Die Träume des Windes - Jessica Stirling - E-Book

Die Träume des Windes E-Book

Jessica Stirling

0,0
4,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Packender Schottlandroman um eine junge Frau, die endlich ihr Glück findet

Glasgow, Anfang des 20. Jahrhunderts: Die wohlhabende Familie Franklin führt eine erfolgreiche Schiffswerft, doch hinter der respektablen Fassade drohen private Probleme den Frieden zu stören. Die junge Maeve McCulloch, eine entfernte Verwandte, trifft aus Irland ein. Sie wurde von ihren Eltern nach Schottland geschickt, damit die 15-Jährige eine verbotene Liebe vergisst und sich einen anständigen Job sucht. Doch die rebellische Maeve bringt zunächst viel Trubel in die reiche, schottische Familie - und dann drohen auch noch finanzielle Probleme durch die Wirtschaftskrise: Das Militär zieht seine Aufträge zurück und die Werft steht vor der Schließung ...

Dieser Liebesroman ist in einer früheren Ausgabe unter dem Titel "Schottische Träume" erschienen.

Weitere historische Familiensaga-Reihen von Jessica Stirling:

Die Patterson-Schwestern aus Balnesmoor, Band 1: Sturm über Schottland.

Die Highland-Schwestern, Band 1: Die Frauen von der Insel.

eBooks von beHEARTBEAT - Herzklopfen garantiert.


Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2019

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Cover

Weitere Titel der Autorin

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

TEIL I

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

TEIL II

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

TEIL III

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Weitere Titel der Autorin

Die McCulloch-Trilogie

Band 1: Die Melodie der Wellen

Band 2: Die Stürme des Himmels

Die Patterson-Schwestern

Band 1: Sturm über Schottland

Band 2: Die Schwestern aus Balnesmoor

Band 3: Die Früchte der Erde

Die Highland-Schwestern

Band 1: Die Frauen von der Insel

Band 2: Im Schatten der Stürme

Band 3: Die Insel der Zuversicht

Über dieses Buch

Packender Schottlandroman um eine junge Frau, die endlich ihr Glück findet

Glasgow, Anfang des 20. Jahrhunderts: Die wohlhabende Familie Franklin führt eine erfolgreiche Schiffswerft, doch hinter der respektablen Fassade drohen private Probleme den Frieden zu stören. Die junge Maeve McCulloch, eine entfernte Verwandte, trifft aus Irland ein. Sie wurde von ihren Eltern nach Schottland geschickt, damit die 15-Jährige eine verbotene Liebe vergisst und sich einen anständigen Job sucht. Doch die rebellische Maeve bringt zunächst viel Trubel in die reiche, schottische Familie – und dann drohen auch noch finanzielle Probleme durch die Wirtschaftskrise: Das Militär zieht seine Aufträge zurück und die Werft steht vor der Schließung …

Dieser Liebesroman ist in einer früheren Ausgabe unter dem Titel »Schottische Träume« erschienen.

Über die Autorin

Jessica Stirling ist ein Pseudonym, unter dem Hugh Crauford Rae (1935-2014) erfolgreich Liebesgeschichten und historische Familiensagas veröffentlicht hat. In Glasgow geboren, arbeitete Rae nach der Schule vierzehn Jahre lang in einer Buchhandlung, bevor er sich auf das Schreiben konzentrierte. Als Jessica Stirling hat Rae zunächst zusammen mit der befreundeten Autorin Peggy Coghlan gearbeitet. Nach einigen Jahren zog sich Coghlan altersbedingt zurück, und Rae schrieb fortan mit Coghlans Zustimmung allein unter dem Pseudonym Jessica Stirling weiter. Er war Präsident der Scottish Association of Writers und hat Kurse in Kreativem Schreiben an der Universität Glasgow gegeben. Bis zu seinem Tod am 24. September 2014 hat er über siebzig Romane veröffentlicht, die meisten unter Pseudonymen.

Jessica Stirling

Die TRÄUMEdes WINDES

Familiensaga

Aus dem Englischen vonCécile Lecaux

beHEARTBEAT

Digitale Erstausgabe

»be« - Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2004 by Jessica Stirling

Titel der englischen Originalausgabe: »The Captive Heart«

Originalverlag: Hodder & Stoughton

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2009/2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Titel der deutschsprachigen Erstausgabe: „Schottische Träume“

Covergestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.deunter Verwendung von Motiven© AdobeStock: inigocia; © thinkstock: mycola; © shutterstock: Serg Zastavkin

eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-6483-5

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

TEIL I

Kapitel 1

Der Samthandschuh

Es war typisch für ihren Gatten, so zu tun, als wäre er in dem schweren Clubsessel im Klavierzimmer eingeschlafen. Lindsay wusste natürlich, dass er nicht wirklich schlief. Im Schlaf erschlafften seine Züge, sein Unterkiefer klappte herunter, und er schnarchte, wenn auch nicht besonders laut, ein kehliges, gurgelndes Geräusch. An diesem Nachmittag war er jedoch mucksmäuschenstill, die Hände hatte er ordentlich auf dem Bauch verschränkt, die Beine lang ausgestreckt und die Lippen leicht geschürzt.

Der flaumige schmale Schnauzbart, den er den ganzen Winter über gezüchtet hatte, bewegte sich keinen Millimeter, und als sie hinter dem Sessel hervorkam und vor das Fenster trat, sodass ihr Schatten auf ihn fiel, sah sie, dass seine Augäpfel unter den geschlossenen Lidern zuckten und er nicht annähernd so entspannt war, wie er sie glauben machen wollte. Schlaf vorzutäuschen war nur einer von vielen Tricks, mit denen er sich abschottete, sie aus seinem Leben ausschloss, aber nicht einmal Owen Forbes McCulloch vermochte gelassen zu bleiben angesichts des unmittelbar bevorstehenden Besuches eines Bruders, den er fünfzehn Jahre nicht mehr gesehen hatte, sowie einer jungen Dame, bei der es sich möglicherweise um seine leibliche Tochter handelte.

Lindsay stellte sich ans Fenster und blickte hinunter auf die Straße, die einmal um den Brunswick Park herumführte. Der Park war schon unter optimalen Bedingungen nicht besonders ansprechend, aber um drei Uhr an diesem verregneten Nachmittag Anfang März wirkte er besonders trist und öde.

Krokusse hatten im letzten Schnee geblüht, und nur noch einige Osterglocken, drei, vier traurige verblühte Sträußchen, trotzten nun tapfer dem Schmuddelwetter. Die Sträucher, vorwiegend Lorbeer, sahen sogar im Nieselregen vertrocknet und staubig aus, und die Ulmen weigerten sich hartnäckig, ihre ersten Frühlingsknospen sprießen zu lassen. Die Schiffswerften zu beiden Seiten des Clyde, der bunte Fries der florierenden Läden in den Einkaufsstraßen sowie die Industriestätten am Fuß der Renfrewshire-Berge waren vollständig hinter dem dichten Schleier des berühmt-berüchtigten Glasgower Regens verschwunden, der Panorama und Geräusche gleichermaßen verschluckte und die ganze Stadt scheinbar ihrer Lebendigkeit beraubte.

Als sie ihren Schwager das letzte Mal gesehen hatte, unmittelbar bevor er mit Forbes’ schwangerer Mätresse nach Dublin durchgebrannt war, hatte es auch geregnet. Sylvie Calder war damals eine mitleiderregende Kindfrau gewesen, die dringend einen Mann gebraucht hatte, der sich ihrer annahm, und genau das hatte Gowry getan. Er hatte sie geheiratet und das kleine Mädchen, das Sylvie zur Welt gebracht hatte, als sein eigenes aufgezogen. Jetzt kehrte er nach Glasgow zurück, in Begleitung ebenjenes Kindes.

»Wann legt das Schiff an?«, fragte Lindsay.

Forbes öffnete ein Auge. »Sind sie das? Sind sie schon da?«

»Nein. Ich habe gefragt, wann das Schiff …«

»Ich habe dich schon beim ersten Mal gehört.« Forbes ließ den Kopf auf das Polster zurücksinken.

»Du hättest persönlich hinfahren sollen, um sie abzuholen«, sagte Lindsay vorwurfsvoll. »Deinen Chauffeur zu schicken, um deinen eigenen Bruder abzuholen, den du fünfzehn Jahre nicht gesehen hast, geht sogar für deine Verhältnisse etwas weit.«

»Ich habe ihn nicht eingeladen«, entgegnete Forbes lapidar. »Er hat mir auch nie geschrieben. Aber du und Gowry, ihr habt euch ja immer schon blendend verstanden, und daran scheint sich bis heute nichts geändert zu haben.«

Forbes bog sich die Dinge gern so zurecht, wie es ihm gerade in den Kram passte. Er glaubte, was er glauben wollte, basta. Die Feindseligkeit hatten sie hinter sich gelassen; ihre Beziehung wurde stattdessen längst von Gleichgültigkeit bestimmt. Fünfzehn Jahre lang hatten sie zwar unter einem Dach gelebt, aber jeder mehr oder weniger für sich, derweil die Familie Franklin gute wie schlechte Zeiten durchlebt hatte. Nicht zu vergessen der Erste Weltkrieg, in dem eine halbe Million junger Männer, darunter auch ihr Vetter Johnny, für ein patriotisches Ideal ihr Leben gelassen hatten.

Lindsay fiel es manchmal selbst schwer zu glauben, dass sie bald vierzig wurde, zwei erwachsene Söhne hatte und der korpulente Mann mit dem runden Gesicht der unkonventionelle braunäugige irische Charmeur sein sollte, den sie im Frühling 1898 im Haus ihres Großvaters kennengelernt hatte. Noch unglaublicher war für sie, dass sie tatsächlich bis zum heutigen Tage mit Forbes McCulloch verheiratet war und er sie nach wie vor, und das ohne jede Ironie, als sein »geliebtes Weib«, bezeichnete.

