Die Früchte der Erde - Jessica Stirling - E-Book

Die Früchte der Erde E-Book

Jessica Stirling

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Beschreibung

"Wunderbar geschrieben - über das Leben im Schottland des 19. Jahrhunderts" Best Sellers

Schottland, 1814. Die Schwestern Elspeth und Anna Patterson hatten es seit jeher nicht leicht: Von Elspeth hat sich die Familie abgewandt, weil sie ein uneheliches Kind erwartet. Sie verlässt ihr Heimatdorf, um für sich und ihr Baby ein neues Zuhause zu suchen. Anna beschließt nach einer unglücklichen Liebesaffäre, sich einen wohlhabenden Ehemann zu suchen. Doch ihre Ambitionen könnten ihr selbst gefährlich werden, für Elspeth hingegen das Glück bedeuten ...

Weitere historische Familiensaga-Reihen von Jessica Stirling:

Die Highland-Schwestern, Band 1: Die Frauen von der Insel.

Die McCulloch-Trilogie, Band 1: Die Melodie der Wellen.

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Inhalt

Weitere Titel der AutorinÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumZitatTEIL I1 Die davongelaufene Ehefrau2 Weise Männer unter sich3 Samstagsschicht4 Todesfälle und ein neues Gesicht5 Der Ball auf OttershawTEIL II1 Gesetze und Paragraphen2 Willkommen in Babylon3 Prunkvolle Hochzeit4 Trauernde Schwestern5 Leise Schritte

Weitere Titel der Autorin

Die Patterson-Schwestern Band 1: Sturm über Schottland Band 2: Die Schwestern aus Balnesmoor

Die McCulloch-Trilogie Band 1: Die Melodie der Wellen Band 2: Die Stürme des Himmels Band 3: Die Träume des Windes

Die Highland-Schwestern Band 1: Die Frauen von der Insel Band 2: Im Schatten der Stürme Band 3: Die Insel der Zuversicht

Über dieses Buch

»Wunderbar geschrieben – über das Leben im Schottland des 19. Jahrhunderts« Best Sellers

Schottland, 1814. Die Schwestern Elspeth und Anna Patterson hatten es seit jeher nicht leicht: Von Elspeth hat sich die Familie abgewandt, weil sie ein uneheliches Kind erwartet. Sie verlässt ihr Heimatdorf, um für sich und ihr Baby ein neues Zuhause zu suchen. Anna beschließt nach einer unglücklichen Liebesaffäre, sich einen wohlhabenden Ehemann zu suchen. Doch ihre Ambitionen könnten ihr selbst gefährlich werden, für Elspeth hingegen das Glück bedeuten ...

Über die Autorin

Jessica Stirling ist ein Pseudonym, unter dem Hugh Crauford Rae (1935-2014) erfolgreich Liebesgeschichten und historische Familiensagas veröffentlicht hat. In Glasgow geboren, arbeitete Rae nach der Schule vierzehn Jahre lang in einer Buchhandlung, bevor er sich auf das Schreiben konzentrierte. Als Jessica Stirling hat Rae zunächst zusammen mit der befreundeten Autorin Peggy Coghlan gearbeitet. Nach einigen Jahren zog sich Coghlan altersbedingt zurück, und Rae schrieb fortan mit Coghlans Zustimmung allein unter dem Pseudonym Jessica Stirling weiter. Er war Präsident der Scottish Association of Writers und hat Kurse in Kreativem Schreiben an der Universität Glasgow gegeben. Bis zu seinem Tod am 24. September 2014 hat er über siebzig Romane veröffentlicht, die meisten unter Pseudonymen.

JESSICA STIRLING

Die FRÜCHTEder ERDE

Aus dem Englischen vonCécile G. Lecaux

beHEARTBEAT

Digitale Originalausgabe

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Für die Originalausgabe: Copyright © 1987 by Jessica Stirling Titel der englischen Originalausgabe: »Hearts of Gold«

Für diese Ausgabe: Copyright © 2005/2019 by Bastei Lübbe AG, Köln Covergestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de unter Verwendung von Motiven© shutterstock: Targn Pleiades; © AdobeStock: Anatolii | Le Do

eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-6480-4

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Die Armen leiden unter einem angeborenen Stigma: Sie werden ganz selbstverständlich wegen ihrer Herkunft verachtet.

William Hazlitt

TEIL I

1 Die davongelaufene Ehefrau

Der Winter 1814 überließ nur sehr widerwillig dem Frühling das Feld. Im März bedeckten noch Schnee und Eis die Berge, und die kräftigen Windböen peitschten Schneeregen über den Fluss, der unterhalb der Kreuzungen von Kincardine breit war wie ein See. Zwischendurch klarte der Himmel jedoch immer wieder auf, und dann war ein gewaltiges Tuch aus verwaschenem Blau straff bis über die Flussmündung in der Ferne gespannt, und das Land rechts und links des Forth wirkte plötzlich im harten Licht ganz neu und sauber.

Elspeth Patterson kümmerte es nicht mehr, wo sie war. Sie hatte keine Ahnung, wo der Karren letztlich stehen bleiben würde, in welchem Weiler auf welcher Landspitze sie die Nacht würde verbringen müssen, um Nahrung und Obdach für sich und ihr Kind zu finden. Sie wusste nur, dass sie wieder unterwegs war, weiterzog, immer weiter weg von dem Ort, der einmal ihr Zuhause gewesen war.

Sie machte sich Sorgen um Mary Jean. In einer Nacht, die sie im Freien verbracht hatten, hatte das Baby sich erkältet und wimmerte und schniefte jetzt unruhig in einen Schal gewickelt in Elspeth’ Armen. Hinzu kam, dass ihr die Kosten für die Fahrt schwer im Magen lagen, musste sie doch für jede Meile einen Penny bezahlen. Aber sie hatte nicht den Mut, den Fahrer aufzufordern sie abzusetzen. Jede Meile, die sie zurücklegten, trug sie weiter fort von Balnesmoor, von James Moodie, ihrem Ehemann und Vater.

Sie war im Herbst aus seinem Haus geflüchtet, hatte in ihrer Naivität darauf vertraut, dass sie in der Stadt mit ihren vielen Einwohnern untertauchen könnte und vor Verfolgung sicher wäre. Aber sie hatte James’ Einfallsreichtum und Hartnäckigkeit unterschätzt. Er hatte Handzettel mit ihrer Beschreibung unter das Volk gebracht und eine Belohnung ausgesetzt für Hinweise auf ihren Aufenthaltsort. Und in Weberkreisen gab es reichlich männliche wie weibliche Opportunisten mit scharfem Blick, die für eine Krone ihre eigene Mutter verkauft hätten. Dreimal war sie wiedererkannt worden. Dreimal hatte man versucht, sie festzuhalten und an James auszuliefern, aber noch war es ihr jedes Mal gelungen zu entwischen. Rückblickend war Elspeth klar geworden, dass sie sich selbst verraten hatte. Sie hatte nicht alle Brücken hinter sich abgebrochen, sondern den Namen behalten, den ihre Pflegemutter Gaddy Patterson ihr gegeben hatte, was sich im Nachhinein als böser Fehler erwiesen hatte. Sie hätte konsequent wirklich alles, das sie mit Balnesmoor und James Simpson Moodie in Verbindung brachte, in den Ruinen ihrer Ehe zurücklassen sollen. Sie war von Anfang an einen Kompromiss nach dem anderen eingegangen, und diese Kompromisse hatten sie nach und nach zu Fall gebracht.

Bei dem Karren handelte es sich um einen langen vierrädrigen Wagen, der von zwei stämmigen Kaltblutpferden, Clevelands, gezogen wurde. Wenn der Kutscher die Zügel länger gelassen hätte, hätten die Pferde sicher ein viel zügigeres Tempo vorgelegt, aber offenbar war die Ladung zu kostbar, um auch nur das geringste Risiko einzugehen. Zehn große, in Stroh gebettete Glasflaschen verströmten einen penetranten aggressiv-chemischen Gestank. Was genau die Flaschen enthielten und wohin sie gebracht wurden, wagte Elspeth nicht zu fragen, da der Fuhrmann ein grimmiger, heruntergekommener alter Kauz war, der ihr doch nur mit einem unwirschen Knurren geantwortet hätte. Mit ihren anderen Mitfahrgelegenheiten dieses Tages hatte sie allerdings Glück gehabt. Nur dieser letzte furchtbar langsame Wagen würde sie kostbare Pence kosten. Die anderen Wagen waren von freundlichen, großherzigen Männern gelenkt worden, die von einer hübschen jungen Frau mit Baby kein Geld fürs Mitnehmen hatten haben wollen.

Den ganzen Tag war sie schon unterwegs und hatte seit dem Morgengrauen nichts mehr gegessen. Jetzt war ihr leicht schwindlig, und ihre Muskeln schmerzten. Sie döste in der Dämmerung vor sich hin und wäre sogar eingeschlafen, wären nicht das Klirren der Korbflaschen und das Husten ihrer kleinen Tochter gewesen. Wieder einmal aus dem Halbschlaf aufgeschreckt, schaute Elspeth über den angeschwollenen breiten Fluss und den grenzenlosen Himmel und fragte sich, ob sie nun endlich in Sicherheit war, außer Reichweite James Moodies.

»Hoooooo.«

Abrupt kamen die Pferde zum Stehen. Die Korbflaschen schwankten und gurgelten bedrohlich.

Elspeth setzte sich kerzengerade auf und drückte Mary Jean schützend an ihre Brust.

»Was ist?«, fragte sie. »Was ist los?«

»Steig ab«, knurrte der Fahrer.

»Aber ... aber wo sind wir hier?«

»Weiter nehme ich dich nicht mit. Runter, habe ich gesagt.«

Weit und breit war nichts zu sehen außer dem flachen Flussufer und einer Reihe nackter Bäume oberhalb der Straße.

