte. Seine Verliebtheit blieb ihm in den ganzen achtundzwanzig Ehejahren erhalten, und gemeinsam feierten sie die Geburt von fünf Kindern und trauerten um ihre kleine Tochter Mary, die im Alter von acht Monaten verstarb. Er liebte seine Frau auch dann noch innig, als sie erkrankte und ihm schließlich am Morgen eines sonnigen Maitages genommen wurde, eine Tragödie, die ihn zumindest vorübergehend jeglichen Ehrgeizes beraubte.

»Pappy?«

Lindsay musste sich nicht erst strecken, um ihren Großvater auf die Wange zu küssen, da er kaum größer war als sie selbst. Es schien, als hätte das Alter ihn Stück für Stück schrumpfen lassen, bis er mit seinen Enkeln auf Augenhöhe war und seine Söhne Donald und Arthur sich in seiner Gegenwart endlich wie erwachsene Männer fühlten.

»Was gibt es denn, Pappy? Was ist das für eine Überraschung, die du für uns bereithältst?«

»Geduld, mein Kind, Geduld«, entgegnete Owen Franklin, während Lizzie, die Empfangsdame, Lindsay aus dem Mantel half und diesen zusammen mit dem Hut ihres Vaters in der Kammer unter der imposanten Treppe verstaute. »Was hast du ihr erzählt, Arthur?«

»Wie sollte ich ihr etwas erzählen, wo ich doch selbst nichts weiß?«

»Warum so gereizt, mein Lieber? Ich bitte euch doch nur, etwas Nachsicht zu üben mit einem alten Mann.«

»Welchem alten Mann denn? Du bist doch nicht alt!«

»Vielleicht nicht nach deinen Maßstäben, Arthur, aber das Alter rückt dennoch mit großen Schritten näher.«

Sie befanden sich in der großen Eingangshalle des Herrenhauses, die mit einem riesigen indischen Teppich ausgelegt war, dem Geschenk irgendeines ausländischen Schiffsagenten. Der Teppich rundete das Gesamtbild der Halle mit den Rüstungen, diversen Breitschwertern und Musketen ab, die Owen vor zig Jahren erstanden hatte, als er noch geglaubt hatte, es würde Kath imponieren, wenn er den schottischen Grandseigneur herauskehrte. In anderen Räumen war das Dekor weniger fantasievoll gestaltet und eher maritim gehalten, mit einigen wuchtigen Ölgemälden holländischer Meister an den Wänden und Vitrinen mit alten Chronometern, Quadranten und Sextanten sowie verschiedenen maßstabgetreuen Modellen von Schiffen der in der Aydon Road angesiedelten Franklin-Werft.

Es gab kein Tageslicht, abgesehen von einem staubigen Strahl, der durch das Buntglasfenster auf dem oberen Treppenabsatz hereinfiel. Lindsay hatte sich oft gefragt, ob es sich ähnlich angefühlt haben mochte, im hölzernen Laderaum eines alten Sklavenschiffes eingesperrt zu sein oder in dem Maschinenraum eines der späteren Stahlschiffe, die vor dreißig Jahren die Atlantikrouten befahren hatten. Irgendwie hatte das Haus ihres Großvaters sie schon immer an ein gestrandetes Schiff erinnert.

Die Tür zum Salon rechts von der Halle war geschlossen. Lindsay fragte sich, wo die ganze Familie stecken mochte. Und wo war Giles, der Butler, der sonst immer gleich zur Stelle war?

Sie musterte ihren Großvater mit einem gewissen Argwohn. Seine runzligen Züge und die wässrigen blauen Augen wirkten nicht bedrohlich, und das verschmitzte leise Lächeln auf den blutleeren Lippen deutete darauf hin, dass es sich um eine angenehme Überraschung handelte oder aber um irgendeine geschäftliche Angelegenheit, die sie nicht persönlich betraf.

»Seid ihr bereit?«

»Nun mach schon, um Himmels willen, Pappy«, stöhnte sein Sohn. »Mach es doch nicht so furchtbar spannend. Öffne die Tür, und zeig endlich her, was sich dahinter versteckt.«

Großvater Franklin gestattete sich noch ein leises Lachen, ehe er wie ein Kind, dem der Schalk im Nacken saß, die Tür Zentimeter für Zentimeter öffnete.

»Himmel!«, rief Lindsays Vater aus. »Das ist ja Kay. Unsere Kay.«

»Das hast du nicht erwartet, nicht wahr, Arthur?«

»Warum hast du mir denn nicht erzählt, dass sie heimkommt?«, zischte Arthur. »Findest du das witzig, Pappy? Ich kann darüber jedenfalls nicht lachen; ich finde das Ganze geschmacklos.«

Lindsay hatte bislang nicht geahnt, dass ihr Vater und ihre nach Irland ausgewanderte Tante verfeindet waren. Sie konnte sich nicht erinnern, aus seinem Mund jemals etwas Negatives über seine Schwester gehört zu haben. Andererseits war, wie ihr erst jetzt richtig bewusst wurde, auch nie die Rede davon gewesen, die McCullochs zu besuchen, wenn er ein bis zwei Mal jährlich geschäftlich in Irland gewesen war. Donald war in den vergangenen Jahren ein, zwei Mal in Dublin gewesen und hatte auch die ganze Zeit schriftlich mit Kay Kontakt gehalten, aber ihr Vater hatte Neuigkeiten immer nur aus zweiter Hand erfahren. Lindsay realisierte, dass sie offenbar nicht über alles Wissenswerte aus der bunten Vergangenheit der Franklins informiert war und sich hinter dieser Familienzusammenführung möglicherweise mehr verbarg, als es auf den ersten Blick den Anschein hatte.

Ihr Vater setzte die arrogante Miene auf, die er für gewöhnlich Schiffsinspektoren oder Vertretern ausländischer Regierungen vorbehielt, eine kühle Herablassung, die Lindsay ganz und gar nicht leiden konnte. »Kay.« Er begrüßte seine Schwester mit einem knappen Wink. Ganz offensichtlich hatte er nicht die Absicht, ihr um den Hals zu fallen oder sie gar zu küssen. »Wie schön, dich wiederzusehen.«

Die Frau saß auf dem Ehrenplatz im repräsentativen Salon, einem Lehnsessel aus Walnussholz in der Mitte des Raumes. Der Spiegel in dem massiven vergoldeten Rahmen über dem Kamin erweckte auf den ersten Blick den Eindruck, als hielten sich in dem Raum viel mehr Personen auf, als es tatsächlich der Fall war. Lindsay konnte im Spiegel den Hinterkopf ihrer Tante sehen sowie das dunkle Haar des jungen Mannes an ihrer Seite. Er hatte ihr eine Hand auf die Schulter gelegt, als wollte er sie davon abhalten, zu hastig – oder überhaupt – aufzustehen.

Tante Kay machte jedoch gar keine Anstalten, sich zu erheben. Vielmehr legte sie einen Arm über die knochige Brust, streckte die Rechte aus und gestattete ihrem Bruder, diese zu ergreifen wie eine Opfergabe. Er neigte den Kopf, als wollte er an ihren nackten Fingern riechen, anstatt einen Handkuss anzudeuten.

»Wie ich sehe, hast du immer noch keine Manieren«, bemerkte Kay eisig.

Lindsays Vater trat einen Schritt zurück. »Was soll das heißen?«

»Du kommst wie gewöhnlich zu spät«, entgegnete Tante Kay streng.