»Ist dir noch gar nicht in den Sinn gekommen, dass dein Bruder sich bewusst diplomatisch verhalten könnte, Forbes?«

»Diplomatisch? Gowry weiß gar nicht, was das ist.« Er setzte sich auf. »Ich möchte mal wissen, was für Lügen meine Mutter ihm aufgetischt haben mag, dass er sich einbildet, er wäre dir willkommen, wo er doch weiß, dass ich keinen Wert auf ein Wiedersehen lege.«

Forbes hatte jeglichen Kontakt zu seiner Familie in Dublin abgebrochen. Über die Jahre hatte nur seine Mutter ihn bei ihren Besuchen über die Ereignisse »drüben« auf dem Laufenden gehalten, aber seit Kay McCulloch verwitwet war und sich endgültig in Glasgow niedergelassen hatte, war auch diese Nachrichtenquelle versiegt. Er zupfte an seinem Schnauzer und blickte auf seine Schuhe. Forbes war eine Stunde vor dem Mittagessen nach Hause gekommen und hatte sich umgezogen, wobei er eine Garderobe gewählt hatte, die unmissverständlich klarmachte, dass er der einzige des gesamten McCulloch-Clans war, der es zu etwas gebracht hatte. Owen Forbes McCulloch waren Anzüge aus einfachem Twill oder auch italienischem Stoff nicht gut genug, allerdings wirkten mit zunehmendem Umfang auch die Weste mit dem Seidenrevers, das zweireihige Jackett und die gestreiften Hosen gediegen und viktorianisch.

»Bist du nervös wegen des Mädchens?«

»Warum sollte es mich nervös machen, ein junges Mädchen kennenzulernen, mit dem ich nicht das Geringste zu schaffen habe?«

»Sie ist …« Lindsay überlegte es sich anders. »Sie ist Gowrys Tochter.«

»Ich bin nicht bereit, jeden irischen Habenichts aufzunehmen, der hier in Glasgow Fuß fassen möchte.«

»Aber genau das hat Pappy doch damals auch für dich getan, oder?«

»Ah, daher weht der Wind! Du meinst also, indem ich Gowrys Tochter bei uns einquartiere, kann ich einen Teil meiner alten Schuld begleichen?«

Lindsay zuckte mit den Schultern. »Blut ist dicker als Wasser, Forbes, und ein wenig Großzügigkeit deinerseits, die Bereitschaft zu vergeben …«

»Vergeben«, fiel Forbes ihr ins Wort. »Was hätte ich Gowry zu vergeben?«

»Stimmt. Vermutlich hat Gowry dir einen Gefallen getan, als er dir damals Sylvie Calder vom Hals geschafft hat.« Sie stand am Fenster und schaute hinaus in den Regen.

»Der feige Hund hat noch nicht einmal den Anstand besessen, zu Dads Beerdigung zu erscheinen.«

»Er hat einen Kranz geschickt.«

»Einen ›Kranz‹ nennst du das? Ein paar welke Blätter mit einem Stück schwarzem Krepp«, meinte Forbes abfällig. »Wenn Gowry so viel daran gelegen ist, dass seine Tochter aus Dublin fortkommt, warum wendet er sich dann an uns und nicht an Tom Calder? Hast du Calder von ihrer bevorstehenden Ankunft unterrichtet?«

»Noch nicht.«

»Warum denn nicht, um Himmels willen?«

»Ich wollte ihn damit überraschen.«

»Nein, das ist es nicht. Du fürchtest, dass der gute alte Calder nichts mit ihr zu tun haben will oder seine liebe Frau weniger zuvorkommend reagieren könnte, als du es von mir erwartest.«

»Ich erwarte gar nichts von dir«, widersprach Lindsay, »außer natürlich ein Mindestmaß an Höflichkeit. Wäre dir das möglich, nur für ein oder zwei Tage?«

Der brandneue Lanchester, der ganze Stolz ihres Gatten, tauchte jenseits der kahlen Bäume auf. Sie beobachtete, wie das Automobil in den Brunswick Crescent einbog und vor dem Haus stehen blieb. Der Fahrer öffnete die Beifahrertür, und ein Mann entstieg steif und ungelenk der Limousine. Er trug einen schmuddeligen Mantel und ein Käppi, das einmal blau gewesen sein mochte. Es dauerte einen Moment, bis Lindsay Gowry McCulloch wiedererkannte. Die Jahre, und natürlich der Krieg, hatten an ihrem Schwager deutliche Spuren hinterlassen.

Die junge Frau war groß, dunkelhaarig und hübsch. Sie trug einen taillierten Mantel mit einem Gürtel, der ihre schlanke Gestalt zusätzlich betonte, einen Plisseerock und einen weichen Filzhut anstelle einer Haube. Ihre langen Lederhandschuhe erinnerten Lindsay an jene, die Gowry getragen hatte, als er noch als Chauffeur bei den Franklins angestellt gewesen war.

Gowry hielt ihr den Arm hin, aber sie schob ihn fort. Seufzend nahm er sie bei der Schulter und drehte sie um, sodass sie mit dem Gesicht zur Tür stand. Als Miss Runciman, die Haushälterin, die Treppe hinunterhumpelte, wich das Mädchen zurück, als wollte es sich wieder im Lanchester verkriechen. Gowry legte der jungen Frau einen Arm um die Taille, und einen Moment rangen sie unten auf dem Gehweg miteinander, bis sie sich geschlagen gab. Sie stemmte die Hände in die Seiten und warf der armen Miss Runciman auf ihre zweifellos arglose Frage hin eine schnippische Antwort an den Kopf, bevor sie, dicht gefolgt von Gowry, die Treppe hinaufstieg und das Haus betrat.

»Forbes«, flötete Lindsay honigsüß, »ich glaube, sie sind da.«

Maeve war nicht gewillt, sich anmerken zu lassen, wie sehr das elegante Reihenhaus sie beeindruckte. Die Fassade war mit aufwendigen Giebeln und schmiedeeisernen Gittern verziert, und über der Haustür brannte eine elektrische Lampe. Die Haustür war aus massivem Eichenholz und mit einem schweren Messingklopfer versehen, während von der Straße aus eine zweite Treppe zu einem Untergeschoss hinabführte. Maeve erkannte Schick auf den ersten Blick, und dieses Viertel war so schick wie die Harcourt Street in Dublin, Lichtjahre entfernt von der Mietskaserne in der Endicott Street, wo Mam und sie lebten, seit britische Soldaten während des Osteraufstandes ihr »Shamrock Hotel« in die Luft gejagt hatten.

Mit blutendem Herzen hatte sie das Schiff betreten, das sie aus Irland fortgebracht hatte, und sie hatte allen Grund, Tränen des Kummers zu vergießen. Die Trennung von Turk Trotter hatte ihr jedoch nicht den Appetit verdorben, und so hatte sie sich von Daddy überreden lassen, unten im Salon eine Kleinigkeit mit ihm zu essen. Anschließend waren sie an Deck zurückgekehrt und hatten es sich zum Schlafen auf zwei Liegestühlen gemütlich gemacht. Als sie später fröstelnd wieder aufgewacht war, hatte sie ihn gedrängt, ihr ein Frühstück zu spendieren, als wäre es seine Schuld, dass sie durchgefroren und halb verhungert war; und genau genommen war dem ja auch so. Obgleich ihr Daddy früher als Fahrer bei der Flanagan’s Motoring Company angestellt gewesen und sie durchaus mit Automobilen vertraut war, war der Lanchester, den ihr Onkel geschickt hatte, um sie abzuholen, um ein Vielfaches eleganter als die Rostlauben, mit denen Turk herumkurvte, und sogar als der Hudson, mit dem Fran Hagarty und ihre Onkel umhergefahren waren, damals, als sie noch jung – und lebendig – gewesen waren.

Trotz des schicken Gefährts und des herzlichen Empfangs war Maeve immer noch gereizt, weil ihr Daddy sie überhaupt hierher nach Schottland gebracht hatte. Und sie war wütend, weil sie noch nicht alt genug war, um mit Turk durchzubrennen und die Frau eines Renegaten zu werden. Was sie dachte, ging jedoch niemanden etwas an, ganz zu schweigen von dem, was ihr auf der Seele brannte; hatte sie doch erkennen müssen, dass es schwieriger werden würde als erwartet, Turk an sich zu binden. Aber so leicht gab sie sich nicht geschlagen. O nein, sie würde nicht kampflos aufgeben!

Der Flur war sehr lang, so wie seinerzeit die Diele des »Shamrock Hotels«, wenngleich es hier nicht wie im Hotel nach Kochfisch und Desinfektionsmittel roch. Auf einem Tisch mit Marmorplatte stand ein silbernes Tablett mit einem Telefon, und an den Wänden hingen zahlreiche Fotografien verschiedener Schiffe. Maeve blickte aus zusammengekniffenen Augen das Treppenhaus hinauf, dessen Wände mit türkischrotem Axminster bespannt waren, und als sie den Kopf weit in den Nacken legte, sah sie eine wunderschöne Stuckdecke mit einem vierarmigen Lüster in der Mitte.

Am Ende des Flurs trat eine Frau aus einer Tür. Maeve spürte, dass die Haushälterin und die fremde Frau abwarteten. Offenbar sollte sie den ersten Schritt machen. Daddy nahm soeben das Gepäck vom Chauffeur entgegen und würde dem Kerl vermutlich ganze Sixpence Trinkgeld in die Hand drücken, um sich wichtig zu machen, obwohl man auf den ersten Blick erkannte, dass er zur Unterschicht gehörte. Sie holte tief Luft, zog die Handschuhe aus und reichte der Frau die Hand.

»Hallo. Ich bin Maeve McCulloch. Sie haben uns schon erwartet, glaube ich.«

»Natürlich haben wir das«, entgegnete ihre Tante.

Mit der Haushälterin stimmte etwas nicht. Sie hinkte, und die Hände waren gekrümmt wie Raubvogelklauen. Daddy und sie werden sich bestens verstehen, dachte Maeve zynisch, er mit seiner Holzhand und sie mit ihren verkrüppelten Fingern. Ihre Tante wirkte sehr souverän und elegant in ihrem mit Spitze abgesetzten blauen Seidenkleid. Sie hatte kleine, eiskalte Finger, die sich in Maeves rauer Handfläche pfirsichzart anfühlten.