Elspeth hatte nicht die Kraft, sich mit dem Mann anzulegen. Müde bettete sie Mary Jean in eine Armbeuge. Sie griff nach dem Hafersack, der ihre ganze Habe enthielt. Der Fahrer kam ihr zuvor; vielleicht dachte er, sie wolle davonlaufen und ihn um das Fahrgeld prellen. Er beugte sich zu ihr herüber und schlug ihr mit dem Weidenstock auf das Handgelenk.

»Das kriegst du, wenn du mich bezahlt hast.«

Elspeth kletterte steif über die Seitenwand des Wagens und benutzte das Rad als Leiter, um zum Boden zu gelangen. Sie ging nach vorn, blieb neben dem Kutschbock stehen und kramte unter dem Bund ihres Rockes nach ihrer Lederbörse, in der sie ihr Reisegeld aufbewahrte, drei Shillinge und ein paar Kupfermünzen. Vier Ein-Guinea-Scheine und zwei halbe Kronen, ihre letzte Barschaft, steckten in einem Schuh in ihrem Hafersack.

Mit den Zähnen löste sie die Schnur, mit der der Lederbeutel zugeschnürt war.

»Wie viel bin ich schuldig?«

»Fünfzehn Pence«, antwortete der Mann.

»Was? Wir sind niemals fünfzehn Meilen weit gefahren.«

»Sind wir wohl.«

»Nein, das waren höchstens acht.«

»Woher willst du das wissen, hä? Hast doch fast die ganze Zeit geschlafen. Du schuldest mir fünfzehn Meilen zu einem Penny. Zahl endlich, Weib.«

Elspeth biss sich auf die Unterlippe, schüttete erst einen Shilling und ein paar Kupfermünzen aus der Börse auf ihre offene Hand und dann noch den Rest der Silbermünzen, die sie dem Fahrer zeigte.

»Siehst du, ich kann noch für mehr Meilen zahlen. Bring uns in eine Ortschaft«, bat sie.

Der Fahrer starrte unter buschigen Brauen hervor aus zusammengekniffenen Augen auf das Geld.

Elspeth war völlig unvorbereitet auf das, was dann folgte.

Unvermittelt schlug er mit der Weidenrute auf ihren Arm, und Münzen und Börse flogen ihr aus der Hand und hinten auf den Wagen. Mit einem Aufschrei stürzte sie nach vorn, aber der Kutscher ließ die Leinen auf die Pferdekruppen klatschen und schrie die Gäule an, sich in Bewegung zu setzen. Die Clevelands setzten sich in Bewegung, und Elspeth musste ausweichen, damit sie und Mary Jean nicht unter die Räder gerieten.

Der alte Mann stellte sich auf und schlug mit der Weidenrute auf die Pferde ein, die prompt losstürmten, sodass der Wagen mitsamt der klirrenden Ladung davonschoss. Mary Jean umklammernd, rannte Elspeth ihm verzweifelt hinterher.

»Dieb!«, schrie sie. »Du Dieb! Bleib stehen! Du verfluchter Dieb!«

Der Kutscher scherte sich offensichtlich nicht länger um seine zerbrechliche Fracht. Der Wagen rumpelte holpernd einen kleinen Hang hinunter und verschwand aus Elspeth’ Blickfeld.

Sie rannte noch dreißig oder vierzig Meter hinterher, musste aber dann einsehen, dass es hoffnungslos war. Sie blieb stocksteif stehen und sah, wie der Wagen etwa eine Viertelmeile weiter kurz wieder auftauchte, um dann endgültig hinter einer Wegbiegung zu verschwinden.

Das weinende Kind an die Brust gedrückt, stolperte Elspeth bis an die Böschung. Sie war ganz benommen vor Erschöpfung und ließ sich zitternd und fassungslos ins Gras sinken. Sie saß ohne einen Penny für Brot irgendwo mitten im Nichts, und ihr war klar, dass weder sie noch Mary Jean eine weitere Nacht im Freien unbeschadet überstehen würden.

Sie blieb eine Weile am Wegrand sitzen und redete beruhigend auf Mary Jean ein, bis das Baby aufhörte zu wimmern.

Es war schon spät; bald würde es dunkel werden. Der lavendelfarbene Himmel hatte sich blassgelb gefärbt. Lang gezogene fedrige rostrote und rosafarbene Wolken jagten über die Flussmündung. Krähen krächzten in den fernen Bäumen, und eine einsame Möwe segelte gemächlich über sie hinweg, eine reglose Silhouette vor den ersten Sternen des Abends. Der Fluss reflektierte nicht länger die Farben des Himmels, sondern strömte träge und kalt wie Quecksilber vorbei.

Wäre in diesem Moment James aus der Dämmerung aufgetaucht, wäre Elspeth vielleicht sogar in Versuchung geraten aufzugeben, mit ihm nach Balnesmoor zurückzukehren und weiter seine Ehefrau zu spielen. Es würde nur eine Lüge kosten, Mary Jean vor aller Welt als seine Tochter auszugeben. James wusste, dass es nicht sein konnte, weil er nie mit ihr geschlafen hatte. Er hatte sie nicht aus inzestuöser Leidenschaft heraus geheiratet, sondern um sie zu besitzen – mit dem Segen der Kirche und dem Siegel des Gesetzes.

Elspeth starrte ins Dunkel. Wie konnte sie Mary Jean Moodies Schuld aufbürden? Glaubte ihr Vater denn wirklich, dass er seine Schande durch eine weitere auslöschen konnte? Dass irgendwann aus Lüge Wahrheit werden würde und er reingewaschen wäre von jeder Schuld?

Sie wischte Mary Jeans Gesicht sauber und trocknete ihre eigenen Tränen. Sie konnte nicht ewig hier sitzen bleiben. Sie musste etwas tun. Es wurde mit jeder Minute kälter, und das einsame Ufer des Forth war kein geeigneter Rastplatz. Sie durfte nicht verzweifeln. Sie war an einem entscheidenden Punkt in ihrem Leben angelangt. Ihr war nichts geblieben außer ihrer Willenskraft; nun galt es zu beweisen, dass sie nicht nur vor dem Gesetz, sondern auch im Geiste Gaddy Pattersons Tochter war.

Elspeth rappelte sich auf. Sie kehrte der Richtung, in der Stirling lag, den Rücken und folgte der Uferstraße nach Osten, Mary Jean an ihre Schulter gelegt.

Bei den ersten, noch unsicheren Schritten hörte sie Gaddys ermutigende Stimme.

»Komm, meine Kleine, halte durch«, sagte sie. »Du schaffst das. Sei froh, dass du den blöden Hafersack los bist, der doch nur eine Last war. Weiter, Liebes, nicht aufgeben. Schon bald wird dir ein Licht erscheinen, das dir den Weg weist.«

Sie war noch keine Meile weit gelaufen, als sie tatsächlich ein Licht sah, das Glimmen einer Laterne im Halbdunkel. Außerdem trug der Wind ihr Stimmen zu. Sie beschleunigte den Schritt, folgte einer scharfen Kurve, und an einem Hang etwas oberhalb von ihr kamen die Lichter eines Dorfes in Sicht. Erleichtert hastete sie auf eine gewölbte Brücke zu, die zu den Häusern führte.

Die Häuser waren mit Kalk geweißt, und ein Kirchturm hob sich vom dunklen Himmel ab. Aus dieser Perspektive wirkte das Dorf sauber und ordentlich. Und sie traf auch auf Menschen. Am Flussufer entlang näherte sich eine regelrechte Prozession von Männern, Frauen und Kindern. Sie überquerten die Brücke und folgten dann der gepflasterten Straße zur Ortsmitte.

Obwohl die Landschaft Elspeth nicht an Balnesmoor erinnerte, fühlte sie sich beinahe heimisch. Ihr fiel auf, dass die Mädchen bunte Bänder und farbenfrohe Kleider trugen. Unter manchem knielangen Rock lugten sogar schneeweiße weite Unterhosen hervor. Nur ein paar von den jüngeren Kindern waren barfuß. Die Männer waren ebenfalls sorgfältig zurechtgemacht. Sie schlenderten getrennt vom Weibervolk in Dreier- oder Vierergruppen heran, die Hände in den Hosentaschen vergraben, und scherzten und lachten dabei wie es für Männer typisch war.

Elspeth steuerte nicht gleich das Dorf an, sondern zögerte am anderen Brückenende. Der gesunde Menschenverstand sagte ihr, dass eine mittellose Fremde nicht sehr willkommen sein würde. Man würde ihr mit Misstrauen begegnen, es sei denn, sie war zufällig an ein Dorf geraten, zu dem James geschäftliche Beziehungen unterhielt. Sie schaute die Uferstraße hinunter. Sie konnte in der Dunkelheit undeutlich sonderbare Formen auf den Feldern ausmachen. Wovon lebten die Menschen hier? Sie war ziemlich sicher, dass es nicht Ackerbau war. Unschlüssig blieb sie, wo sie war, und sah den Dorfbewohnern entgegen.

Der Mann war etwa vierzig und hielt sich etwas abseits von den anderen Männern. An der Hand hielt er ein Mädchen von zehn oder elf Jahren, und ein Mädchen und ein Junge, die sie etwas jünger schätzte, gingen ihm voraus. Das jüngere Mädchen von höchstens acht Jahren entdeckte Elspeth als Erste. Sie musterte sie abschätzig und stieß den Jungen an ihrer Seite, bei dem es sich vermutlich um ihren Bruder handelte, mit dem Ellbogen an.

»Entschuldigen Sie, Sir.« Elspeth trat vor und richtete das Wort an das Familienoberhaupt. »Wären Sie so freundlich, mir zu sagen, wie dieser Ort heißt? Ich bin nicht von hier.«

Seine Kleider waren aus Tweed und Englischleder, und er trug einen azurblau gefärbten Hut. Ein verknoteter Schal steckte vorn in seinem Hemdkragen, und Elspeth registrierte, dass seine halbhohen Stiefel aus Kalbsleder waren und nicht aus billigem derben Rindsleder.

