Sturm über Schottland - Jessica Stirling - E-Book

Sturm über Schottland E-Book

Jessica Stirling

0,0
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Packender Auftakt der historischen Familiensaga um die beiden Patterson-Schwestern aus Balnesmoor

Schottland, 1791. Eine wilde Novembernacht führt die Highlanderin Gaddy Patterson durch den kleinen, einsamen Ort Balnesmoor. In einem Haus findet sie ein totes Mädchen und dessen noch lebendes Baby. Gaddy verlässt ihren Clan, um sich um das Kind zu kümmern, das sie Elspeth nennt. Sie lässt sich im Ort nieder, lebt vom Gemüseanbau auf ihrem kargen Stück Land und von der Arbeit bei dem Farmer Coll Cochran. Entgegen aller Erwartungen gewinnt sie den Kampf ums Überleben - und mit Coll verbindet Gaddy bald mehr als nur die Arbeit ...

"Sturm über Schottland" ist der Auftakt der Trilogie über das wechselvolle Leben und Lieben der beiden Stiefschwestern Elspeth und Anna. Ihre Geschichte geht packend weiter in "Die Schwestern aus Balnesmoor" und "Die Früchte der Erde".

"Armut, Leidenschaft und Vorurteile ... eine schriftstellerische Kraft, die wie ein Sturm über den Ereignissen tobt - randvoll mit Emotionen." Daily Mail

eBooks von beHEARTBEAT - Herzklopfen garantiert.


Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 662

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

CoverWeitere Titel der AutorinÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumZitatTEIL I: Gaddy1 Geschützte Weiden2 Käsebrot und Küsse3 Ein Freund auf der Welt4 Hochzeit am See5 Schwarze Rinder6 Mit einem Fuß im ParadiesTEIL II: Elspeth1 Fragen im Wald2 Der scharlachrote Umhang3 Die Werbung des Webers4 Ein langer dunkler Tag

Weitere Titel der Autorin

Die Patterson-Schwestern Band 2: Die Schwestern aus Balnesmoor Band 3: Die Früchte der Erde

Die McCulloch-Trilogie Band 1: Die Melodie der Wellen Band 2: Die Stürme des Himmels Band 3: Die Träume des Windes

Die Highland-Schwestern Band 1: Die Frauen von der Insel Band 2: Im Schatten der Stürme Band 3: Die Insel der Zuversicht

Über dieses Buch

Packender Auftakt der historischen Familiensaga um die beiden Patterson-Schwestern aus Balnesmoor

Schottland, 1791. Eine wilde Novembernacht führt die Highlanderin Gaddy Patterson durch den kleinen, einsamen Ort Balnesmoor. In einem Haus findet sie ein totes Mädchen und dessen noch lebendes Baby. Gaddy verlässt ihren Clan, um sich um das Kind zu kümmern, das sie Elspeth nennt. Sie lässt sich im Ort nieder, lebt vom Gemüseanbau auf ihrem kargen Stück Land und von der Arbeit bei dem Farmer Coll Cochran. Entgegen aller Erwartungen gewinnt sie den Kampf ums Überleben – und mit Coll verbindet Gaddy bald mehr als nur die Arbeit …

»Sturm über Schottland« ist der Auftakt der Trilogie über das wechselvolle Leben und Lieben der beiden Stiefschwestern Elspeth und Anna. Ihre Geschichte geht packend weiter in »Die Schwestern aus Balnesmoor« und »Die Früchte der Erde«.

Über die Autorin

Jessica Stirling ist ein Pseudonym, unter dem Hugh Crauford Rae (1935-2014) erfolgreich Liebesgeschichten und historische Familiensagas veröffentlicht hat. In Glasgow geboren, arbeitete Rae nach der Schule vierzehn Jahre lang in einer Buchhandlung, bevor er sich auf das Schreiben konzentrierte. Als Jessica Stirling hat Rae zunächst zusammen mit der befreundeten Autorin Peggy Coghlan gearbeitet. Nach einigen Jahren zog sich Coghlan altersbedingt zurück, und Rae schrieb fortan mit Coghlans Zustimmung allein unter dem Pseudonym Jessica Stirling weiter. Er war Präsident der Scottish Association of Writers und hat Kurse in Kreativem Schreiben an der Universität Glasgow gegeben. Bis zu seinem Tod am 24. September 2014 hat er über siebzig Romane veröffentlicht, die meisten unter Pseudonymen.

JESSICA STIRLING

STURM überSCHOTTLAND

Aus dem Englischen vonCécile G. Lecaux

beHEARTBEAT

Digitale Originalausgabe

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Für die Originalausgabe: Copyright © 1985 by Jessica Stirling Titel der englischen Originalausgabe: »Treasures on Earth«

Für diese Ausgabe: Copyright © 2003/2019 by Bastei Lübbe AG, Köln Covergestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de unter Verwendung von Motiven © thinkstock: John Gollop; © AdobeStock: Patrick Daxenbichler | Le Do

eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-6478-1

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Niemand weiß,Welch stürmische JahrhunderteDie Rose sah vorüberziehen.

Sir David Lindsay

TEIL I

Gaddy

1Geschützte Weiden

Von einer eisigen Böe erfasst, die durch Lücken in der Brombeerhecke pfiff, wirbelte Laub vor ihr in den Tunnel unter den Eichen. Die Bäume neigten sich im Wind, und in ihrer Nervosität kam es Gaddy so vor, als wollten sie ihr mit ihren Ästen den Weg versperren. Sie war eine kräftige, gut aussehende Frau, kein elfenhaftes junges Ding mehr, und doch wurde sie von der Kraft des Sturms regelrecht geschüttelt, und ihre blauen Augen tränten. Sie beugte sich tief über den Hals der Stute, krallte beide Hände in die zerzauste Mähne und spähte zwischen halb geschlossenen Lidern auf den Weg vor ihr.

Sie hatte gehört, dass piktische Krieger, Kelten aus dem Norden Schottlands, den Weg Jahrhunderte zuvor angelegt hatten auf ihrem heimlichen Zug nach Süden, um die römischen Festungen in den Hügeln oberhalb von Clyde zu stürmen. Seit jenen Tagen waren zahllose Highlander, einige von ihnen kaum weniger barbarisch als ihre Vorväter, dieser Route von den Bergschluchten herunter gefolgt, um ihr Vieh von den wilden freien Bergen auf die geschützten Weiden der Ebenen zu treiben.

Donald und sie selbst hielten es genauso. Seit zweiundzwanzig Jahren kamen sie jeden Herbst vom abgelegenen Argyll hierher nach Stirlingshire. Gaddy hatte keine Veranlassung anzunehmen, dass dieses Jahr 1791 anders sein würde als die vorangegangen, dass ihr Leben an diesem ungemütlichen Novemberabend eine unwiderrufliche Wende erfahren sollte.