»Ich bin Lindsay«, sagte die Frau freundlich. »Und es wäre mir lieber, du nennst mich beim Vornamen, als dass du mich Tante rufst.« Sie sprach mit dem gleichen Akzent wie ihre Mam, nur dass sie die Vokale stärker betonte. »Ich möchte dich als Erstes mit Miss Runciman bekannt machen, unserer Haushälterin. Sie ist die gute Seele des Hauses.«

»Miss Runciman«, grüßte Maeve schüchtern. Sie war draußen auf der Treppe unhöflich zu der alten Frau gewesen, in der Hoffnung, dass sie mit ihrem Daddy nach Dublin zurückkehren durfte, wenn sie sich schlecht benahm. »Sie fragten vorhin, ob ich eine angenehme Reise gehabt hätte. Ja, die Überfahrt war angenehm. Vielen Dank für die Nachfrage.« Ihr Vater grunzte zufrieden, und Maeve hörte sich sagen: »Das ist mein Vater, Gowry McCulloch.« Noch ehe sie den Satz beendet hatte, ging ihr auf, wie albern es war, einen Mann vorzustellen, der, wenn auch vor langer Zeit, für die Franklins gearbeitet hatte und als Bruder des Hausherrn in diesem Haus ein und aus gegangen war.

»Schön, dich wiederzusehen, Gowry«, bemerkte Tante Lindsay.

»Das, was von mir übrig ist, meinst du wohl.«

»Ich muss gestehen, dass du etwas angeschlagen aussiehst.«

»Im Gegensatz zu mir hast du dich überhaupt nicht verändert«, erwiderte ihr Vater anerkennend. »Wo sind die Jungs?«

»In der Schule.«

»Internat?«

»Nein, nein, auf der Academy. Sie werden bald heimkommen.«

»Und er? Der Herr des Hauses, meine ich?«

Tante Lindsay nickte in Richtung einer Tür am anderen Ende des Flures. »Da drin.«

»Sauer?«

»Ich denke, er tut vor allem so«, entgegnete Lindsay.

»Das hatte ich befürchtet«, entgegnete ihr Daddy, und gemeinsam folgten sie der Hausherrin den Gang hinunter in ein luftiges, helles Zimmer.

Forbes McCulloch stand am Kamin, und es hatte tatsächlich den Anschein, als posierte er. Wäre Maeve nicht so nervös gewesen, hätte sie vielleicht gelacht. Ein Fuß ruhte auf dem Messinggitter vor dem Kamin, ein Ellbogen auf dem Sims, das Kinn war leicht angehoben, damit sein Profil besser zur Geltung kam. Ein Profil, das durchaus attraktiv hätte wirken mögen bei einem Matinee-Star wie Richard Barthelmess oder Clive Brook. Ihr Onkel taugte jedoch nicht zum Idol, dafür war er schlicht zu klein, nicht distinguiert genug und vor allem zu füllig um die Mitte. Trotzdem hätte er die Rolle des feinen Herrn vielleicht glaubhaft verkörpern können, wäre da nicht der lächerliche bleistiftdünne Oberlippenbart gewesen.

»Gowry.«

»Forbes.«

Die Stimme ihres Onkels war so trocken und hart wie ein Schiffszwieback.

»Gute Überfahrt gehabt?«

»Geht so.«

»Ihr seid mit der Morgenflut eingelaufen, ja?«

»Ja, wir haben eine Weile vor Greenock vor Anker gelegen.«

»Das tun alle. Der Lotse ist nie pünktlich. Welche Linie?«

»Burns Laird.«

»Hattet ihr eine Kabine?«

»Zu teuer.«

»Wie viel?«

»Fünfunddreißig Schilling.«

»Ich nehme immer eine Kabine«, entgegnete Onkel Forbes überheblich. »Drink?«

Schon der Name ihres Onkels Forbes war daheim tabu. In Dublin war er der »Große Unaussprechliche«. Jedes Mal, wenn sie ihre Mam nach ihm gefragt hatte, hatte die das Thema gewechselt. Nur Großmutter McCulloch war großzügig gewesen mit Informationen. Allerdings war Forbes so offensichtlich ihr Augapfel, dass alles, was sie sagte, mit Vorsicht zu genießen war.

»Was hast du denn anzubieten?«, fragte ihr Vater.

»Whisky, Gin … Sherry.«

»Ich glaube, ich nehme lieber einen Tee.«

»Was ist mit der Kleinen? Was möchte sie haben?«, erkundigte sich Onkel Forbes.

»Sie trinkt ebenfalls einen Tee, vielen Dank«, hörte Maeve sich antworten.

Zum ersten Mal schaute er sie direkt an, offenbar überrascht, dass sie eine Sprache sprach, die er verstand. »Bist du Maeve?«

»Bei unserer Abreise aus Dublin war ich es jedenfalls noch«, erwiderte sie schnippisch.

»Ich habe dich mir anders vorgestellt.«

»Wie denn? Als Ungeheuer mit zwei Köpfen?«

Bis vor Kurzem hatte sie in einem Umfeld gelebt, in dem die Grenze zwischen Direktheit und Frechheit nicht klar definiert war. Sie sprach mit ihrem Onkel so, wie sie mit Turk oder Breen Trotter, mit Pauline, Breens Frau, oder jedem anderen in Wexford oder im Hinterzimmer von McKinstry’s gesprochen hätte.

»Ich dachte, du würdest ihr ähnlicher sehen …«

Maeve war zynisch, aber doch nicht grausam, sodass sie die ersten Worte, die ihr hierauf in den Sinn kamen, für sich behielt: »Meiner Mutter?«

»Maeve«, meldete sich Tante Lindsay wieder zu Wort. »Möchtest du vielleicht jetzt dein Zimmer sehen?«

Sie fühlte die Hand ihres Vaters in ihrem Rücken, die Holzhand. »Ich müsste mal für kleine Mädchen, falls das hier möglich ist.«

»Ich denke, irgendwo im Haus lässt sich eine entsprechende sanitäre Einrichtung finden«, meinte Miss Runciman, die sich mühsam ein Lächeln verkniff. »Komm mit, ich zeige es dir.«

Maeve folgte Miss Runciman und Tante Lindsay hinaus und ließ ihren Vater mit seinem Bruder allein im Klavierzimmer zurück.

»Was zum Teufel denkst du dir dabei, sie uns aufzuhalsen?«, herrschte Forbes seinen Bruder an, sobald die Frauen den Raum verlassen hatten.

»Ich musste sie aus Dublin fortschaffen.«

»Du musstest? Warum?«

»Liest du keine Zeitung?«

»Also, soweit ich das beurteilen kann, ist Irland noch das gleiche Irrenhaus wie eh und je. Großer Gott, du bist doch nicht etwa zu den Republikanern übergelaufen, oder?«

»Ich nicht, aber meine Tochter.«

»Maeve ist also deine Tochter, ja? Du versuchst ja hoffentlich nicht, sie mir unterzuschieben? Hat Sylvie dich hierzu angestachelt?« Er senkte die Stimme. »Wie geht es ihr übrigens? Ist sie wohlauf?«

»Nun, es geht ihr so gut, wie es einem dieser Tage in Dublin so gehen kann.«

»Mutter hat erzählt, sie hätte noch ein zweites Kind geboren, einen Jungen.«

»Das ist richtig.«

»Von einem anderen Mann. Ich verstehe wirklich nicht, warum du noch bei ihr bist.« Er setzte sich auf den Rand des Schutzgitters vor dem Kamin. »Auf ihre etwas unterbelichtete Art war sie als junges Mädchen ja ganz attraktiv, aber seien wir mal ehrlich, Gowry, sie war immer schon gewöhnlich.«

»Du sprichst von meiner Frau, Forbes«, ermahnte Gowry ihn.

»Mag sein, doch sie war nicht wirklich loyal und treu, als du für König und Vaterland gekämpft hast, stimmt’s?«

»Es hieß, ich sei gefallen.«

»Da habe ich etwas anderes gehört«, entgegnete Forbes süffisant. »Mir wurde erzählt, unsere Sylvie hätte sich mit einem Waffenschmuggler eingelassen, noch bevor du dich freiwillig gemeldet hast.«

Gowry setzte sich auf die Armlehne eines Sessels und klemmte die Holzhand zwischen die Knie. Er war nicht mehr derselbe unreife Bursche, der Forbes vor fünfzehn Jahren den Rücken gekehrt und die Last seiner Indiskretion geschultert hatte, womit er streng genommen Forbes’ Ehe rettete. Er hatte innere wie äußere Narben davongetragen, aber Sylvie bedeutete ihm trotz allem noch so viel, dass er sich berufen fühlte, sie zu verteidigen.

Er wählte seine Worte mit Bedacht. »Der Junge ist nicht von mir, das ist richtig.«

»Du bist ein besserer Mensch als ich, alter Knabe. Wenn sie mir Hörner aufgesetzt hätte, hätte ich sie im eigenen Saft schmoren lassen. Ich nehme an, als Nächstes erzählst du mir, du seist der Kleinen zuliebe bei ihr geblieben?«

»Um meiner selbst willen. Wo sonst hätte ich hingehen sollen?«

»Das ist ja so traurig, geradezu tragisch«, sagte Forbes ohne einen Hauch von Mitgefühl.