Das Mädchen an der Hand seines Vaters war sehr zierlich. Sie schmiegte sich schüchtern an seine Seite und starrte zu ihm auf, um zu sehen, wie er auf die Fremde reagierte.

Aber es war das jüngste der Kinder, das Elspeth schließlich antwortete.

»Das ist Placket.«

Der Mann schalt sie streng, aber ohne Zorn. »Sarah, halt deine verdammte Zunge im Zaum.«

»Ja, Daddy.«

Er musterte Elspeth forschend und nickte dann, den Blick auf Mary Jean geheftet.

»Sie hat doch keine ansteckende Krankheit, oder?«

»Nein, Sir, nur eine Erkältung.«

»Schwörst du das bei Gott?«

»Ich habe keinen Grund zu lügen.«

Der Mann nickte. »Das ist Placket, wie sie schon sagte.«

Das kleine Mädchen an seiner Seite kicherte.

»Sind Sie ... Sind Sie Weber?«, fragte Elspeth.

Der Mann bog den Kopf zurück und lachte schallend. Sein Heiterkeitsausbruch erregte die Aufmerksamkeit von vier Männern, die bereits das andere Ende der Brücke erreicht hatten.

»Was gibt es denn so Komisches, Jock Bennet?«, rief der eine herüber.

»Die Kleine hier hält uns für Weber.«

»Weber? Du meine Güte. Ebenso gut könnte sie uns für Tanzlehrer halten.«

»Aber so wie sie aussieht könnte es sich lohnen, sein Garn mit ihr zu spinnen, was?«

Sarah, das ernste kleine Mädchen, sagte: »Placket gehört der Zeche.«

»Was für einer Zeche?«, fragte Elspeth.

»Mr. Bolderons Zeche. Abbeyfield«, erklärte die Kleine.

»Die beste verdammte Zeche in Gottes Königreich«, fügte der Junge hinzu. Sein Vater schimpfte ihn nicht aus wegen der Blasphemie. »Wo kommst du denn her, dass du noch nie von Placket und Abbeyfield gehört hast?«

Elspeth hatte gelernt, nicht auf Fragen zu ihrer Herkunft einzugehen.

»Ich suche Arbeit«, sagte sie stattdessen.

Jock Bennet verlor abrupt das Interesse am Geplänkel seiner Freunde. Abrupt wandte er sich ihr wieder zu und betrachtete sie stirnrunzelnd, als würde etwas an ihr ihm Rätsel aufgeben.

»Davy«, sagte er. »Bring Sarah rauf zu Mr. Nicol und warte drinnen auf mich.«

»Aber Da...«

»Tu, was ich sage.«

Sarah machte auf dem Absatz kehrt und marschierte brav über die Brücke davon. Davy folgte ihr schmollend. Das ältere Mädchen schien einen Sonderstatus zu genießen und durfte bleiben. Um ihre Stellung noch zu untermauern, kletterte sie auf den Brückenpfosten und von dort auf die Schultern ihres Vaters. Sie schlang ihm die Arme um den Hals, aber er ignorierte sie.

»Arbeit?«, sagte er. »Du suchst also Arbeit, ja? Und was kannst du?«

»Ich verstehe etwas von Vieh. Ich kann melken, dreschen, ein Feld bestellen ...«

»Nein, nein, Mädchen. Hier auf der Grube wächst nichts.«

»Ich kann auch kochen. Und nähen.«

»Was ist mit deinem Mann?«

»Ich habe keinen.«

»Was ist mit dem Kind? Hat es keinen Vater?«

»Ihr Vater ist tot.«

»Tot oder ... auf und davon?«

»Tot. Vor einem Jahr.«

»War er Weber?«, wollte Jock Bennet wissen.

»Er war ... Viehtreiber.«

»Dann bist du die Frau eines Viehtreibers?«

»Gewesen, ja.«

»Viehtreiber sind ein zähes Volk.«

»Ziemlich, ja«, entgegnete Elspeth zurückhaltend.

»Tritt näher, Mädchen«, forderte Jock Bennet sie auf.

Sie machte ein oder zwei Schritte auf ihn zu und ließ seine Musterung über sich ergehen.

Die Jahre mit James Moodie, als Herrin von Moss House, hatten sie geschliffen, und auch nach Monaten der Entbehrungen war vieles hiervon erhalten geblieben. Aber Elspeth’ weiblicher Instinkt verriet ihr, dass der Grubenarbeiter nicht an ihrem Aussehen interessiert war und er, was immer in seinem Kopf vorging, nicht beabsichtigte, sie in sein Bett zu zerren.

»Kannst du gutes Fleisch zubereiten?«

»Alle Arten von Fleisch«, entgegnete Elspeth.

»Bei uns in der Familie wird Fleisch gegessen. Schwein und Hammel. Und sonntags bestes Rindfleisch«, erklärte Jock Bennet. »Nichts Minderwertiges wie bei den anderen Grubenarbeitern.« Nach kurzem Schweigen fügte er hinzu: »Ich hätte noch ein Plätzchen in meinem Cottage frei, wenn du magst. Ich kann dir ein Dach über dem Kopf und genug zu Essen bieten. Wie du gesehen hast, habe ich drei Kinder, die versorgt werden müssen.«

»Aber keine Frau?«, fragte Elspeth nach.

»Sie ist vor zwei Jahren von uns gegangen. Und meine erste Frau vor ihr.«

Elspeth konnte es sich nicht leisten zu zögern.

»Ich werde mich um Haushalt und Kinder kümmern. Ich verlange als Gegenleistung nur Kost und Obdach.«

»Du hast kein Gepäck bei dir.«

»Ganz richtig.«

»Und du bist nur an Arbeit interessiert?«, fragte er.

»Was meinen Sie?«

»Du bist nicht zufällig darauf aus, das Bett mit einem Mann zu teilen?«

»Wenn Ihnen das vorschwebt, Sir, danke ich für das Angebot und gehe meines Weges.«

»Nein, nein«, sagte der Grubenarbeiter beschwichtigend. »Das ist ganz sicher nicht Teil der Abmachung. Ich wollte nur von vornherein deutlich machen, dass ich weder auf eine Bettgefährtin aus bin noch eine Ehefrau suche.«

»Und ich bin nicht auf der Suche nach einem Ehemann.«

Das Mädchen ließ sich am Rücken des Vaters hinabgleiten, drückte über seine Schulter hinweg das Kinn an seine Wange und funkelte Elspeth finster an.

»Sie kommt doch nicht mit uns nach Hause, oder?«

»Würde dir das denn nicht gefallen, Mousie?«

»Wir brauchen sie nicht, Daddy.«

Bennet diskutierte nicht mit seiner Tochter. Ihren Einwand ignorierend, warf er durch die Falten des Schals einen Blick auf Mary Jean, die in leichten Schlaf gefallen war und dabei leicht pfeifend atmete.

»Ich hoffe, sie ist kein Schreihals«, knurrte er.

»Nicht wenn sie es warm hat und satt ist.«

»Wie alt ist sie denn?«

»Zwölf Monate.« Elspeth log, um sich weitere Erklärungen zu ersparen. »Mein Mann hat sie nie zu Gesicht bekommen. Er war schon tot, als sie zur Welt kam.«

Das war nur halb gelogen. Mary Jeans Vater war tatsächlich vor ihrer Geburt gestorben, allerdings war er kein Viehtreiber gewesen und auch nicht mit ihr verheiratet. Sie dachte nur noch selten an Michael Blaven. Er gehörte einer unbeschwerten Vergangenheit an, war nur noch ein flüchtiger Traum, an den sie sich kaum noch erinnerte.

Jock Bennet zuckte die Achseln, unbeeindruckt von einer so alltäglichen Tragödie.

»Also, Mädchen, wenn du mein Angebot annimmst, bekommst du von mir ein eigenes Zimmer und Nahrung im Tausch gegen ordentliche Arbeit.«

»Daddy, wir brauchen keine wie sie«, protestierte das Mädchen. »Sarah kümmert sich doch um uns alle.«

»Mousie, halt verdammt nochmal die Klappe.«

»Ich nehme das Angebot gerne an«, antwortete Elspeth.

»Gut. Komm mit.«

»Wohin gehen wir?«

»Zu Nicols. Das ist der Lebensmittelladen.«

Ohne ein weiteres Wort marschierte der Grubenarbeiter über die Brücke, seine Tochter immer noch wie ein Klammeräffchen auf dem Rücken. Am Brückenende machte er gerade lange genug Halt, dass die anderen Kumpel seine neue Haushälterin begutachten konnten.

»Bei Gott, Jock, da hast du dir ja ein wahres Kleinod an Land gezogen.«

»Die Kleine ist viel zu gut für einen so grimmigen alten Teufel wie dich.«

»Mann, die würde ich auch sofort nehmen – wenn ich nicht schon verheiratet wäre.«

»Sie ist genau das, was ich gesucht habe«, erklärte Jock Bennet, winkte ab, als die Männer daraufhin johlten, und setzte seinen Weg fort.

Vertrauensvoll folgte Elspeth ihm nach Placket, das an diesem eisigen Märzabend so warm und heimelig wirkte und seinen Schmerz so vollendet verbarg.

Ab und an tat Anna Sinclair so, als würde sie vergehen vor unerwiderter Liebe, aber in Wahrheit war das »Arrangement« auf Strachan Castle genau nach ihrem Geschmack. Noch nie zuvor hatte sie eigene Entscheidungen treffen können. Der Verlauf ihres bisherigen Lebens, der Außenstehenden so seltsam erschien, war für sie selbst ganz simpel und einfach.

