Die Schwestern aus Balnesmoor - Jessica Stirling - E-Book

Die Schwestern aus Balnesmoor E-Book

Jessica Stirling

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Beschreibung

Geplatzte Träume, geheime Liebschaften: Das Leben zweier Schwestern im Schottland des 19. Jahrhunderts

Schottland, 1812. Elspeth und Anna Patterson von Balnesmoor haben eine gute Partie gemacht: Elspeth hat einen wohlhabenden Kaufmann geheiratet, ihre Stiefschwester Anna den Sohn eines angesehenen Fabrikanten. Doch Elspeth‘ Ehe ist eine lieblose Gemeinschaft, die von einem dunklen Geheimnis überschattet wird. Auch Anna ist mit ihrem Ehemann nicht zufrieden: Seine ehrliche, gutmütige Art stößt sie ab. Stattdessen träumt sie von einem attraktiven Soldaten und wartet auf seine Rückkehr aus dem Krieg. Doch Annas Träume haben ungeahnte Konsequenzen, und Elspeth entdeckt die Liebe - außerhalb ihrer Ehe ...

Dieser Liebesroman ist in einer früheren Ausgabe unter dem Titel "Träume im Landhaus" erschienen.

"Die Schwestern aus Balnesmoor" ist ein in sich abgeschlossener Roman und zugleich der zweite Teil der historischen Familiensaga über das wechselvolle Leben und Lieben der beiden Stiefschwestern Elspeth und Anna. Nächster und letzter Band der Trilogie: "Die Früchte der Erde".

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Inhalt

CoverWeitere Titel der AutorinÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumZitat1 Männer und Frauen2 Der Liebeszauber3 Das Testament4 Brave Bürger5 Verliebt für lange Zeit6 Blendwerk7 Glück und Notwendigkeit8 Stunde der Wahrheit9 Wind auf dem Hügel10 Die verlorene Seele

Weitere Titel der Autorin

Die Patterson-Schwestern Band 1: Sturm über Schottland Band 3: Die Früchte der Erde

Die McCulloch-Trilogie Band 1: Die Melodie der Wellen Band 2: Die Stürme des Himmels Band 3: Die Träume des Windes

Die Highland-Schwestern Band 1: Die Frauen von der Insel Band 2: Im Schatten der Stürme Band 3: Die Insel der Zuversicht

Über dieses Buch

Geplatzte Träume, geheime Liebschaften: Das Leben zweier Schwestern im Schottland des 19. Jahrhunderts

Schottland, 1812. Elspeth und Anna Patterson von Balnesmoor haben eine gute Partie gemacht: Elspeth hat einen wohlhabenden Kaufmann geheiratet, ihre Stiefschwester Anna den Sohn eines angesehenen Fabrikanten. Doch Elspeth‘ Ehe ist eine lieblose Gemeinschaft, die von einem dunklen Geheimnis überschattet wird. Auch Anna ist mit ihrem Ehemann nicht zufrieden: Seine ehrliche, gutmütige Art stößt sie ab. Stattdessen träumt sie von einem attraktiven Soldaten und wartet auf seine Rückkehr aus dem Krieg. Doch Annas Träume haben ungeahnte Konsequenzen, und Elspeth entdeckt die Liebe – außerhalb ihrer Ehe …

Dieser Liebesroman ist in einer früheren Ausgabe unter dem Titel »Träume im Landhaus« erschienen.

»Die Schwestern aus Balnesmoor« ist ein in sich abgeschlossener Roman und zugleich der zweite Teil der historischen Familiensaga über das wechselvolle Leben und Lieben der beiden Stiefschwestern Elspeth und Anna. Nächster und letzter Band der Trilogie: »Die Früchte der Erde«.

Über die Autorin

Jessica Stirling ist ein Pseudonym, unter dem Hugh Crauford Rae (1935-2014) erfolgreich Liebesgeschichten und historische Familiensagas veröffentlicht hat. In Glasgow geboren, arbeitete Rae nach der Schule vierzehn Jahre lang in einer Buchhandlung, bevor er sich auf das Schreiben konzentrierte. Als Jessica Stirling hat Rae zunächst zusammen mit der befreundeten Autorin Peggy Coghlan gearbeitet. Nach einigen Jahren zog sich Coghlan altersbedingt zurück, und Rae schrieb fortan mit Coghlans Zustimmung allein unter dem Pseudonym Jessica Stirling weiter. Er war Präsident der Scottish Association of Writers und hat Kurse in Kreativem Schreiben an der Universität Glasgow gegeben. Bis zu seinem Tod am 24. September 2014 hat er über siebzig Romane veröffentlicht, die meisten unter Pseudonymen.

JESSICA STIRLING

Die SCHWESTERN ausBALNESMOOR

Aus dem Englischen vonCécile G. Lecaux

beHEARTBEAT

Digitale Originalausgabe

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Für die Originalausgabe: Copyright © 1986 by Jessica Stirling Titel der englischen Originalausgabe: »Creature Comforts«

Für diese Ausgabe: Copyright © 2004/2019 by Bastei Lübbe AG, Köln Titel der deutschsprachigen Erstausgabe: »Träume im Landhaus« Covergestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de unter Verwendung von Motiven © thinkstock: Susanne Neumann | Roberto Manderioli | Acik

eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-6479-8

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Niemand beneidet oder hasst seinesgleichen; sogar Teufel lieben einander auf ihre Art und quälen sich aus anderen Gründen als Missgunst oder Hass, Emotionen, die sich nur gegen die Gerechten wenden.

William Blake

1Männer und Frauen

Anna hatte ihm den Affen als Haustier geschenkt und dann mit ansehen müssen, wie das Tier für ihn zum Kinderersatz wurde. In einem kleinen handgenähten Jäckchen aus blauer Baumwolle und einer Kinderhose hockte die Kreatur, die kaum größer war als ein Hauskater, auf Matts Schulter, schnatterte zufrieden vor sich hin und knabberte dabei an einem Stück Speckschwarte, das der junge Mann sich hinter das Ohr geklemmt hatte.

Barfuß und ohne Hemd lümmelte Matt sich auf dem Klappstuhl vor einem lodernden Feuer. In der Küche war es sengend heiß, da Matt die Angewohnheit hatte, Holzscheite und Torfbriketts im Kamin so hoch aufzuschichten, dass Anna kaum noch einen Topf an der Kette über dem Feuer aufhängen oder einen Kessel auf der Heizplatte abstellen konnte. Als sie ihm Verschwendung vorgeworfen hatte, hatte Matt beleidigt gekontert, sie sei kaltherzig. War Jacko nicht in den Tropen aufgewachsen? Wie sollte er da einen schottischen Winter überstehen, wenn man ihn nicht ein wenig verhätschelte? Aber tatsächlich bot Jacko ihm nur eine willkommene Ausrede dafür, seinen eigenen Hang zu Bequemlichkeit und Komfort auszuleben. Matt hatte es schon immer genossen, seinen athletischen, muskulösen Körper zu rösten, und jetzt, da er Herr im eigenen Haus war, sah er keinen Grund, sich dieses Vergnügen vorzuenthalten.

Anna hatte in den dreißig Monaten ihrer Ehe gelernt, mit den Eigenarten ihres Mannes umzugehen. Tatsächlich hatten zweieinhalb Jahre Ehe mit Matt Sinclair sie so abgestumpft, dass sie die Spannungen zwischen ihnen und den desolaten Zustand ihrer Beziehung im Großen und Ganzen gar nicht mehr wahrnahm. Die notorisch schlechte Laune ihres Mannes erklärte sie sich damit, dass sie ihm bislang keinen Sohn geschenkt hatte. Sie war überzeugt davon, dass Matt, wenn sie erst schwanger würde, sich schlagartig ändern und in einen zärtlichen und rücksichtsvollen Ehemann verwandeln würde. Trotzdem stand Anna dem »Mutterglück« mit gemischten Gefühlen gegenüber. So jung sie auch sein mochte – immerhin war sie in diesem Frühling 1812 noch keine zwanzig –, sagte ihr der Instinkt, dass der Fehler einer übereilten Heirat sich nicht allein durch Liebe wettmachen ließ oder gar dadurch, dass man sich das bisschen Liebe, das denn vorhanden war, mit einem unschuldigen Kind teilte.

Überhaupt war an dem ganzen Schlamassel nur ihre Schwester Elspeth schuld. Wäre Elspeth seinerzeit nicht so verknallt gewesen in Matt Sinclair, dann hätte sie, Anna, nicht mit ihm geflirtet und ihn schließlich dazu verleitet, ihr in dem Wäldchen unterhalb des Nettleburn die Unschuld zu rauben. Auf diesen Fehltritt und ihr spontanes Geständnis war ein ganzer Rattenschwanz von Katastrophen gefolgt.

Ihre Mutter hatte sie stehenden Fußes zu den Sinclairs geschleift. Entsetzt und tief beschämt hatten die Sinclairs gar keine andere Wahl gehabt, als einer baldigen Vermählung zuzustimmen. Darauf war die Verbannung in das düstere alte Cottage im Wald gefolgt, und nun sah es zu allem Überfluss auch noch so aus, als hätten sich Matts Aussichten auf eine Beförderung bis auf weiteres zerschlagen. Und dann war sie auch noch so dämlich gewesen, sich von einem fahrenden Händler bequatschen zu lassen und Matt einen Affen zu schenken!

Es hatte seit Wochen genieselt, und schon bei schönem Wetter verirrte sich selten genug ein Fremder nach Ottershaw. Matts Vater, der Verwalter des Gutes, gab Fremden unmissverständlich zu verstehen, dass sie nicht willkommen waren. Aber eines Tages hatte doch dieser Mann mit dem Schlapphut und dem von Nässe tintenschwarzen Mantel aus Englischleder vor ihr gestanden, als sie auf ein unerwartetes Klopfen hin die Tür geöffnet hatte.