»Wäre es nach mir gegangen, ich hätte Tom Calder gebeten, sich um Maeve zu kümmern.«

»Warum muss sich überhaupt irgendjemand um sie kümmern?«

»Weil ich sie hergebracht habe, damit sie nicht in Schwierigkeiten gerät«, knurrte Gowry gereizt. »Sie hatte schon von Kindesbeinen an Umgang mit Rebellen, darunter unsere eigenen Brüder Peter und Charlie, und konnte sich deren Einfluss nicht entziehen. Mit anderen Worten, sie ist auf dem besten Wege, eine militante Nationalistin zu werden.«

»Nationalismus ist doch etwas Ehrenhaftes.«

»Mag sein, aber die Briten sehen das offenbar anders. Man kann nicht einmal mehr am helllichten Tag durch die Straßen gehen, schon gar nicht als Daniel McCullochs Enkelin und Peter McCullochs Nichte.«

»Erzähl mir nicht, unser Peter sprengt Züge in die Luft und schießt auf Soldaten.«

»Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen, Bruderherz: Genau das tut er.«

»Allmächtiger.«

»Peter ist Helfershelfer eines Typen namens Turk Trotter, und für ebenden hat Maeve eine Schwäche, seit sie zehn Jahre alt war. Auf seine Art ist er ein ganz anständiger Kerl, und er hat Maeve auch wirklich gern, doch jetzt, da sie erwachsen ist oder doch beinahe, rechnet sie fest damit, dass er sie heiratet. Das möchten wir verhindern.«

Forbes nickte. »Ich verstehe.«

»Du scheinst dir nicht darüber im Klaren zu sein, wie viel Hass in der alten Heimat grassiert. Blanker Hass. Und der ist noch ansteckender als Patriotismus. Glaub ja nicht, die Militärbehörden wüssten nicht, wer Maeve ist. Und die Tatsache, dass sie ein Mädchen ist, wird sie auch nicht schützen. Wenn Maeve tatsächlich diesen Turk Trotter heiratet, wird für ihre Ergreifung ein Kopfgeld ausgesetzt werden, und sie wird ein Leben im Untergrund führen müssen.«

»Wenn sie diesen Trotter aber wirklich liebt …«

»Das tut sie, und sie ist entsprechend wütend auf mich, weil ich sie zwangsweise außer Landes geschafft habe.«

»Vielleicht ist es ihr Schicksal, diesen Trotter zu heiraten«, entgegnete Forbes schulterzuckend.

Gowry streckte den Arm mit der Handprothese aus, ein klobiges Gebilde mit einem abgenutzten Lederhandschuh darüber. Nur der erhalten gebliebene Daumen stand nackt hervor. Er packte seinen Bruder bei der Schulter. »Sag so etwas nicht! Sag das nie wieder.« Er senkte den Kopf. »Ich weiß nicht sicher, wessen Tochter Maeve ist. Nicht einmal Sylvie weiß es genau. Sagen wir einfach, sie ist unser Kind, und ich bin nicht bereit, sie im Namen des Schicksals oder irgendeines anderen Unfugs ins Unglück rennen zu lassen.«

Gowry zog seine Hand zurück und drückte den Daumen mit der gesunden Hand wieder in Position, als wären nicht die anderen Finger, sondern der Daumen unbeweglich.

»Weiß Sylvie wirklich nicht, wessen Tochter Maeve ist?«

»Nein. Spielt das nach all den Jahren überhaupt noch eine Rolle?«

»Vermutlich nicht. Darf ich jetzt aufstehen?«

»Wirst du dich ihrer eine Weile annehmen?«

»Ich könnte wirklich einen Drink vertragen.«

»Forbes, verdammt noch mal: Wirst du dich um sie kümmern?«

»Selbstverständlich. Was trinkst du?«

»Brandy«, entgegnete Gowry, gerade als Maeve und Lindsay zurückkamen, dicht gefolgt von den beiden Jungs, die ungestüm hereinstürzten.

Wenn Lindsay etwas an ihren Söhnen aufrichtig bewunderte, dann deren Aufrichtigkeit. Manchmal konnte sie kaum glauben, dass sie Forbes’ Kinder waren, da Aufrichtigkeit bei den McCullochs allgemein wenig verbreitet war. Harry, ihr Ältester, erinnerte sie vielmehr an ihren Großvater Owen, da er bereits den typisch Franklin’schen Ehrgeiz, gepaart mit der nötigen Entschlossenheit, an den Tag legte. Sie war zu bescheiden, um für sich in Anspruch zu nehmen, dass sie seinen Charakter in erheblichem Maße mit geformt hatte – oder dass Offenheit und Enthusiasmus einst auch ihr eigen gewesen waren und ihr diese Eigenschaften möglicherweise bis heute erhalten geblieben wären, wenn sie Forbes McCulloch nicht geheiratet hätte.

Am Abend zeigten die Jungs sich bei Tisch von ihrer besten Seite, natürlich in erster Linie, um ihre Gäste zu beeindrucken. Lindsay konnte es ihnen nicht verübeln: Maeve war ein ausgesprochen hübsches junges Ding, und Gowry war mit den Spuren, die der Krieg vor allem auch in seinem Gesicht hinterlassen hatte, die perfekte Verkörperung des Helden. Sie vermutete, dass ihre Söhne liebend gern erfahren hätten, was Maeve und Gowry nach Schottland geführt hatte, aber sie waren zu wohlerzogen, um ihrem Onkel Löcher in den Bauch zu fragen.

Vor fast genau dreiundzwanzig Jahren hatte Lindsay im Haus ihres Großvaters ebenfalls an einer großen Tafel gesessen und sich bemüht, in Anwesenheit ihres irischen Cousins Forbes möglichst blasiert zu wirken. Er war ihr ebenso attraktiv und interessant erschienen wie heute Maeve McCulloch ihren Söhnen. Sie erinnerte sich noch gut, mit welch kindlicher Inbrunst ihre Cousine Cissie und sie seinerzeit um Forbes’ Gunst gebuhlt hatten.

Maeve ließ die Aufmerksamkeit der Jungen scheinbar kalt. Die verschiedenen Besteckfolgen, mit denen Enid eingedeckt hatte, waren dem Mädchen offenbar vertraut, und es aß ebenso hastig wie Forbes, als ginge es darum, einen Rekord im Schnellessen aufzustellen. Maeve trug ein Wollkleid von der Stange, das schon bessere Tage gesehen hatte, und Lindsay nahm sich fest vor, sich der Garderobe ihrer Nichte anzunehmen, falls diese länger bei ihnen blieb. Die Vorstellung erfüllte sie mit Vorfreude, da ihre Söhne, ganz gleich, wie sehr sie diese auch vergöttern mochte, ihre weiblichen Interessen naturgemäß nicht teilten.

Sie beobachtete, wie ihr junger Gast den Pie mit der Dessertgabel zerteilte und anschließend mit dem Löffel verspeiste. Sichtlich zufrieden wischte Maeve sich abschließend den Mund mit der Serviette ab und seufzte tief, was Lindsay als Zeichen dafür deutete, dass sie endlich satt war.

Vor zwanzig Jahren hätte die Familie sich in den Salon zurückgezogen und zu einem fröhlichen Musikabend um das Klavier versammelt. Leider gehörte diese schöne alte Tradition der Vergangenheit an, da Forbes Musik nichts abgewinnen konnte und ihr Vater es längst aufgegeben hatte, ihn überreden zu wollen, seine Cousins und Cousinen zu einem netten altmodischen Musikabend einzuladen.

»Kannst du singen, Maeve?«, erkundigte sich Lindsay.

Das Mädchen schien von ihrer Frage verblüfft zu sein. »Wie bitte?«

»Singst du?«, wiederholte Lindsay noch einmal freundlich. »Bist du musikalisch?«

»Ich kann einen Ton halten.« Maeve funkelte ihren Vater böse an, wie um ihm zu bedeuten, ihr ja nicht zu widersprechen. »Ihr erwartet aber nicht von mir zu singen, oder?«

»Nein, nein«, beruhigte Lindsay sie. »Wir erwarten von dir nichts, was du nicht selbst tun möchtest.«

»Gut, wenn es auch keine große Rolle spielt, da ich nicht gedenke, lange zu bleiben.«

Philip entfuhr ein enttäuschtes »Oh!« Dann meinte er: »Ich dachte, du …« Harry trat ihn unter dem Tisch gegen das Schienbein, und er verstummte.

Lindsay blickte zur Tür. Sie bedeutete Enid, die Dessertteller abzuräumen, und wies sie an, den Kaffee hier im Speisezimmer zu servieren.

Maeve warf einen Blick auf Miss Runciman, die mit der Familie an einem Tisch saß und nicht unten bei dem Hausmädchen und der Köchin. Miss Runciman hob eine schmale Braue. »Ich hoffe doch sehr, dass du es nicht zu eilig hast, junge Dame, und dir wenigstens die Zeit nimmst, deine anderen Verwandten kennenzulernen, wo du schon einmal hier bist. Sie sind alle schrecklich neugierig auf dich.«

»Oh!« Maeve war sichtlich verdutzt. »Wieso denn das?«

»Weil du eine von uns bist«, erklärte Philip.

Er war kleiner als sein Bruder und sehr schmal. Er hatte die langen Wimpern seines Vaters und dessen dunkle Augen geerbt, ähnelte Forbes jedoch nicht wirklich, wie Lindsay sich immer wieder einredete. Dritte hingegen bescheinigten ihm durchaus große Ähnlichkeit mit seinem Vater.

»Bin ich nicht«, widersprach Maeve.

»Du bist doch eine McCulloch, oder?«, fragte Harry.

»Und wenn?«

»Abgesehen von Miss Runciman, sind wir hier am Tisch alle McCullochs«, erklärte Harry.

»Mag sein, dass wir denselben Namen tragen«, räumte Maeve ein. »Trotzdem bin ich keine von euch und werde auch nie eine von euch sein.«

»Das ist nicht fair«, protestierte Harry. »Du kennst uns doch gar nicht.«

»Und ihr mich ebenso wenig.«

»Du bist müde, Maeve«, sagte Gowry beschwichtigend. »Vielleicht solltest du dich jetzt auf dein Zimmer zurückziehen.«

»Ich bin nicht müde.«

»Natürlich nicht«, mischte sich Lindsay ein. »Es ist viel zu früh, um schlafen zu gehen. Enid wird gleich den Kaffee servieren.«

Sie war versucht, über den Tisch hinweg Maeves Hand zu tätscheln, um ihre Verbundenheit mit ihrer Nichte zu bekunden, und es schien, als ginge Miss Runciman der gleiche Gedanke durch den Kopf. Sie legte eine Hand auf Maeves und tippte mehrmals mit den Fingerspitzen auf ihren Handrücken.