Sie war als Tochter von Gaddy Patterson und Farmer Coll Cochran geboren, war, wenn man so wollte, Elspeth’ Stiefschwester, war zur Ehe mit Matt Sinclair gezwungen worden, war zur Mätresse des Gutsherrn von Ottershaw »avanciert«, war schwanger geworden, und als ihr Gatte sein wahres Gesicht gezeigt und sich als Verbrecher entpuppt hatte, war sie in den Schoß der Familie Sinclair zurückgekehrt und mit dieser von Ottershaw nach Strachan Castle gezogen, wo sie alle in die Dienste Sir Gilbert Bontines getreten waren, seines Zeichen der Bruder des Herrn von Ottershaw.

Das alles war von den Umständen diktiert gewesen, und Anna stellte keinerlei Zusammenhang her zwischen ihrer Geschichte und dem, was ihrer Schwester Elspeth widerfahren war, die in Annas Augen selbst schuld war an ihrem Unglück.

Die Geburt ihres Sohnes verlieh Anna sogar noch größere Macht. Sie fing an, die Menschen in ihrem Umfeld zu schikanieren, wohl wissend, dass man sie niemals hinauswerfen würde. Da Gilbert in Randalls Schuld stand und Randall, Gutsherr von Ottershaw, sie niemals im Stich lassen würde, war ihr Platz als Hausmädchen auf Strachan Castle so sicher wie die Bank von England.

Gilbert Bontine hatte das etwas heruntergekommene kleine Schloss gepachtet, kurz nachdem Randall humpelnd aus dem Krieg zurückgekehrt war, um nach dem Tod des Vaters sein Erbe anzutreten und Ottershaw zu seiner alleinigen Nutzung in Besitz zu nehmen. Allerdings hatten die Brüder eine Abmachung getroffen: Gibbie hatte mit Randalls Segen Lachlan Sinclair mitnehmen dürfen, den Gutsverwalter von Ottershaw, der ihm helfen sollte, das Land um Strachan herum zu bewirtschaften. Im Gegenzug hatte Gibbie sich verpflichtet, sich Randalls Geliebter, Anna, und des Kindes, das sie zur Welt bringen würde, anzunehmen.

Was Anna betraf, war das Interessanteste an der Sache, dass niemand sicher sein konnte, wer von den beiden Männern in ihrem Leben der Vater war und ob sie nun einen »echten« Sinclair geboren hatte oder einen unehelichen Sohn des Gutsherrn von Ottershaw.

Anna überließ es gerne den Bontines und Sinclairs, sich den Kopf über das Rätsel der Vaterschaft zu zerbrechen. Sie selbst war überzeugt davon, dass er bei einer Vereinigung mit Randall Bontine gezeugt worden war, denn wenn Leidenschaft vererbbar war, war der kleine Robert Cochran Sinclair zweifellos der Sohn des Gutsherrn, ganz egal, was im Kirchenregister stehen mochte.

Im Februar, als die Taufe des Babys in der kleinen bescheidenen Kirche von Rothwell anstand, weigerte Anna sich standhaft, einen Namen zu wählen, der das heikle Gleichgewicht der Ungewissheit stören könnte. Sie entschied sich für den hübschen neutralen Vornamen Robert, dem sie den ebenso neutralen Nachnamen ihres eigenen Vaters hinzufügte, Cochran. Den Sinclairs gegenüber behauptete sie, Robert sei ganz sicher der Sohn ihres Ehemannes Matt, während sie bei Mr. Gilbert durchblicken ließ, dass in den Adern des kleinen Jungen Bontine-Blut floss.

Es gab in Balnesmoor und Ottershaw viele, die voller Schadenfreude behaupteten, Anna wäre vom Gutsherrn verstoßen und zur Strafe für ihre Sünden zu Gibbie nach Strachan Castle geschickt worden. Anna sah das anders. Ihr Platz an der Sonne war von kurzer Dauer gewesen, aber Strachan war kein Gefängnis, und sie war dort ebenso wenig eingesperrt wie sie es in Gaddys Hütte oben auf dem Drumglass gewesen war oder auch in der Waldhütte, die sie mit Matt bewohnt hatte. Sie hegte immer noch hochfahrende Träume, und in den Schoß einer so fest zusammenstehenden Familie wie den Sinclairs aufgenommen worden zu sein, zumal unter dem Schutz des etwas charakterschwachen, aber großzügigen Gilbert Bontine, ließ sie an der Illusion festhalten, dass Sir Randall sie eines Tages zurückholen, heiraten und zu einer richtigen Dame machen würde mit Dienstboden, Kutschen und Schränken voller Seidenkleider. Ihren Sohn Robert betrachtete sie als den Schlüssel zur Erfüllung dieses Ziels.

Allerdings liebte Anna den kleinen Robbie über seine Rolle als Pfand hinaus um seiner selbst willen abgöttisch. Sie konnte ihre Gefühle für ihren Sohn nicht verhehlen und war selbst überrascht davon, wie sehr sie in der Mutterrolle aufging. Obwohl sie diese konkrete Manipulation nicht geplant hatte, verwandelte ihre Liebe zu ihrem Kind die anfängliche Ablehnung der Sinclairs erst in Akzeptanz und später sogar in – wenn auch nicht ganz vorbehaltlose – Zuneigung. Vor allem die Männer der Familie waren gewillt, ihr alles zu verzeihen, war Anna doch im Gegensatz zu Aileen und Catriona Sinclair blitzgescheit, selbstbewusst und lebhaft und besaß darüber hinaus die Gabe, Männer mit ihrem Charme zu betören.

Lachlan Sinclair hatte sich der Tatsache gestellt, dass sein ältester Sohn auf die schiefe Bahn geraten war, und er war geneigt, Anna als Opfer und nicht als Komplizin von Matts Leichtsinn zu sehen. Außerdem brauchte Lachlan dringend jemanden, auf den er stolz sein konnte, und da kam ihm ein Enkelsohn gerade recht, sodass Anna in dem Verwalter einen Verbündeten fand.

Allerdings kam es Anna zuweilen vor, als wäre Strachan Castle furchtbar weit weg von Ottershaw, obwohl es tatsächlich gerade mal sieben Meilen über befestigte Straßen waren. Manchmal fühlte Anna sich wie im Exil, verfolgt von der Vergangenheit und ihren noch offenen Fragen. Auch plagten sie Gedanken an ihr Schicksal, das irgendwie mit jenem ihrer Schwester Elspeth verknüpft schien, ohne dass sie durchschaut hätte, in welcher Weise.

In den düsteren Winternächten, den trüben Nebeln der trostlosen winterlichen Morgendämmerung oder dem schattenlosen gedämpften Licht der kurzen Winternachmittage glaubte Anna zuweilen Geister der Vergangenheit zu erkennen, Matt und Elspeth, Elspeth und Matt, eng umschlungen, jedoch nicht wie Liebende, sondern wie Gespenster.

Im Dienstbotentrakt auf Strachan herrschte nicht die strikte Autoritätshierarchie wie sie unter dem Personal anderer Herrenhäuser durchaus üblich war. Die Bontines legten eine ungewöhnliche Mischung aus Extravaganz und Knauserigkeit an den Tag, und trotz des Ehrgeizes von Mistress Alicia, Strachan innerhalb der feinen Gesellschaft im Lennox in den Rang eines Ottershaw zu erheben, entlarvte das Personal doch deutlich den Geiz der Schlossherren.

Lachlan Sinclair war für die Landarbeiter zuständig, ein Haufen, der sich hauptsächlich aus Tagelöhnern zusammensetzte, die von den umliegenden Farmen ausgeborgt wurden. Aileen war für das Hauspersonal verantwortlich, unter Alicias Oberbefehl natürlich, und kümmerte sich außerdem um die Küche. Catriona war Hausmädchen und half bei den Kindern mit aus, wenn die arme Edith Simmons, die die Bontine-Sprösslinge davon abhalten sollte, allzu sehr über die Stränge zu schlagen, mal wieder überfordert war.

Annas Aufgaben waren vielfältig. Abends half sie beim Melken, sammelte die Schmutzwäsche ein, tauschte heruntergebrannte Kerzen gegen neue aus, füllte Öllampen nach und fungierte als »Spinnenjägerin«, wenn sonst nichts anstand. Außerdem wurde von ihr erwartet, ihrem Schwiegervater auf den Feldern zu helfen, wenn er es verlangte, aber während der langen Winterzeit waren nur wenige Arbeiten angefallen, die eine Frau verrichten konnte.

Trotzdem freute sich Anna über jede Gelegenheit, sich im Freien aufzuhalten, wo Aileen ihr nicht einen Besen oder Staubwedel in die Hand drücken oder sie in den Speisesaal, den Salon oder gar den »großen Saal« beordern konnte, der Scheunenausmaße hatte und einfach nicht sauber zu halten war.

Die Bontines wohnten im Ostflügel, womit eine Flucht kleiner Suiten jenseits des großen Saals gemeint war. Die Dienstboten, die auf dem Anwesen lebten, die Sinclairs also, schliefen in Nischen und Kammern rund um die Küche, was im Winter durchaus angenehm war, war dieser Trakt doch der am besten beheizte des ganzen Hauses. Zudem hatten sie direkten Zugang zum Holzlager und Kohlenkeller, der Wasserpumpe und einem richtigen WC, der wohl modernsten Einrichtung des Schlosses.

Gegen zehn Uhr an einem kalten Märzmorgen verließ Anna, die Robbie in einem Tragetuch auf der Hüfte trug, die Waschküche und steuerte den Abort an. Sie suchte jedoch nicht das Örtchen auf, sondern hastete um die Ecke und außer Sichtweite der Fenster, ging dann weiter über die Brücke, die den Fluss überspannte, und auf das zehn Morgen umfassende Feld hinter dem Haus. Hier rupften eine Hand voll Rinder das magere Gras aus, während ihr Schwiegervater einen rechteckigen Abschnitt abging, der eingezäunt und im Frühjahr gepflügt und bestellt werden sollte.