Der Hausierer hatte trotz seiner durchweichten Kleidung fröhlich gegrinst.

»Was wollen Sie?«, hatte Anna gefragt.

»Wollen Sie einen Singvogel kaufen, gute Frau?«

Von einem Stecken, den er über der Schulter trug, baumelten zwei Weidenkäfige mit je zwei Kanarienvögeln, die so struppig und nass waren wie ihr Besitzer, denen es jedoch ganz entschieden an dessen professionellem Frohsinn mangelte.

»Meine Güte, Mann, in den Wäldern hier gibt es Vögel im Überfluss«, entgegnete Anna abfällig.

»Mag sein, aber meine sind exotisch.«

»Quatsch! Exotisch! Was für ein Unsinn!«

»Kaufen Sie einen, und er wird es Ihnen danken mit einem Gesang, bei dem Ihnen das Herz aufgeht.«

»Und dann liegt er eines Morgens steif in seinem Käfig auf dem Rücken.«

Der Hausierer schaute an ihr vorbei auf das lodernde Feuer und die Kochtöpfe, in denen es viel versprechend blubberte, aber mit Annas Gastfreundschaft war es nicht weit her, und sie dachte gar nicht daran, den Fremden hereinzubitten, damit er sich aufwärmen und seine Sachen trocknen konnte. Tatsächlich wollte sie ihm die Tür vor der Nase zuschlagen, da er offensichtlich weder Schmuck noch Haarbänder bei sich hatte, die sie unter Umständen hätten interessieren können. Da bemerkte sie die Pfote.

»Was ist denn das?«

»Ein Affe.«

Ein trauriges kleines Gesichtchen erschien im Mantelausschnitt des Mannes.

»Ist der echt?«

»Natürlich. Er kommt aus Guinea«, entgegnete der fahrende Händler. »Ein Kapuzineräffchen. Ich nenne ihn Jacko.«

»Lassen Sie mich mal sehen.«

Sofort legte der Hausierer eine schützende Hand über das dunkle Köpfchen. »Nein, nein, gute Frau. Jacko ist nicht zu verkaufen. Schauen Sie sich lieber meine Meistersänger an.«

Blinzelnd streckte Jacko Anna die Arme entgegen, als flehe er sie an, ihn von der endlosen Wanderung im nicht enden wollenden Regen zu erlösen.

»Ich gebe Ihnen fünf Schilling für den Affen.«

Ihr war wohl bewusst, dass der Händler durchaus mit dem alleinigen Ziel, ihr den Affen zu verkaufen, an ihre Tür geklopft haben mochte. Vielleicht hatte er ja bei einem Drink im Ramshead oder im Bull von dem jungen Mann auf Ottershaw gehört, der sich gerne mit Wildtieren umgab, die er zu zähmen versuchte. Matt hatte Marder und Eichhörnchen in Käfigen gehalten, aber sie waren trotz – oder wegen – seiner Pflege in Gefangenschaft eingegangen.

Anna wollte nicht naiv wirken, aber ihrer Zurückhaltung stand der übermächtige Wunsch gegenüber, das unglückliche Tierchen an die Brust zu drücken und zu knuddeln.

»Acht Schilling«, hörte sie sich sagen.

Das war ein extravagantes Angebot – das war mehr als der Lohn für drei Wochen Arbeit in der Molkerei –, aber sie hatte noch ein paar Pfund aus dem Erbe ihrer Mutter in einem Strumpf im Schrank versteckt, Geld, von dem Matt nichts wusste. Er würde ihr bei lebendigem Leib die Haut abziehen, wenn er je erfuhr, was sie für das Geschenk bezahlt hatte, ganz egal, wie sehr es ihm auch gefallen mochte.

»Zehn Schilling. Nehmen Sie’s oder lassen Sie’s.«

»Einverstanden.«

Der Hausierer holte das Kapuzineräffchen unter dem Mantel hervor und überreichte es Anna. Den Schwanz um ihren Arm gewickelt und die Pfötchen wie Haken an sie gekrallt, klammerte Jacko sich zitternd an sie. Anna stellte fest, dass er zwar niedlich aussah, aber einen strengen Geruch verströmte. Trotzdem drückte sie ihn schützend an sich, während sie ins Haus ging, um das Geld zu holen, und anschließend den Händler bezahlte, der pfeifend seiner Wege ging.

Matt geriet ganz aus dem Häuschen. Er küsste Anna, um ihr seine Dankbarkeit zu zeigen, schenkte ihr jedoch hernach keine große Aufmerksamkeit mehr, sondern war ganz in Anspruch genommen von Jackos Kapriolen. Es dauerte nicht lange, bis er eine Beziehung zu dem Tier hergestellt hatte, das er maßlos verwöhnte, sodass Jacko derart frech wurde, dass er kaum noch zu bändigen war.

An Weihnachten hegte Anna bereits einen tiefen Hass auf den Affen und verfluchte den schwachen Moment, in dem sie gutes Geld für das Tier bezahlt hatte.

Matt Sinclair und sein geliebter Kapuziner waren die Stars im Ramshead und im Black Bull. Jacko hockte auf Matts Schulter, die Pfoten in sein unordentliches blondes Haar gekrallt, und ließ sich von den Gästen hätscheln. Tatsächlich war das Äffchen bei allen beliebt – einmal abgesehen von Anna und Matts Vater, der grundsätzlich »Exoten« ablehnte und auch die viele Zeit missbilligte, die sein Sohn auf sinnlose Spielereien verschwendete.

Im Laufe der Monate wurde Jacko zu einem Quell beträchtlicher Frustration für Anna. Er beraubte sie der angenehmen friedlichen Stunden zwischen ihrer Heimkehr von der Arbeit in der Molkerei und Matts Feierabend. Aber Jacko war gewitzt und ging Anna aus dem Weg, wenn sie allein in der Hütte waren. Er versteckte sich im Gebälk oder baumelte mit dem Schwanz vom Sattelhalter, von wo aus er sie mit Kirschkernen bespuckte oder ihr sogar auf den Kopf pinkelte, um sich dann blitzschnell vor ihrem Wutausbruch außer Reichweite in Sicherheit zu bringen. Wenn sie sich bei Matt beschwerte, lachte der nur und meinte, Kapuzineräffchen hätten es eben faustdick hinter den Ohren. Aber Matt schenkte Jacko nicht seine ganze Aufmerksamkeit; nicht einmal der Affe konnte den jungen Sinclair davon abhalten, hochfliegende Zukunftspläne zu schmieden. An diesem verregneten Abend Ende April baute Matt wieder einmal Luftschlösser.

»Für achtzig Pfund könnte ich genug Vieh kaufen und was wir sonst noch so bräuchten, um unseren Lebensunterhalt zu bestreiten«, sagte er. »Wir könnten diesem Loch den Rücken kehren, wenn wir nur einen Hof fänden, zu dem noch etwas Acker- und Weideland gehört.«

»Ja, das könnten wir«, sagte Anna.

»Ich würde einen Arm und ein Bein dafür hergeben, um das Gesicht meines Vaters zu sehen, wenn ich ihm die Kündigung überreiche.«

»Er würde ganz schön Augen machen.«

Matt streckte eins seiner langen Beine aus, wackelte mit den Zehen und betrachtete seinen Fuß, als fragte er sich, wie sich der Weg in die Unabhängigkeit ertanzen ließe. »Mit achtzig Pfund könnten wir loslegen.«

»Ja, das könnten wir«, sagte Anna noch einmal.

Sie hatte ihren schweren Rock und ihre Bluse ausgezogen und fühlte sich trotz der Hitze im Zimmer wohl. Solange Matt mit Träumen beschäftigt war, würde er nicht merken, dass sie faulenzte. Sobald er wieder in die Wirklichkeit zurückkehrte, würde er sie anschnauzen, sie solle ihren Hintern in Bewegung setzen und das Bett machen, einen Riss in seinem Hemd flicken oder die Töpfe mit Sand schrubben. Matt konnte es einfach nicht ertragen, mit anzusehen, wie sie sich einen Moment der Muße gönnte. Er war von seiner Mutter, Aileen Sinclair, verdorben worden, einer wahren Heiligen, die unermüdlich war und niemals ruhte. Sogar auf den Abort nahm sie irgendeine Näharbeit mit, als betrachte sie es als Todsünde, auch nur einen Augenblick untätig zu sein. Wenn Aileen Sinclair nicht nähte, kochte sie, putzte, wusch oder betätigte ihr Spinnrad. Und wenn einmal alles erledigt war, seifte sie die arme Hauskatze ein, um sie von Flöhen freizuhalten. Für Anna war eine solche an Besessenheit grenzende Aktivität krankhaft und sollte von Männern nicht gelobt, geschweige denn ermutigt werden.

»Ich habe eine Anzeige gesehen. Ein Hof inklusive sämtlicher Gerätschaften. Ein echtes Schnäppchen«, fuhr Matt fort.

In den vergangenen achtzehn Monaten hatte er Anna dutzende von Anzeigen gezeigt, und sie hatte keinen Schimmer, woher Matt wissen wollte, dass das Zeug billig weggehen würde, da der betreffende Hof sich in Blairgowrie befand, das meilenweit weg war, jenseits des Tay, im abgelegenen Pertshire.

»Wenn wir doch nur irgendwo etwas Kapital auftreiben könnten«, sagte Matt. »Dann hätten wir endlich eine Chance, ein völlig anderes Leben anzufangen.«

Anna, die ahnte, was als Nächstes kommen würde, schüttelte sich leicht, um sich zu wappnen. Matt nahm vorsichtig Jacko von seiner Schulter und setzte ihn sich auf den Schoß, wo der Affe brav hocken blieb.

»Du könntest sie um ein Darlehen bitten«, sagte Matt.

»Wen?«, fragte sie, obwohl sie genau wusste, was er meinte.