Für Gaddy Patterson und Donald McIver war dieser Viehtrieb nur einer von vielen über die Jahreszeiten hinweg. Alles in allem würden sie fast 300 Meilen zurücklegen, bevor der Winterschnee sie heim zwang zu den armseligen Höfen von Ardelve auf dem nackten Rücken des Ben Cruachan. Aber im November trieben sie keine schwarzen Rinder vor sich her. Im November schufteten sie auf eigene Rechnung und nicht für einen Hungerlohn als Saisonarbeiter für irgendwelche Gutsherren oder Viehzüchter aus der Gegend. Ihr Ziel war der Pferdemarkt im Thorn of Cadder am Stadtrand von Glasgow.

Der Pferdemarkt von Cadder war eine bescheidene Angelegenheit verglichen mit jenem von Rutherglen oder den gut besuchten Veranstaltungen in Falkirk, wo in drei Tagen fünfzigtausend Tiere den Besitzer wechselten. Aber Cadder war am geeignetsten, wenn man robuste Arbeitstiere aus dem Hochland verkaufen wollte, stämmige Ponys, die das Herzblut der schottischen Landwirtschaft und des Transportwesens waren. Hinterher, wenn die Ponys verkauft waren, würden sie und Donald sich einer anderen, nicht minder wichtigen Angelegenheit widmen. Sie würden dem Clyde-Tal folgen bis Dumbarton, mit der Kaltblutstute und ihrem zweijährigen Fohlen, das bereits kräftig genug war, mit dem Schweif eine Heuhocke umzuwerfen. Es war schon lange vereinbart worden, dass die Stute von einem der flämischen Hengste des Edderly-Anwesens, auf dem Donalds Onkel Oberstallmeister war, gedeckt werden sollte. Das Fohlen sollte für sieben Pfund in den Besitz der Edderlys übergehen, wobei die Differenz zwischen diesem Betrag und dem tatsächlichen Wert des Jungtieres als Decktaxe verrechnet wurde, ein Arrangement, das sich in den vergangenen Jahren bewährt hatte.

Die Stute hieß Bracken, das Hengstfohlen Gallant. Im Sturm tänzelte der Halbstarke unruhig hinter seiner Mutter her, als spürte er Gaddys Widerwillen, Privatgrund zu betreten.

»Verdammt, Weib. Reite weiter«, rief Donald ihr zu.

Aber Gaddy zögerte und hielt die Zügel kurz.

Sobald sie die Ponys den Weg hinunter auf die Bergweide getrieben hatten, würden sie sich mit dem Gesetz in Konflikt befinden. Von Perth über Crieff und Stirling galten öffentliche Straßen und das umliegende Land als Eigentum der Gemeinden, die wiederum den ansässigen Gutsherren gehörten. Es mussten Gebühren entrichtet werden, wenngleich Gaddy keine Ahnung hatte, an wen und in welcher Höhe. Donald hatte noch nie dafür bezahlt, dass er seine Tiere auf Privatgrund grasen ließ, und er hatte deutlich gemacht, dass er verdammt nochmal nicht im Traum daran dachte, jetzt damit anzufangen, Gesetz hin oder her.

»Gaddy, hörst du nicht?«

Die dunkle Oberfläche des Sumpfes wurde von Schneeregen aufgeschäumt, der die Cottages des nahe gelegenen Dorfes verschluckte. Pächter und Arbeiter saßen zweifellos gemütlich im Trockenen. Im Herrenhaus von Ottershaw würden nur die Pferdepfleger draußen sein und im geschützten Stallhof ihre Tiere striegeln. Gaddy fühlte sich schrecklich allein. An diesem Abend sehnte sie sich schmerzlich nach einer eigenen Familie. Donald teilte zwar das Bett mit ihr, aber sie waren nicht verheiratet. Eigentlich war sie kalte Nächte und Einsamkeit gewohnt, warum also machte ihr beides ausgerechnet heute zu schaffen? Ihre Mutter, die schon vor langer Zeit verstorben war, hatte die Gabe des zweiten Gesichts besessen, und obgleich Gaddy nicht von sich behaupten konnte, die Zukunft in den Flammen eines Feuers zu sehen oder im Rauschen der Meeresbrandung Stimmen zu hören, warnte eine innere Stimme sie, so hoch und eindringlich wie der Ton einer straff gespannten Geigensaite.

»Los doch, dummes Weib«, zürnte Donald.

Sie brachte es immer noch nicht über sich, den röhrenartigen Gang zu betreten. Hoch oben auf dem Rücken der Stute, mit nur einer Decke und einem Segeltuchüberwurf als Sattel, klammerte sie sich mit nackten Beinen an die nassen Flanken. Der Schal klebte an ihren Ohren, und der Wind zerrte an ihrem Haar. Sie war eine große, kräftig gebaute Frau von achtunddreißig Jahren mit großen Händen und einer Gesichtsform, die die Hirten in Ardelve als »pausbäckig« bezeichneten. Sie kam gut mit jedem Wetter zurecht, wenn sie sich auch in den kalten Monaten die Schenkelmit Wollbahnen umwickelte, um sich nicht wund zu reiten, da sie die Stute außerhalb von Ortschaften im Herrensitz ritt.

Donald verlor vollends die Geduld.

»Los«, bellte er. »Mach dass du weiterkommst, Mädchen.«

Was war es nur? Hatte es in den umliegenden Hügeln irgendwann einmal einen Hexensabbat gegeben? Lag der Gestank des ketzerischen Treibens noch fünf Tage nach Allerheiligen in der Luft? War das der Grund für ihre unerklärliche Furcht? Du dumme Gans, schalt sie sich. Beweg dich, sonst prügelt Donald dich noch mit der Rute grün und blau. Sie grub die Fersen in die Flanken der Stute, die sich gehorsam in Bewegung setzte.

Der Wind schleuderte erneut Laub durch die Luft, und die Äste der Eichen streiften Gaddys Kopf, obwohl sie sich so weit vornüber neigte wie nur möglich. Bracken fiel in einen federnden Trab, und das Fohlen trottete hinterher. Sie steuerte das offene Tor an und ritt auf die Weide. Gallant holte sie ein. Donald eilte herbei und schloss hastig das Tor, das er sogleich mit dem dazu bestimmten Seil fixierte. Jetzt befanden sie sich auf Bontines Land, auf Bontines Weide. Nervös blickte Gaddy sich um.

Mutterschafe hatten unter den Ästen, die die Hecke überragten, Schutz gesucht. Als die Ponys auf die Wiese trabten, erhoben sie sich und zogen sich blökend zurück, hinaus in den beißenden Wind. Die Umrisse mehrerer Ochsen hoben sich vom Himmel ab. Aufgeschreckt galoppierten sie über die Hügelkuppe davon und verschwanden außer Sichtweite.

Es war eine karge Weide oben auf dem Hügel Drumglass. Sie fiel recht steil von einem konischen Gipfel ab, über den Weg und die Grenze nach Glasgow, bis durch die Tore des Parks von Ottershaw und zu Sir Gilbert Bontines Haustür.