Obgleich Lachlan eher wortkarg war, war Anna sicher, dass er es genoss, wieder mit den Füßen im Schlamm zu waten und aktiv mit anzupacken, anstatt nur als Verwalter die Arbeit anderer zu koordinieren und zu überwachen. Er hatte viel von seiner Würde und Arroganz auf Ottershaw gelassen, auch wenn er sich immer noch sehr gerade hielt und andere mit strengem, beinahe feierlichem Blick musterte. Anna nahm an, dass er früher einmal ein sehr attraktiver Mann gewesen war. Für einen Mann von drei- oder vierundfünfzig Jahren sah er immer noch recht gut aus. Sie konnte Spuren dieser Attraktivität an Sandy sehen, auch wenn der mit achtzehn, und somit ausgewachsen, nicht so groß war wie sein Vater und nicht so kräftig gebaut wie es Matt gewesen war.

Das Baby strampelte still und glücklich auf ihrer Hüfte. Sie registrierte sein Gewicht kaum, auch wenn seine Gliedmaßen mit jedem Tag runder wurden, seine kindlichen Züge bereits Charakter aufwiesen und sein Haar immer dicker und dunkler wurde. Sie lächelte auf ihn hinab und schnalzte mit der Zunge, um ihn zum Lachen zu bringen, als sie das Weidetor öffnete.

Der Boden war löchrig, von den Rindern aufgerissen, aber noch gefroren, und der eisige Morgen hatte die Grasbüschel mit einem feinen weißen Pelz überzogen. Einen Arm um Robbie gelegt, stapfte Anna vorsichtig über die Weide.

Sinclair war so in seine Berechnungen vertieft, dass er die junge Frau nicht gleich bemerkte. Er trug einen knielangen Mantel aus braunem Whipcord und einen breitkrempigen Hut, der im Laufe der Zeit von Schwarz zu Schiefergrau verblasst war. Der Mantel schlug um seine Waden, als er den Abstand von einer Markierung zur nächsten abschritt. In beiden Händen trug er, einer Opfergabe gleich, einen großen weißen Stein von der Größe und Form eines Viertelpfund schweren Brotlaibes, und sein dampfender Atem bildete kleine weiße Wölkchen in der sauberen kalten Luft, während er laut vor sich hin zählte.

Anna wartete, bis er den Eckpunkt des Rechtecks erreicht hatte, sich bückte und einen der Steine ins Gras legte. Ein klein wenig steif richtete er sich wieder auf, zog einen langen Zettel aus der Manteltasche, nahm den Bleistift, der hinter seinem Ohr klemmte, notierte das Maß und berechnete irgendetwas.

»Mr. Sinclair.« Sie nannte ihn immer noch so, trotz der Intimität, die längst zwischen ihnen bestand. »Sehen Sie mal, wer hier ist.«

Die Rinder in einer Ecke bei den Weidenbäumen hoben die Köpfe und blinzelten, als hätte sie die Worte an sie gerichtet. Lachlan Sinclair drehte sich zu ihr um. Er stopfte den Zettel wieder in die Tasche und eilte auf sie zu.

Anna nahm das Baby mitsamt dem Schal von der Hüfte und hielt es hoch, was Robert nicht im Geringsten zu stören schien. Er war dick vermummt gegen die Kälte; nur seine Augen und die Nasenspitze lugten aus der weichen Wolle hervor, aber als er seinen Großvater entdeckte, fing er freudig an zu strampeln, greinte unwillig und streckte die Ärmchen nach ihm aus.

»Nehmen Sie ihn nur, Mr. Sinclair«, sagte Anna. »Er ist lieber bei Ihnen auf dem Arm als bei mir.«

Geschmeichelt löste Sinclair den Knoten des Schals an Annas Schulter und nahm das zappelnde Bündel an sich. In Robbies Mundwinkel bildete sich eine milchige Blase, und er hickste einmal. Dann strampelte er mit beiden Beinen, um seinem Großvater zu zeigen, wie schnell er in ein oder zwei Jahren über das Feld laufen würde.

Mr. Sinclairs Wangen legten sich in Falten. Er lächelte.

»Hast du schon mit Waschen angefangen?«

»Ich habe Feuer gemacht und den Zuber bis oben hin mit Wasser gefüllt. Es wird allerdings an einem so kalten Tag wie heute eine Weile dauern, bis das Wasser heiß ist.«

»Stimmt, aber wenn es trocken bleibt, wird Mrs. Sinclair mit der Frühjahrswäsche beginnen wollen.«

Das war so ziemlich die schärfste Kritik, die der autoritäre Sinclair ihr gegenüber wagte.

Anna wusste, wie wichtig die Frühjahrswäsche war. Es gab weiß Gott kaum noch ein sauberes Taschentuch in Schränken und Kommoden. Sogar ihre eigene Bettwäsche in dem Alkoven zwischen Küche und Vorratskammer roch muffig, und sie argwöhnte sogar, dass sich dort der eine oder andere Floh eingenistet hatte.

Den ganzen März und bis in den April hinein würden an trockenen Tagen Laken und Kleidungsstücke auf den Wäscheleinen flattern und über jedem Strauch und jeder Hecke im Garten trocknen. Sogar die Bontine-Kinder, die sonst keine Hand rührten, waren aufgefordert, Körbe voller Wäsche hierhin und dorthin zu tragen, und an den Abenden roch es im ganzen Haus nach Bügeleisen und Plättsteinen. Anna ihrerseits drückte sich, wo sie konnte, außer beim Bügeln, das ihr von allen Hausarbeiten noch am meisten Spaß machte.

»Robbie wollte seinen Großvater sehen«, entgegnete Anna in entschuldigendem honigsüßen Tonfall, als hätte ihr Sohn auf Strachan Castle das Sagen. »Ich gehe in fünf Minuten zurück, versprochen, Mr. Sinclair.«

Sinclair grunzte, legte das Baby an seine Schulter und vollführte dabei einen kleinen Tanz, bei dem er sogar ein kleines Lied sang, um seinen Enkel zu unterhalten. Robbie hickste wieder, scheinbar völlig unbeeindruckt.

»Wann wird das Feld zum Pflügen bereit sein?«, fragte Anna.

Sinclair hörte auf zu singen. »Sobald der Boden nicht mehr gefroren ist.«

»Gibt es denn in der Gegend Arbeitspferde zu mieten?«

Strachan besaß keinen eigenen Ackergaul und schon gar kein Gespann, das unverzichtbar war für diese schwere Arbeit. Zwar konnte die auch mit Ponys erledigt werden, aber ein leichterer Pflug würde nicht tief genug in den Boden dringen, und die hiernach entstehende Grasnarbe, ganz egal, wie sorgfältig sie auch gesät wurde, würde das darunter versteckte Unkraut nicht verdrängen können.

Mr. Sinclair war so sehr mit Robbie beschäftigt, dass er Annas Frage kaum mitbekam. In einem Jahr, wenn der Kleine anfing zu laufen, würde der alte Lachlan gar nicht mehr zum Arbeiten kommen.

Anna fragte sich, ob es überhaupt eine Rolle spielen würde, wenn die Felder unbestellt blieben wie seit Jahrzehnten. Mr. Gilbert schien auf die Einkünfte aus den landwirtschaftlichen Erträgen nicht angewiesen zu sein. Er hatte sich von der alten Bontine-Tradition gelöst, Geld aus dem eigenen Grund und Boden zu erwirtschaften, und war ins Bankgeschäft eingestiegen.

Strachan hatte keine nennenswerten Pachteinkünfte, lediglich vier Cottages und eine winzige Mühle sowie eine Weide zwischen der tief liegenden Straße und dem Fluss, die für einen lächerlichen Betrag an einen der Pächter und Schafzüchter vermietet war. Aber es war allgemein bekannt, dass Mr. Gibbie eine ansehnliche Summe aus dem Vermögen seines Vaters, des alten Sir Gilbert, geerbt hatte, und keiner von den Bediensteten zweifelte daran, im Haushalt von Gilbert Junior eine Lebensstellung zu haben.

»Robert«, sagte Lachlan Sinclair zu seinem Enkel. »Robert war der Name eines schottischen Königs. Er hat eine große Schlacht gegen die Engländer gewonnen, und das keine zehn Meilen von hier entfernt. Er hat ihnen so richtig den Hintern versohlt, mein Junge. Wirst du auch mal ein tapferer Krieger werden, wenn du groß bist?«

Die Männer auf Ottershaw, die Sinclair so viele Jahre mit eiserner Hand geführt hatte, wären verblüfft gewesen davon, wie sehr der Verwalter sich verändert hatte. Vermutlich hätten sie die wundersame Wandlung weniger auf die Freude über seinen Enkel zurückgeführt, sondern vielmehr geargwöhnt, dass Trauer wegen der Affäre um seinen ältesten Sohn ihm den Verstand geraubt hatte.

»Er ist ein richtiger kleiner Prinz, Anna, nicht wahr?«

»Wahrhaftig, Mr. Sinclair, das ist er.«

»Ich frage mich, ob er seinen Vater je kennen lernen wird.«

Annas gute Laune war schlagartig verflogen. Lachlans Erwähnung seines vor dem Gesetz geflüchteten Sohnes – der sich in Lebensgefahr begeben würde, wenn er heimkehrte – kam für sie völlig unerwartet. Der Verwalter erwähnte Matt nur äußerst selten. Sogar Aileen hatte aufgehört, sich die Augen auszuheulen beim Gedanken an ihren Sohn, der Schottland für immer verlassen hatte und irgendwo in England im Exil lebte.

»Nun ... vielleicht«, erwiderte Anna lahm.

»Es wäre so schön, wenn wir alle wieder vereint wären«, seufzte Mr. Sinclair.