»Deine Schwester.«

»Auch wenn sie eigenes Geld hätte, würde Elspeth keinen halben Penny rausrücken.«

»Mag sein, aber sie könnte bei ihrem Mann ein gutes Wort für uns einlegen. Ich würde ihm auch die vollen Zinsen zahlen«, entgegnete Matt.

»Matt, ich werde Elspeth nicht um Geld anbetteln.«

»Das hat doch nichts mit Betteln zu tun, Frau. Es geht um eine geschäftliche Transaktion.«

»Dann sprich selbst mit Moodie. Von Mann zu Mann.«

»Ich werde nicht vor diesem arroganten Fatzken zu Kreuze kriechen.«

»Aber ich soll vor Elspeth kriechen, ja?«

»Das ist doch etwas völlig anderes.«

»Und was bitte soll daran anders sein?«

»Immerhin ist Elspeth deine Schwester.«

»Nur dem Namen nach. Sie ist nicht von meinem Fleisch und Blut.«

»Das ist doch Haarspalterei«, knurrte Matt. »Sie ist mit dir verwandt, sie hat Jamie Moodie unter der Fuchtel, und sie könnte ihn ganz sicher überreden, uns einen Kredit zu gewähren, wenn du sie nur darum bitten würdest.«

»Das werde ich nicht tun, Matt.«

Anna rechnete fest damit, dass er wütend wurde, aber er zog es vor zu schmollen. Er streichelte den Affen mit einer Zärtlichkeit, die seinen sturen Zorn noch hervorhob. Aber ganz gleich, wie lange er den Beleidigten herauskehrte, sie würde Elspeth nicht um Geld bitten für ein geschäftliches Unterfangen, dessen Scheitern vorprogrammiert war. Matt verstand etwas von Pferden und wohl auch vom Bäumefällen, aber er war kein Bauer. Er war als ältester Sohn eines Gutsverwalters aufgewachsen und nicht dazu bestimmt, im Dreck zu wühlen, von früh bis spät zu schuften bis zum Umfallen und sich tagein, tagaus zu sorgen – und genau das war das Los aller Kleinbauern.

Seit Mommys Tod und Elspeth’ Heirat mit einem wohlhabenden Weber ging Anna ihrer Schwester aus dem Weg. Sie zog es vor, sich einzureden, dass es Elspeth war, die sie mied, und inzwischen war sie davon überzeugt, dass Elspeth sich ihrer armen Verwandten schämte. Verglichen mit den meisten anderen Bewohnern von Balnesmoor und Ottershaw standen sich die Sinclairs recht gut, im Verhältnis zu James Simpson Moodie aber waren sie arm wie Kirchenmäuse. James Simpson Moodie war Eigentümer mehrerer florierender Unternehmen, darunter einer neuen Wollfabrik in Kennart mitsamt dem Weiler, der um die Fabrik herum entstanden war.

Es machte Anna ganz krank zu sehen, wie elegant Elspeth sich aus der Affäre gezogen hatte. Elspeth Cochran, die als Findelkind von einer Viehtreiberin aufgenommen und großgezogen worden war, hatte sich so selbstverständlich in das sorglose Dasein einer echten Lady eingefügt wie ein Kuckuck sich im Nest einer Bachstelze breit machte. Sie verfügte über ein Heer von Hausangestellten, wurde in einer Kutsche überallhin gefahren, besaß private Gärten und lebte in einem Haus mit zehn Zimmerfluchten, in die sie sich zurückziehen konnte, wenn sie genug hatte von Moodies liebevollen Aufmerksamkeiten. Das alles warf einen Schatten der Gewöhnlichkeit auf Annas Existenz.

Dabei hätte man in der Gemeinde wohl keine von Gaddy Cochrans zwei Töchtern als »gewöhnlich« bezeichnet. Ihre Kindheit war geprägt gewesen von Geheimnissen und Intrigen, und beide waren zu so außergewöhnlich hübschen jungen Frauen herangewachsen, dass boshaftes Gerede die unausweichliche Folge war. Als Gaddy, die damals noch Gaddy Patterson hieß, in Begleitung eines derben Viehtreibers aus dem Hochland nach Balnesmoor gekommen war, war sie rein zufällig am Rand des Moores über die Leiche eines jungen Mädchens gestolpert. Die Tote hatte einen Säugling bei sich, der wie durch ein Wunder noch lebte. Die junge Frau war nie identifiziert, ihre Herkunft nie geklärt worden, aber Gaddy hatte darum gebeten, dass man das Kind in ihre Obhut gab. Sie hatte das Mädchen auf den Namen Elspeth taufen lassen und sich in einer Schafhütte niedergelassen, die sie vom Gutsherrn Sir Gilbert Bontine gepachtet hatte. Aber damit nicht genug. In späteren Jahren war es zum Skandal gekommen, als Gaddy einem bodenständigen Farmer, Coll Cochran, den Kopf verdreht und ein Verhältnis mit ihm begonnen hatte. Später, nachdem Anna zur Welt gekommen und Colls rechtmäßige Ehefrau gestorben war, hatten er und Gaddy geheiratet, auch wenn die einfachen Menschen in Balnesmoor diese nachträgliche Legalisierung ihrer Beziehung nie wirklich akzeptiert hatten. Als dann das Heim der Cochrans oben auf dem Berg bei einem Unwetter von einer Schlammlawine zerstört worden war, waren viele der Ansicht, es handle sich um Gottes Strafe für Gaddys unverzeihliche Sünden. Nur wenige Wochen nach der Katastrophe war Gaddy Coll dann ins Grab gefolgt. Nach Ablauf einer kurzen Trauerzeit hatte Elspeth den Weber James Simpson Moodie geheiratet und hierdurch ein für alle Mal das Stigma des verwaisten Bastards abgestreift.

Anna war sich nicht schlüssig, wie raffiniert Elspeth war, wie viel von ihrem Glück Zufall war und was sie purer Berechnung zu verdanken hatte. Zweifellos hatte ihre Schwester »es geschafft«, und in Annas Augen hatte sie ihr Schicksal erfüllt, während sie, Anna, erst noch herausfinden musste, was ihre wahre Bestimmung war.

»Matt?«

Ihr Mann hielt sich die Verkaufsanzeige dichter vor die Augen und studierte sie so konzentriert wie Mr. Eshner, der neue Dorfpfarrer, seine Schriften studierte.

»Matt, willst du mir nicht antworten?«

Matt ignorierte sie demonstrativ.

Anna zögerte.

Wenn sie wirklich wollte, konnte sie ihn rumkriegen und ihn von bankrotten Farmen und Krediten ablenken. Er war zu leidenschaftlich, um ihr widerstehen zu können, wenn sie die Waffen einer Frau einsetzte. In dieser Hinsicht kam Matt seinen ehelichen Pflichten nach, allerdings war es selten befriedigend, mit ihm zu schlafen, da er grob und unsensibel war und sich keine Zeit nahm, auf ihre Bedürfnisse einzugehen. Aber jetzt stand zu befürchten, dass er jeden Moment die verkrusteten Töpfe auf dem Herd bemerkte und beschloss, sie zur Hausarbeit anzuhalten. Da war es immer noch besser, ihn aus seinem Schmollwinkel zu holen und den Rest des Abends im Warmen unter der Bettdecke im Hinterzimmer zu verbringen.

Langsam stand sie von dem Schemel auf und legte ihrem Mann eine Hand auf den Oberschenkel. Matt errötete. Es war ein absonderliches Spiel, das die jungen Sinclairs spielten, aber es weckte trotz allem Matts Verlangen.

»Was hast du vor?«, brummte er mit belegter Stimme.

»Matt, ich bin bettreif, fürchte ich.«

»Bettreif, ja?«

»Hmmmm!«

Schnatternd sprang Jacko von Matts Schoß auf seine Schulter und zeigte der jungen Frau die Zähne.

»Sperr ihn in seinen Käfig«, sagte Anna. »Schnell.«

Matt ließ sich nicht zweimal bitten. Er stieg auf den Stuhl, hob den Affen hoch und steckte ihn in eine Holzkiste mit Weidengeflecht an der Vorderseite, die an einem Dachbalken befestigt war. Begleitet von Jackos zornigem Gezeter stieg Matt wieder herunter, griff nach seiner Frau, knetete ihre Brüste und drückte sie an sich. Sie legte ihm eine Hand in den Nacken und zog seinen Mund herunter zu ihren leicht geöffneten Lippen.

Farmen und ehrgeizige Träume waren vergessen. Matt Sinclair verzehrte sich vor glühendem Verlangen. Er zog die Träger ihres Leibchens herunter und entblößte ihre Brüste. Er küsste sie, hob dann seine Frau ungeduldig auf die Arme und trug sie nach nebenan, während Anna kichernd protestierte.

In ebendiesem Moment flog ohne Vorwarnung die Tür auf, und Matts Vater betrat die Küche.

Von Lachlan Sinclairs knöchellangem Regenmantel und seinem Hut mit der aufgestülpten Krempe perlten Regentropfen. Der Gutsverwalter war inzwischen in den Fünfzigern, sein Haar von weißen Fäden durchzogen und sein Gesicht runder, nicht mehr so eingefallen wie zwei Jahrzehnte zuvor, als die beinahe ausgezehrten Züge ihm einen ganz eigenen verwegenen Charme verliehen hatten und ihm die Herzen der jungen Frauen zugeflogen waren. Aber moralische Geradlinigkeit, die er sich über die Jahre erhalten hatte, war immer Sinclairs Markenzeichen gewesen, und er hatte seine Anziehung auf das weibliche Geschlecht nie ausgenutzt.

»Was geht hier vor?«, fragte er streng.

Seine Augen blitzten zornig beim Anblick der für ihn verabscheuungswürdigen Zurschaustellung modernen Libertinismus. Durch die halb offene Tür war der helle, schwere Kopf seines Pferdes draußen in der Dunkelheit zu sehen. Es wieherte leise, woraufhin Jacko anfing, in seinem Käfig zu toben.