»Nur Minuten«, erwiderte Arthur Franklin pikiert. »Nur ein paar Minuten. Wenn eine gewisse Person es für nötig erachtet hätte, mich darüber zu informieren, dass du uns mit deiner Anwesenheit beehrst, hätte ich selbstverständlich alles darangesetzt, pünktlich zu erscheinen.«

»Nun ja, jetzt bist du ja hier.«

»Sieht ganz so aus, ja«, knurrte Arthur.

Er trat zur Seite, um Schutz bei seinem Bruder zu suchen oder Trost bei Tante Lilias, die, ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, belustigt war von dem feindseligen Schlagabtausch zwischen den Geschwistern. Lindsay, die nun ganz allein in der Schusslinie stand, holte tief Luft und stellte sich mit aller Herzlichkeit, die sie aufbringen konnte, der dürren, etwas schlampig erscheinenden Tante vor, die ihr vor achtzehn Jahren, wenn auch nur kurz, eine Ersatzmutter gewesen war.

»Tante Kay. Ich bin ja so froh, dich endlich einmal kennen zu lernen.«

Die Frau blickte auf, und Lindsay glaubte, in den klaren blassblauen Augen, die alle Sprösslinge Owen Franklins gemein hatten, einen Funken von Zuneigung aufflackern zu sehen. »Anna?«

»Ich ziehe Lindsay vor.«

»So wurde mir gesagt. Heiland, wie sehr du dich verändert hast! Du warst ein so hässliches Baby. Als die Hebamme dich uns brachte, dachte ich erst, du wärst einer von Mr. Darwins Affen.«

»Ich fürchte, daran kann ich mich nicht erinnern«, meinte Lindsay schlagfertig.

»Ich weiß es noch, als wäre es erst gestern gewesen«, sagte Kay. »Du lagst krähend in meinen Armen, während sie oben ihr Leben aushauchte.«

Lindsay fühlte, wie sie errötete. Ihre Vettern schwiegen verlegen. Onkel Donald räusperte sich. Dann sagte der junge Mann an Kays Seite:

»Es ist noch Zeit genug, um von früher zu erzählen, Mam. Warum machst du uns nicht miteinander bekannt?« Er sprach mit ausgeprägtem irischen Akzent, leise, aber deutlich.

Die tiefen Furchen in Kays Gesicht wirkten schlagartig gemildert, als sie sich ihrem Sohn zuwandte. »Stell dich ihr doch selbst vor, Forbes. Umarme sie, wenn dir der Sinn danach steht.« Sie machte eine wedelnde Handbewegung, als wollte sie ihren Sohn hinter ihrem Sessel hervorscheuchen. »Das ist Annas Tochter. Anna war meine Schwägerin, sie ist damals etwa zur gleichen Zeit gestorben wie meine Schwester Helen. Ihr Vater ist mein zweitältester Bruder.«

Lindsay nahm an, dass er schon früher von ihr gehört hatte. Sie ihrerseits wusste jedenfalls sehr genau, mit wem sie es zu tun hatte: Owen Forbes McCulloch, in dessen Adern walisisches, schottisches und irisches Blut floss. Er hatte dunkles Haar, braune Augen und ungewöhnlich lange, dichte Wimpern, um die ihn manche junge Frau beneiden mochte. Und doch hatte er nichts auch nur im Entferntesten Feminines an sich. Er war der bei weitem bestaussehende Mann, dem Lindsay je begegnet war, und dazu wirkte er nicht die Spur arrogant. Vielmehr legte er ein so lässiges Selbstbewusstsein an den Tag, dass sie kaum glauben konnte, dass er jünger sein sollte als sie selbst. Wenn er mit dem weichen melodischen Akzent seiner Heimat sprach, konnte sie beinahe die üppigen grünen Wiesen der Grafschaft Meath riechen.

Ihre Cousinen Cissie und Mercy hinter ihr kicherten, aber Lindsay registrierte ihre Belustigung nur am Rande. Er umarmte sie nicht. So mutig – oder modern – war er dann doch nicht. Stattdessen beugte er sich vor und reichte Lindsay über die Schulter seiner Mutter hinweg die Hand.

Sie spürte, wie ihr ein leiser Schauer den Rücken hinunterlief, eine Mischung aus Staunen und etwas so Neuem, dass sie es nicht als Verlangen erkannte. Eine Sehnsucht danach, wieder von ihm berührt zu werden, oder genauer noch, sie wünschte, er würde sie gar nicht mehr loslassen.

»Cousine Lindsay«, sagte er leise.

Ebenso leise entgegnete sie: »Vetter Forbes.«

Tom Calder blieb, nachdem sein Arbeitgeber vorbeigegangen war, noch zwanzig Minuten auf der Bank am Brunnen, der Memorial Fountain, sitzen. Die Sonne hatte sich an diesem Tag nicht gezeigt, und kurz nach drei wurde es unangenehm frisch. Die verliebten Pärchen verließen die mit Osterglocken übersäten Hänge, und die Familien zogen sich langsam zurück in Richtung der Mietshäuser an der Finnieston und der Dumbarton Road. Einige fuhren auch mit dem Bus, der sie für einen halben Penny die zwei, drei Meilen nach Whiteinch und Scotstoun brachte. Die Unterarme auf die Knie gestützt, beobachtete Tom, wie sich die Menschenmenge nach und nach lichtete.

Er wirkte nicht lauernd oder gar bedrohlich. Er hatte es nicht auf die jungen Frauen abgesehen, was wohl auch ganz gut war, da etwas an dem groß gewachsenen Mann mit den verwitterten Zügen die Mädchen abschreckte, die im Park nach einem romantischen Abenteuer suchten. Mit vierunddreißig war er den meisten wohl ohnehin zu alt.

Sein Haar lichtete sich bereits, und die hageren, eingefallenen Züge konnte eigentlich nur eine verzweifelte alte Jungfer anziehend finden. Seine Augen hingegen schauten gleichzeitig durchdringend und abwesend, als wäre das Beste, das man zu bieten hatte, für ihn womöglich noch nicht gut genug. Er erweckte jedoch nicht den Eindruck, deprimiert oder launisch zu sein, sondern wirkte vielmehr gleichgültig, und Gleichgültigkeit war etwas, womit keine Frau, egal, ob jung oder alt, umgehen konnte.

Tom Calder war wie sein Boss verwitwet. Er hatte eine Tochter, Sylvie, die er aus der Not heraus vor einigen Jahren in die Obhut seiner Schwägerin gegeben hatte. Er sah sie vereinbarungsgemäß nur ein bis zwei Mal im Monat, sofern er nicht »rein zufällige« Begegnungen herbeiführte, wenn Florence und ihr Gatte Albert zwischen Sabbatschule und abendlichem Gottesdienst mit Sylvie im Park spazieren gingen. Er wusste, dass er sie verloren hatte und endlich loslassen sollte, aber ein tief verwurzelter Vaterinstinkt hinderte ihn daran. Mit acht war Sylvie sein »kleiner Schatz« gewesen; mit zehn, nach seiner Rückkehr aus Afrika, hatte sie ihm gegenüber immer noch eine gewisse Zuneigung an den Tag gelegt, aber jetzt, mit zwölf Jahren, war sie nicht mehr sein Schatz. Sie war nicht einmal mehr höflich zu ihm, sondern klammerte sich trotzig-abweisend an Florence und Albert, wann immer ihre Wege sich kreuzten.

Reglos wie in Marmor gemeißelt saß Tom da und starrte auf das Radnor-Street-Tor und den Rundweg um das Wasserbecken des Brunnens herum. Wenn Albert bei Sylvie war, war eine Begegnung unwahrscheinlich. Albert war zu gewitzt, um jede Woche denselben Weg zu gehen. Befand sie sich jedoch in Florences Begleitung, standen die Chancen deutlich besser, da Florence aus Gewohnheit und Fantasielosigkeit heraus jeden Sonntag denselben Weg ging.