Gaddy hatte Ottershaw House bisher nur ein einziges Mal gesehen. Vor sieben Jahren hatte Donald, der unbedingt etwas zu trinken gebraucht hatte, versucht, dort Ponys zu verkaufen, und war prompt von zwei Landarbeitern verjagt worden. Was sie über die Familie Bontine wusste, war nicht mehr als das, was sie über andere Gutsherren aus der Gegend dem Tratsch auf Viehmärkten und an Lagerfeuern entnommen hatte, wo sich Viehtreiber und Hausierer trafen und austauschten. Bontine galt landläufig nicht als Tyrann. Er schoss nicht um sich, sperrte einen nicht in den Keller, um einen von seinem Schmied auspeitschen zu lassen, und schleifte einen auch nicht vor den Kadi, es sei denn, man hatte ihn bestohlen. Aber Donald McIver besaß die unheilvolle Gabe, überall anzuecken, da er sich prinzipiell weigerte, klein beizugeben, sei es auch nur der Form halber. Wenn man sie erwischte, würde es Ärger geben, und möglicherweise versäumten sie sogar den Pferdemarkt am Thorn of Cadder.

Auf der Weide waren vorstehende Büschel harten Grases und Disteln zu erkennen, weiß vom Schneeregen. Weiter vorn floss ein Bach, von dem winzige Wasseradern abgingen, die den Hang hinunterrannen, und ein rundes natürliches Becken eignete sich hervorragend als Tränke für die Ponys. Aber die Weide war karg und das Gras so spärlich, dass es kaum eine Gebühr gerechtfertigt hätte. Es würde kaum eine Anzeige geben wegen Grasdiebstahl oder unbefugten Betretens, auch wenn Letzteres zweifellos zutreffend war.

Bracken folgte den Highland Ponys an der Hecke entlang und dann aufwärts über die Hügelkuppe, fort vom Wald, der zumindest ein wenig Schutz vor Wind und Wetter geboten hatte. Gaddy konnte die Ponys trotz des Schneetreibens gut erkennen, Donalds zwei Hunde liefen ihnen geduckt hinterher und schnappten hier und da nach ihren Hufen, um sie zusammenzuhalten.

Dreihundert Meter oberhalb des Weges stießen sie auf die Überreste einer Mauer und eine windschiefe Hütte. Früher hatte hier ein altes Weib gewohnt, das sich seinen Lebensunterhalt damit verdient hatte, Hasen von den Weiden fern zu halten. Das war noch in einer Zeit gewesen, bevor Flinten in Mode kamen. Aber die Alte war lange tot, und die Hütte diente längst nur noch den Schafen als Unterstand. Trotzdem war Gaddy dankbar für das Dach über den Kopf und die Mauern, die sie vor dem eisigen Wind und ihren beunruhigenden Ahnungen schützen würden. Es würde sie aufheitern zuzuhören, wie Donald sich fluchend über die Grundbesitzer ausließ, nachdem sie es sich, so gut es ging, gemütlich gemacht hatten, ein Feuer brannte und das Abendessen im Topf köchelte. Sie würde sich um die typischen Frauenarbeiten kümmern, während Donald die Ponys versorgte und den Pferden den Hafersack umhängte. Heute Abend würde sie ausnahmsweise auf ihren Teevorrat zurückgreifen. Tee war Gaddys einzige Schwäche. Sie hasste minderwertiges Bier und Ale, ganz zu schweigen von härteren Getränken, auch wenn ein »Lady’s Drink« bei den Kleinbauern von Ardelve durchaus toleriert wurde.

Die Ponys hatten an der Mauer ein paar genießbare Gräser entdeckt, die sie zufrieden ausrupften, ihre Schweife wehten wie Wimpels im Wind. Donald überließ sie sich selbst und folgte den Hunden durch das Loch in der Mauer. Gaddy folgte auf der Stute, die vorsichtig über halb im Erdboden versunkene Steine hinwegstieg. Sie zügelte das Pferd im Windschatten der halb verfallenen Hütte, und Donald befreite den Junghengst von seinem Strick.

Als er an Gaddy vorbeiging, brummte Donald: »Gott, was ist nur heute Abend mit dir los, Gaddy Patterson?«

Er erwartete gar keine Antwort.

Gaddy ließ sich vom Pferderücken gleiten. Der Wind drückte die Röcke gegen ihre Schenkel, und der nasse Schal klebte an ihrem Kopf. Das Packpony stand ganz in der Nähe, geduldig wie ein Standbild. Die zitternden, hechelnden Hunde warteten ebenfalls. Hunde und Pferde zollten dem Highlander bedingungslosen Gehorsam; er behandelte sie gut, oft genug besser als seine Lebensgefährtin. Gaddy näherte sich der Tür mit einer seltsamen Mischung aus Furcht und Erregung.

Im Inneren der Hütte roch es streng nach Schafen, es war feucht wie in einer Meeresgrotte und dazu stockfinster. Aber es war nicht der Gestank, der sie zögern ließ. Lug und Birkie, die für gewöhnlich furchtlosen und listigen Mischlinge, wichen zähnefletschend mit gekräuselten Lefzen, angelegten Ohren und gesträubten Nackenhaaren zurück.

Gaddy gab den Hunden ein Zeichen: »Geh rein, Luggie. Du auch, Birkie. Los, vorwärts.« Die Hunde verweigerten den Gehorsam. Zitternd drückten sie sich ins Gras.

Die Stute wieherte und stampfte nervös mit den Hufen. So groß und stark wie er war, rückte der junge Hengst näher an seine Mutter heran und rieb den Kopf an ihrer Schulter.

»Donald?«

Aber er hörte sie nicht. Er war wieder hinter der verfallenen Mauer verschwunden, um die Ponys zu zählen.

Gaddy holte tief Luft und trat einen Schritt vor.

Mit geschärften Sinnen machte sie in der Dunkelheit eine helle längliche Form aus, die im ersten Moment aussah, als würde sie über dem löchrigen feuchten Erdboden schweben. Ganz bestimmt handelte es sich um nichts Bedrohliches, vermutlich war es nur ein Mehlsack, der von einem Kind als Treibhilfe oder zum Verjagen von Wildtieren benutzt und zurückgelassen worden war. Wenn sie Donald wegen dieser Lappalie rief, würde er an ihr vorbeigehen, das Ding beiseite treten und sie wegen ihrer Ängstlichkeit verhöhnen.

Gaddy ging zum Packpony hinüber und wühlte in einem der Bündel, die auf seinem Rücken festgeschnallt waren. Sie fand die Laterne in ihrer Wachstuchhülle und den kleineren wasserdichten Beutel mit Zunder und Feuersteinen. Sie kniete sich neben die Mauer, schützte die Büchse mit ihrem Rock vor Wind und Nässe und schlug die Feuersteine aneinander. Funken sprühten. Eine winzige Flamme loderte in dem Gemisch aus Wolle und Holzspänen in der Blechdose. Mit einem in Wachs getauchten Strohhalm entzündete sie den Laternendocht und verschloss das Lampenglas wieder. Mit der brennenden Laterne in der Hand näherte sie sich wieder der Tür.

Der rissige und moosverschleimte Türsturz war kaum höher als ihr Kopf. Sie blieb darunter stehen und hielt die Laterne auf Armeslänge von sich.

Es war doch kein Mehlsack.