Anna fasste sich als Erste wieder.

»Matt«, zischte sie. »Lass mich runter.«

Matt ließ sie fallen wie einen Sack gestohlenes Getreide. Anna kehrte ihrem Schwiegervater den Rücken zu, schnürte ihr Mieder zu und legte sich einen Schal um die nackten Schultern. Sie hätte die Situation mit Humor retten können, wenn Matts Frustration sich nicht in Wut gewandelt hätte.

»Hast du denn gar keine Manieren, dass du einfach so in anderer Leute Haus platzt und ihre Intimsphäre störst?«, fuhr er seinen Vater an. »Das hier ist mein Haus.«

Sinclair erwiderte nichts darauf.

Anna wollte die Wogen glätten, stieß ihrem Mann den Ellbogen in die Rippen und fragte: »Was führt Sie her, Mister Sinclair?«

Sinclairs Empörung verflog. Er nahm den Hut ab, neigte den Kopf und verkündete mit feierlichem Ernst: »Der Gutsherr ist tot.«

»Wie bitte?«, hauchte Anna verdattert. »Der alte Sir Gilbert?«

»Ja, mein Dienstherr.«

Matt entspannte sich. »Bei Gott, der Alte hat ja auch lange genug durchgehalten. Und wie ist er gestorben?«

»Er ist im Bett, beim Essen, um genau zu sein, ganz plötzlich zusammengesackt.«

Matt hatte seinen Vater noch nie weinen sehen; er war immer davon ausgegangen, dass die Tränendrüsen des Verwalters so vertrocknet waren wie sein Herz. Entsprechend verblüfft war er von dessen offensichtlicher Ergriffenheit. Er warf einen Blick auf Anna.

»Kommen Sie, Mister Sinclair«, sagte diese. »Setzen Sie sich.«

Sie führte ihn zu dem Klappstuhl, wo er mehrere Minuten sitzen blieb, die schmalen dunklen Hände vor das Gesicht geschlagen und die Schultern zuckend von stillen Schluchzern.

Nach einem Rippenstoß von Anna legte Matt seinem Vater linkisch eine Hand auf den Rücken und klopfte diesen zögernd, eine Geste, die Trost spenden sollte. Nach einiger Zeit wurde das Schluchzen weniger und hörte schließlich ganz auf.

»Sie haben eine Ewigkeit für den alten Mann gearbeitet, Mister Sinclair. Kein Wunder, dass sein Tod Sie so mitnimmt«, sagte Anna.

»Dreißig Jahre, Mädchen.«

Lachlan Sinclair war der Sohn eines Gutsverwalters, dessen Vater schon Verwalter auf Ottershaw gewesen war. Er war mehr als ein einfacher Angestellter, leitete das Anwesen mit überdurchschnittlichem Einsatz und hatte deutlichere Spuren auf Ottershaw hinterlassen als alle seine Vorfahren zusammen. Er ging die Landwirtschaft systematisch und wissenschaftlich an und hatte sich stets der Unterstützung Sir Gilberts gewiss sein können. Jetzt, da der alte Herr tot war, stand der Fortschritt in Frage, nicht etwa gefährdet durch rebellische Pächter, sondern von den Komplikationen, die eine weit verzweigte Familie mit sich brachte und vor allem auch die Abwesenheit des rechtmäßigen Erben, Randall Bontine. Sir Gilbert war ein umgänglicher Mensch gewesen, zufrieden mit seinem Los, gewissenhaft in seinen Pflichten seinen Pächtern gegenüber, eben ein Vorbild wahren ländlichen Adels. Sein jüngerer Sohn, Gibbie Junior, war zwar kein Dummkopf, stand jedoch unter dem Einfluss einer dominanten Frau, während Randall mit der Armee verheiratet war und sich so selten auf Ottershaw hatte blicken lassen, dass er für die Menschen dort mehr oder weniger eine unbekannte Größe war. Und bis Randall nach Schottland zurückkehrte oder offiziell auf seinen Löwenanteil an Ottershaw verzichtete, würde auf dem Gut alles stagnieren.

Sicher, die Gerste würde sprießen, die Schafe würden lammen, die Stuten fohlen, Bäume abgeholzt werden und Farnkraut seine weichen grünen Fäuste durch nicht bestellten Boden drücken, die Frühjahrskälber würden zufrieden an den Zitzen ihrer Mutter ihren Hunger stillen, ohne zu ahnen, dass ein kranker alter Mann das Zeitliche gesegnet hatte, seine Söhne durch einen Krieg auf dem Kontinent entzweit waren und auf Ottershaw Veränderungen bevorstanden, die über den Jahreszeitenwechsel hinausgingen. Sinclair hatte gute Gründe, an diesem Aprilabend Tränen zu vergießen, da man nicht wissen konnte, welche Tugenden der alte Sir Gilbert mit ins Grab nehmen würde.

»Er fühlt sich nicht gut, Matt«, flüsterte Anna. »Er hat einen Schock. Gib ihm einen Schluck aus deinem Krug.«

»Was für einem Krug?«

»Dem Whisky-Krug, den du versteckt hältst.«

»Woher weißt du davon?«

»Ich bin doch nicht blind. Ich weiß, dass der Whisky nicht von Staub verunreinigt ist. Aber das ist doch jetzt auch egal. Hol deinem Vater ein Glas.«

Matt grunzte, verließ die Küche und kehrte eine Minute später mit einem Glas zurück, das bis zum Rand mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit gefüllt war. Er hielt es seinem Vater hin. Nachdem dieser seine Tränen getrocknet und sich einigermaßen gefasst hatte, nahm er das Glas entgegen, schnupperte daran und trank dann einen Schluck. Seine Augen weiteten sich, als hätte er in eine unreife Zitrone gebissen.

»Was ist denn das für ein Teufelszeug?«

»Guter, echter Whisky.«

»Schwarzgebrannter, wette ich. Hast du den von Pad Tomelty?«

»Ist doch egal, wo er her ist«, knurrte Matt. »Trink und genieße ihn einfach, Vater.«

Die Hälfte aller Haushalte in der Gemeinde wurden von Pad Tomelty mit seinen illegalen Destillaten versorgt. Säufer zogen den Whisky jenem aus besteuerten und geprüften Brennereien vor. Aber der Verwalter hatte zu viel anderes auf dem Herzen, um seinem Sohn wegen dieses Vergehens Vorhaltungen zu machen. Er leerte das Glas ohne weitere Kritik und übergab es anschließend Anna. Farbe kehrte in seine Wangen zurück, und mit schroffer Förmlichkeit stand er auf, fischte einen Brief aus der Brusttasche seines Mantels und überreichte ihn Matt.

Matt warf einen Blick auf die Adresse auf dem Umschlag und sah überrascht, dass der Brief an Major Randall Bontine adressiert war. »Was soll ich damit? Erwartest du von mir, den Brief bis nach Spanien zu befördern?«

»Ich möchte, dass du nach Glasgow reitest und den Umschlag Colonel Wellman persönlich aushändigst. Du findest ihn im Hauptquartier der Kavallerie in der Port Eglington Street.«

»Jetzt gleich? Reicht es nicht, wenn ich bei Tagesanbruch reite?«

»Und wenn das Regiment auf den Kontinent geschickt wird und das Schiff am Morgen mit der Flut ausläuft?«, hielt Sinclair Senior ihm entgegen. »Sollen wir den Colonel verpassen, nur weil du dich fürchtest, im Dunkeln zu reiten?«

Die Anwälte von Ottershaw standen seit längerer Zeit mit Colonel Wellman in Verbindung als Vorsichtsmaßnahme für den Fall von Sir Gilbert Bontines Tod. Über Wellmans Büro wurden Briefe und offizielle Depeschen an diverse schottische Regimenter weitergeleitet, die auf der Halbinsel stationiert waren. Es war ein effektiver Postweg – und der einzige, um genau zu sein. Trotzdem würde es viele Wochen dauern, bis Randall vom Ableben seines Vaters erfuhr und seine Unterschrift unter die Dokumente in dem dicken Umschlag setzte. Wenn die Papiere dann zurück waren, würden sie dem jungen Gilbert die Autorität verleihen, im Namen der Familie zu agieren. Außerdem konnte er dann, sofern Randall keine Einwände erhob, diesen auszahlen, damit die Ländereien vollständig in seinen Besitz übergingen.

»Nimm Sabre«, sagte Sinclair.

»Master Randalls Hengst?«

»Er ist das schnellste Pferd im Stall.«

In seiner Lehrzeit als Stallbursche war der Vollbluthengst Matts Obhut anvertraut gewesen, und nur ihm allein war es je gelungen, eine Beziehung zu dem mächtigen, schwierigen Tier herzustellen. Sabre würde die Kavallerieoffiziere in der Port Eglington Street zweifellos beeindrucken und ihnen vor Augen führen, dass Ottershaw kein mickriger Bauernhof war und die Bontines zu den oberen Zehntausend des Landes gehörten.

»Soll ich allein reiten?«

»Ja. Und beeil dich, Matthew, ich bitte dich.«

Anna war bereits nach hinten gegangen, um Matts Reithose und seinen guten schwarzen Mantel zu holen. Er würde auf seinem Ritt nass und schmutzig werden, aber er würde trotz allem ordentlich aussehen.

Auch wenn es im Grunde natürlich egal war, wie er aussah, da die Offiziere in der Glasgower Kaserne einen Diener doch nicht richtig wahrnehmen würden, nicht einmal dann, wenn er einen edlen Vollbluthengst ritt. Sie würden in Gedanken vollauf mit dem Krieg in Spanien beschäftigt sein. Verglichen damit würden Bontines Angelegenheiten trivial erscheinen, und der Brief würde mit dem gewöhnlichen Postwagen befördert werden und später mit einem langsamen Schiff, das von Leith aus in See stach. Aber früher oder später würde der Umschlag bei Randall Bontine landen. Anna hielt es allerdings durchaus für möglich, dass dieser nur die Achseln zuckte und sich mit dem Dokument eine Zigarre anzündete, ohne sich darum zu scheren, dass Gibbie in der Heimat Monate oder gar Jahre ungeduldig auf Antwort wartete.