Er hörte die Glocke der Universität zur halben Stunde läuten. Diverse Kirchturmglocken unten im Ort folgten.

Sie waren spät dran oder kamen heute gar nicht. Vielleicht hatte sein Schwager Albert Hartnell ihn ja entdeckt und mit Sylvie einen Bogen beschrieben, um eine Begegnung zu vermeiden. Blicklos starrte er auf den Kiesweg. Und plötzlich waren sie da. Florence, groß und mager in einem strengen Kostüm aus glattem venezianischem Serge, und Sylvie in dem albernen ländlichen Stil, den Florence ihr zugedacht hatte: Schottenrock, beigefarbene Weste mit Matrosenkragen und dazu Haube mit Samttroddeln. Sylvie hatte keine Ähnlichkeit mit ihrer Mutter, einmal abgesehen von dem makellosen Teint. Ihre Haut war so hell und glatt, dass sie an kostbare Seide erinnerte.

Tom stand auf. Er brachte es einfach nicht fertig, Lässigkeit vorzutäuschen. Er war kein guter Schauspieler. Steif und mit schwingenden Armen stakste er auf die beiden Frauen zu. Sylvie kehrte ihm demonstrativ den Rücken zu und blickte angestrengt auf das Meer gezackter Dachgiebel oberhalb des Clyde.

»Was machst du denn hier?«, fragte Florence unfreundlich.

»Ich wollte nur etwas frische Luft schnappen, sonst nichts.«

»Weißt du nichts Besseres mit dir anzufangen?«

»Nein. Wie geht es dir, Sylvie? Hast du deine Erkältung überwunden?«

Trotz ihrer Zartheit deutete bislang nichts darauf hin, dass Sylvie wie ihre Mutter an Asthma erkranken könnte, dem Leiden, dem diese schließlich erlegen war. Trotzdem sorgte sich Tom beim geringsten Anzeichen von Schnupfen oder Husten und war in den vergangenen Jahren fast verrückt geworden vor Sorge, wenn verschiedene Epidemien in der Stadt grassiert und Kinder in unglaublicher Zahl dahingerafft hatten. Inzwischen hatte er jedoch ein wenig mehr Vertrauen in die Konstitution seiner Tochter.

»Sylvie. Antworte deinem Vater.«

»Es geht mir bestens, danke.«

»Deine Erkältung?«

»Die ist überstanden«, entgegnete Florence.

»Wirklich?«, hakte Tom nach. »Ich meine, ist sie wirklich restlos auskuriert?«

»Ja.«

»Und es ist nichts zurückgeblieben?«

»Meinst du, ich wäre mit ihr hier, wenn sie noch krank wäre?«

»Nein, Florence, natürlich nicht.« Tom musterte seine Tochter in der vergeblichen Hoffnung, sie hätte ihm verziehen, womit auch immer er sich ihren Unmut zugezogen hatte. »Was macht die Schule, Liebes? Alles in Ordnung?«

»Ja, danke der Nachfrage.«

Kein »Papa« oder »Vater«, keinerlei Intimität. Tom fragte sich, wann genau diese unüberwindbare Kluft zwischen ihnen entstanden war.

Er hatte sie schon bald nach Dorothys Tod in Florences und Alberts Obhut gegeben. Seine Schwägerin hatte seinerzeit Verständnis dafür gehabt, dass er nicht nur seinen Lebensunterhalt bestreiten, sondern Karriere machen wollte. Sich selbst hatte er wiederum eingeredet, Sylvie bräuchte einen Mutterersatz und ein solides Zuhause, während er selbst ihr nur Dienstboten und Kindermädchen bieten könnte. Florence und Albert hatten Sylvie mit offenen Armen aufgenommen, da sie selbst kinderlos geblieben waren und das kleine Mädchen als Geschenk des Himmels betrachteten. Es wäre unfair, seiner Schwägerin heute vorzuwerfen, dass Sylvie ihr und Albert näher stand als ihrem leiblichen Vater.

»Ich verstehe nicht, warum du das immer wieder tust, Tom.«

»Was denn?«, entgegnete er, immer noch vergeblich bemüht, Sylvies Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

»Du kannst jederzeit bei uns vorbeikommen, das weißt du.«

»Ich fühle mich bei euch aber nicht willkommen. Außerdem seid ihr in letzter Zeit so viel unterwegs, dass ich niemals sicher sein kann …« Er formulierte den Vorwurf nicht zu Ende.

»Wir sind nie weit weg«, entgegnete Florence. »Nicht wahr, Schatz?«

Sylvie schüttelte den Kopf.

»Wir sind im Dienste des Herrn unterwegs«, fuhr Florence fort. »Ich gehe davon aus, es ist auch in deinem Sinne, wenn wir deine Tochter zu einem gottesfürchtigen, mildtätigen Menschen erziehen?« Entschieden zwang seine Schwägerin das junge Mädchen, sich ihm zuzuwenden. »Da du nun schon einmal hier bist, es gibt da etwas, worüber wir sprechen müssen.«

»Geht es um Geld? Die Schulgebühren vielleicht?«

Die Kosten für Kindererziehung schienen mit jedem Jahr zu steigen. Auf Florences ausdrücklichen Wunsch hin besuchte Sylvie die Park School, und Tom kam für die Gebühren auf, so wie er alles andere bezahlte, was auf Florences akribisch erstellter Liste stand.

»Ich verspüre nicht die geringste Lust, finanzielle Angelegenheiten sonntags in einem öffentlichen Park zu besprechen. Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du bis spätestens Donnerstag bei uns vorbeischauen könntest. Dienstag müssten wir ab neun daheim sein und Mittwoch ab acht.«

»Am Mittwoch muss ich zum Chor«, entgegnete Tom.

Sylvie gab einen verächtlichen Grunzlaut von sich, die bislang erste Äußerung, die sie unaufgefordert von sich gab.

»Ist dir eine Chorprobe wichtiger als das Wohl deiner Tochter?«, fragte Florence schnippisch.

»Wir geben ein Konzert«, verteidigte sich Tom. »In der Kathedrale.«

»Ach! Und was singt ihr? Den Messias?«

»Nein, eine Osterkantate. Große Chöre zusammen mit verschiedenen Solisten.« Er wagte es, seine Tochter leicht an der Schulter zu berühren. »Warum bittest du Tante Florence nicht, mit dir hinzugehen, Liebes? Ich bin sicher, dass es dir gefallen würde.«

Wieder ein Grunzen, gefolgt von einem verächtlichen Schnauben. Dazu zuckte sie zurück und schüttelte seine Hand ab.

Verblüfft blickte Tom auf sie herab. Zum ersten Mal wurde ihm klar, dass sie verzogen war, ein verwöhnter Fratz, der trotzdem noch die Macht besaß, seine gespielte Gleichgültigkeit so mühelos zu untergraben, wie eine heiße Klinge durch Butter glitt. Es ärgerte ihn, dass sie solche Gewalt über ihn hatte. Einen flüchtigen Moment lang empfand er Sylvie gegenüber weder Liebe noch Schuld, sondern schlicht Verärgerung.

Ohne so recht zu wissen, was er da eigentlich tat, hockte er sich vor sie hin. Sie wollte ihm ausweichen, aber diesmal ließ er nicht zu, dass sie sich ihm entzog, sondern packte sie mit festem Griff bei den Schultern. Seine Hände sahen riesig aus auf dem hellen Baumwollsamt. Er zwang sie, dicht vor ihm stehen zu bleiben, und schaute in ihre trotzigen grauen Augen.