»Weißt du, was das bedeutet?«, fragte Eleanor Runciman.

»Was was bedeutet?«, erkundigte sich Maeve stirnrunzelnd.

Miss Runciman tippte erneut auf ihren Handrücken. »Das.«

»Nein«, gab Maeve zu. »Keinen Schimmer, was das heißt.«

Harry lachte und tauschte einen wissenden Blick mit seinem Bruder. »Das ist ein Code, Miss … Maeve«, erklärte er. »Ein Morsecode. Als Phil und ich noch klein waren, hat sie das die ganze Zeit mit uns gemacht. Das bedeutet ›SOS‹, richtig, Miss Runciman?«

»Also, ich brauche keine Hilfe«, verkündete Maeve. »Ich bin nicht in Not.«

Forbes mischte sich ein. »Das ist ein Familienwitz«, erklärte er. »Ich habe allerdings nie begriffen, was genau das soll.«

»Weil du so ein Spielverderber bist, Forbes«, bemerkte Lindsay und wandte sich dann an Gowry. »Wie hast du die Hand verloren?«

Gowry betrachtete die Handprothese. »Deutsche Granate.«

»An der Somme, ja, Sir?«, erkundigte sich Philip ehrfürchtig.

»In Guillemont«, entgegnete Gowry. »Beim Sturm auf Guillemont.«

»Waren Sie bei den Irish Rifles, Sir?«, wollte Harry wissen. »Haben Sie auf unserer Seite gekämpft?«

»Ja, er hat auf eurer Seite gekämpft«, brummte Maeve. »Er hätte eigentlich auf unserer Seite kämpfen sollen, aber er hat es vorgezogen, sein Leben für die Engländer zu riskieren.«

»Bist du Republikanerin?«, fragte Harry.

»Ich bin Irin«, antwortete Maeve hoheitsvoll. »Selbstverständlich bin ich Republikanerin.«

»Dad ist auch Ire«, warf Philip ein, »aber er ist kein Republikaner.«

»Dann sitzt hier noch ein Abtrünniger am Tisch«, sagte Maeve knapp.

»Genug davon!«, rief Gowry sie in scharfem Tonfall zur Ordnung.

Das Mädchen wirkte kein bisschen verlegen, nicht einmal böse. Lindsay nahm an, dass Maeve einfach eine typische Dublinerin war, die nichts mehr liebte als hitzige Diskussionen. Es war Jahre her, dass in ihrem Haus Stimmen laut geworden waren, da ihr Vater, Arthur Franklin, und ihr Ehemann irgendwann übereingekommen waren, laute Auseinandersetzungen im Büro auszutragen anstatt daheim. Sie wünschte, ihr Vater wäre hier, doch der hatte mit Martin nach Norwegen reisen müssen, um neue Aufträge zu akquirieren, und wurde frühestens Montag oder Dienstag zurückerwartet.

»Ich schätze, ich kann offen mit euch sprechen«, fuhr Maeve unbeirrt fort. »Ich bin nur hier, weil Mam und Dad Angst haben, ich könnte im Gefängnis landen.«

»Im Gefängnis?«, wiederholte Philip verdattert. »Warst … warst du schon mal im Gefängnis?«

»Noch nicht, allerdings fürchte ich mich nicht davor, auch nicht vor Zwangsarbeit.«

Lindsay hatte mit einem gewissen Maß an jugendlichem Leichtsinn gerechnet, jedoch nicht mit einer so trotzig-herausfordernden Art. Miss Maeve McCulloch war sichtlich stolz auf sich und fühlte sich ganz offensichtlich ihren Cousins haushoch überlegen.

»Bist du Mitglied der Volunteer Army, Maeve …?«

»Dann hast du also von den Volunteers gehört, von den Freiwilligen, die für die Freiheit unseres Landes kämpfen?«

»Großmutter hat sämtliche irischen Zeitungen abonniert«, erklärte Philip. »Wirst du steckbrieflich gesucht?«

»Mein Mann«, entgegnete Maeve stolz. »Für seine Ergreifung wurde ein Kopfgeld festgesetzt.«

»Wie viel?«, fragte Philip atemlos.

»Fünfhundert Pfund.«

Philip pfiff anerkennend. »Was hat er denn verbrochen?«

»Als ob ich dir das verraten würde«, gab Maeve herablassend zurück.

»Dann verrate uns wenigstens seinen Namen«, bettelte Philip.

»Turk Trotter heißt er. Er hat beim Osteraufstand gegen die Engländer gekämpft und war anschließend längere Zeit in Frongoch, einem Gefängnis in Wales.«

»Ist er wirklich dein Liebster?«, vergewisserte sich Philip.

»Mein Liebster? Er ist mein Mann.«

»Und was genau heißt das?«

»Das heißt, dass du genug Fragen gestellt hast, Philip. Lass andere auch mal zu Wort kommen, bitte«, ermahnte ihn sein Vater.

»Oh!« Der Junge nickte. »Natürlich!«

Harry nahm sofort den Faden auf. »Sollst du bei uns wohnen, weil du auf der Flucht bist?«

»Das wäre theoretisch möglich«, entgegnete Maeve, »aber ich werde nicht gesucht, nein.«

»Maeve und ich sind uns nicht einig, was die Vereinigungspolitik in unserem Land angeht. Ich habe sie hergebracht, damit sie nicht in Schwierigkeiten kommt«, erklärte Gowry.

»Ha!«, schnaubte Maeve. »›Schwierigkeiten‹ nennst du das? Warum erzählst du ihnen nicht, dass die Briten versuchen, unseren Kampfgeist zu brechen, indem sie jeden umbringen, dessen Gesicht ihnen missfällt.« Lauter fuhr sie fort: »Sag ihnen, dass sie Mr. Hagarty erschossen und unser Hotel in die Luft gejagt haben, während du gegen die Deutschen gekämpft hast.«

»Schluss jetzt, Maeve«, rief Gowry sie zur Ordnung. »Dies ist nicht der richtige Ort, um nationalistische Reden zu schwingen.«

Forbes stützte die Ellbogen auf den Tisch. Die Lethargie war von ihm abgefallen, und seine Augen glitzerten interessiert. »Nein, nein, lass sie nur sagen, was sie denkt.«

Die Unterstützung ihres Onkels kam für Maeve so unerwartet, dass sie verstummte. »Mein Daddy hat recht«, meinte sie schließlich. »Ich war unhöflich. Bitte entschuldigt.«

»Nein, du warst nicht unhöflich. Du bist nur für das eingetreten, woran du glaubst«, leistete Forbes ihr erneut Schützenhilfe.

Solange Lindsay ihren Mann kannte, hatte er nie irgendetwas anderes gelten lassen als seine höchsteigenen Interessen. Er hatte seine Brüder verhöhnt, weil die unerreichbaren Zielen nachjagten, und seinen Vater verurteilt, der die gut gehende kleine Familienbrauerei der Irischen Bruderschaft zuliebe heruntergewirtschaftet hatte, wenn auch Kay McCulloch, seine Mutter, behauptete, Whisky und Pferdewetten hätten sie ruiniert.

»Also gut. Ich denke, ich gehöre nach Irland, zu meinem Mann.«

»Gut«, erklärte Forbes. »Ich möchte aber doch darauf hinweisen, dass es nicht damit getan ist, Polizeiwachen in die Luft zu jagen und Soldaten zu erschießen; vielmehr geht es nämlich auch um wirtschaftliche Unterdrückung. Und diesen Krieg, junge Dame, kannst du von überall auf der Welt führen, von Paris, Dublin oder Glasgow aus.«

»Worauf willst du hinaus?«, fragte Maeve misstrauisch.

»Ich sag dir was: Ich werde den Betrag, den du vom heutigen Tage an bis zu deinem achtzehnten Geburtstag verdienst, aus eigener Tasche verdoppeln. Nein, verdreifachen. Und ich bezahle dir sogar die Passage zurück nach Dublin, damit du dich wieder ins Kampfgetümmel stürzen kannst.«

»Ist das deine Art, mich loszuwerden?«

»Ganz im Gegenteil«, widersprach Forbes. »Wenn ich mich nicht sehr irre, wirst du nicht damit zufrieden sein, den ganzen Tag nur herumzusitzen. Ich biete dir den Anreiz, dir eine Arbeit zu suchen und aktiv etwas für die Sache zu tun, an die du glaubst.«

»Und wo ist der Haken?«

»Es gibt keinen. Ich versuche nur, dich davon abzuhalten, Unsinn zu machen, und gleichzeitig, mein Gewissen zu beruhigen.«

»Dein Gewissen, Forbes?«, warf Gowry spöttisch ein.

»Ich habe bislang nicht viel für die irische Sache getan«, erwiderte Forbes. »Aber jetzt, da Peter und Charlie bis zum Hals drinstecken, fühle ich mich verpflichtet, meinen eigenen bescheidenen Beitrag zu leisten.« Er wandte sich Lindsay zu. »Hast du nicht immer gesagt, Blut sei dicker als Wasser?«

»Du willst das, was ich in dieser Zeit verdiene, verdreifachen?«, vergewisserte Maeve sich skeptisch. »Du würdest Geld für die Sache geben?«

»Ich stehe zu meinem Wort«, erklärte Forbes. »Sind wir uns handelseinig, junge Dame?«

»Ich fürchte mich nicht vor harter Arbeit«, entgegnete Maeve. »Also gut, abgemacht.«

Forbes langte über den Tisch und drückte ihre Hand.

Lindsay hatte der Wortwechsel leicht aufgewühlt, und sie winkte Enid, den Kaffee aufzutragen.