Gaddy schrie entsetzt auf.

Eine Frau lag ausgestreckt auf dem Boden, die Röcke bis über die nackten, dürren Schenkel hochgeschoben. Gaddy erkannte, dass sie über die Schwelle gestolpert sein musste und auf dem Bauch tiefer in den Schutz der Hütte gekrochen war. Ihr von Schneeregen und Schlamm verklebtes Haar erinnerte an schimmelige Federn. Gaddy ging durch den Kopf, dass sie aussah wie ein junger Reiher, dem man den Hals umgedreht hatte.

»Donald?«, rief Gaddy noch einmal mit erstickter Stimme.

Birkie war Gaddy nachgeschlichen und schnupperte neugierig. Die Highlanderin trat nach dem Hund, um zu verhindern, dass er der Leiche zu nahe kam.

»Donald, komm her, schnell.«

Lug bellte, wie um ihren Befehl weiterzugeben, aber Donald herrschte das Tier nur an, es solle verdammt nochmal still sein.

Gaddy näherte sich der Toten vorsichtig, bis der Lichtkreis der Laterne auf die Fremde fiel.

Aus der Nähe erkannte sie, dass es noch gar keine Frau war, sondern kaum mehr als ein Mädchen, groß und knochig, mit Armen so dünn wie Weidenruten. Der rechte Arm war unter der Brust angewinkelt.

»Donald?«

Vielleicht war Gaddys Ruf der Auslöser für das kaum wahrnehmbare klägliche Wimmern, nicht viel lauter als das Piepsen einer Maus, zu schwach und leise, als dass man es als Wehklagen hätte bezeichnen können.

Gaddy fiel auf die Knie, stellte die Laterne an die Wand und zog die Schulter des Mädchens zurück. Der Kopf rollte kraftlos zur Seite. Glasige Augen starrten blicklos zu Gaddy auf. Die Kleine war höchstens fünfzehn oder sechzehn, und trotz der eingefallenen Wangen und der unnatürlichen Blässe noch hübsch.

Gaddy schluckte den Kloß des Mitleids herunter, der ihre Kehle verengte. Sanft zog sie erneut an der Schulter, bis das Mädchen kraftlos auf den Rücken rollte.

Erst jetzt sah Gaddy, dass das Mädchen etwas an die Brust gedrückt hielt. Ein Säugling!

»O mein Gott! Allmächtiger!«, murmelte Gaddy Patterson und streckte die Arme nach dem Baby aus.

Reverend William Leggat kam 1772 nach Balnesmoor. Der Herzog von Montrose sprach seine Empfehlung aus, und am 9. Juni wurde Leggat zum Priester geweiht. Er war der fünfte Sohn eines Pachtbauern in Franklin bei Dunblane und hatte erst die Schule in Stirling besucht und anschließend die Universität von Glasgow. In den ersten drei Jahren nach seinem Abschluss war er als Hauslehrer bei der Familie von Mr. Arbuthnot aus Croal in der Nähe von Perth angestellt. Dort verliebte er sich hoffnungslos in die Tochter des Hauses, ein hochnäsiges Biest namens Isobella, die entschlossen war, einen Mann von Adel zu heiraten, sich aber einen Spaß daraus machte, den jungen Geistlichen mit ihren Reizen und Neckereien um den Verstand zu bringen. Mr. Leggat war derart erleichtert, der Hexe endlich entronnen zu sein, dass er am Vorabend seiner Ordinierung vor dem Altar der alten Kirche von Balnesmoor niederkniete und den Schwur leistete, nicht nach höheren beruflichen Ehren zu streben, sondern sich zufrieden zu geben mit dem Los, das ihm beschieden war. Außerdem schwor er, nie zu heiraten, könnte ihn die Suche nach einer geeigneten Ehefrau doch erneut in die Fänge einer kaltherzigen Schlange wie Miss Arbuthnot treiben, und er sah sich nicht im Stande, eine solche fleischliche Qual noch einmal durchzustehen. Zölibat war jedoch ein Zustand, der leichter versprochen als gelebt wurde. Mr. Leggat war ein liebevoller Mensch, wenn auch nicht über die Maßen sinnlich, sodass er andere Wege fand, sein Naturell auszuleben. Er war kein Eiferer und vermied es tunlichst, sich in die Streitigkeiten einzumischen, die die presbyterianischen Kirchen spalteten. Er stützte seine Predigten auf eine solide Doktrin, die Lehren des Katechismus und das Singen metrischer Psalmen. Er war als Prediger nicht etwa leidenschaftslos, verkörperte jedoch die neue Toleranz, die sich in der Kirche etablierte, und seine Zurückhaltung brachte ihm viele Sympathien ein. So genoss er als gereifter Mann großes Ansehen in seiner Gemeinde – nicht zuletzt wegen Größe und Menge des von ihm selbst angebauten Gemüses.

Manch böse Zunge monierte denn auch, dass der Reverend offenbar mehr Zeit darauf verwandte, seinen Gemüsegarten zu pflegen, als die Gärten des Herrn. Aber auch der kleinlichste Dorfbewohner musste zugeben, dass der Geistliche Wunder gewirkt hatte auf dem kargen, recht steil abfallenden Grundstück hinter dem Pfarrhaus, das so steinig und unfruchtbar war, dass dort ursprünglich nicht einmal Disteln wuchsen. Eine solche Fülle an Obst, Blumen und Gemüse im Garten eines Geistlichen, hieß es, sei ganz sicher ein Beweis für die Gunst Gottes – und die Wirkung regelmäßigen Aufbringens von Mist als Dünger.

Das Pfarrhaus lag vierhundert Meter von der Kirche entfernt in einer Sackgasse, die als Bonnywell bekannt war, obwohl der eigentliche Brunnen längst versiegt war und das Wasser von der Pumpe beim Ramshead Inn geholt werden musste.

Das Haus selbst lag verborgen hinter Sträuchern und einer efeuberankten Mauer. Es war ein zweistöckiges Sandsteinhaus mit Schieferdach und schmuckem Backsteinkamin. Obgleich Bonnywell am ruhigen Ende des Dorfes lag, standen dort noch zwei weiß getünchte Cottages, die Bontine gehörten und an Mr. James Simpson Moodie, seines Zeichens Weber und Mitglied des Kirchenrates, verpachtet waren.

James Moodie musste für zwei unverheiratete Schwestern und eine verwitwete Mutter aufkommen. Mancher Mann in Balnesmoor hätte die Arbeitskraft dreier Paar Frauenhände geschickt eingesetzt und sich auf die faule Haut gelegt, aber nicht so Jamie Moodie: Er nahm seine Verantwortung sehr ernst. Die Familie lebte in dem einen Cottage und arbeitete in dem zweiten, wo sie Wolle spann und zu Stoff verwob. Es war ein ordentlicher, gut organisierter Betrieb, den der junge James von seinem sparsamen, fleißigen Vater übernommen hatte. Der Webstuhl war dicht beim Vorderfenster des Cottages am Boden verschraubt, zum einen, weil dort das Licht am besten war, jedoch auch wegen des Blicks auf das Pfarrhaus.