»Weißt du, wer ich bin?«, fragte er.

Sie antwortete nicht.

»Weißt du, wer ich bin?«, wiederholte er.

Sie nickte.

Was er tat, kam ihm selbst grausam vor, aber es musste sein. »Sag mir, wer ich bin, Sylvie.«

»Du bist mein … mein … Vater.«

»Exakt. Und das werde ich auch immer bleiben, ob dir das nun gefällt oder nicht.

»Tom, bitte sei nicht so streng …«

Er ignorierte seine Schwägerin einfach. »Ich lasse mich nicht behandeln wie einen Vollidioten, weder von dir – schon gar nicht von dir – noch von sonst jemandem. Mag ja sein, dass du mich nicht besonders leiden kannst, Sylvie, aber du wirst mir gegenüber ein Mindestmaß an Respekt und Höflichkeit an den Tag legen, hast du mich verstanden?«

»Ja.« Sylvie schürzte die kleinen niedlichen Lippen, die nun an eine Rosenknospe erinnerten, und machte ein finsteres Gesicht. Sie spürte, dass sie herabgewürdigt worden war, ihrer Macht zumindest teilweise beraubt, aber sie war nicht gewillt, klein beizugeben. Nicht gleich.

»Ja, was?«

»Ja, Papa.«

Tom grinste schief. Wie ein gezackter Riss, der sich durch eine Eisfläche zog. Es war ein kleiner Triumph, in jeder Hinsicht unbedeutend, und doch empfand er seinen Sieg als seltsam euphorisierend, und für einen kurzen Augenblick verdrängte die Freude die innere Leere.

Langsam richtete er sich wieder auf. »So ist es schon besser«, sagte er zufrieden und dann, an Florence gewandt: »Ich bringe den Scheck für das Sommersemester am Dienstag bei euch vorbei.«

»Nach neun, bitte«, erinnerte ihn Florence.

»Nach neun«, bestätigte Tom. »Gibt es sonst noch offene Rechnungen, die ich begleichen müsste?«

»Ich denke, für den Augenblick ist das alles.« Florence zögerte. »Soll ich am Mittwoch mit ihr in die Kathedrale kommen? Wenn es dir so viel bedeutet …«

»Es bedeutet mir gar nichts. Ich dachte nur, es könnte ihr Freude machen.«

»Bedauerlicherweise ist sie gänzlich unmusikalisch.«

»Außerdem habe ich am Mittwoch Missionsunterricht«, wandte Sylvie ein und fügte nach kurzem Zögern hinzu: »Papa.«

Sie versteckte ihr Gesicht nicht länger, sondern blickte zu ihm auf. Sie hatte sich rasch auf seine neue Haltung eingestellt. Widerwillen war von gespielter Scheu abgelöst worden, allerdings aus purem Trotz. Vielleicht war sie ihrer Mutter doch nicht so unähnlich.

»Ich komme mir bald deinen Chor anhören«, fuhr sie fort und stellte sich zu seiner Verblüffung auf die Zehenspitzen, um ihm die blasse Wange zum Kuss hinzuhalten. »Versprochen.«

Tom brauchte einen Moment, um sich von seiner Überraschung zu erholen, dann drückte er die Lippen auf ihre kühle kleine Stirn.

»Auf Wiedersehen, Papa.«

»Auf Wiedersehen, Liebes.« Mehr erleichtert als bedauernd schaute er ihnen nach, als Florence mit seiner Tochter das Radnor-Street-Tor ansteuerte.

Im großen Stil zu speisen war noch nie Pappys Stärke gewesen, was jedoch keinesfalls bedeutete, dass er gutes Essen nicht zu schätzen gewusst hätte. Owen Franklin, seine Söhne, Töchter und Enkelkinder waren mit einem gesunden Appetit gesegnet sowie einer Vorliebe für kulinarische Finessen, die Köche und Küchenpersonal auf Trab hielten. Nicht selten saßen zwölf Personen an der langen Tafel, und der gesamte Dienstbotenstab einschließlich der kürzlich erst eingestellten umständlichen, zierlichen Empfangsdame war dazu verdonnert, Terrinen, Tabletts und dampfende Schüsseln aus der Küche heraufzutragen.

Das Esszimmer war gewissermaßen Treffpunkt der ganzen Familie. Hier wurde der Reichtum der Franklins auch am deutlichsten sichtbar in Form von Silberbesteck, feinstem Porzellan und kostbaren Tischdecken. Jene, die sich einbildeten, die Familie näher zu kennen – Börsenmakler, Buchhalter und Anwälte –, behaupteten gern, die Franklins würden in einer Woche für Lebensmittel mehr Geld aufwenden als die Werft im ganzen Monat einbrachte, und dass der maßlose Appetit den gesellschaftlichen Aufstieg gebremst und nicht nur Owen, sondern möglicherweise auch Donald jede Chance auf einen verantwortungsvollen Posten im öffentlichen Dienst genommen hatte. Obgleich das Gerede mehr als nur ein Körnchen Wahrheit enthielt, ließ es außer Acht, dass Owen und seine Söhne die schönen Dinge des Lebens mehr schätzten als Macht, sodass sie weiter ungeniert der feinen Küche und der guten Musik frönten, und das mit einer Leidenschaft, die man in manchen Kreisen als vulgär empfand.

Was diese Snobs von Kay halten würden, die Muscheln mit dem Löffel aß und Hühnchen mit den Fingern, lag auf der Hand. Allerdings wären wohl auch die ranghöchsten Persönlichkeiten beeindruckt gewesen vom redegewandten Forbes, der mit seiner Mischung aus Charme, Killerinstinkt und tadellosen Tischmanieren manchen Adelsspross in den Schatten stellte. Lindsays Cousinen Cissie, Mercy und Pansy waren denn auch so hingerissen von Forbes, dass sie darüber ihre eigene Mahlzeit vernachlässigten, um ihm unaufgefordert Salzstreuer, Pfeffermühle und Senf zu reichen, bis Pappy Owen schließlich eingreifen musste. Er klopfte laut mit dem Steakmesser an seinen Teller und ermahnte die Mädchen mit erhobenem Finger, den armen Jungen doch endlich in Frieden essen zu lassen.

Lindsay war nicht minder beeindruckt von ihrem irischen Vetter. Sie war sehr angetan von seinen Aufmerksamkeiten, die einerseits zu diskret waren, um sarkastische Kommentare Martins oder Johnnys zu provozieren, aber doch deutlich genug, um allseits klar zu machen, dass er, Forbes, sich ihr ebenfalls vom ersten Augenblick an verbunden gefühlt hatte und sie für ihn von allen weiblichen Wesen am Tisch die Attraktivste war. Sie saßen nebeneinander am Kopfende des Tisches, Onkel Donald und Tante Lilias zwischen ihnen und den anderen Mädchen. Wohl nicht ganz zufällig saßen Kay und Lindsays Vater nebeneinander, und weniger taktvoll als ihre Sprösslinge begannen sie schon bald, sich mit bissigen Kommentaren und Vorwürfen zu traktieren, eine Feindseligkeit, die, wie Lindsay vermutete, auf eine alte Rivalität zwischen den beiden zurückzuführen war.

Lindsay war sich nicht ganz sicher, wie ernst die an den Tag gelegte Animosität gemeint war, bis Forbes sich zu ihr herüberlehnte und ihr zuraunte: »Hunde, die bellen, beißen nicht – das gilt auch für Mama. Viel Lärm um nichts. Sie hat eine scharfe Zunge, ist aber im Innersten eine Seele von Mensch.«

»Ich habe meinen Vater noch nie so hitzig erlebt«, antwortete Lindsay ebenso leise.