Während Matt sich rasierte und ankleidete, blieb Anna im Hinterzimmer. Mit schräg gelegtem Kopf lauschte sie dem Gemurmel der männlichen Stimmen aus dem Nebenraum. Es war das erste Mal, dass sie erlebte, wie Vater und Sohn ein wichtiges, vertrauliches Gespräch miteinander führten. Vielleicht gab es ja doch noch Hoffnung, was Matts Zukunft betraf. Vielleicht würde der Verwalter ja doch noch ein Einsehen haben und seinen Sohn auf der Karriereleiter ein Stück aufsteigen lassen, bis er dann eines Tages vielleicht sogar in Lachlans Fußstapfen trat und den Posten des Gutsverwalters auf Ottershaw übernahm.

»Anna.«

Die junge Frau stand sofort von der Bettkante auf und ging nach nebenan in die Küche.

Matt sah ganz ordentlich aus in seiner Aufmachung. Er hielt den Kopf stolz erhoben und küsste sie kühl auf die Wange. Fast schien es, als bilde sich der einfältige Klotz ein, er würde gegen die Franzosen kämpfen und auf dem Schlachtfeld zu Ruhm und Ehre gelangen. Es gelang ihr, sich das Lächeln zu verkneifen, als Matt seinem Vater feierlich die Hand schüttelte und mit dem Umschlag in der Innentasche seines Mantels hinausging zu dem Pferd, auf dem sein Vater hergeritten war. Sabre würde gesattelt auf dem Hof von Ottershaw bereitstehen und vermutlich unleidig scharren, verärgert über die Störung seiner Nachtruhe. Vater und Ehefrau lauschten dem Hufgetrappel, das rasch vom Prasseln des Regens verschluckt wurde. Sogar Jacko schien vom Ernst der Situation angesteckt worden zu sein und verhielt sich ruhig, die Finger um das Geflecht seines Käfigs gekrallt, einen fragenden Ausdruck auf dem Gesicht.

Anna räusperte sich. »Möchten Sie vielleicht noch ein Glas Whisky, Mister Sinclair?«

Obwohl er ihr angeboten hatte, ihn zu duzen und mit »Vater« anzusprechen, brachte Anna dies einfach nicht über sich.

Sinclair schüttelte den Kopf. »Warum dieses verschwenderische Feuer? Es ist viel zu warm hier.«

»Damit der Affe nicht friert.«

»Verstehe. Matt und sein geliebter Affe.« Sinclair schüttelte erneut den Kopf; die Eigenarten seines Sohnes würden ihm immer ein Rätsel bleiben. »Bist du schon schwanger?«

»Mutter Natur wird entscheiden, wann für mich der richtige Zeitpunkt gekommen ist, ein Kind zu gebären, Mister Sinclair.« Sie konnte sich jedoch nicht verkneifen hinzuzufügen: »Aber es liegt ganz sicher nicht daran, dass wir uns keine Mühe geben würden.«

Sinclair grunzte nur und nahm seinen Hut vom Tisch, in Gedanken bereits wieder bei den Ereignissen der vergangenen Stunden unten im Herrenhaus. Die Einzelheiten der Beerdigung würden von Gibbie verfügt werden, aber Sinclair würde es obliegen, die Wünsche der Familie umzusetzen. Auch musste er Dienerschaft und Farmarbeiter zusammentrommeln und diese offiziell vom Tod des Gutsbesitzers in Kenntnis setzen. Natürlich würde sich die Kunde längst wie ein Lauffeuer in halb Stirling verbreitet haben, so wie alle Nachrichten dieser Tragweite.

Anna öffnete ihrem Schwiegervater die Tür und legte ihm dann impulsiv eine Hand auf den Arm.

»Mister Sinclair?«

»Ja, Mädchen?«

»Wird er nach Hause kommen?«

»Er wird morgen noch vor Mittag zurück sein.«

»Ich meinte Mr. Randall.«

Sinclair zögerte. »Mag sein. Ja, das wäre durchaus möglich.«

»Ich hoffe, er kehrt heim.«

Der Verwalter war sichtlich überrascht, dass sie überhaupt eine Meinung zu der Situation hatte. »Warum das?«

»Er wäre ein besserer Herr als Gibbie.«

»Du tätest gut daran, nie zu vergessen, dass Mister Gilbert möglicherweise unser neuer Herr sein wird. Du solltest respektvoller von ihm sprechen.«

»Ebenso gut könnte auch Mister Randall unser neuer Herr sein«, entgegnete Anna trotzig.

»Was die Molkerei betrifft, wird es kaum eine Rolle spielen. Das Personal wird so oder so fair behandelt werden, da beide Bontines sind und die Söhne ihres Vaters.«

Sinclair zog die Tür weiter auf. Die Unterhaltung hatte ihn nervös gemacht. Die Nachtluft fuhr ihm durch das Haar und zerrte an den Schößen seines Regenmantels. Er wandte sich noch einmal um und wünschte seiner Schwiegertochter brüsk eine gute Nacht. Anna war so schlau, keine weiteren Fragen zu stellen, blieb aber fröstelnd in der Tür stehen und blickte der sehr geraden Gestalt des Verwalters nach, bis diese zwischen den Bäumen verschwand. Erst dann schloss sie die Tür und lehnte sich mit dem Rücken dagegen.

Sie ließ den Schal von ihren Schultern gleiten und gestattete sich ein breites Lächeln, ehe sie sich von der Tür abstieß und spontan einen kleinen Tanz um den Küchentisch herum aufführte. Jacko musterte sie missbilligend. Der Tod des alten Gutsherrn berührte sie kein bisschen, außer vielleicht insofern, als er möglicherweise dazu führen würde, dass Randall nach Ottershaw zurückkehrte, die Nachfolge seines Vaters antrat und sein Erbe in Form von Ländereien und Pächtern in Besitz nahm – sie natürlich eingeschlossen.

Vor einigen Jahren – damals war sie fast noch ein Kind gewesen – hatte sie den attraktiven Soldaten geküsst. Die Erinnerung an jenen Abend war noch so frisch, als wäre es erst gestern gewesen. Sie fragte sich, ob Randall Bontine sich auch noch daran erinnerte. Ob er sich an sie erinnerte. Sie stellte sich vor, dass er, wenn er den Brief erhielt, an sie dachte und dies seine Entscheidung zumindest ein klein wenig beeinflusste.

Unvermittelt kreischte der Affe, und seine Augen glitzerten von einer plötzlichen, unerklärlichen Feindseligkeit. Der Lärm ließ Anna zusammenfahren, und sie brach ihren Freudentanz abrupt ab. Die Hände in die Seiten gestemmt funkelte sie den Affen in seinem Käfig böse an. Sie überlegte, ob sie ihn herauslassen sollte, so wie Matt es wollen würde, entschied sich aber dagegen. Sie nahm die Lampe vom Tisch und ging ins Schlafzimmer, wobei sie die Unordnung in der Küche hierbei ebenso ignorierte wie Matts Haustier, das erbost schnatternd in seinem Käfig hockte. Bei geschlossener Tür würde Jackos Gezeter sie nicht übermäßig stören, nicht in dieser Nacht, da sie in aller Ruhe und ungestört von einem Soldaten-Liebhaber und Randall Bontines Rückkehr nach Ottershaw träumen konnte.

Für viele tapfere Highlander sollte der nächtliche Marsch auf Almarez die letzte Pflicht im Dienste König Georges sein; das halbe Regiment würde das Morgengrauen nicht mehr erleben. Die jungen Männer schleppten dieses Wissen mit sich herum wie zusätzliche Munitionstaschen. Die Gefangennahme von Cuidad Rodrigo und die Kapitulation von Badajoz hatten ihnen neuen Mut gemacht, aber ihr Enthusiasmus für den neuesten Feldzug verlor sich auf den stockfinsteren Pfaden durch die Lina-Berge.

Die Strategie stand bereits fest. Mit Unterstützung eines Bataillons portugiesischer Caçadores würden General Chownes »Schlächter« die Festung Miravete erobern, die hoch über dem Pass thronte und die Straße nach Madrid überwachte. General Longs Männer würden derweil die Stellungen der französischen Garnison jenseits des Gipfels angreifen, wo massive Tore und Palisaden förmlich strotzten vor Musketen und Geschützen.

General Howards Brigade, die hauptsächlich aus der Gordons and Highland Light Infantry bestand, kam die Aufgabe zu, die französischen Festungen Ragusa und Napoleon einzunehmen, die die Linie entlang des Flusses sicherten, der vor der kleinen Stadt vorbeiströmte.

Sir Rowland Hill begleitete die Schotten und ritt an Howards Seite an der Spitze der Truppen, die erschöpft durch die Dunkelheit stolperten. Nicht weit hinter den beiden Befehlshabern und ihren Adjutanten folgten zwei erfahrene Offiziere: Iain Stuart und Randall Bontine. Beide hatten den Majors-Rang und buhlten um die Ehre, den morgendlichen Angriff auf Fort Napoleon befehligen zu dürfen.

Bontines Bewerbung hatte dem General zuerst vorgelegen, aber vermutlich würde trotzdem Stuart das Rennen machen, da dieser bevorzugt wurde wegen seiner rauen, aber herzlichen Art sowie seiner Geradlinigkeit. Außerdem wurde Bontine immer noch als Fremdling betrachtet, als Husar, auch wenn er seit zwanzig kräftezehrenden Monaten den Highlandern als Verbindungsmann diente. Stuart würde mit dem Säbel an der Spitze der vorstürmenden Soldaten reiten. Bontine war ein Name, dem keine Legenden anhafteten außerhalb einer kleinen Gemeinde im Westen Stirlings, während Iain Stuart jener Gattung von Königen und Nomaden angehörte, die die Gälen verehrten. Hinzu kam, dass er ein echtes Schloss im nebligen Kintail besaß.