Das Zimmer ganz oben unter dem Dach war früher das Kinderzimmer gewesen. Niedliche Motive zierten die Wände: Ein Häschen, eine Gans mit einer Haube und ein lächelnder Fisch, allerdings waren die freundlichen Figuren im schwachen Schein der elektrischen Lampe beinahe unsichtbar. Es gab ein Fenster mit einem Vorhang davor, ein Bett, eine Kommode, mehrere kleine Kinderstühle und einen Tisch, der so niedrig war, dass Maeve sich tief bücken musste, um den Brief an ihre Mutter zu schreiben und einen Gruß in Druckbuchstaben darunterzusetzen. Er war für ihren Bruder Sean bestimmt, der gerade lesen lernte. Sean konnte manchmal eine ziemliche Nervensäge sein; er war so versessen auf Aufmerksamkeit, dass er ihr überallhin nachlief, an ihrem Rockzipfel hing und darum bettelte, dass sie mit ihm spielte. Nur Daddy wurde wirklich mit Sean fertig, war er doch mit biblischer Geduld gesegnet und verbrachte viel Zeit mit dem kleinen Jungen, viel mehr als damals mit ihr.

Seit Turk aus Frongoch entlassen worden und die Gangway des Dampfers aus Liverpool hinabgestürmt war, um sie in die Arme zu schließen, war ihr Leben irgendwie aus den Fugen geraten. Sie war damals noch nicht ganz dreizehn gewesen, aber bereits wahnsinnig verliebt in ihn.

In den folgenden anderthalb Jahren hatte sie ihn jedoch kaum zu Gesicht bekommen.

Turk war sehr beschäftigt gewesen, da er die Bruderschaft unten in Wexford neu organisiert hatte, während sie die Schule besuchte. Dann hatte Pauline, Breen Trotters Frau, Mam überredet, Maeve die Sommerferien bei den Trotters auf dem Land verbringen zu lassen. Sie war eine ganze Woche mit Breen und Turks Vater auf Pferde- und Rindermärkten gewesen, und abends hatten sie dann Gemeindesäle und geheime Treffpunkte draußen auf dem Land aufgesucht. Kurz nachdem sie wieder aus Wexford abgereist war, hatten fünf von Turks Männern eine Ladung Gelatinedynamit erbeutet, die in Begleitung einer Polizei-Eskorte zu einem Steinbruch gebracht werden sollte. Zwei Polizisten wurden erschossen, aber Turks Jungs waren mit dem Sprengstoff auf und davon. Die Regierung hatte für sachdienliche Hinweise, die zur Ergreifung der Diebe führten, eine Belohnung von fünfhundert Pfund ausgesetzt.

In jenem Dezember war Onkel Peter unerwartet in dem Mietshaus in der Endicott Street aufgetaucht und hatte darum gebeten, bei ihnen wohnen zu dürfen. Daddy hatte ihn aufgenommen, war jedoch wütend gewesen, weil er sie damit alle in Gefahr brachte. Er hatte die Trotters angerufen, und einen Tag nach Weihnachten war Turk erschienen und hatte Peter davon überzeugt, sich eine andere Bleibe zu suchen.

An diesem Abend hatte Turk sie zum ersten Mal geküsst. Er hatte eine Hand unter ihren Mantel geschoben und ihre Brust umschlossen, dann jedoch einen heiseren Laut ausgestoßen, der sie an den Ruf eines Bullenkalbes erinnert hatte, sie abrupt von sich geschoben und war die Endicott Street hinuntergehastet, um jemanden aufzutun, der bereit war, Peter für ein oder zwei Wochen Unterschlupf zu gewähren.

Hiernach hatte Turk sie noch oft geküsst, jedoch nie wieder ihre Brust angefasst. Er hatte sie zu geheimen Treffen bei McKinstry’s oder in einem Keller unter der alten O’Connell-Halle mitgenommen, wo die Elite der Aufständischenarmee sich versammelte. Maeve war überzeugt davon, dass es nun nicht mehr lange dauern konnte, bis sie alt genug war, um Turks Frau zu werden und richtig in den Kampf einzusteigen. Dann, eines Abends, hatte sie sich Daddy anvertraut, und der war fuchsteufelswild geworden. Ehe sie sich’s versah, hatte er sie aus der Schule genommen und zum Arbeiten in die Keksfabrik gesteckt, was sich allerdings als kontraproduktiv erwiesen hatte, da dort in noch größerem Umfang Komplotte geschmiedet wurden als in den Hinterzimmern des Dáil. Sie hatte Pauline geschrieben und sie gebeten, Turk auszurichten, dass sie bereit sei, mit ihm durchzubrennen, erhielt aber nie eine Antwort auf ihren Brief erhalten. Daraufhin hatte sie Pauline erneut geschrieben, und als wieder keine Antwort kam, hatte sie sich erst an Charlie und schließlich an Trotter senior gewandt. Keiner von ihnen ließ sich dazu herab, ihr zu antworten.

Dann, an einem Spätnachmittag, einem Sonntag, hatten zwei Polizisten sie geschnappt und eine Gasse hinunter zu Mrs. Caffertys Pension geschleift. Sie hatten sie an die Wand gestellt, ihr einen Revolver an den Kopf gehalten und gedroht, sie zu erschießen, wenn sie ihnen nicht verriet, wo Turk Trotter sich versteckte.

»Ich habe keinen Schimmer!«, hatte sie erwidert. »Es würde mehr Sinn machen, wenn Sie mir verrieten, wo Turk steckt. Es ist nämlich höchste Zeit, dass er endlich aufkreuzt, um sein Eheversprechen einzulösen.«

Der Polizist mit der Waffe hatte gelacht, die Waffe wieder ins Holster gesteckt und gemeint, Trotter denke nicht im Traum ans Heiraten, er sei viel zu beschäftigt damit, die vielen jungen Dinger zu nageln, die so dumm waren, ihn bei sich aufzunehmen. Maeve hatte dem Typen ins Gesicht gelacht.

»Mich legst du nicht rein mit deinen verdammten Lügen!«, fauchte sie. Daraufhin hielt einer der Polizisten sie mit einer Hand an der Kehle fest und steckte die andere Hand in ihren Schlüpfer.

»Turk weiß ja gar nicht, was ihm entgeht«, bemerkte er hinterher grinsend. Dann gingen sie.

Sie war zu aufgeregt, um diese Episode für sich zu behalten, und so vertraute sie sich Mam an, die wiederum mit Daddy sprach.

Eine knappe Woche später saß sie mit ihm an Bord der Fähre nach Glasgow, und bis heute hatte sie weder Nachricht von Pauline noch von Charlie oder Turk selbst.

Sie betrachtete die Gans, das Häschen und den lächelnden Fisch auf der Tapete, befeuchtete die Spitze ihres Bleistifts und strich das Schreibpapier glatt. Sie wollte schreiben »Liebster Turk« oder »Mein herzallerliebster Schatz«, aber die Worte des Polizisten waren noch zu frisch, wie die Erinnerung an Turks Hand auf ihrer Brust und jene des Fremden in ihrem Schlüpfer. Und so seufzte sie und berichtete stattdessen vom Angebot ihres Onkels und fragte, wie sie das Geld an jene in Irland weiterleiten sollte, die es am dringendsten brauchten. Dann zeichnete sie ein Herz, ein großes Herz, und schrieb wie schon einmal vor langer Zeit in Druckbuchstaben darunter:

Maeve & TurkIn wahrer Liebe

Obwohl sie nicht mehr sicher war, was das wirklich bedeutete: »wahre Liebe«.

Ein Klopfen an der Tür ließ sie erschrocken zusammenzucken. Beinahe hatte sie vergessen, dass sie ja jetzt in Glasgow war und in Sicherheit.

»Wer ist da?«

»Lindsay. Darf ich reinkommen?«

»Natürlich, klar. Ist ja dein Haus.«

Ihre Tante war noch genauso gekleidet wie beim Abendessen, wirkte jedoch im schwachen Lichtschein der Lampe jünger, irgendwie freundlicher. »Ich störe doch nicht, oder?«

»Nein«, entgegnete Maeve ein wenig schroff. »Und wie du siehst, bin ich nicht weggelaufen.«

»Ich dachte, du wärst vielleicht schon im Bett.«

Maeve bedeckte das Briefpapier mit beiden Händen. »Gleich.«

»Hast du alles, was du brauchst?«

»Ja, danke.«

»Dann lasse ich dich jetzt in Ruhe deinen Brief weiterschreiben. Frühstück gibt es um Viertel vor acht, aber die Köchin kann dir auch noch später eine Kleinigkeit zubereiten, wenn du ausschlafen möchtest.«

»Ich werde pünktlich unten sein.« Maeve rang sich ein Lächeln ab. »Wo ist Daddy?«

»Ein Stockwerk unter dir. Gute Nacht, Maeve.«

»Gute Nacht.« Sobald ihre Tante die Tür hinter sich geschlossen hatte, zerriss Maeve das alberne Herzchen-Bild und spülte es im Bad nebenan in der Toilette herunter.

Viele Jahre lang hatte es zu Miss Runcimans Aufgaben gehört, die massive Eichentür zu schließen, die Innentür zu verriegeln und sämtliche Lichter zu löschen, abgesehen von jener kleinen Birne, die die ganze Nacht hindurch brannte. Inzwischen war die Tür jedoch zu schwer für Miss Runciman, und Arthur Franklin hatte diese Pflicht übernommen, betrachtete Lindsays Vater sich doch nach wie vor als das Familienoberhaupt.

Als Lindsay herunterkam, stellte sie zu ihrer Überraschung fest, dass die Innen- wie die Außentür sperrangelweit offen standen, sodass feuchte Nachtluft in die Diele waberte.

»Forbes?«, rief sie zögernd. »Bist du das, Forbes?«

»Nein, ich bin’s.«

Als sie nach draußen trat, sah sie Gowry im schwachen Schein des Nachtlichts stehen. Zigarrenrauch wirbelte um ihn herum wie Sahne in einer Kaffeetasse.