»Meinst du nicht, dass ihm das Ganze im Grunde einen Riesenspaß bereitet?«

»Nein. Ich fürchte, die beiden können sich tatsächlich nicht ausstehen.«

»Ach, das glaube ich nicht. Wäre doch schade, wenn sie sich nach all den Jahren immer noch spinnefeind wären, wo ich doch bald einer von euch sein werde.«

»Was meinst du damit, ›einer von uns‹?«

»Ich werde in Glasgow studieren.«

»Tatsächlich?« Lindsay versuchte, sich ihre Freude über diese Neuigkeit nicht anmerken zu lassen. »Und was wirst du studieren?«

»Maschinenbau.«

»Du willst Schiffsbauingenieur werden?«

»Nun, das wird sicher Teil des Lehrstoffes sein, aber ich beabsichtige nicht, zur See zu fahren. Meine Ambitionen gehen über die Position eines Schiffsingenieurs hinaus.«

»Und was genau sind deine Ambitionen?«

Forbes rückte etwas von ihr ab, was jedoch in keinster Weise unhöflich wirkte. Er spießte mit der Gabel einen letzten Fleischbissen von seinem Teller auf und schob ihn in den Mund. Er schien gar nicht zu kauen, sondern den Bissen gleich hinunterzuschlucken.

Lindsay beobachtete das Auf und Ab seines Adamsapfels.

Alles an ihm sprach für ein Selbstbewusstsein, das ungewöhnlich war für seine jungen Jahre. Er strahlte eine Präsenz aus, die sie nur schwer mit einem Mann – einem Knaben – in Einklang bringen konnte, der zwölf oder vierzehn Monate jünger war als sie selbst. Sie fragte sich, ob alle jungen Dubliner so waren oder ob seine Position als ältestes von zehn Kindern ihm ein vorzeitiges Erwachsenwerden abgenötigt hatte.

Forbes schaute sie an, legte Messer und Gabel schräg auf dem Teller ab und lächelte.

Das Lächeln war seine ganze Antwort.

Vielleicht hätte sie ihre Frage wiederholt, wenn Cissie mit ihren runden Wangen und den Sommersprossen auf der Nase sich nicht in ebendiesem Moment nach vorn gelehnt und hörbar aufgeregt gefragt hätte: »Du wirst hier bei uns wohnen, stimmts, Forbes?«

»Das ist richtig. Zumindest für eine Weile.«

»Hier?« Lindsays Begeisterung schwand rapide bei der Vorstellung, dass Forbes McCulloch mit ihren Besitz ergreifenden Basen unter einem Dach wohnen würde. »Ich meine, hier in Pappys Haus?«

»Im Jungenzimmer«, erklärte Cissie. »Er wird im Jungenzimmer schlafen.«

Martin lachte und klärte seinen neuen Vetter darüber auf, dass er »Kopf an Fuß« mit Ross würde schlafen müssen, da nicht genügend Platz war, um ein weiteres Bett aufzustellen. Ross protestierte, von Johnny unterstützt. Tante Lilias stimmte in das Geplänkel ein. Lindsay ihrerseits blickte starr auf ihren Teller, der von der weiß behandschuhten Hand des Dieners weggenommen und durch ein kleines Schälchen eisgekühltes Fruchtsorbet ausgetauscht wurde.

Die Luft schien zu prickeln, als die geballte Energie der Familie begann, sich zu drehen wie eine dieser neuen Dampfturbinen, die Donald ihnen im vergangenen Sommer in Spithead gezeigt hatte. Lindsay fühlte, wie die Energie um sie herum strömte, und wunderte sich selbst, dass sie die knisternde Spannung nicht mehr genoss, sondern sich stattdessen plötzlich von den anderen abgeschnitten fühlte. Zum ersten Mal musste sie sich vor Augen halten, dass Martin und Cissie nicht ihre Geschwister waren und sie nicht ganz auf einer Stufe mit den anderen stand.

Sie aß das Sorbet – drei kleine Silberlöffel voll –, das kalt und fruchtig auf ihrer Zunge zerging, und lauschte dabei dem Gelächter um sich herum.

Er lachte nicht – Forbes lachte nicht.

Auch er hatte Geschwister, gleich vier Brüder und fünf Schwestern. Er wusste, was von ihm erwartet wurde, was er sagen sollte, wie man sich inmitten dieses Tumultes behauptete. Aber er lachte nicht, johlte nicht, unternahm nichts, um Aufmerksamkeit zu erregen. Stattdessen saß er lächelnd da, beobachtete stumm das bunte Treiben und verspeiste die kalte Nachspeise, wobei sein Adamsapfel bei jedem Schlucken geschmeidig seine Kehle auf und ab wanderte.

Wieder lehnte er sich leicht an Lindsay.

»Ich würde lieber bei dir schlafen«, bemerkte er so leise, dass Lindsay zuerst nicht sicher war, ob sie sich die Worte nicht nur eingebildet hatte.

»Wie bitte? Was hast du gesagt?«

»Bei euch zu Hause. Ich würde lieber bei euch wohnen«, erklärte Forbes.

»Nein, das war es nicht, was du …«

»Pssst. Still«, fiel er ihr ins Wort. »Ich glaube, der gute alte Grandpappy möchte eine Rede halten.«

Giles, der Hausdiener, verließ das Speisezimmer als Letzter. Er nahm die leeren Sorbetschälchen mit, die Dekantierkaraffen und alle Gläser, die nicht mit Wein gefüllt waren. Bevor er das voll beladene Tablett anhob, fegte er noch sorgfältig die Krumen von der Tischdecke in eine kleine Schaufel mit Messinggriff. Während er die Schaufel unter dem Tablett balancierte, öffnete er geschickt mit dem Ellbogen die Tür und verschwand.

Draußen hatte sich der Aprilhimmel braun verfärbt. Es war kein hübscher oder pastelliger Ton, sondern eine matte, düstere Farbe, und unmittelbar bevor das Personal den Raum verließ und Grandpappy Owen sich erhob, um seine Ansprache zu halten, landeten erste Regentropfen auf den Fensterscheiben. Auf ein Zeichen des alten Mannes hin zündeten Donald und Arthur die Kerzen an und nahmen dann wieder Platz. Die Stille in dem eben noch so lauten Zimmer war bedrückend, beinahe unheimlich, und dass nicht Lindsay allein so empfand, zeigte sich spätestens dann, als Pansy, die Jüngste von ihnen, sich abwandte und ein wenig ängstlich an ihren Bruder Johnny klammerte.

Lindsay war ebenfalls angespannt. Vielleicht hätte sie ja Schutz suchend ihren irischen Vetter untergehakt, aber nach seiner sonderbaren Bemerkung war sie sich seiner nicht mehr sicher. Ganz im Gegenteil.

»Also, zuallererst möchte ich Kay, die wir alle viel zu lange nicht mehr zu Gesicht bekommen hatten, und meinen Enkelsohn Forbes auf das Herzlichste willkommen heißen.« Er legte eine kurze Pause ein und räusperte sich, ehe er fortfuhr: »Es ist großartig, alle meine Kinder und die meisten meiner Enkelkinder um mich zu haben. Ich wünschte …« Wieder zögerte er. »… ich wünschte nur, Helen wäre der Kindersegen nicht vorenthalten geblieben. Aber der liebe Gott hatte offenbar andere Pläne mit ihr, und es steht uns nicht zu, die Wege unseres Herrn infrage zu stellen.«

Mit ihr völlig neuem Groll fragte sich Lindsay, warum ihr Großvater ihre Mutter nicht erwähnte, warum er nicht bedauerte, dass sie keine weiteren Kinder geboren hatte.