Bontine war für die schottischen Brigaden nicht wegen seiner Gewandtheit im Umgang mit dem Säbel, sondern vielmehr mit der Zunge von Nutzen. Er sprach fließend Französisch und Portugiesisch und konnte sich dazu in den hundert verschiedenen spanischen Dialekten verständigen, vom primitiven Kauderwelsch der Guerillas in den Sierras bis hin zur weich klingenden Umgangssprache der einfachen Leute im tiefsten Andalusien. Er war in der Lage, sich mit Priestern in einem Latein zu unterhalten, das so perfekt war wie das eines Kardinals, und konnte Nonnen mit einem Charme umgarnen, der ein Aussehen ergänzte, das von Satan ersonnen sein mochte, um Novizinnen zu verleiten, ihr Gelübde zu brechen. Mit abgelegtem Uniformrock und aufgeschnürtem Hemd sah Major Bontine spanischer aus als Pedro Gomez, der Stierkämpfer, der zum Desperado geworden war.

Im Gegensatz hierzu war Stuart stets penibel gepflegt und wie aus dem Ei gepellt. Er hatte keine sichtbaren Narben, anders als Bontine, der ihrer reichlich vorzuweisen hatte, darunter eine, die seinen Mundwinkel leicht nach oben zog, sodass es aussah, als umspielte ständig ein ironisches Lächeln seine Lippen. Hinzu kamen sehr hohe Wangenknochen, ein Teint wie Walnussholz und lockiges längeres Haar, alles Attribute, die den Husaren deutlich von den anderen Offizieren abhoben. Bontine scherte sich nicht weiter um die Regeln und Codes der Schotten und ermutigte niemanden, sich mit ihm anzufreunden, es sei denn, es ging um Kundschafterdienste oder darum, ein Regiment in die Schlacht zu führen, denn Randall Bontine liebte nicht nur die Hitze des Gefechts, sondern forderte gerne den Tod heraus, sodass er jede sich bietende Gelegenheit nutzte, nach dem blassen Gewand des Sensenmannes zu greifen.

In Ägypten und während der Monate währenden blutigen Kämpfe auf der spanischen Halbinsel hatte das Schicksal Bontines ungewöhnlichen Appetit auf Gefahr großzügig bedient. Als er nun seine Stute den steinigen Pfad zwischen den Wäldern von Truxillo und dem Fluss Tagus hinunterlenkte, begleitet vom Rattern und Ächzen der Geschütze und Munitionskarren hinter ihm in der Dunkelheit, war Randall Bontine ein wenig nervös, konnte er es doch kaum erwarten, sich wieder mit seinem ältesten Feind zu messen. Aber irgendwie musste er sich an den Sturmtrupp halten, wenn er auch ganz vorne mit dabei sein würde. Dort ließ sich wahrer Ruhm ernten, dort konnte er die Grenzen seines Mutes ausreizen. Er warf einen verstohlenen Blick auf den leidenschaftslosen Major Stuart, der neben ihm herritt, und zerbrach sich den Kopf darüber, wie er den Mann dazu bewegen konnte, ihm beim Angriff die Spitze zu überlassen.

Almarez war nicht gerade ein sehr inspirierender Schauplatz für Heldentaten. Der Ort bestand nur aus einer Hand voll schäbiger Hütten, die sich um eine alte Steinbrücke drängten, die längst von Geschützfeuer zerstört worden war. Ein Stück weiter flussabwärts hatten die Franzosen einen Ponton errichtet, der die beiden Festungen miteinander verband. Das erste Fort, Napoleon, war außergewöhnlich gut befestigt durch Gräben und Wälle sowie gesichert durch schweres Geschütz und über dreihundert Soldaten. Sir Rowland Hill hatte den Offizieren erklärt, dass ein Überraschungsangriff unmöglich wäre. Chownes Schlächter würden erst die Garnison in Miravete angreifen müssen, wo die Franzosen Signalraketen abschießen und Teerfässer entzünden würden, um die Festungen am Fluss in Alarmbereitschaft zu versetzen.

Endlich ließen die erschöpften, zerschundenen Highlander die Bergausläufer hinter sich und gelangten auf flaches Weideland, das sich bis zum Fluss hin erstreckte. Kaum hatte der letzte Gordon die Ebene erreicht, leuchtete der Himmel über dem Berg rot auf von Raketen und Blitzen, und Musketen- und Kanonenschüsse hallten durch das Tal. Die Schlacht um Miravete hatte begonnen.

Eine Ziegenherde, die wie durch ein Wunder den Versorgungstrupps der Franzosen entgangen war, kam meckernd das Tal herunter. Als sie auf einen Priester und zwei englische Generäle stießen, stürzten die Tiere sich ohne zu zögern in den Fluss, wo sie sofort von der reißenden Strömung erfasst und fortgerissen wurden. Schwer beladen mit Waffen, Hämmern, Stemmeisen und Leitern zum Erklimmen der Wehrmauern verteilten sich die Soldaten und formierten sich in einiger Entfernung des Tagus-Ufers neu. Sobald die Ordnung wieder hergestellt war, würde man ihnen ein paar Minuten Pause gönnen, bevor sie dann bei Tagesanbruch zum Gefecht gerufen wurden. Randall Bontine wich Major Stuart nicht von der Seite. Außerdem versuchte er, Sergeant McIver im Auge zu behalten und gleichzeitig seine drahtige, unzuverlässige Stute zu beruhigen, die der Trubel ganz nervös machte. Fünfzig oder sechzig Meter entfernt, auf der Kuppe eines kleinen Hügels, wurde das Zelt des Offiziersstabes aufgestellt und bildete einen Fixpunkt inmitten des chaotischen Treibens. Es würde noch zehn bis fünfzehn Minuten dauern, bis Stuart und er an den Tisch des Generals berufen und ihre Instruktionen entgegennehmen würden.

Bontine schwang sich aus dem Sattel und packte ruhig sein Frühstück aus. Stuart stieg ebenfalls vom Pferd. Er sah zu, wie der Husar ein fleckiges Taschentuch aufrollte und ein Stück kalten Rinderbraten herausnahm, zwar verkohlt, aber immer noch appetitlich genug für einen Soldaten, der einen langen nächtlichen Marsch hinter sich hatte. Bontine riss ein Stück Fleisch ab und bot den Rest dem Highlander an. Stuart schüttelte den Kopf, entschlossen, mit leerem Magen in die Schlacht zu gehen, so wie es das Manual of Arms anempfahl, für den Fall, dass er angeschossen und eine Kugel operativ entfernt werden musste. Bontine grinste nur und riss einen weiteren Bissen Fleisch ab, den er mit einem Schluck trockenen Cherrys aus einem Lederschlauch hinunterspülte. Auch hiervon bot er Stuart an, der erneut ablehnte.

»Was meinen Sie, Major? Ich denke, das ist ein schöner Morgen für ein Gefecht«, sagte Bontine, wobei er absichtlich mit breitem ländlichen Akzent sprach.

»Das ist es allerdings, Sir«, entgegnete Iain Stuart knapp.

Bontine trank erneut geschickt einen Schluck aus dem Weinschlauch und wischte sich hinterher den Mund mit dem Ärmel sauber. Stuart wandte sich ab. Sein Adjutant wartete auf Anweisungen, aber Stuart winkte ihn fort. Im Augenblick gab es für die Majors nichts zu tun. Den Brigadekommandeuren zur Hand zu gehen wäre unziemlich gewesen, und sie wagten nicht, unaufgefordert zum Generalstab zu stoßen. In Formationen lagen Soldaten inmitten ihrer Ausrüstung auf dem Boden. Vor allem um den Husaren loszuwerden, lenkte Stuart sein Pferd von den Männern fort zum Fluss, um es zu tränken. Den Weinschlauch über der Schulter und eine Zigarre im Mund heftete sich der lästige Bontine an seine Fersen.

Die Weinberge und Orangenplantagen von Almarez auf der gegenüberliegenden Flussseite wirkten friedlich und verschlafen. Die Ruine der alten Brücke hob sich vom heller werdenden Himmel ab. Weiter flussabwärts schlug der Fluss plätschernd gegen die schwimmenden Brückenteile des französischen Pontons. Jetzt, da sie das Gelände persönlich in Augenschein nehmen konnten, erkannten Stuart und Bontine, wie ungeschützt der Sturmtrupp bei seinem Angriff auf Fort Napoleon sein würde. Seite an Seite standen Highlander und Lowlander neben ihren saufenden Pferden und starrten auf die Szenerie, die nach und nach aus dem Nebel des Maimorgens auftauchte.

»Es ist gespenstisch still, finden Sie nicht auch, Bontine?«, murmelte Stuart.

»Das täuscht. So wie ich die Franzosen kenne, geht es in den Schützengräben turbulent zu.«

»Wenn Ihnen der Befehl über den Sturmtrupp übertragen würde, wie würden Sie vorgehen?«

»Ich werde den Angriff nicht anführen, Stuart.«

»Mag sein. Trotzdem. Was würden Sie tun?«

Bontine zeigte mit der Zigarre nach rechts. »Um ein paar Meter Deckung zu gewinnen, würde ich von dem Gestrüpp dort aus angreifen. Dann könnten die deutschen Gewehre über die Köpfe unserer Truppen hinwegfeuern, wenn diese den Brückenkopf passieren. Der Anführer des Sturmtrupps muss dafür sorgen, dass noch vor Beginn des eigentlichen Angriffs die Erdwälle überwunden und die französischen Geschütze lahm gelegt werden, sonst gibt es ein fürchterliches Gemetzel. Das ist die einzig mögliche Strategie.«

»Darin stimme ich Ihnen zu, Bontine.«

Die Offiziere blickten hinter sich, als erneut Explosionen aus Richtung Miravete ertönten und Flammen die dunkle Wolkendecke über der Sierra aufleuchten ließen.