Es war kurz vor sechs an diesem Dienstagabend, als Hufgetrappel Jamie veranlasste, von seinem Schemel am Webstuhl aufzuspringen und ans Fenster zu laufen. Misstrauisch spähte er durch die beschlagene Scheibe, wischte mit dem Ärmel über das Glas und schaute erneut hinaus.

Seine Mutter und seine Schwestern hatten den Lärm ebenfalls gehört und eilten herbei.

»Was ist los? Was hat das zu bedeuten?«, fragte das ältere der beiden Mädchen.

»Warte, ich kann noch nichts erkennen.«

Ein grobschlächtig wirkender Mann in zerlumpter Kleidung schwang sich vom Rücken eines Highland Ponys, stieß das Tor zum Pfarrhaus auf und zog sein Reittier am Zügel hinter sich her, den schmalen Weg zwischen den gepflegten kleinen Stechpalmen entlang.

»Was meinst du, Jamie? Ob das ein Dieb ist?«

»Er ist ein Unheilsbote, ein Überbringer schlechter Nachrichten«, erklärte Mutter Moodie voller Überzeugung. »Das sehe ich ihm an.«

»Urteile nicht, wenn du nicht willst, dass über dich geurteilt wird«, sagte Jamie streng.

Kurz darauf hörten sie gedämpftes Klopfen, als der Fremde mit der Faust an die Tür des Pfarrhauses hämmerte.

»Passt auf. Seht genau hin«, forderte James Moodie die Frauen auf. »Achtet darauf, ob sie ihn hereinlässt.«

Eine halbe Minute schimmerte die Lampe der Haushälterin wie ein Elfenlicht herüber, dann verschwand der helle Schein wieder, als die Tür geschlossen wurde.

»Sie hat ihn eingelassen. Sie hat ihn wahrhaftig hineingelassen.«

»Vielleicht ist es ein Bote mit einem Brief«, meinte die jüngere der beiden Schwestern.

»Oder ein Samenhändler, der eine Bestellung aufnehmen will«, warf die Ältere ein.

»Kein Samenhändler würde in einem so unschicklichen Tempo reiten«, wandte James Moodie ein.

»Sohn, wie ich schon sagte: Ich denke, der Fremde bringt schlechte Nachrichten.«

»Wahrscheinlich hast du Recht, Mutter«, knurrte der Weber.

»Fragt sich nur, für wen«, murmelte Mutter Moodie.

Die Neugier brannte wie trockenes Stroh, nicht nur in den Frauen, sondern auch in James, der ganz angespannt war vor Frustration und Beunruhigung. Er rieb die Fäuste aneinander und blickte vom Fenster auf den Webstuhl und zu seiner Mutter.

»Ich … Ich geh mal rüber«, sagte er schließlich. »Ich muss wissen, was passiert ist.«

»Mit der Schürze kannst du nicht gehen«, gab Mutter Moodie zu bedenken.

»Lizzie, hol mir meine Sonntags-Breeches, und beeil dich.«

Tatsächlich hatte die ältere Haushälterin des Reverend den Fremden gar nicht eingelassen, vielmehr war dieser einfach an ihr vorbeigestürmt. Nun drohte die alte Frau bissig wie ein Terrier, um Hilfe zu rufen, wenn er sein ungebührliches Benehmen nicht auf der Stelle erklärte. Aber der Fremde dachte nicht im Traum daran, sich einer einfachen Hausangestellten zu erklären. Vielmehr betrat er, angezogen vom Lampenlicht, unaufgefordert das Esszimmer.

Mr. Leggat hatte einen arbeitsreichen Tag hinter sich. Mittags hatte er zwei alte Gemeindemitglieder besucht, und anschließend hatte er den ganzen Nachmittag damit verbracht, an der Nordwestmauer des Gartens Bohnenstangen in den trockenen Boden zu bohren. Nun saß der Geistliche gewaschen und gekämmt bei einem Glas Loganbeerenwein und mit einer aufgeschlagenen Ausgabe von Youngs Bauernkalender vor sich am Tisch, als der Pferdehändler hereinstürmte.

»Sind Sie der Pfarrer?«, fragte der Fremde ohne Umschweife.

»Der bin ich. Ich bin Mr. Leggat.«

»Wir haben eine tote Frau gefunden.«

Leggat war hager und sehnig, mit weichem, rötlichem Haar, braunen Augen und Händen, die so schwielig und kräftig waren wie die eines Dachdeckers.

Sprühend vor Zorn und verletztem Stolz betrat Mrs. Sprott das Esszimmer. Mr. Leggat bremste sie mit erhobener Hand. »Ich werde mich unseres Gastes annehmen, Mrs. Sprott, vielen Dank.« Er wandte sich dem Fremden zu. »Wo?«

»Oben am Bach, auf den Drumglass-Weiden.«

»Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?«

»McIver ist mein Name. Donald McIver.«

Mr. Leggat hatte schon viele wie ihn kennen gelernt. Er erkannte an der grauen Wollmütze, dem Dufflecoat, den Kniebundhosen aus grobem Cord und den durchlöcherten dicken gerippten Wollsocken den »König der Straße«.

»Sind Sie zufällig Viehtreiber, Mr. McIver?«

»Jawohl, Sir, das bin ich. Allerdings bin ich derzeit nicht mit Rindern, sondern mit Highland Ponys unterwegs.«

»Wollen Sie nach Cadder?«

»Das wollte ich, ja, bis wir die Tote gefunden haben.«

Hinter Mr. Leggats verbindlicher Art verbarg sich ein hohes Maß an Scharfsinn. »Drumglass gehört zu Sir Gilbert Bontines Ländereien, McIver, wie Sie sicher wissen. Warum überbringen Sie diese traurige Nachricht mir und nicht dem Gutsherren?«

»Sie … meine … Frau hat gesagt, ich soll zum Pfarrer gehen.«

»Wären Sie weitergeritten, ohne Bescheid zu geben?«

Die Offenheit der Frage brachte McIver aus dem Konzept. Er grinste schief. »Ja, mag sein. Aber da ist ein Kleines, das noch atmet.«

»Ein Kleines?«

»Ein Säugling.«

Mr. Leggat erhob sich. »Mrs. Sprott, laufen Sie rüber und holen Sie Mr. Moodie. Sagen Sie ihm, er soll sofort herkommen. Ach ja, und wo sind meine Reitstiefel?«

»Im Schrank neben der Treppe. Wollen Sie wirklich mit diesem Kerl gehen? Der lügt doch, wenn er den Mund aufmacht.«

»Es ist keine Lüge, Mistress. Ich wünschte, es wäre so«, entgegnete McIver.

Noch bevor Mrs. Sprott der Anweisung des Geistlichen Folge leisten konnte, wurde an die Tür geklopft.

Mr. Leggat grunzte spöttisch. »Wenn ich nicht sehr irre, ist das Mr. Moodie. Machen Sie ihm doch bitte auf.«

Pfarrer und Hirte folgten der alten Frau in die Diele und sahen zu, wie sie ein zweites Mal an diesem Abend die Tür entriegelte. Blätter raschelten auf der Steintreppe und wehten herein, weniger höflich als der Mann, der mit gerecktem Hals und hervorquellenden Augen wartete, zum Eintreten aufgefordert zu werden.