»Ich bin nicht mehr der Jüngste«, fuhr Owen fort, »und ich trage mich schon seit längerem mit dem Gedanken, abzutreten und der nachfolgenden Generation Platz zu machen, zumal es sich meiner – zugegebenermaßen nicht ganz unvoreingenommenen Meinung nach – um eine viel versprechende Generation handelt. Wie dem auch sei, jedenfalls habe ich beschlossen, mich zurückzuziehen aus allen …«

»Was sagst du da, Pappy?«, platzte Donald hervor. »Du kannst nicht einfach aufhören. Wie sollen wir denn ohne dich zurechtkommen?«

»Bist du krank?«, fragte Kay mit der ihr eigenen durchdringenden Stimme. »Wirst du bald sterben, Daddy? Hast du uns deshalb aus Dublin kommen lassen?«

»Nein, verdammt noch mal«, entgegnete Owen. »Macht euch diesbezüglich mal nicht voreilig Hoffnungen. Ich habe nicht vor, so bald zu sterben. So leicht werdet ihr mich nicht los. Allerdings bin ich inzwischen zu eingerostet, um noch viele größere Reparaturen durchzustehen. Ich muss mich wohl der Tatsache stellen, dass meine nächste oder übernächste Reise jene zum Friedhof sein wird.«

»Du willst den Posten des Vorstandsvorsitzenden niederlegen?«, fragte Lindsays Vater.

»Ja.«

Aus den Augenwinkeln sah Lindsay, wie Lilias die Hand auf Onkel Donalds legte, nicht etwa eine tröstende Geste, sondern eine, die von freudiger Erregung kündete. Offenbar kamen die Absichten ihres Großvaters für die Franklins aus heiterem Himmel. Sie nahm an, dass die McCullochs ihrerseits geahnt haben mochten, was im Busch war. Wahrscheinlich hatte Kay mit ihrem Gatten und möglicherweise auch Forbes entsprechende Zukunftspläne geschmiedet.

Großvater Owen hob beschwichtigend eine Hand. »Ruhig, bleibt ganz ruhig. Ich beabsichtige nicht, die Werft zu verkaufen. Ich werde euch nicht im Stich lassen. Ich habe euch alle hergebeten, um euch zu eröffnen, was mir für die Zukunft vorschwebt. Als Erstes sollt ihr wissen, dass Forbes in die Firma eintreten wird mit dem Ziel, eines Tages eine Führungsposition dort einzunehmen. Er wird den gleichen Ausbildungsweg beschreiten wie ihr beide. Könnt ihr euch noch an diese Zeit erinnern, Donald, Arthur?«

»Nur zu gut«, antwortete Lindsays Vater.

»Wahrlich eine harte Zeit«, pflichtete Donald ihm bei.

»Forbes wird zuerst ein Jahr in der Parkhead-Schlosserei in Beardmore arbeiten. Ich habe bereits alles mit Mr. Peterson abgesprochen. In diesem Zeitraum wird er ein Gehalt von Franklin’s beziehen. Wenn er dann etwas vom Schmieden und Gießen versteht, bringen wir ihn in der Maschinenwerkstatt in der Aydon Road unter, während er parallel die Abendschule am Maritime Institute besucht.«

»Bist du damit einverstanden, Kay?«, wollte Lindsays Vater wissen.

»Sehr sogar«, entgegnete seine Schwester.

»War das deine Idee oder die deines Sohnes?«

»Meine, Onkel Arthur«, mischte sich Forbes McCulloch ein. »Ich mag zwar in Irland geboren sein, aber im Herzen bin ich immer Schotte gewesen. Nicht meine Mutter, sondern mein Vater hat sich bislang dagegen gesperrt, dass ich meine berufliche Laufbahn hier starte.«

»Es wird möglicherweise schwieriger werden, als du es dir vorstellst. Bei Franklin’s gibt es keinen Verwandtschaftsbonus.«

»Forbes erwartet keine Vergünstigungen, dessen kannst du versichert sein«, bemerkte Kay kalt. »Er scheut harte Arbeit nicht und ist sehr leistungsorientiert aufgewachsen. Er wird ganz sicher mehr in die Arbeit hineinstecken, als er selbst daraus mitnimmt.«

»Schluss damit.« Owen schüttelte den Kopf. »Ich kann diese Sticheleien nicht haben. Forbes ist ebenso dein Fleisch und Blut wie Martin oder Ross, und gegen die beiden hast du auch keinerlei Vorbehalte, oder, Arthur?«

Lindsay sah die Brust ihres Vaters anschwellen. Sie wusste nur zu gut, was dies zu bedeuten hatte: Er hielt die Luft an, als wollte er gleich eine Arie oder das hohe C anstimmen. Vielleicht, sagte sie sich, ist er ja nur neidisch auf Kay, weil er selbst keinen Sohn hat, den er ins Geschäft einbringen kann.

»Ich habe gegen keinen meiner Neffen etwas, ich weiß nur nicht, wie viele … äh … Lehrlinge aus Dublin unsere Firma unterbringen kann.«

Forbes kam einer Erwiderung seiner Mutter zuvor. »Meine Brüder haben nicht das geringste Interesse am Schiffsbau, Onkel. Sie streben alle eine Karriere als Bierbrauer an.«

»Verstehe«, sagte Arthur. »Aber du ziehst Salzwasser Starkbier vor?«

»Ja, das tue ich.«

»Lilias hat bereits zugestimmt, dass der Junge hier wohnt«, erklärte Owen.

»Hat sie das?«, fragte Arthur mit hochgezogener Braue.

»Was genau hast du eigentlich vor, Pappy?«, erkundigte Martin sich.

»Ich gehe nach Strathmore in Pertshire. »Ich habe direkt am Wald ein Haus gemietet, in der Nähe von Kelkemmit.«

»Pertshire!«, rief Johnny aus. »Was zum Teufel willst du denn ausgerechnet in Pertshire?«

»Fischen«, entgegnete Owen knapp.

»Und was ist mit Franklin’s?«, wollte Arthur wissen.

»Keine Angst, Arthur, du wirst schon nicht verhungern. Was den Entwurf von Schiffen betrifft, verstehst du davon mehr als ich, und Donald ist in der Akquise erfolgreicher, als ich es je war.« Er zeigte erst auf den einen, dann auf den anderen seiner Söhne. »Was ist los mit euch? Erzählt mir nicht, ihr wärt zu schüchtern, um das Ruder zu übernehmen. Großer Gott, ihr seid doppelt so alt, wie ich es war, als ich mich selbstständig gemacht habe.«

»Mag sein, aber damals war noch alles anders«, meinte Donald.

»Mach mir nichts vor, Sohn«, konterte Owen Franklin. »Du freust dich diebisch, dass endlich deine große Stunde geschlagen hat. Zumindest solltest du das. Ich ziehe mich zurück; ich mache den Weg für euch frei. Ich ziehe in die Berge von Pertshire und stelle künftig höchstens noch für die Lachse dort eine Gefahr dar. Das wäre das.«

»Und was noch, Pappy?«, fragte Lilias.

Owen griff neben seinen Stuhl und holte fünf braune Umschläge hervor, allesamt mit dem Firmenstempel versiegelt und mit einem handgeschriebenen Namen auf der Vorderseite. Er hielt die Kuverts fächerförmig vor die Brust und schaute in die Runde. Bedächtig und mit unergründlichem Blick musterte er jeden Einzelnen von ihnen.

»Das«, sagte er schließlich und warf die Briefe geschickt aus dem Handgelenk über den Tisch hinweg Donald, Arthur, Martin und Forbes zu.