»Pulverfässer«, sagte Stuart.

Die Offiziere verfielen in Schweigen. Sie dachten an die Soldaten, die sich in der Nähe der Pulverfässer befunden hatten, und an die Höllenqualen, die Schießpulververbrennungen auslösten.

Stuart räusperte sich. »Fahren Sie fort, Bontine.«

»Man muss schon einfach gestrickt sein, Major, um Gefallen zu finden an dem, was vor uns liegt. Gott, nicht einmal ein Wiesel könnte Deckung finden auf dem freien Feld zwischen den Bäumen und den feindlichen Linien.

»Wie würden Sie es angehen? Wenn sie das Kommando hätten?«

»Ich würde – so wie Sie es zweifellos tun werden – mit einem Schlachtruf auf den Lippen und erhobenem Säbel in der Hand vorstürmen, meine Männer dicht hinter mir. Ich wäre der Erste oben auf der ersten Leiter und würde mich keine Sekunde vom Schlachtgetümmel abwenden, ganz egal, wie schlecht es um uns stünde.«

»Mutige Worte, eines Kavallerieoffiziers würdig.«

»In der Schlacht von Albuera hatte ich nicht einmal ein Pferd, sondern kämpfte zu Fuß wie jeder andere Schotte dort!«

»Hatten Sie keine Angst?«

»Nein, Stuart, ich hatte keine Angst.«

»Dann sind Sie unmenschlich, Sir.«

»Das – Sir – kann gut sein.«

»Oder Sie sind ein Lügner.«

»Wenn Sie dieser Meinung sind, Sir, warum stellen Sie mich dann nicht auf die Probe? Man wird Ihnen das Kommando über den Sturmtrupp geben, so viel ist sicher, aber es steht Ihnen frei, Ihren zweiten Mann zu bestimmen.«

»Und?«

»Ernennen Sie mich.«

»Das wollen Sie also. Mein Erster Offizier sein?«

»Exakt.«

»Das ist eine fragwürdige Ehre, Bontine.«

»Als Erster die Wälle der Festung Napoleon zu überwinden ist mir der Ehre genug.«

»Aber werden die Highlander Ihnen folgen?«, fragte Stuart skeptisch.

»Wenn Sie ihnen die Chance geben, werden sie auch einem Husaren folgen, wenn die Schlacht nur erbittert genug tobt und ihr Blut in Wallung gerät.«

Vom Versammlungsplatz her ertönten die Rufe eines Sergeants, gefolgt von den schroffen Stimmen arroganter junger Unteroffiziere aus der Richtung des Zwingers neben dem Zelt des Generalstabes. Im fahlen Licht schien es, als würden aus dem Feld Soldaten sprießen wie Drachenzähne.

»Los, Stuart, tun Sie mir den Gefallen«, bat Bontine eindringlich. »Was kann es schon schaden? Immerhin haben wir denselben Rang. Soll in der Gazette ein einfacher Hauptmann gleich nach Ihnen genannt werden?« Bontine biss sich auf die Unterlippe. »Bitte, Stuart.«

Es schmeichelte Stuarts Eitelkeit, Bontine betteln zu hören. Bisher hatte er noch nicht darüber nachgedacht, wen er zu seiner rechten Hand bestimmen sollte. Er hatte keinen speziellen Offizier im Sinn.

»Major Stuart zum Generalstab«, rief eine Stimme vom Feld her. »Sammeln zum Angriff, Sir. In fünf Minuten. Major Stuart, Sir, haben Sie mich gehört?«

»Ich habe verstanden, Sergeant«, antwortete Stuart.

Der Highlander lenkte sein Pferd vom Fluss fort, tätschelte sein Maul und führte es zurück, Seite an Seite mit Bontine und seiner Stute. Die Berggipfel hoben sich klar vom milchigen Himmel im Osten ab, und die Häuser von Almarez waren ebenfalls inzwischen aus dem Dunkel der Nacht aufgetaucht. Es hätte eine Szene friedlicher ländlicher Idylle sein können, wäre nicht das Klappern von Kriegsgerät gewesen und das Dröhnen der Kanonen von der Anhöhe. Stuart hielt inne. Bontine und er wurden von ihren Pferden angerempelt und von den sehnigen, verschwitzten Schultern dichter zusammengeschoben.

»In solchen Augenblicken denke ich an die Heimat, und mein Herz sehnt sich schmerzlich nach Kintail. Ich wünschte, ich könnte das Heidekraut und den Farn riechen und das Muhen meiner Rinder auf den Almen des Elchaig hören.«

Bontine stand nicht der Sinn nach solcherlei Sentimentalitäten. Er vermutete, dass der Elchaig nicht mehr war als ein verregnetes Loch, karg und steinig, nur an sechs oder acht Tagen im Jahr schön zu nennen, nämlich dann, wenn es der Sonne ausnahmsweise einmal gelang, die Wolkendecke zu durchdringen.

»Ich wünschte, ich könnte nur einen Moment am Ufer des Loch Alsh verbringen, an der Seite meines lieben Vaters. Dann könnte ich zufrieden sterben«, fuhr Stuart fort.

Randall Bontine verschwendete selten einen Gedanken an Ottershaw und die kleine langweilige Gemeinde Balnesmoor oder auch nur an seinen kranken alten Vater, der nichts anderes im Kopf hatte als Schafe, Schafe und nochmal Schafe. Aber er seufzte, um Stuart zu bedeuten, dass er bei aller Verwegenheit im Herzen doch ein wehmütiger Schotte war.

»Ich kann Sie gut verstehen, Stuart, aber wir haben uns für eine Soldatenkarriere entschieden und sind es uns und unserem Vaterland schuldig, im Kampf alles zu geben. Mein eigener geliebter Vater würde sich für mich wünschen, dass ich in der Schlacht einen ehrenvollen Tod sterbe.«

»Sie haben ganz Recht, Bontine.« Stuart fuhr sich mit der fahlen Hand über das glänzende Gesicht. »Sie können den zweiten Rang des Sturmtrupps befehligen, wenn Sie es möchten.«

»Das wäre mein innigster Wunsch.«

»Also dann abgemacht.«

»Seien Sie meiner tiefsten Dankbarkeit versichert, Sir«, entgegnete Randall Bontine, der nicht die Absicht hatte, für irgendwen oder irgendwas zu sterben, schon gar nicht für eine sentimentale Auffassung von Ehre.

Stuart reichte ihm in einer Geste männlicher Solidarität die Hand. »Viel Glück, Bontine.«

»Gott mit Ihnen, Stuart«, antwortete Randall Bontine, steckte sich, nachdem er sein Ziel erreicht hatte, die Zigarre wieder zwischen die Lippen und führte seine Stute zum Anbindeplatz, ohne ein weiteres Wort an den arroganten Idioten aus Kintail zu verschwenden.

Jener Teil von Balnesmoor, der östlich des Dorfes gelegen war, wurde als Orrals bezeichnet, ein Name, dessen Ursprung längst in Vergessenheit geraten war. Das Land, das sich zwischen den Einfriedungen des Tales und den Gipfeln der Campsie Fells erstreckte, war verwildert und karg. Ein Teil gehörte den Bontines, aber es waren keine Grenzpfähle eingeschlagen worden, die das Gelände markierten, und das Gebiet war auch nur rein der Form halber in der Aufstellung des Grundbesitzes aufgeführt. Es verirrte sich nur selten jemand dorthin, da in dieser Wildnis nur sehr spärlich Gras wuchs und Vieh dort aus unerfindlichen Gründen einging, weshalb das Gerücht entstanden war, auf dem Land laste ein Fluch.

Elspeth hatte ihre Kindheit nur eine Meile von der Grenze zu den Orrals verbracht, im Schatten eines Berges namens Drumglass. Trotzdem kannte sie sich nicht in diesem östlichsten Teil der Gemeinde aus, auch wenn sie oft mit Anna auf dem Weg zur Schule in Balfron Hand in Hand der Straße gefolgt war, die die Orrals begrenzte, und auch von der Rückseite des Dyers’ Dyke, als die Cochrans den Hof noch gepachtet hatten, den Blick über das abweisende Land hatte schweifen lassen. Aber seit sie als Ehefrau von James Moodie im Moss House residierte, hatte sich ihre Perspektive verschoben, und die Orrals, die sich gleich hinter dem Anwesen erstreckten, waren für sie zu einer Zuflucht vor dem allzu feinen – und langweiligen – Leben geworden.

Vielleicht erinnerte das unberührte Sumpfland sie ja an ihre Kindheit am Nettleburn. Vielleicht bot es auch einen willkommenen Kontrast zur soliden Satinholz-Eleganz des Herrenhauses. Vielleicht schirmte es sie von dem Wissen um die Nähe Kennarts ab, wo die Webstühle ihres Mannes ein Vermögen an Wollwaren produzierten und zwischen den Reihen der Weber ein ständiges Stimmengewirr herrschte, als hätten die Männer die schlechte Angewohnheit schnatternder Frauen angenommen, um dem unerträglich lauten Klappern und Surren der Maschinen noch eins draufzusetzen.

Wenn sie über den Zaun kletterte, der den eigentlichen Garten umschloss, war Elspeth, obgleich nur eine halbe Meile entfernt vom Trubel auf der Main Street, so abgeschnitten von Balnesmoor, als wäre sie auf einen unbewohnten Kontinent versetzt worden. Sie zog Schuhe und Strümpfe aus und versteckte beides unter einem Strauch, dann band sie mit einem Stoffgürtel ihre Röcke hoch und watete mit nackten Füßen und Beinen wie ein Fischermädchen durch den Farn zu der kleinen Bergschlucht, wo der Bergbach herabströmte.