»Kommen Sie rein«, sagte Mrs. Sprott. »Ich wollte gerade zu Ihnen. Er braucht Sie zum Schutz, denke ich.«

»Schutz?«, fragte James Moodie. »Wovor?«

Trotz seiner gehobenen Stellung in Kirche und Gemeinde, war James Simpson Moodie erst knapp dreißig Jahre alt. Aber er hatte Kindheit und Jugend lange hinter sich gelassen und wirkte viel reifer und älter als seine Jahre. Seine Aufmachung erinnerte mehr an die eines Rechtsgelehrten aus Edinburgh als an einen Weber, und er sprach sehr gewählt, als er nun das Wort an den Geistlichen richtete. Er war einen Kopf kleiner als der Reverend und der Hirte, aber sehr muskulös, und besaß Bärenkräfte.

»Sie kommen gerade recht, Mr. Moodie«, sagte Leggat. »Wir müssen uns den Elementen stellen, Sie und ich. Seien Sie doch so gut, die Pferde aus dem Stall zu holen und zum Tor zu bringen. Und schauen Sie doch bei dieser Gelegenheit bitte bei Mr. Rankellor vorbei, um zu sehen, ob er schon aus Stirling zurück ist. Wenn ja, seien Sie so freundlich ihm mitzuteilen, dass ich ihm sehr verbunden wäre, wenn wir uns baldmöglichst auf dem Hof des Ramshead treffen könnten.«

Mr. Moodie beäugte den Fremden forschend, seine Neugier war bei weitem nicht befriedigt. »Wozu brauchen Sie den Doktor, Mr. Leggat?«

»Um ein Findelkind zu versorgen.«

»Wäre Mrs. Campbell da nicht ebenso gut geeignet wie der Doktor? Ich könnte nach Harlwood reiten und sie holen.«

»Eine Hebamme würde uns und dem armen Kind kaum helfen – immerhin ist das arme Ding schon auf der Welt.«

»Mrs. Campbell ist aber billiger als Mr. Rankellor. Viel billiger.«

Mr. Leggat seufzte. »Über die Bezahlung der Arztrechnung unterhalten wir uns später, Mr. Moodie. Ich lege nämlich auch Wert auf Doktor Rankellors Anwesenheit in seiner Eigenschaft als stellvertretender Sheriff. (In Schottland Richter an einem Gericht mit Zuständigkeit in Zivil- und Strafsachen; Anm. des Übersetzers) Und jetzt gehen Sie bitte und tun, worum ich Sie gebeten habe.«

»Sofort, Mr. Leggat. Bin schon unterwegs.«

Der Weber machte auf dem Absatz kehrt, eilte die Treppe hinunter und hastete zwischen den Stechpalmen hindurch zum Gartentor.

Erschrocken von der Eile Moodies scheute McIvers Pony, das an einem kleinen Haselnussstrauch vor dem Haus angebunden war, und zertrampelte gleich mehrere Blumenrabatten. Mr. Leggat seufzte erneut, setzte sich auf die Treppe und zog die Reitstiefel an, die Mrs. Sprott aus dem Kabuff geholt hatte. Außerdem hatte sie ihm einen schweren Wollmantel gebracht, einen Strickschal, Handschuhe und eine Mütze, alles notwendig, um den Geistlichen vor der nasskalten Novemberluft zu schützen.

»Dieser … Rankellor … ist Richter?«, fragte Donald McIver.

»Das ist er. Und durch einen glücklichen Zufall wohnt er hier in dieser Gemeinde.«

»Wozu brauchen wir ihn überhaupt?«

»Um die Frage der Verantwortlichkeit zu klären«, antwortete Mr. Leggat.

»Verantwortlichkeit? Wir wollten nur die Pferde tränken, verdammt nochmal.«

»Verantwortlichkeit für das Kind.«

Donald ließ sich hiervon jedoch nicht beruhigen. Nervös trat er von einem Fuß auf den anderen, während der Pfarrer sich ankleidete. Er fragte sich, was für Ärger Gaddy ihm da eingebrockt hatte. Jetzt hatten sie nicht nur den Pfarrer am Hals, sondern dazu noch diesen neugierigen Kerl von Weber und einen Richter. Ob es zu spät war, um den bedrohlichen Schatten der Kirchengerechtigkeit und des Gesetzes davonzulaufen, Ponys, Pferde und Weib zu opfern für seine persönliche Freiheit und ein Leben in Ruhe und Frieden?

Immerhin, sagte er sich, war er Gaddy Patterson nichts schuldig – und schon gar nicht dem armen wimmernden Neugeborenen, das sowieso bald sterben würde, wenn nicht in dieser Nacht, dann spätestens am folgenden Tag.

»Kommen Sie«, sagte Mr. Leggat und erhob sich.

Als hätte er die Gedanken des Hirten gelesen, packte er den Highlander mit festem Griff am Arm und führte ihn hinaus.

Gaddy hörte, wie der kleine Trupp vom Weg auf die Wiese abbog. Lug und Birkie, die dicht beim Feuer in einer Ecke der Hütte lagen, spitzten die Ohren und knurrten, als sie die fremden Pferde hörten.

»Pssst, ruhig, ihr beiden«, befahl Gaddy, obwohl das Baby in ihren Armen weder die Hunde wahrzunehmen schien noch die Stute und ihr Fohlen an der Tür, wo Gaddy ihnen etwas Hafer hingestreut hatte, damit sie sich still verhielten.

Wohin die Ponys inzwischen gewandert waren, kümmerte Gaddy nicht. Ihre ganze Sorge galt dem winzigen Menschlein, das sich an ihre Brust kuschelte, sogar zu schwach, um nach der Milchquelle zu suchen.

Gaddy verstand nicht viel von Kleinkindern, einmal abgesehen davon, dass sie oft starben. In Ardelve beispielsweise überlebten vier von sechs Neugeborenen nicht einmal das erste Jahr; Keuchhusten, Krämpfe oder hartnäckige Durchfälle rafften sie dahin. Aber Gaddy hatte viele Kälber und Fohlen auf die Welt geholt und teilweise mit der Flasche großgezogen, sodass sie nicht völlig ahnungslos war, was die Grundbedürfnisse eines Neugeborenen anbelangte. Um dieses hilflose kleine Wesen bangte sie jedoch.

Der Säugling hatte weder Strümpfe noch Mütze getragen und war nur in schmutzige Lumpen aus Baumwolle und Schafswolle gewickelt gewesen, die die kalte Nässe aufgesaugt hatten. Gaddy hatte ihn als Erstes ganz nackt ausgezogen, derweil Donald ihren Anweisungen folgend am Bach Wasser geholt und mit dem trockenen Holz, das sie immer mit sich führten, ein Feuer entzündet hatte.

»Es ist ein Mädchen, Donald.«

»Das dachte ich mir schon«, hatte der nur entgegnet.