Der letzte landete zu ihrer Verblüffung bei Lindsay, die ihn mit beiden Händen auffing.

2Blick in die Zukunft

Solange Lindsay denken konnte, war das Haus mit Gaslampen beleuchtet gewesen. Die Köchin und Maddy, das Hausmädchen, hatten in ihren Unterkünften im Souterrain schwanenhalsförmige Wandlampen, und Miss Runciman, die Haushälterin, besaß ebenfalls zwei davon in ihrem schlichten Wohnzimmer im ersten Stock. Nur Nanny Cheadle lehnte diesen neumodischen Schnickschnack, wie sie es nannte, ab und lief weiter mit einer Öllampe herum, wobei ihr auf Schritt und Tritt eine dicke rußige Rauchwolke folgte. Nannys Spleen machte Miss Runciman schier wahnsinnig, weigerte sie sich doch zu akzeptieren, dass Nanny ihre eigenen Gesetze schrieb und sich das Recht verdient hatte zu ignorieren, dass das neunzehnte Jahrhundert sich seinem Ende näherte, und stattdessen so zu tun, als wäre alles noch so wie vor der Erfindung der berühmten Dampflokomotive Rocket durch die Brüder George und Robert Stephenson.

Als Eleanor Runciman an diesem Abend vom Gottesdienst nach Hause gekommen war, hatte das ganze Haus penetrant nach Dochten und Paraffin gerochen. Sofort hatte sie sich auf die Suche nach ihrer Todfeindin gemacht, die sich mit noch glühender Lampe in der verschlossenen Bibliothek verschanzt hatte und sich weigerte, wieder herauszukommen. Das Schauspiel von Haushälterin und Nanny, die im Haus Versteck spielten, amüsierte Lindsay für gewöhnlich, aber an diesem speziellen Abend waren weder sie noch ihr Vater in der Stimmung für solche Kindereien. Minuten nach ihrer Heimkehr beschwichtigte Lindsay Miss Runciman mit einem Cognacschwenker im Salon, während Arthur mit der Faust an die Tür zur Bibliothek hämmerte und Nanny befahl, umgehend herauszukommen.

»Keine fünf Minuten kann man euch allein lassen«, schimpfte Arthur. »Nur fünf Minuten, und ihr geht euch gegenseitig an die Gurgel. Ihr benehmt euch wie die Kinder. Schlimmer als Kinder. Kinder wären um diese Zeit schon im Bett. Nanny. Nanny Cheadle, kommen Sie sofort heraus. Auf der Stelle.«

»Sie will mir meine Lampe wegnehmen.«

»Sie will Ihre verfluchte Lampe nicht. Sie will nur, dass Sie sie ausmachen.«

»Ich komme nicht raus.«

»Nanny, tun Sie, was ich sage, oder … oder ich setze Sie auf die Straße.«

Die Tür schwang auf.

»Das würden Sie mir doch nicht wirklich antun, oder, Mr. Arthur?«, fragte Nanny Cheadle und schaffte es, dabei gleichzeitig Mitleid erregend und aufsässig zu klingen.

»Nein, natürlich nicht. Ich möchte nur meine Bibliothek wieder für mich haben, Nanny.«

»Und Sie nehmen mir nicht meine Lampe weg?«

»Himmelherrgott, was ist das hier eigentlich für ein Irrenhaus …? Nehmen Sie die verdammte Lampe, aber gehen Sie endlich schlafen, Nanny. Bitte.«

Unten im Salon kippte Miss Runciman den Brandy herunter und straffte in ihrem strengen schwarzen Wollkleid mit dem hohen Korsett die Schultern. Als die Farbe in ihre Lippen zurückgekehrt war, sagte sie: »Es geht mir gut, Lindsay, vielen Dank. Ich hätte nicht die Beherrschung verlieren dürfen.«

»Nein, hätten Sie nicht, Miss Runciman«, pflichtete Lindsay ihr bei.

»Diese Frau macht mich derart wahnsinnig, dass ich mich vergesse.« Sie schniefte und reckte sich noch mehr in dem engen Korsett. »Hatten Sie einen angenehmen Abend bei Ihrem Großvater?«

»Sagen wir, er war interessant. Eher interessant als amüsant.«

»Darf ich fragen, welcher Art die angekündigte Überraschung war?«

»Meine Tante Kay ist aus Dublin angereist. In Begleitung ihres Sohnes.«

»Eine Wiedersehensfeier also. Wie nett!«

Beinahe hätte Lindsay der Haushälterin anvertraut, dass ihr Großvater, der geselligste Mensch, den sie kannte, verkündet hatte, in den Ruhestand treten und künftig irgendwo mitten in der Wildnis von Pertshire ein Einsiedlerdasein führen zu wollen. Sie konnte es selbst kaum glauben und vermutete ebenso wie ihre Vettern und Cousinen, dass sich dahinter mehr verbarg, als Pappy ihnen mitgeteilt hatte. Was ihr ganz persönliches Glück betraf, wollte sie dies für sich behalten, bis alles unter Dach und Fach war und sie selbst begriffen hatte, was genau das alles zu bedeuten hatte.

Lindsay gab gar nicht erst vor, so zu tun, als wüsste sie, was Aktien waren und worin sie sich von Effekten unterschieden. In der Schule hatte der entsprechende trockene Lehrstoff sie immer gelangweilt, wenn sie auch immer beeindruckt gewesen war von Mädchen, die wussten, wem was gehörte und wie viele Dividenden die Firmen ihrer Väter zahlten. Und seit sie die Park School abgeschlossen hatte, hatte sie sich die Zeit ähnlich vertrieben wie die meisten anderen Mädchen ihres Alters. So hatte sie beispielsweise Klavierstunden genommen und Vorlesungen über Kunst und Literatur gehört, war mit Cissie und Tante Lilias in der Stadt einkaufen gewesen, hatte Tennis gespielt, war auf dem zugefrorenen Fischteich Schlittschuh gelaufen oder auf der Rollschuhbahn am Causeway gewesen, die geschmückt war mit Topfpalmen und wo zu den Klängen eines kleinen Orchesters in einem Teesalon heiße Schokolade und Honigkuchen serviert wurden.

Im vergangenen Sommer hatte sie mit ihren Cousins und Cousinen mehrere Ausflüge mit dem windgepeitschten Raddampfer nach Rohesay und Millport unternommen. An einem langen sonnigen Tag waren sie sogar bis nach Arran und zurück gefahren. Und im August hatte Onkel Donald sie alle nach London und Southampton mitgenommen zu einer Veranstaltung der Kriegsmarine in Spithead, ein ebenso anstrengendes wie interessantes Erlebnis. Hinzu kamen Schiffstaufen, Konzerte, Bälle und ziemlich pompöse steife Dinner, an denen teilzunehmen zu ihren Pflichten gehörte, seit sie achtzehn war, wobei sie manchmal auch Cissie mitgenommen hatten, damit Lindsay sich nicht so sehr langweilte. Sie verschwendete keinen Gedanken an die Dramen und Krisen, die die Zukunft für sie bereithielt; sie ging einfach davon aus, dass stets für alles gesorgt sein würde, bis sie heiratete und mit ihrem Ehemann einen eigenen Hausstand gründete.

Das cremefarbene Blatt Papier in dem braunen Umschlag, den sie von ihrem Großvater bekommen hatte, hatte nun selbstverständlich völlig neue Voraussetzungen geschaffen.

»Wird Ihre Tante länger in Glasgow bleiben?«, erkundigte sich Miss Runciman.