»Ja«, stimmte Anna ihm diplomatisch zu. »Ja, das wäre es.«

Gott sei Dank mischte sich Robbie ein, der einen Protestlaut ausstieß, mit dem er deutlich machte, dass er die gesamte Aufmerksamkeit des Großvaters für sich allein beanspruchte. Mr. Sinclair gab sein Wunschdenken auf und rannte bockend wie ein Vollblutpferd davon, um seinem Enkel die Kühe aus der Nähe zu zeigen.

Anna folgte ihm nicht.

Mit einem leisen Lächeln auf den Lippen blickte sie den beiden nach, streckte die Arme über den Kopf und atmete tief die von der Sonne gewärmte mildere Luft ein. Sie roch das Tauwetter und vielleicht sogar den ersten Hauch des Frühlings, der sich nach dem endlosen tristen Winter endlich regte. Dann wandte sie den Kopf und sah es.

Das Ding war schwarz und glänzend wie ein Sarg aus Ebenholz, ein Bild, das sofort vor Annas geistigem Auge aufstieg, als ihr Blick über die Hecken hinweg, die die tiefer liegende Straße vom Feld trennten, auf den Gegenstand fiel. Er wirkte schrecklich fehl am Platz an diesem strahlend weißen Morgen. Die Bedrohung, die von dem Ding ausging, und der Umstand, dass sie weder wusste, worum es sich handelte, noch was es zu bedeuten hatte, ließen sie aufschreien und sich ducken, als wolle sie sich verstecken.

Sinclair war ebenfalls etwa fünfzig Meter entfernt stehen geblieben, auf halbem Weg zwischen dem Ding und Anna. Auch er war sichtlich verblüfft vom unerwarteten Auftauchen der Kutsche. Er drückte Robbie an die Brust und legte beide Arme schützend um den kleinen Jungen.

Weder der Verwalter noch seine Schwiegertochter hatten die Kutsche kommen hören, und die Pferde, so groß und elegant sie auch sein mochten, wurden von der Hecke verdeckt. Nur das glänzende schwarze Verdeck des Cabriolets ragte über die Dornensträucher hinaus. Das einzigartige Gefährt im französischen Stil wirkte so deplatziert, dass Anna, auch als sie es erkannte, ihren Augen nicht traute. Dann hörte sie das Klirren des Pferdegeschirrs, das Wiehern eines der Pferde und sah schließlich auch eine vertraute Gestalt: Tom Tolland, James Simpson Moodies Butler sowie seit etwa sechs Monaten auch sein Aufpasser und Pfleger.

Anna ging über den unebenen Boden bis zu ihrem Schwiegervater, der Tolland ebenfalls erkannt hatte, es aber offensichtlich nicht eilig hatte, den Butler zu begrüßen, obwohl die beiden Männer sich schon viele Jahre kannten.

»Was ... was kann er von uns wollen?«, fragte Anna leise.

»Vielleicht bringt er Neuigkeiten von Matt.«

»Von Matt?« Anna hielt es für wahrscheinlicher, dass es sich um Nachrichten von Elspeth handelte.

Nachdem James Moodies Geschichte, seine Frau würde für eine Weile bei seiner Schwester wohnen, sich als Lüge entpuppt hatte, war in Balnesmoor viel spekuliert worden. Manche behaupteten, Elspeth hätte sich auf die Suche nach Matt Sinclair gemacht, eine Theorie, an die Anna keine Sekunde geglaubt hatte, wusste sie doch, dass Elspeth ihre kindische Verliebtheit in Matt schon vor Jahren überwunden hatte.

Anna konnte nicht begreifen, warum Elspeth aus Moss House davongelaufen war, wo sie alles gehabt hatte, was das Frauenherz begehrte: Dienstboten, schöne Kleider, Kutschen und die Zuneigung eines wohlhabenden Ehemannes. Und doch hatte Elspeth ihrem Mann und Balnesmoor den Rücken gekehrt und war ohne ein Wort des Abschieds auf und davon. Moodie war fast verrückt geworden vor Trauer über den Verlust seiner geliebten Frau und seiner kleinen Tochter. Die Liebe hatte den grimmigen, resoluten, pragmatischen Moodie in einen Mitleid erregenden Idioten verwandelt. Schwer zu glauben, aber wahr, wie der Klatsch im ganzen Bezirk bestätigte.

Und jetzt tauchte das Cabriolet, das seit dem Herbst nirgendwo mehr gesichtet worden war, auf der Straße unterhalb von Strachan auf, und Tom Tolland stieg in seinem abgetragenen schwarzen Anzug und dem altmodischen Hut aus dem Wagen. Das konnte nur bedeuten, dass sich etwas Bedeutungsvolles ereignet hatte, wovon Tolland sie in Kenntnis setzen wollte. Es war nur natürlich, dass Anna an ihre Schwester dachte und Mr. Sinclair an seinen verlorenen Sohn – und beide fürchteten sich vor den Neuigkeiten.

»Sinclair, erkennen Sie mich denn nicht?«, rief Tolland, nahm den Hut ab und schwenkte ihn über dem Kopf.

»Doch, natürlich, Tom Tolland. Was führt Sie her?«

Tolland hüpfte jenseits der Hecke auf und ab und rief: »Wie komme ich durch die verfluchte Hecke?«

Sinclair und Anna blieben wie angewurzelt in der Mitte der Weide stehen, derweil die von der fremden Stimme erschreckten Rinder in einem unordentlichen Haufen ans andere Ende der Wiese galoppierten, wo sie sich sammelten und umdrehten, als wollten sie sich einem unsichtbaren Feind stellen.

»Folgen Sie der Hecke ein Stück weit, dann kommen Sie an ein Tor.«

Während Tolland auf der Suche nach besagtem Tor die Straße hinunterging, gab Mr. Sinclair das Baby an seine Schwiegertochter zurück und schickte diese zum Haus zurück.

»Nein, ich werde nicht gehen«, widersprach Anna.

»Das hier geht dich nichts an, Anna.«

»Woher wollen Sie das wissen?«

Tolland hatte das Tor gefunden und stieg vorsichtig hinüber, den Hut weit in den Nacken geschoben.

Mr. Sinclair runzelte die Stirn.

»Vielleicht ist es ... nur ein Höflichkeitsbesuch.«

»Dann kann es ja erst recht nicht schaden, wenn ich dableibe.«

Robbie war in seinem Tragetuch verstummt. Fast schien es, als würde er dem Wortgefecht lauschen und hätte beschlossen, sich rauszuhalten.

»Los, Mann, helfen Sie mir mal«, rief Tolland.

Lachlan Sinclair, ein für gewöhnlich ausgesprochen höflicher, zuvorkommender Mann, eilte los, um den fülligen Butler zu befreien, der sich in der Dornenhecke verfangen hatte.

Anna folgte. Jetzt konnte sie durch die Hecke Kutsche und Pferde sehen und erkannte, dass noch jemand darin saß. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, war aber nicht groß genug und musste sich gedulden, bis Tolland und der Verwalter zu ihr herüberkamen.

Tolland war sichtlich gealtert. Er trug unter dem Hut keine Perücke, und das schüttere Haar war schneeweiß. Obwohl er immer noch recht beleibt war, waren seine Züge erschlafft und die Haut hing wie heller Teig von den Knochen. Dunkle Ringe um die Augen ließen darauf schließen, dass er in diesem Winter nicht viel Schlaf bekommen hatte.

»Was wollen Sie hier, Mr. Tolland?«, fragte Anna ungeduldig.

Der Butler antwortete nicht. Er hatte Anna Sinclair nie gemocht. Für ihn war sie immer ein ungestümes dunkelhaariges Flittchen gewesen, ein unpassender Umgang für die einstige Herrin von Moss House.

Leise und traurig sagte Mr. Sinclair: »Es geht nicht um Matt, Anna.«

Anna atmete erleichtert aus, stellte dem Besucher aus Balnesmoor jedoch keine weitere Frage. Allerdings verriet dessen Haltung, dass er Fragen an sie hatte.

Ohne Zeit damit zu verschwenden, sich höflich nach der Gesundheit des Nachwuchses zu erkundigen oder auch nur einen Blick auf den Säugling zu werfen, fragte Tolland: »Haben Sie etwas von ihr gehört?«

»Wenn Sie meine Schwester meinen, nein, nichts.«

»Und von Ihrem Mann?«

»Der würde es nicht wagen, auch nur einen Brief zu schicken, den die Königstreuen finden könnten«, entgegnete sie.

»Warum fragen Sie danach, Tom?«, wollte Sinclair wissen.

»Weil es mir aufgetragen wurde.«

»Von ihrem Dienstherrn?«

»Ja.«

»Ist er wieder bei Sinnen?«, fragte der Verwalter.

»Er wird nie wieder der Alte sein.«

»Aber ist er noch so ... so verzweifelt, wie er es war?«, erkundigte sich Anna.

Als sie James Simpson Moodie das letzte Mal gesehen hatte, war er wie ein Irrer die Straße entlanggelaufen und hatte über die kahlen Felder hinweg nach Elspeth gerufen und sie angefleht, zu ihm zurückzukommen. Ihr Verschwinden sowie vermutlich auch die Ereignisse um die Morde auf dem Gelände von Moodies Weberei in Kennart hatten ihm den Verstand geraubt. Seit damals hatte sie nur sehr vereinzelt Neues aus den Herrenhäusern in Balnesmoor und Ottershaw gehört (wenngleich sie sich selbstverständlich weit mehr für den Gutsherrn interessierte als für den Weber), da Sandy immer mal wieder ins Dorf kam, wenn Mr. Gilbert einen Fahrer brauchte. Aber James Moodie hatte sich völlig zurückgezogen und Monate nicht mehr in der Fabrik oder im Ort blicken lassen.

»Nein, es geht ihm besser«, erwiderte Tolland knapp.