»Jetzt geh und hol den Pfarrer.«

Donald McIver mochte ja ein Egoist sein, aber er war nicht völlig verroht. Außerdem leuchtete ihm Gaddys Argument ein, dass ihnen ein Riesenärger drohte, wenn sie das Kind einfach behielten und erwischt wurden. Zwar war das Gesetz in Stirlingshire noch ziemlich primitiv, aber gelegentlich konnten die Behörden zu drakonischen Strafen greifen. Sie wussten ja nicht, wessen Kind es war und welcher Familie das tote Mädchen angehörte. Also legte Donald die Tote an die Wand, breitete die Satteldecke über sie, lud das Gepäck vom Packpony und schwang sich auf dessen Rücken, um ins Dorf zu reiten und den Pfarrer zu holen.

Das Feuerholz hielt nicht lange und wärmte das Wasser im Kessel nur mäßig. Kurz nach Donalds Aufbruch musste Gaddy den Säugling in einen Schal und eine große Decke wickeln und ablegen, um draußen im Dunkeln Feuerholz zu sammeln. Da sie hierin Expertin war, brauchte sie nicht lange und war schon Minuten später wieder in der Hütte. Sie brach die trockenen Äste in kleine Stücke, die sie in die Glut steckte, öffnete dann eine der Packtaschen und nahm Zucker und Hafermehl heraus, zusammen mit einer Holzschale und einem hübschen silbernen Teelöffel, den Donald ihr in einer seltenen Spendierlaune bei einem fahrenden Händler gekauft hatte.

Es war unmöglich, das Alter des Kindes zu schätzen. Das arme kleine Ding war verschrumpelt und mager wie ein gehäuteter Feldhase, und dazu völlig entkräftet und lethargisch. Die Kopfhaut unter dem feinen Haarflaum war verkrustet, die Augen waren von gelbem Eiter verklebt. Fieber hatte das Baby keins, auch wenn die Kälte nur sehr langsam aus dem kleinen Körper wich. Gaddy hielt das kleine Mädchen ganz dicht an sich gepresst und rieb es vorsichtig, um die Durchblutung anzuregen, während sie wartete, dass das Wasser anfing zu dampfen. Das Alter war wichtig. Wenn der Säugling noch sehr jung war, würde sein Magen jede Nahrung außer Milch verweigern, und Gaddy hatte keine Milch zur Hand. Aber das Baby brauchte Nahrung, und das bald. Gaddy betete, dass die Kleine abgestillt war und der aufgeblähte Bauch in der Lage sein würde, Haferbrei zu verdauen.

Das Wasser im Kessel fing an zu brodeln. Gaddy legte das Baby wieder ab, maß mit dem Teelöffel Hafermehl ab, gab etwas Zucker aus der Blechdose hinzu und rührte beides im Wasser um, bis der Brei andickte. Dann kramte sie ein sauberes Taschentuch aus ihrem Gepäck, breitete es über die Holzschale und gab den Brei darüber, um diesen zu passieren. Abschließend drückte sie den klumpigen Inhalt des Taschentuches aus, sodass eine milchige Substanz hervorquoll, die dem Hafersud eine etwas sämigere Konsistenz verlieh.

Das Baby lag die ganze Zeit reglos da, ohne einen Laut von sich zu geben, derweil der Wind heulend und pfeifend durch das löchrige Dach fuhr und Schnee hereinwirbelte, der immerhin weniger nass war als der Eisregen von vorhin. Bracken und Gallant standen ganz dicht vor der Tür und hoben sich als massige Silhouetten vom schneegesprenkelten Dunkel ab. Lug war aufgestanden, schnupperte und winselte, als ihm der Geruch des Breis in die Nase stieg. Um die Hunde ruhig zu halten, bereitete Gaddy auch für sie eine Portion Haferbrei, den sie noch warm in ihre Näpfe gab. Wedelnd machten die beiden sich über die warme Mahlzeit her. Gaddy hoffte, dass der Säugling ebenso willig essen würde. Sie nahm das kleine Mädchen wieder auf den Arm, tauchte den kleinen Finger in den süßen Brei und strich dann über die winzigen Lippen. Das Baby reagierte nicht. Die Augen blieben geschlossen, aber nicht, weil die Kleine schlief, sondern weil sie schlicht zu schwach war, um sie offen zu halten.

Gaddy versuchte es noch einmal. Mit der Kuppe des Daumens hob sie vorsichtig die Oberlippe des Kindes an und strich den Brei auf Zahnfleisch und Zunge. Lange schien es, als hätten die natürlichen Instinkte des Kindes ausgesetzt, aber dann fühlte Gaddy zu ihrer grenzenlosen Erleichterung, wie die kleine Zunge sich bewegte und die zahnlosen Kiefer sich um ihren Finger schlossen. Das Baby wimmerte – der erste Laut, den es von sich gab, seit sie es vor einer Stunde gefunden hatte. Als Gaddy den Finger zurückzog, steigerte sich das Wimmern zu einem Protestgejammer. Winzige Finger krallten sich in Gaddys Haar, bis sie den mit Brei bedeckten Finger erneut in den kleinen Mund schob. Der Haferschleim war schnell weggenuckelt. Ah, dachte Gaddy, sie hat nicht nur Hunger, sondern auch Durst. Jetzt isst sie zumindest, und wenn ihr Magen die Nahrung verträgt und sie den Brei bei sich behält, wird sie wenigstens nicht verhungern.

Gaddy war immer noch dabei, den Säugling geduldig mit dem Finger zu füttern, als sie hörte, wie die Pferde sich der Hütte näherten. Sie hob den Kopf. Sie hörte eine Männerstimme und gleich darauf eine zweite, die antwortete. Sie war so schmutzig und zerrupft wie eine Garbe Winterstroh, aber sie war nicht gewillt, aus Eitelkeit die Fütterung des Kindes zu unterbrechen.

»Durch das Loch in der Mauer, Sir«, hörte sie Donald rufen. »Dort ist die Hütte, sehen Sie? Wo der Lichtschein ist.«

Aufgeschreckt von der Ankunft der fremden Pferde galoppierten Bracken und Gallant polternd davon. Donald würde einige Mühe haben, sie wieder einzufangen, sofern sie sich nicht von etwas Hafer anlocken ließen. Lug und Birkie hatten ihre Schläfrigkeit abgeschüttelt und drohten nun knurrend. Donald war so klug, als Erster hereinzukommen, packte die Hunde beim Nackenfell und warf sie hinaus.

»Wer ist bei dir, Donald?«

»Ein Geistlicher, so wie Mylady es verlangt haben«, knurrte McIver ironisch. »Und ein Richter.«

Wären die drei Männer nicht gewesen, hätte Donald sie verdroschen, weil sie ihm so viel Ärger aufgeladen hatte. Gaddy registrierte, dass er sich nicht nach dem Befinden des Säuglings erkundigte.