»Ich weiß es nicht«, entgegnete Lindsay. »Vermutlich nicht. Mein Cousin – er heißt übrigens Forbes – soll hier zum Manager ausgebildet werden. Er wird bei Lilias und Donald wohnen.«

»Ein brandneuer Cousin?«, meinte Miss Runciman mit leicht hochgezogener Braue: »Sieht er gut aus?«

»Kann ich wirklich nicht sagen«, log Lindsay. Miss Runcimans Interesse an potenziellen Verehrern Lindsays war im Laufe des vergangenen Jahres etwas zu offenkundig geworden. »Außerdem ist er um einiges jünger als ich. Kaum mehr als ein Knabe.«

»Aha«, stellte Miss Runciman fest. »Er ist also gut aussehend. Das sind Iren meistens. Ich war früher einmal fast verlobt mit einem Gentleman aus Cork.«

»Was Sie nicht sagen«, meinte Lindsay nur gleichgültig, viel zu beschäftigt mit ihrem eigenen Leben, um sich für die romantischen Anekdötchen einer Miss Runciman zu interessieren. »Ich glaube, Nanny ist jetzt nach oben gegangen, Miss Runciman. Mein Vater möchte bestimmt in der Bibliothek einen Tee trinken. Wenn Sie so freundlich wären? Tee und Toast, denke ich. Für zwei.«

Sie hatte keinen Schimmer, wie ihr Vater zu den Ereignissen des Abends und den überraschenden Plänen ihres Großvaters stand. Lindsay hatte auf dem Heimweg versucht, das Thema in der Droschke anzuschneiden, aber ihr Vater war ungewöhnlich schweigsam gewesen. Sie war klug genug gewesen, ihn nicht zu bedrängen. Und so hatte sie still mit dem Umschlag in der Hand dagesessen, aus dem Fenster geschaut und sich gefragt, ob zwischen dem cremefarbenen Blatt Papier und der Ankunft ihres irischen Cousins ein Zusammenhang bestand.

»Für zwei?«, fragte Miss Runciman nach.

»Ja. Ich habe etwas mit Papa zu besprechen, und es könnte einige Zeit in Anspruch nehmen. Sie können sich zurückziehen, wann immer Sie es möchten.«

»Danke, Lindsay. Ich werde gleich als Erstes den Tee holen.«

»Und Toast.«

Außerhalb des Arbeitszimmers im Erdgeschoss deutete wenig darauf hin, womit Arthur Franklin seinen Lebensunterhalt bestritt. Das Haus war komfortabel, aber ohne viel Schnickschnack eingerichtet, ein minimalistischer Stil, den ihr Vater über die Jahre beibehalten hatte. Lindsay argwöhnte, dass jene Zimmer, zu denen auch Besucher Zugang hatten, sich nur unwesentlich verändert hatten, seit sie von ihrer Mutter eingerichtet worden waren. Sie vermittelten bis heute einen ziemlich genauen Eindruck des Hauses, wie es ausgesehen haben musste, als ihre Eltern es vor zwei Jahrzehnten bezogen hatten.

Zwanzig Jahre! Ein unvorstellbar langer Zeitraum. Tatsächlich war ihr die Zeit gar nicht bewusst gewesen, bis sie mit Einsetzen ihrer Monatsblutung geistig und emotional gereift war. Es war, als hätte dieser Reifeprozess sich nicht nur auf ihre Fortpflanzungsorgane ausgewirkt – Tante Lilias hatte ihr das Mysterium der Zeugung streng wissenschaftlich erläutert –, sondern gleichzeitig auf ihr Gehirn und ihre Fähigkeit, allerlei wahrzunehmen, das ihr bis dahin verborgen geblieben war.

Als Kind hatte sie geglaubt, Nanny Cheadle mehr zu lieben als ihren Vater. Sie war sogar der Überzeugung gewesen, Nanny Cheadle sei ihre Mutter, ein Familiengeheimnis, in das man sie einweihen würde, wenn sie erst alt genug wäre. Eine Zeit lang hatte sie sich gar eingeredet, sie wäre Tante Lilias Tochter und die Frau, deren ovales Porträt im großen, nur selten genutzten Salon im Erdgeschoss über dem Kamin hing, nur ein abstrakter Ersatz, der nie wirklich existiert habe.

Wenn es ganz still gewesen war im Haus, hatte sie sich den Schildpattspiegel von Nanny Cheadles Frisierkommode ausgeliehen und war damit in den verlassenen Salon hinuntergegangen, wo nur an den kältesten Wintertagen ein Feuer im Kamin entzündet wurde. In den Raum mit dem kleinen Klavier, jenen friedlichen, leicht verstaubten Raum, dessen einzige Daseinsberechtigung offenbar darin bestand, besagtes ovales Ölgemälde zu beherbergen. Sie stieg auf den gemauerten Rand der Feuerstelle, stellte sich auf die Zehenspitzen und hielt den Spiegel so, dass sie darin gleichzeitig ihr eigenes Gesicht und jenes auf dem Porträt sehen konnte. Nur zu gern hätte sie sich in der Frau wiedererkannt, hätte für sich festgestellt: »Ja, das bin ich!« Aber es gelang ihr nicht, und so hatte sie nur ebenso verwundert wie frustriert reagiert, wenn Pappy oder Onkel Donald ihr in einem schwachen Moment das lockige blonde Haar gestreichelt und gemeint hatten, sie sei das Ebenbild ihrer armen Mutter.

Lindsay war, anders als ihre Cousine Pansy, die ihre Zeit am liebsten bei Köchin und Dienstmädchen verbracht hatte, nie ein »Küchenkind« gewesen. Sie hatte sich als Mädchen am liebsten im Salon, in ihrem Schlafzimmer und in der Bibliothek aufgehalten, wo ihr Vater geduldig Feder und Lineale weggelegt, sie hochgehoben und mitten auf das knisternde Papier gesetzt hatte, auf dem die Pläne zu seinem aktuellen Schiffsprojekt entstanden, um ihr aufmerksam zuzuhören, wenn sie Kummer hatte. Später lernte sie zu respektieren, dass er bei der Arbeit seine Ruhe brauchte, und so machte sie es sich stattdessen in dem alten abgewetzten Clubsessel gemütlich, las oder sah ihm dabei zu, wie er, die Zunge in höchster Konzentration zwischen den Lippen hervorschauend und die Manschetten weit zurückgeschoben, ganz in seine Arbeit vertieft zeichnete.

Er arbeitete weder an einem Schreib- noch an einem Zeichentisch, sondern nutzte stattdessen als Unterlage eine massive Anrichte auf Säulenfüßen in der Fensternische. Die Anrichte wurde rechts und links von Bücherregalen flankiert, die voll gestopft waren mit überdimensionalen Zeichenvorlagen, Mappen voller Notenblättern sowie den gesammelten Werken von Scott und Smollet, Thackeray und Carlyle. Ganz oben in einem Regalfach standen sechs oder sieben kleine Alben mit verblassten Fotografien des ebenso sonderbaren wie revolutionären Dampfschiffes, an dessen Entwicklung ihr Vater entscheidend mitgewirkt hatte. Auf dem Kaminsims stand ein Glaskasten mit einem maßstabsgetreuen Modell der Charlotte Dundas komplett mit einer Miniatur von Symingtons Motor. Das Modell – das einzige im ganzen Haus – diente jedoch weniger dekorativen Zwecken als vielmehr der Inspiration. Ihr Vater sagte immer wieder, er habe noch kein Schiff entworfen, das nicht zumindest in den Grundzügen auf dem perfekten kleinen Boot aufgebaut gewesen wäre, das »der alte William« vor über neunzig Jahren gebaut hatte.