»Was um alles in der Welt machst du denn hier draußen?«

»Frische Luft schnappen.«

»Wo ist Forbes?«

»Schlafen gegangen. Ich habe versprochen, hinterher abzuschließen.«

Lindsay schaute über den nebligen Platz in Richtung Fluss. Die flackernden Lichter aus der Gießerei waren undeutlich durch die graue Wolke hindurch zu sehen. Die Männer von der Nachtschicht waren noch bei der Arbeit. Sie fragte sich, ob das Licht möglicherweise Gowry an die Zeit in den Schützengräben erinnerte, als feindliche Granaten auf die eigenen Linien niedergegangen waren. Sie hatte Gowry nie sonderlich gemocht; er war damals, 1906, viel zu sehr Forbes’ Verbündeter gewesen, zu fremd und irisch für ihren Geschmack, als sie noch den einen oder anderen Stellungskrieg im eigenen Haushalt hatte austragen müssen. Heute tat er ihr jedoch leid, so angeschlagen, heruntergekommen und traurig wie er war.

»Du kannst ruhig drinnen rauchen, weißt du.«

Gowry nahm die Zigarre aus dem Mund. »Nicht diese stinkenden Dinger. Sylvie hat mir auch verboten, sie im Haus zu paffen. Wenn ich daheim rauchen möchte, gehe ich runter auf die Straße oder auf den Hof. Ich schätze, das billige Kraut stinkt ziemlich penetrant.«

»Nicht so schlimm wie Donalds Pfeife. Kannst du dich noch daran erinnern?«

»Ja«, sagte Gowry schmunzelnd. »Die stank wie der Schlot eines Schleppers.«

»Donald hat sich kurz nach Unterzeichnung des Waffenstillstands zur Ruhe gesetzt. Er und Lilias sind an die Küste gezogen, nach Largs.«

»Einer seiner Söhne ist im Krieg gefallen, nicht wahr?«

»Ja. Johnny war an Bord der Vengeance, die im Baltischen Meer torpediert wurde. Es gab nur eine Hand voll Überlebende.«

Sie schwiegen beide einen Moment, ganz versunken in Erinnerungen an die Toten sowie an vergangene Zeiten. Dann schnippte Gowry den Zigarrenstummel in die Nacht, und sie verfolgten beide die Glut, die im hohen Bogen durch die Luft flog und in einem Funkenregen auf dem Asphalt zerbarst.

»Es ist schon spät«, erklärte Gowry. »Ich gehe jetzt besser schlafen.«

»Nein, warte.«

Er schaute verwundert auf sie herab. Gowry wirkte sehr groß, wie er dort im Halbdunkel stand, beinahe überlebensgroß. Er verströmte weiterhin den Geruch von Tabak, in den sich noch ein anderer Geruch mischte, der sie vage an Zimt erinnerte.

»Was gibt es denn, Lindsay? Magst du meine Tochter nicht?«

»Doch, ich mag sie. Aber sie wurde tief verletzt, habe ich recht?«

»Wir alle wurden auf die eine oder andere Art verletzt«, entgegnete er. »Sie ist noch jung genug, den Schmerz zu verwinden.«

»Ist es wegen dieses Mannes, des Soldaten?«

»Trotter ist ein Unruhestifter, kein Soldat.«

»Offenbar hast du nicht viel für ihn übrig.«

»Es spielt keine Rolle, was ich von ihm halte«, entgegnete Gowry. »Trotter wird sie niemals heiraten, und falls er es doch täte, wäre sie innerhalb eines Jahres verwitwet.«

»Was Forbes beim Abendessen gesagt hat, sein Angebot … ist das hilfreich oder eher hinderlich?«

»Mein Bruder ist ein schleimiger Mistkerl. Er weiß genau, wie viel Maeve die Aussicht auf eine großzügige Spende für die Sache bedeutet.«

»Wenigstens hat er ihr einen Grund gegeben, in Glasgow zu bleiben.«

»Der Samthandschuh«, knurrte Gowry.

»Vielleicht ist der ja effektiver als die eiserne Faust«, gab Lindsay zu bedenken. »Wir werden uns gut um sie kümmern, das verspreche ich dir.«

»Sie wird mir fehlen«, murmelte Gowry. »Bei Gott, sie wird mir fehlen!« Darauf kehrte er hastig ins Haus zurück und überließ es Lindsay, die schwere Eichentür zu schließen.

Kapitel 2

Ein frischer Wind

Forbes war in der Firma Stellvertreter seines Cousins Martin und hatte in dessen Abwesenheit den Vorsitz bei den wöchentlichen Vorstandssitzungen. Normalerweise gehörte die Akquise zu Forbes’ Aufgabenbereich, aber da er weder die Norweger noch ihr Klima besonders gut leiden konnte, hatte er die Reise nach Skandinavien Martin und Arthur Franklin überlassen.

Lukrative Aufträge der Marine sowie die Aufstockung der heimischen Handelsflotte hatten bisher immer für volle Auftragsbücher gesorgt.

Martin hatte in der Vergangenheit jeden Auftrag angenommen, vorausgesetzt, es musste kein Kapital investiert werden, während Forbes sich schon lange für Modernisierungen einsetzte, um langfristig konkurrenzfähig zu bleiben.

Aktuell befanden sich in den Trockendocks vier Schiffe in unterschiedlichen Fertigungsstadien, darunter zwei halbfertige S-Klasse-Zerstörer, Franklin’s Anteil eines Marineauftrages von insgesamt sechzehn solcher Schiffe, aber drei weitere Docks waren leer.

Forbes drängte vorwärts, »in die Zukunft«, wie er sagte. Seiner Meinung nach lag die Zukunft der Werft nicht im Bau von Kriegs- oder Lastschiffen, sondern in der Fertigung riesiger Öltanker, was allerdings einen Ausbau der Werft und entsprechende Investitionen erfordern würde. Lindsay fand seine Argumentation durchaus schlüssig, nur seine Methoden, andere zu überzeugen, ließen zu wünschen übrig.

Obgleich sie mehr Firmenanteile besaß als er und streng genommen auch dementsprechend mehr zu sagen hatte, hatte Lindsay sich aus den Werftgeschäften zurückgezogen und nahm nur noch selten an den wöchentlichen Sitzungen teil. Und so war sie auch heute nur aus einem ganz bestimmten Grund in der Aydon Road: Sie wollte Tom Calder zum Mittagessen einladen.

Von ihrem Platz am Konferenztisch aus konnte Lindsay das Dach des Testtanks sehen, ebenfalls eine von Forbes’ Neuerungen, und dahinter den hoch aufragenden Bug eines im Bau befindlichen Lastkahns, auf dessen Baugerüst es von Zimmerleuten wimmelte.

»Was hat es hiermit auf sich?« Forbes hielt einen Bogen Millimeterpapier in die Höhe, an den ein getippter Brief mit dem Briefkopf der Admiralität geheftet war. »Hat Martin sich schon darum gekümmert?«

»Nein«, entgegnete Archie Robb stirnrunzelnd. »Er hat es noch gar nicht gesehen.«

»Und worum genau handelt es sich?«

»Eine Auftragsänderung«, erklärte Tom Calder. »In unserem Angebot ist Portland-Zement für sämtliche Bereiche vorgesehen, und das wurde auch so akzeptiert. Jetzt verlangt die Navy plötzlich Bitumen für die Maschinen- und Heizräume sowie für Bilgen und Decks.«

»Großer Gott! Ist bei Swann Hunter und Barclay Curle dieselbe Forderung eingegangen?«

»Ja«, bestätigte Archie Robb. »Es handelt sich um eine allgemeine Änderung der Baubeschreibung.«

Forbes hielt das Millimeterpapier ins Licht und betrachtete es aus zusammengekniffenen Augen. Lindsay wusste, dass er vorrangig Geschäftsmann war und nicht Ingenieur.

Archie Robb richtete sich im Sitzen zu voller Größe auf. Er war ein eher kleiner Mann mit verkniffenem Gesicht und Lesebrille, die er etwa auf halber Höhe seines Nasenrückens trug. Tom Calder stützte das Kinn auf eine Hand. Forbes legte das Blatt zurück auf den Tisch und schlug mit der flachen Hand darauf, als erschlüge er eine Fliege.

»Die Marine weiß doch hoffentlich, dass Materialien auf Bitumenbasis teurer sind als Zement und zudem das Aufbringen deutlich mehr Zeit in Anspruch nimmt, oder?«

»Selbstverständlich wissen die das«, bestätigte Tom Calder seufzend.

»Erwarten die etwa von uns, die zusätzlichen Kosten zu tragen?«

»Darauf läuft es hinaus«, nickte Archie Robb.

»Der Gedanke, der dahintersteckt, ist der, dass das Schiff hierdurch insgesamt leichter und schneller wird. Bislang wurden in Zerstörern keine Materialien auf Bitumenbasis verwendet. Ich gehe also davon aus, dass es sich um den Geistesblitz eines Marine-Ingenieurs handelt, der sich damit eine Beförderung sichern will.«

»Wie viel wird das pro Schiff kosten?«, fragte Forbes düster.

»Schwer zu sagen«, antwortete Archie Robb. »Kalt aufgetragen in einem Verhältnis von etwa einem Zentner pro sechzehn Quadratmeter …«

»Oh …« Forbes stöhnte. »Tut es. Tut es einfach. Haben wir genügend Material auf Lager? Wenn nicht, bestellen Sie nach, und berechnen Sie die neuen Gesamtkosten, Mr. Robb.«

»Ich bin gespannt, was Mr. Martin dazu sagen wird«, entgegnete der.

»Ich habe grünes Licht gegeben, oder? Genügt Ihnen das nicht?«

Forbes reichte das Millimeterpapier mit dem Brief seiner persönlichen Sekretärin, Mrs. Connors, und wies sie an, ein entsprechendes Bestätigungsschreiben aufzusetzen, dem er persönlich noch ein, zwei Absätze hinzufügen würde.

Mrs. Connors, eine füllige Witwe Mitte dreißig legte den Brief in ihre Mappe und machte sich eine stenografische Notiz auf ihrem Block. Sie war ebenso effizient wie jeder der anwesenden Männer im Raum, aber bislang war es noch niemandem gelungen, aus Meg Connors herauszukitzeln, was sie wirklich von Mr. Forbes, Mr. Martin oder einem der anderen Teilhaber hielt. Sie schaltete und waltete mit Akten und Schreibmaschine in Johnny Franklins ehemaligem Büro und hielt die Tür im übertragenen wie im wörtlichen Sinne geschlossen.