Es war allseits bekannt, dass die meisten Dienstboten Moss House verlassen hatten. Kerr war ebenso fort wie Betty. Sogar die Köchin hatte bei Mr. Eshner im Pfarrhaus eine neue Anstellung gefunden. Nur Tolland war geblieben, loyal auch in schlechten Zeiten – und was Tolland wusste, das behielt er für sich.

»Wie viel besser geht es ihm?«, hakte Anna nach.

Mr. Sinclair mochte sie vorlaut schimpfen, aber das war ihr gleich. Sie konnte einfach nicht vergessen, wie herablassend Tolland ihr gegenüber gewesen war, als Elspeth noch seine Herrin war und sie selbst nichts als ein einfaches Milchmädchen auf Ottershaw. Jetzt, da die Autorität James Moodies unterminiert war, jetzt, da sie die Mutter eines Bontine war, fühlte sie sich Tolland ebenbürtig.

»Sprechen Sie, Tolland. Was unter uns gesprochen wird, bleibt auch unter uns, das verspreche ich Ihnen.«

»Er hat erfahren, dass sie sich in Stirling aufhält.«

»Stirling!«, rief Anna aus. »Was macht sie denn da, ich meine, so nah?«

»Offenbar hat sie eine Anstellung als Bleicherin gefunden.«

»Ich hätte sie für klüger gehalten«, bemerkte Anna kopfschüttelnd.

»Mr. Moodie hat Handzettel mit der Bitte um Hinweise auf ihren Verbleib austeilen lassen«, erklärte Tolland. »Das ist der Erfolg dieser Aktion.«

»Das war doch sicher Ihre Idee, Tom, habe ich Recht?«

»Und wenn? Wir haben viel Geld an Betrüger bezahlt, aber auch an ein paar ehrliche Menschen, die uns zutreffende Informationen geliefert haben.«

»Wir haben von alledem nichts geahnt. Warum haben Sie uns nicht informiert?«

»Warum sollte ich?«, knurrte Tolland schroff.

»Weil ich ihre Schwester bin, ihre einzige Verwandte, abgesehen von ihrer Tochter natürlich.«

Der verächtliche Zug um Tollands Mund verriet ihr, dass sich für ihn nichts geändert hatte. Der hochmütige Butler stufte sie immer noch niedriger ein als ihre Schwester. Das schmerzte. Aber was kümmerte es sie, wo Elspeth steckte? Sie, Anna, war die letzte Person auf der Welt, an die Elspeth sich in der Not wenden würde.

»Ich bin auf Wunsch meines Herrn hier. Ich möchte Sie nicht in die Sache hineinziehen, Mistress Cochran.«

»Sinclair. Mein Name ist Sinclair.«

»Ja, ja, wie immer Sie heißen mögen ...«

Lachlan Sinclair mischte sich ein. »Aber, aber Tom, seien Sie nicht so feindselig dem Mädchen gegenüber. Sie hat ihren Mann und ihre Schwester verloren.«

Tolland schnaubte, legte mit einiger Mühe den verächtlichen Ausdruck auf seinem Gesicht ab und fuhr fort. »Da die Mistress nicht weit weg ist, nachdem sie in Glasgow und auch in Stirling gesehen wurde, glaubt Mr. Moodie nun, dass jemand sie von hier fern hält.«

»Sie fern hält? Wer?«

»Ihr Sohn.«

Sinclair blähte die Nasenflügel. Einen Moment glaubte Anna, er würde die Beherrschung verlieren und den Butler davonjagen.

»Mein Sohn wird wegen eines Verbrechens, das er angeblich begangen hat und auf das die Todesstrafe steht, von der Polizei gesucht«, sagte Sinclair mit dünner Stimme. »Richten Sie Ihrem Dienstherrn aus, dass mein Matt nicht so dämlich ist, sich wegen eines Weiberrocks in Glasgow oder Stirling rumzutreiben. Nein, die beiden sind nicht zusammen.«

»Sind Sie da ganz sicher? Haben Sie das gehört?«

»Zum Teufel mit Ihnen, Tom Tolland, Sie wissen sehr gut, dass ich nichts von Matt gehört habe. Er ist über alle Berge. Etwas anderes wäre schlicht undenkbar.«

Tom Tolland trat näher und sagte beinahe entschuldigend: »Das ist nicht auf meinem Mist gewachsen, Lachlan. Das sind Mr. Moodies Hirngespinste. Er ist geistig nicht mehr ganz zurechnungsfähig. Er hat sich in den Kopf gesetzt, dass Matt und seine Frau zusammen untergetaucht sind.«

»Das ist wahrhaftig verrückt.«

»Da stimme ich Ihnen zu. Aber es ist eine zumindest rationale Art des Wahns. Immer noch besser als der Irrsinn der Herbstmonate, da ich fürchten musste, er würde sich etwas antun. Wenigstens hat er jetzt wieder Hoffnung.« Der Butler legte dem Verwalter eine Hand auf den Arm. »Aber unter uns, Lachlan. Wenn die Herrin nicht bald zurückkommt, wird ihn das umbringen. Das ist für mich so sicher wie das Amen in der Kirche.«

»Steht es wirklich so schlimm um ihn, Tom?«

»Sämtliche Räume in Moss House wurden abgesperrt. Er hat mir vor Weihnachten Befehle erteilt, die ich befolgen musste. Wenn er sich in den Kopf setzt, mich zu entlassen, bleibt er ganz allein zurück. Verstehen Sie?«

Sinclair nickte mitfühlend.

Tolland fuhr fort. »Er hat sich ganz in das Arbeitszimmer hinter der Treppe verkrochen. Er verbringt Tage und Nächte dort. Er schläft auf einer Pritsche, die ich nicht einmal einem Stallburschen zumuten würde. Auch essen tut er dort, wenngleich das, was er zu sich nimmt, gerade mal reicht, einen Spatz am Leben zu halten.«

»Und trinkt dazu Brandy, wette ich.«

»Ja, in rauen Mengen«, gab Tolland zu. »Ich habe versucht, ihn zu überreden, den Doktor kommen zu lassen, aber er will nichts davon wissen. Andererseits, was sollte so ein Knochenbrecher schon nützen? Es ist ja offensichtlich, dass sein Gebrechen geistiger Natur ist.«

»Und das lässt sich nicht beheben?«

»Wie heilt man ein gebrochenes Herz?«, fragte Tolland.

Anna meldete sich wieder zu Wort. »Was hat das alles mit uns zu tun, Mr. Tolland? Wir können Weber Moodie ebenso wenig helfen wie Sie.«

»Haben Sie wirklich keine Ahnung, wo sie sich aufhalten könnte?«

»Nein. Sie hat niemanden, bei dem sie unterkommen könnte.«

»Was ist mit Coll Cochrans Kindern aus erster Ehe?«

»Elspeth hat sie nie kennen gelernt. Ich bezweifle, dass sie überhaupt von deren Existenz weiß.«

»Was ist mit der Fabrik, Tom?«, erkundigte sich Sinclair.

»Das Geschäft läuft. Mr. Rudge und Scarf kümmern sich um alles. Und sie leiten auch die Geschäfte einiger anderer Betriebe von Mr. Moodie. Ich war so frei, das zu veranlassen.«

»Sind Sie über den tatsächlichen Stand der Dinge im Bilde?«

»Vor Rudge kann man nichts geheim halten«, erwiderte Tolland. »Ihm geht es um seinen Posten und somit um sein Einkommen. Scarf ebenfalls. Aber Hauptsache ist, dass sie ihre Sache gut machen.«

»Und die Schafe? Die Cheviots?«

»Die Macfarlanes versorgen sie bestens.«

»Trotzdem ... Wie lange kann das noch gut gehen?«

Tolland zuckte die Achseln. »Bis Elspeth zurückkehrt.«

»Und wenn sie niemals zurückkommt?«

»Dann bis zu Mr. Moodies Tod.«

Es war Anna, die die Frage aufwarf, und die Worte waren heraus, ehe ihr der Gedanke überhaupt richtig bewusst wurde: »Und wer erbt nach dem Tod des Webers sein Vermögen?«

»Seine Schwestern, nehme ich an«, sagte Tolland.

»Nicht Elspeth?«

»Nicht, wenn sie nicht auffindbar ist«, erklärte der Butler.

Peinlich berührt von der Richtung, die das Gespräch genommen hatte, sowie von seinen Implikationen, nahm Sinclair den Butler beim Arm und führte ihn zurück zum Tor. »Wenn Sie nur deswegen den weiten Weg von Balnesmoor bis hierher gekommen sind, Tom, war die Mühe vergebens. Möchten Sie vielleicht eine Erfrischung zu sich nehmen, bevor Sie zurückfahren?«

»Er sitzt in der Kutsche«, entgegnete Tolland.

Sinclair warf einen Blick auf das Cabriolet. »Tatsächlich? Er hat sich nicht bemerkbar gemacht.«

»Das wird er auch nicht.«

»Kann er nicht mehr sprechen?«

»Er schämt sich. Ich denke, dass die Scham ihn hat verstummen lassen.«

Die Männer schlenderten außer Hörweite. Anna folgte ihnen nicht. Sie hatte genug gehört. Ihre Gedanken überschlugen sich.

Robbie fing an zu jammern, aber ausnahmsweise einmal war Anna etwas wichtiger, als ihr Kind zufrieden zu stellen. Geistesabwesend gab sie beruhigende Laute von sich, verknotete die Enden des Tragetuchs über der Schulter und setzte sich das Baby wieder seitlich auf die Hüfte. Dann machte sie kehrt und ging die ansteigende Weide hinauf auf die Rinder zu, bis sie sich so weit von der Hecke entfernt hatte, dass sie darüber hinwegsehen konnte. Jetzt konnte sie auch den Weber sehen. Er saß gebeugt hinten in der Kutsche, ausgemergelt, unrasiert und so ungepflegt und zerlumpt wie ein alter Straßenhändler. Er schien sie nicht zu bemerken. Er hielt den Kopf gesenkt und die Hände auf dem Schoß gefaltet, als würde er beten, als würde er Gott um das Wunder anflehen, dass Elspeth vor ihm auftauchen möge, voller Liebe und Vergebung.