Es mochte gut sein, dass James wusste, wo sie ihre Nachmittage verbrachte, auch wenn vermutlich nicht einmal ihr Mann einen Spion in den Orrals hatte. James war keinesfalls ein Tyrann, und ihm war nicht entgangen, wie sehr sie Kennart verabscheute. Er bestand nicht darauf, dass sie sich in dem neu entstandenen Dorf blicken ließ oder sich für das Wohlergehen und die Belange seiner Arbeiter interessierte. Kennart hatte sich radikal verändert seit jenen noch gar nicht so weit zurückliegenden Tagen, da die Brücke ein natürliches Wasserbecken überspannte, in dem die Jungen aus dem Dorf, darunter auch Matt Sinclair, an warmen Sommerabenden badeten. Aber ob James nun um ihre Vorliebe für die Orrals wusste oder nicht, Elspeth zog es vor, so zu tun, als wären sie ihre geheime Zuflucht. Sorgsam achtete sie darauf, nicht auf dem Grat unterhalb des Dyers’ Dyke gesehen zu werden. Auf der einstmaligen Cochran-Farm lebte jetzt eine Familie von Schafhirten, die James eingestellt hatte, und wenn diese sie dort entdeckten, konnte es sein, dass sie ihrem Dienstherrn hiervon berichteten. So hielt sie sich an die enge Schlucht, eine tiefe Furche innerhalb des Tales, dicht bewachsen und doch abgeschieden, wo Fasane mit metallisch glänzender Federhaube im wilden Roggen herumstolzierten, unbehelligt von den Moorhühnern, die höher gelegene Regionen bevorzugten.

In der Paarungszeit warfen die Hähne sich richtig in die Brust und suchten, so viele Hennen zu erobern wie ihr Revier ernähren konnte. Elspeth hatte die Balz beobachtet und konnte mehrere Tiere auseinander halten, sogar unter den Hennen mit dem viel dezenteren Gefieder in verschiedenen Brauntönen. In einem abgenutzten großen Band aus James’ Bibliothek hatte sie gelesen, dass Fasane bis in den Juni hinein brüteten. Aber für gewöhnlich hatten die Beobachtungen der jungen Frau keine wissenschaftliche Neugier als Grundlage. Sie führte nicht Buch, erstellte keine Listen und vertiefte sich auch nicht in die neue Literatur, die danach strebte, alles durch strikte Logik und wissenschaftlich untermauerte Fakten zu belegen.

An diesem Maitag war der Himmel frisch, kleine weiße Wattewolken zogen vor hellem Blau vorbei, und in der Schlucht brannte die Sonne so heiß herab, dass Elspeth ihren Schal von den Schultern nahm. Sie setzte sich im Schneidersitz in den Schatten eines Felsens und schaute den Fasanenhähnen bei ihren Kämpfen um die Gunst der Hennen zu.

Der Mann befand sich keine dreißig Meter entfernt auf der gegenüberliegenden Seite der Schlucht. Im ersten Moment dachte sie, es wäre vielleicht ihr Schwager Matt, aber dann erkannte sie mit klopfendem Herzen, dass es ein Fremder war. Lächelnd legte er einen Finger auf die Lippen.

Elspeth ließ sich hiervon jedoch nicht dazu bewegen, sich still zu verhalten. Sofort stand sie auf und löste den Gürtel, um ihre Röcke herunterzulassen und ihre nackten Beine zu bedecken.

»Warten Sie«, rief der Fremde. »Sie brauchen sich nicht vor mir zu fürchten.«

»Darf ich fragen, wer Sie sind?«

»Man nennt mich Michael Blaven.«

»Und was haben Sie hier zu suchen?«

»Dasselbe könnte ich Sie fragen.«

Elspeth’ Instinkte rieten ihr, den Hang hinauf und durch den Farn zu laufen und sich in die Sicherheit der Gärten von Moss House zu flüchten. Andererseits ging von dem Mann nichts Bedrohliches aus, und so zögerte sie unsicher und neugierig. Außerdem lag ja immer noch die Breite der Schlucht zwischen ihnen.

»Ich bin Mistress Moodie. Ich wohne gleich dort drüben an der Straße nach Harlwood«, erklärte sie, und es klang beinahe wie eine Warnung.

»Sind Sie vielleicht zufällig mit James Moodie verheiratet?«

»Das bin ich.«

»Dann habe ich schon von Ihnen gehört.«

»Haben Sie das?«, entgegnete Elspeth spröde. »Nun, Sir, Sie haben mir zwar Ihren Namen genannt, aber noch nicht verraten, was sie in den Orrals zu schaffen haben.«

»Ich bin hier, um Pflanzen für meine Tante zu sammeln. Vielleicht kennen Sie sie ja? Janet Blaven von Preaching Friar.«

Elspeth entspannte sich. Miss Blaven befasste sich mit Kräutermedizin und war so unabhängig und wohlhabend, dass sie nicht einmal bei jenen Philistern Feindseligkeit erregte, die alte Jungfern, die sich mit der Heilkunst befassten, verachteten und in ihnen Boten des Teufels sahen. Miss Blavens strohgedeckte Hütte, die den ungewöhnlichen Namen Preaching Friar trug, befand sich in einer Mulde auf der anderen Seite von Harlwood. James hatte Elspeth das Haus einmal auf der Heimfahrt von einem Dinner bei Mr. Rudge gezeigt.

»Ich habe von Ihrer Tante gehört«, gab Elspeth zu. »Aber wir sind uns noch nie begegnet.«

»Darf ich rüberkommen, damit ich nicht so schreien muss, während wir uns unterhalten?«

»Worüber sollten wir uns unterhalten, Sir?«

»Wir könnten einfach nur ein paar nette Worte wechseln, ohne uns dabei anzubrüllen.«

Elspeth nickte. »Also gut, wenn Sie wollen.«

Sie warf einen ängstlichen Blick in Richtung Moss House. Sie konnte eben noch die Wipfel der Bäume am Ende des Gartens sehen. Die Begegnung mit dem fremden jungen Mann machte sie nervös, auch wenn er weder Hausierer noch Vagabund war, sondern ein Verwandter einer Frau, die einen ausgezeichneten Ruf genoss. Sofern er nicht gelogen hat, ging es ihr durch den Kopf, aber da war es bereits zu spät für eine Flucht. Und so harrte sie aus, während er durch die Schlucht kletterte, über den Bach sprang und durch das Heidekraut zu ihr heraufstapfte.

Michael Blaven trug ein am Kragen offenes Hemd und einen Tweed-Cut. Die Manschetten waren umgeschlagen und ordentlich mit Zwirn hochgebunden. Über einer Schulter trug er eine lederne Tasche, die eigentlich Jägern zum Transport erlegten Wildes diente. Wie Elspeth hatte er nackte Füße und Beine. Sein Haar war dunkelbraun und seidig und seine Haut sehr blass, einmal abgesehen von einem roten Fleck auf jeder Wange. Als hätte er ihre Gedanken gelesen, öffnete er die Ledertasche und holte einen Leinenbeutel hervor, den er ihr reichte.

»Löwenzahnwurzeln«, erklärte er. »Meine Tante sagt, man erntet sie am besten, wenn im Frühjahr der Saft in die neuen Blätter schießt.«

Vorsichtig schnupperte Elspeth an dem kleinen Beutel. Sie wusste nicht, wie Löwenzahnwurzel roch, aber der Geruch war dezent und nicht unangenehm, und sie war geneigt, dem Fremden Glauben zu schenken. Er ließ den Beutel wieder in der Tasche verschwinden, verneigte sich vor ihr und bot ihr seine Hand. In der Stadt hätte man sein Benehmen als eklatanten Verstoß gegen die Etikette gewertet, und Elspeth wäre gezwungen gewesen, ihm die kalte Schulter zu zeigen. Aber die Orrals waren weit weg von den Salons in Edinburgh, und so nahm sie die Hand ohne zu zögern.

»Madame«, sagte er. »Es ist mir eine Ehre.«

Er hielt ihre Hand einen Augenblick ganz leicht in der seinen, ohne ihre Finger zu küssen, ein Brauch, der Elspeth verhasst war. Elspeth war selbst überrascht davon, wie angetan sie war von der Aufmerksamkeit des Fremden. Sie war oberflächliche, unaufrichtige Schmeicheleien gewöhnt, den kalten Charme, der vielen von James’ Geschäftspartnern eigen war. Mr. Blaven aber war freundlich und wahrte doch Distanz. Trotzdem wusste Elspeth nicht, worüber sie mit ihm sprechen sollte. Sie hatte nichts mit ihm gemeinsam. Sie konnte sich weder nach dem Stand des Getreides noch nach Wollpreisen oder der Geschwindigkeit der neuen Postkutsche nach York erkundigen. Sie wusste nicht das Geringste von Michael, abgesehen davon, dass er mit Janet Blaven verwandt war und Löwenzahnwurzeln sammelte.

Als wüsste er, was in ihr vorging, sagte Michael: »Ich finde die Fasane immer wieder amüsant. Sie erinnern mich an Witwen in Glasgow.«

Elspeth nahm den Faden auf. »Dann sind Sie aus Glasgow?«

»Zurzeit wohne ich bei meiner Tante in Harlwood.«

Sie vermochte nicht zu sagen, ob er ihrer Frage bewusst ausgewichen war. »Sind Sie ein Kuckuck oder ein Wandervogel?«

»Ein Spatz, der sich auf dem Dachboden eingenistet hat«, erwiderte Michael lächelnd. »Nur ein einfacher Bursche aus der Stadt, der ganz verloren ist in den Wirren ländlicher Gefilde.«

»Sie scheinen sich aber doch recht gut auszukennen in ländlichen Dingen«, erwiderte Elspeth. »Immerhin können Sie einen Fasan von einem Pfau unterscheiden.«

»Und einen Habicht von einer Handsäge.«

»Wie bitte?«

»Das ist eine Passage aus einem Theaterstück.«

»Ich bin noch nie im Theater gewesen.«