Lindsay lauschte nur mit halbem Ohr der langweiligen Diskussion darüber, ob es sinnvoll wäre, mobile Toiletten für die Arbeiter aufzustellen, und inwieweit dieser Vorschlag den Unmut der Gewerkschaften erregen würde.

Sie hatte das alles schon gehört. Tatsächlich kam es ihr vor, als hörte sie ein- und dieselbe Diskussion in immer neuer Form, seit sie als noch kleines Mädchen im Wohnzimmer ihres Großvaters auf dem Teppich gespielt hatte. Das ernste Stimmengemurmel langweilte sie heute noch genauso wie damals. Sie lauschte dem Ticken der großen Wanduhr, dem Hämmern draußen auf der Werft und dem Wusch-Wusch-Wusch eines Kahns der Abfallbeseitigung, der mit einem Rattenschwanz kleinerer Last- und Schleppkähne im Gefolge flussabwärts tuckerte. Sie war ebenso gelangweilt wie Tom Calder, vielleicht sogar noch mehr, da Tom noch nicht wusste, was ihn nach der Sitzung erwartete.

Lindsay hatte mit Miss Runciman vereinbart, dass diese das Mädchen um halb eins ins »Central Hotel« brachte. Jetzt musste sie nur noch Forbes davon abhalten, ihr die Überraschung zu vermasseln, indem er vorab verriet, dass Maeve in Glasgow war.

»… die verdammten Lehrlinge endlich davon abhalten, in die Teekannen zu pinkeln«, hörte sie Robb gerade sagen. »Verzeihen Sie, Mrs. McCulloch.«

»Was denn, Archie?«

»Meine … äh … Ausdrucksweise.«

»Mir ist wohl bewusst, dass Auszubildende zuweilen starken Harndrang verspüren und auf unkonventionelle Methoden zurückgreifen, um sich zu erleichtern«, entgegnete Lindsay lächelnd. »Wenn es in dieser Sitzung allerdings weiter um so unappetitliche Themen gehen soll, wäre es vielleicht besser, wenn ich mich zurückziehe, um niemanden in Verlegenheit zu bringen.«

»Du brauchst nicht zu gehen, Linnet«, erklärte Forbes.

Lindsay war bereits aufgestanden. Die Vorstandsmitglieder, allesamt Gentlemen, machten Anstalten, sich ebenfalls zu erheben, aber Lindsay bedeutete ihnen, sitzen zu bleiben.

»Tom, könnte ich Sie nur kurz sprechen, bitte? Draußen.«

»Wenn du mich nicht mehr brauchst, Forbes …«

Der wollte protestieren, schloss den Mund jedoch wieder mit einem seltsamen Schnapplaut und verzog die Lippen zu einem hintergründigen Lächeln. »Nein, nein, wir brauchen dich nicht mehr. Wir sind hier fast durch. Geh nur. Ich glaube, meine liebe Frau möchte mit dir zu Mittag essen.«

»Tatsächlich?« Tom war sichtlich überrascht.

»Sieh nur zu, dass sie auch die Rechnung übernimmt«, meinte Forbes noch und konzentrierte sich, nachdem er Tom mit einem Wink entlassen hatte, wieder auf das Gespräch über sanitäre Anlagen.

Als sie im Fond des Taxis saßen und er die Tür hinter ihnen zugezogen hatte, konnte Tom seine Neugier nicht länger zügeln. »Nun, Lindsay, was hat das alles zu bedeuten?«

»Mach kein so gequältes Gesicht, ich möchte nur mit dir essen gehen.«

»Wo? Im ›Ashton‹?«

»Nein, im ›Central‹.«

»Ach was!«

Das »Central Hotel«, befand sich im Herzen der Stadt, gleich neben dem Bahnhof, aber Industrielle und Schiffbauer bevorzugten gemeinhin das etwas rustikalere Umfeld im »Ashton«.

»Wie geht es Cissie?«, erkundigte sich Lindsay nach dem Befinden von Toms Frau, ihrer Cousine.

»Bestens, wie du zweifellos weißt.«

»Und die Kinder?«

Tom war lange Witwer gewesen, als er sich in Cissie verliebt hatte, oder genauer, Cissie sich in ihn. Sie war nicht besonders hübsch und neigte zu leichter Hysterie, sodass Donald und Lilias erleichtert aufgeatmet hatten, als Tom Calder seine häuslichen Probleme geregelt und ihrer Tochter die alles entscheidende Frage gestellt hatte.

Er war nicht mehr so bleich und mager wie zur Jahrhundertwende; die Ehe und gutes Essen hatten ihn etwas fülliger werden lassen, aber die hohlen Wangen und die Sorgenfalten deuteten darauf hin, dass er immer noch dazu neigte, sich viel zu viele Gedanken um alles und jeden zu machen. Sein Haar war licht geworden, was ihm sehr zu schaffen machte. Darauf nahmen seine beiden Töchter Dorothy und Katy jedoch keinerlei Rücksicht, wenn sie ihm liebevoll die Glatze tätschelten. Toms Sohn Ewan besuchte inzwischen die Akademie. Er war ein ernster, kluger Junge, der nur aus seinem Schneckenhaus herauskam, wenn seine Cousins zu Besuch waren und ihn mitzogen – zumindest waren seine Eltern davon überzeugt.

»Den Kindern geht es ganz gut. Ich muss allerdings gestehen, dass sie mir über den Kopf wachsen. Es ist sicher nicht lustig mit einem Vater, der schon fast sechzig ist und nicht mit ihnen mithalten kann.«

»Ach, komm, Tom, du bist noch keine sechzig, sondern erst siebenundfünfzig. Du tust ja gerade so, als stündest du schon mit einem Bein im Grab.«

Tom zuckte mit den Schultern und blickte aus dem Fenster auf den Verkehr. »Wenn du vorhast, mich über Forbes’ Öltanker-Pläne auszufragen, vergiss es: Ich musste ihm absolutes Stillschweigen zusichern.«

»Kann kein so großes Geheimnis sein, wenn wir im kommenden Sommer schon ein Modell im Testtank haben werden. Gibt es Probleme mit den Entwürfen?«

»Unzählige«, gab Tom zu. »Das Hauptproblem ist allerdings, dass wir noch keinen Abnehmer haben. Schiffe auf Verdacht zu entwickeln, geschweige denn zu bauen, ist sehr riskant, und das macht alle nervös, mich eingeschlossen.«

»Forbes würde aber doch nicht ohne verbindlichen Auftrag mit dem Bau beginnen, oder?«

»Nein, vermutlich nicht.«

»Wir können sowieso nicht anfangen, solange die Zerstörer nicht fertig und ausgeliefert sind.« Nach einer kurzen Pause fragte sie: »Wie einträglich wäre denn das Tanker-Geschäft?«

»Einträglich«, entgegnete Tom. »Sehr einträglich.«

»Einträglich genug, um große Summen vorab zu investieren?«

»Ich denke, ja. Hey, wolltest du mich nicht einfach nur zum Mittagessen einladen?«

»Schon gut. Das Thema Werft ist ab sofort tabu, versprochen.«

Das Taxi bog von der Argyll Street ins untere Ende der Hope Street ein, wo sogar zur Mittagszeit der Verkehr so dicht war, dass sie kaum vorankamen. In Lindsays Aufregung mischte sich Panik bei dem Gedanken, dass Maeve möglicherweise nicht mitgespielt hatte. Vielleicht hatte sie sich ja geweigert, das »Central Hotel« zu betreten, um stattdessen die Stadt zu erkunden, womit sie Lindsay ihre Überraschung verderben würde.

»Bezahl das Taxi, Tom. Den Rest des Weges gehen wir zu Fuß«, meinte Lindsay.

»Warum die Eile?«

Lindsay öffnete die Wagentür und stieg aus. Sie blickte die Hope Street hinauf in Richtung Hotel. Eingekeilt zwischen Pferdewagen und verschiedenen Eisenbahnen musste das Taxi am Straßenrand ausharren.

»Wir treffen jemanden, stimmt’s, Lindsay?«

»Ich habe nur Hunger.«

»Ist das wieder einer von Forbes’ miesen Tricks?«, fragte Tom argwöhnisch.

»Nein«, entgegnete Lindsay, »einer von meinen.«

Sie hatten das Haus am Brunswick Crescent kurz nach elf verlassen. Maeve hatte geschlafen wie ein Stein und ein riesiges Frühstück verputzt, und jetzt war sie deutlich besserer Laune als am Vorabend. Sie war erleichtert gewesen, als ihre Vettern zur Schule aufgebrochen waren, fand sie doch deren Bemühungen, sich bei ihr beliebt zu machen, äußerst anstrengend. Sie war nicht sonderlich überrascht gewesen, als Onkel Forbes sich zur Werft begeben hatte, gefolgt von Tante Lindsay. Sogar ihr Vater schien beschäftigt zu sein.

»Wirst du Großmutter besuchen?«, fragte Maeve.

»Vielleicht«, erwiderte Gowry ausweichend.

»Soll ich mitkommen?«

»Möchtest du das denn?«

»Nicht wirklich.«

»Ich schätze, es ist wohl besser, wenn ich bei ihr vorbeischaue«, seufzte ihr Vater. »Auch wenn sie mir die Ohren volljammern wird, weil ich nicht zu Dads Beerdigung gekommen bin.«

»Sie hätte ihn zur Beerdigung in die Heimat überführen lassen sollen. Ich meine, wenn er auf irischem Boden begraben worden wäre, wären alle gekommen.«

»Ich glaube, genau das wollte deine Großmutter vermeiden.«

»Was wirst du ihr über Peter und Charlie erzählen?«

»So wenig wie möglich.«

Schließlich wurde vereinbart, dass die Haushälterin ihr die Stadt zeigen sollte, womit, wie Maeve hoffte, ein Schaufensterbummel gemeint war, und sie sich schließend mit Tante Lindsay zum Mittagessen treffen würden.

Sie fuhren in einem zweistöckigen Straßenbahnwagen und saßen ganz vorn über dem Fahrer.