Sinclair und Tolland standen immer noch plaudernd neben dem Tor. Anna beobachtete sie leicht beunruhigt. Unterhielten Sie sich über Geld? Spekulierten sie darüber, was geschehen würde, wenn der Weber ohne notariell beglaubigtes Testament verstarb? Anna verstand nicht viel von Wertpapieren, aber sie sah die Fabrik in Kennart vor sich, das Herrenhaus Moss House und als Tochter einer Viehtreiberin das wohlgenährte Vieh auf den dreihundert Morgen Hügelland westlich des Dyers’ Dyke.

Land, Immobilien, Vieh: James Moodie war beinahe so reich wie Randall Bontine. Wenn er starb, bevor seine Geschäfte durch Unterschlagungen und Vernachlässigung ruiniert waren, würde ein Riesenvermögen an den Erben fallen. Wenn er starb, bevor Elspeth ausfindig gemacht war, wäre alles weg, dann würden die Schwestern, die Balnesmoor und ihrem Bruder schon vor vielen Jahren den Rücken gekehrt hatten, alles bekommen.

Die Aussicht auf eine solche Ungerechtigkeit weckte Annas Gier. Ihre Fantastereien erschienen ihr plötzlich nur rechtens, und sie redete sich ein, dass es ihr allein um Elspeth’ Wohl ging. Irgendwie musste sie ihre Schwester finden und überreden, zurückzukehren, um ihr Erbe anzutreten. Dann würde sie bestimmt aus Familiensinn und Dankbarkeit Anna aus dem Dienstbotendasein befreien und ihren Sohn in den Stand eines Gutsherrn von Ottershaw erheben.

Während sie mit Robbie auf der Hüfte zum Haus zurückkehrte, ging ihr durch den Kopf, dass ihre Schwester gefunden werden musste, egal wie.

An diesem Märzmorgen war Elspeth’ Verlust auch zu Annas Verlust geworden.

Das Werben begann innerhalb einer Woche nach Elspeth’ Ankunft in Jock Bennets bescheidenem Häuschen.

Das Haus der Bennets stand abseits von den schäbigen Unterkünften der Saisonarbeiter aus Holz und Segeltuch und den Steinbehausungen der anderen Grubenarbeiter. Zum Haus gehörte etwas Grund auf der Westseite des Rutherford, einem zwei Meter breiten Überlaufgraben, der dem Dorf als Abwasserkanal diente. Früher einmal hatte das Haus einem Vorarbeiter gehört, und Jock Bennet erzählte, dass er sich glücklich schätze, es ergattert zu haben. Mr. Hector Fotheringham, der Eigentümer des Grund und Bodens von Placket, hatte die Häuser vor einigen Jahren erworben, als die Preston-Island-Zeche dichtgemacht hatte.

Ungeachtet der Hausgröße und der Anzahl der Bewohner betrug die Miete einen Shilling die Woche. Die Summe wurde alle zwei Wochen von Snippets Smith kassiert, dem Zahlmeister von Abbeyfield. Das war jedoch das einzige Geld, das die Arbeiter zahlen mussten, da der Verwalter der Zeche, Mr. Keir Bolderon, gegen jede Form des Tauschhandels war und die Philosophie vertrat, dass ein Mann in die Hand bekommen sollte, was er auf Knien verdient hatte.

Jock Bennet erwähnte Elspeth gegenüber mehrfach, dass die Gehälter in der Abbeyfield-Zeche die höchsten im ganzen Königreich wären, zumindest für Schrämhauer, die nirgendwo sonst so gutes Geld verdienten. Diese Predigten über den Lohn harter Arbeit gehörten zu Jock Bennets Werbung um die hübsche Fremde, die ihm unter Tage zuarbeiten sollte, obgleich Elspeth seine Absichten erst durchschaute, als seine Bemühungen bereits Früchte trugen.

Anfangs war es für Elspeth nicht leicht, auf so engem Raum unter Menschen zu leben, die ihr völlig fremd waren. Das Cottage war nicht kleiner als der Schafunterstand auf dem Nettleburn, in dem sie geboren und aufgewachsen war, aber die Bennet-Kinder waren lebhaft und streitsüchtig, und es herrschte überhaupt ein ziemliches Durcheinander, das das Haus zuweilen noch viel enger erscheinen ließ.

Elspeth und Mary Jean wurde eine eigene Ecke zugewiesen. Ein Segeltuchvorhang an einem Seil, das von einer Wand zur anderen gespannt war, verschaffte ihr zumindest ein Minimum an Privatsphäre. Elspeth schlief auf dem Boden und Mary Jean in einem Holzbettchen, in dem schon sämtliche Bennet-Kinder vor ihr geschlafen hatten. Die Bennets bewahrten ihre Kleidung an Haken auf, und Elspeth beschloss, sobald wie möglich eine Kiste zu kaufen, in der sie ihre eigene Habe verstauen konnte, wobei es zurzeit gar keine Habe zu verstauen gab. Der diebische Fuhrmann hatte ihr alles gestohlen, und sie und Mary Jean besaßen nichts als die Kleider, die sie am Leib trugen.

Jock Bennet erwies sich als Ehrenmann, der zu seinem Wort stand. Er ernährte Elspeth und ihr Kind, gab ihnen Obdach und einen Platz an seinem Feuer. Aber er zahlte ihr keinen Penny, da eine Bezahlung nicht vereinbart worden war. Sarah war so lieb, etwas weichen Stoff herauszusuchen, den Elspeth auskochte und aus dem sie Windeln nähte, aber hiervon einmal abgesehen wurde ihr nichts geschenkt, das ihr das Leben erleichtert hätte. In ihrer Verzweiflung hatte Elspeth nicht bedacht, dass sie, wenn sie auch Obdach hatte und nicht Hunger leiden musste, ohne jegliches Einkommen, wie gering dieses auch sein mochte, endgültig in Armut und Abhängigkeit verfallen würde.

Und so empfand Elspeth – die nicht zynisch genug war, um Jock Bennets Motive zu durchschauen – es als zusätzliche Demütigung, dass der Grubenarbeiter seinem Sohn und seinen Töchtern jeden zweiten Sonntag einen Lohn auszahlte, eine Zeremonie, die regelrecht zelebriert wurde. Die Kinder ließen sich nicht anmerken, dass es sich um ein neues Ritual handelte. Elspeth war gezwungen zuzusehen und neidete den Kindern ihre Shillinge, auch wenn sie sich dafür schämte.

Jock Bennet schüttete aus seiner Lederbörse, die er aus der Hosentasche kramte, einen Haufen Silbermünzen und verkündete stolz, dass er und Mousie das Geld in zehn Schichten unter Tage den Eingeweiden der Erde entrissen hatten.

»Zweiundfünfzig Shillinge«, erklärte er und fuhr mit den Fingern durch die Münzen. Die Kinder beugten sich auf ihren Stühlen erwartungsvoll vor wie hungrige Waisen, die auf das Abendessen warteten. »Und dazu Davys zwölf. Erstaunlich, was da zusammenkommt, was? Vierundsechzig Shillinge.«

Elspeth tat so, als ließe der Anblick des Geldes auf dem Tisch sie kalt, aber sie konnte den Blick nicht davon abwenden und verwandelte die Münzen in Gedanken in warmes Schuhwerk und in ein neues Kleidchen für Mary Jean, eine kleine Spitzenhaube und neue Höschen, die die fleckigen kratzigen Dinger ersetzen sollten, die die Kleine jetzt trug.

»Zwei Shillinge für dich, Davy.«

»Danke, Dad.«

»Vier für Mousie.«

»Ich kaufe mir Bänder und einen Pie«, verkündete Mousie zufrieden. »Und den Rest spare ich für schlechte Zeiten.«

»Und für meine kleine Sarah einen Shilling, den sie ausgeben darf, wofür sie möchte.«

Die Vorstellung war so gelungen, als wäre sie vorab sorgfältig geprobt worden.

Elspeth sah mit eigenen Augen, wohin das Geld ging. Es wurmte sie, dass Mousie so sinnlose Dinge kaufte wie wertlosen Schmuck und billigen Tand, während Davy unerhörter Völlerei anheim fiel und in Nicols Laden eine ganze Tüte voller Süßigkeiten und klebriger Teilchen kaufte, die er dann in einem Rutsch in sich hineinstopfte.

Natürlich bekam auch Elspeth Geld. Jack drückte ihr große harte Silbermünzen in die Hand, klopfte ihr auf die Schulter und meinte, sie solle kaufen, worauf immer sie Appetit habe, um sie jedoch gleich darauf zu ermahnen, überlegt einzukaufen – und ihm das Wechselgeld auszuhändigen.

Bei den Einkäufen in Mr. Nicols Laden in Placket war Elspeth versucht, ein oder zwei Penny vom Haushaltsgeld für sich abzuzwacken, widerstand jedoch. Sie fürchtete, dass Mr. Bennets scheinbares Vertrauen nur dazu diente, ihre Ehrlichkeit auf die Probe zu stellen, und er sie sofort auf die Straße setzen würde, wenn sie der Versuchung erlag.

Die einzigen Krumen, die vom reich gedeckten Tisch der Bennets abfielen, galten Mary Jean. Sarah gab dem kleinen Mädchen die ganz Woche etwas von ihren Süßigkeiten ab und schien diese Geste sogar in ihr Budget einzuplanen. Elspeth ihrerseits bekam nichts, was an den Fingern klebte, nichts, das sie heimlich sparen konnte, um fadenscheinige Kleidung zu ersetzen oder eine neue »Reisekasse« anzulegen.