Sie war enttäuscht von ihrem Gefährten, auch wenn er ihr nie große Versprechungen gemacht hatte und sie in den vergangenen zwanzig Jahren ganz gut miteinander ausgekommen waren. Plötzlich sah sie in Donald jedoch eine Bedrohung. Sie drückte das Kind fester an sich und hob schützend die Schulter, bis Donald wieder draußen war und stattdessen ein Fremder mit einer großen hellen Öllampe die Hütte betrat.

»Wie heißt du, Frau?«

»Gaddy Patterson, Sir.«

»Du bist aus dem Hochland, habe ich Recht?«

»Aus Lorne, Sir.«

Der Fremde betrachtete das Baby aus zusammengekniffenen Augen. »Isst das Baby?«

»Jawohl, Sir.«

»Und was ist in der Schale?«

»Süßer Haferbrei.«

»Mit Milch?«

»Nur mit Wasser, Sir.«

»Abgekochtem Wasser?«

»Jawohl, Sir.«

Der Mann nickte und wandte seine Aufmerksamkeit dem toten Mädchen unter der Decke zu. Er schwenkte die Lampe herum.

Der Fremde war untersetzt, hatte breite Schultern und war in etwa so alt wie Donald. Er hatte abweisende, grimmige Züge und trug eine alte gepuderte Perücke mit einem albernen kleinen Zopf im Nacken, einen dicken, speckigen Mantel mit Epauletten und hohe Reitstiefel aus ungegerbtem Leder. Er erinnerte Gaddy an einen Kutscher oder mehr noch, an einen Straßenräuber. Der Fremde hielt es nicht für nötig, sich vorzustellen, aber sie nahm an, dass er der Doktor und stellvertretende Sheriff namens Rankellor war. Gaddy war sich der Macht bewusst, die ihm vom High Sheriff des County verliehen worden war. Für das Amt des stellvertretenden Sheriffs brauchte man keine besondere Qualifikation, aber der Betreffende musste »ehrbar« sein und gewillt, lästige und manchmal auch mühsame Aufgaben zu erfüllen. Ärzte, hieß es, wären gute stellvertretende Richter, weil sie Gerechtigkeit wie Medizin mit dem Troygewicht maßen und es verstanden, die Wahrheit aus einem Zeugen herauszukitzeln wie schlechte Säfte aus einem kranken Leib.

Zwei weitere Männer traten geduckt durch die niedrige Tür. Der Größere der beiden hatte rotes Haar, eine sanfte Stimme und ein freundliches Auftreten. Er kam sofort auf Gaddy zu und bückte sich, die Hände auf die Knie gestützt, um den Säugling zu begutachten.

»Ist es ein Mädchen?«

»Jawohl, Sir.«

»Gut. Gut. Isst sie?«

»Jawohl, Sir.«

»Gut. Gut. Übrigens, ich bin der Pfarrer. Mr. Leggat.«

»Ich bin Gaddy Patterson, Reverend.«

Reverend Leggat zeigte vage über die Schulter. »Dieser Gentleman hier ist mein Küster, Mr. Moodie.«

Gaddy nickte, aber der Mann erwiderte ihren Gruß nicht, sondern starrte stattdessen in düsterem Schweigen auf das wimmernde Bündel in ihren Armen. Gaddy spürte seine Feindseligkeit. Sie brauchte gar nichts zu tun, um sich diese zu verdienen; es genügte, dass sie mit einem Wanderhirten zusammen war. Moodie hatte ganz sicher einen festen Arbeitsplatz und verachtete jene, die ihr Geld auf Wanderschaft verdienten, auf den Straßen mit ihren Jahrmärkten und Gasthäusern, Kneipen und Zeltlagern. Mr. Moodie blickte einen Moment an dem Geistlichen vorbei und trat dann grunzend zur Seite, um dem Doktor zuzusehen, der die Tote untersuchte. Reverend Leggat, der sich mehr vom Leben als vom Tod angezogen fühlte, sank neben Gaddy auf ein Knie und fragte, ob er sich den Findling näher ansehen dürfe.

Gaddy schlug erst die Decke und dann den Schal auseinander.

»O weh! Was für ein mickriges armes Würmchen.«

»Fieber hat sie aber keins«, sagte Gaddy.

»Was schätzt du, wie alt sie ist?«

»Ich weiß auch nicht, Sir. Alt genug, abgestillt zu sein.«

»Dann vielleicht so zehn Monate?«

»Nein, Sir. Eher sechs oder sieben, würde ich sagen.«

»Ich frage mich, ob sie getauft ist.«

»Keine Ahnung, Reverend.«

»Hatte die Frau keine Papiere bei sich, keine Nachricht?«

»Nein, Reverend.«

Gaddy beantwortete die Fragen des Reverend völlig arglos und ohne Zögern. Sie spürte, dass dieser Mann dem Kind nichts Böses tun würde.

»Ihre Augen scheinen entzündet zu sein. Hat sie sie schon aufgemacht?«

»Sie wird sie aufmachen, wenn sie so weit ist, Sir. Vermutlich, wenn ich aufhöre, ihr Nahrung in den Mund zu schieben.«

»Versuchen Sie es«, bat Mr. Leggat in verschwörerischem Tonfall.

Gaddy zog den kleinen Finger aus dem winzigen Mund und wartete. Der Säugling gab einen kehligen Laut von sich und riss dann wie ein kleines Vögelchen den Mund weit auf. Er strampelte mit Beinen und Armen und hatte bereits wieder so viel Kraft, dass er das Wimmern zu durchdringendem Geschrei zu steigern vermochte.

Der Doktor unterbrach einen Moment seine makabre Arbeit und blickte herüber.

»Hören Sie das, Harry?«, sagte Mr. Leggat. »Ein ermutigender Laut, finden Sie nicht?«

»Vor allem laut«, knurrte Harry Rankellor. »Was immer ihr fehlt, mit den Lungen scheint alles in Ordnung zu sein.«

»Sehen Sie, Sir!«

»Aaah! Die Fenster zur Seele. Was für ein hübsches Blau.«

Die Beschreibung »hübsch« war etwas übertrieben, da die Augen des Babys immer noch von Eiter verklebt waren, aber zumindest schimmerte ein schmaler Streifen der Pupillen durch die halb geschlossenen Lider.

»Füttere sie weiter«, meinte der Geistliche.

Gaddy nahm mit dem Finger den letzten Rest des Breis auf, und sofort nuckelte die Kleine gierig. Die Augen fielen ihr wieder zu.

»Falls die Kleine getauft wurde, gibt es darüber irgendwo Unterlagen, und dann könnte es mit etwas Glück gelingen, Angehörige ausfindig zu machen«, erklärte Mr. Leggat.

»Und wenn sich keine Angehörigen finden?«, fragte Gaddy.

»Dann wird sie ein Mündel der Gemeinde.«

»Und wo soll sie hin?«

»Zu einer christlichen Familie.«

»Und wenn sie niemand haben will?«

Mr. Leggat richtete sich auf. »Ich bin sicher, dass sich Pflegeeltern finden werden.«

»Aber was, wenn nicht?«, wollte Gaddy wissen.

»Es wird für sie gesorgt werden, keine Angst.«

»Aber wo, Reverend?«

Der Reverend vermied eine direkte Antwort. »Vielleicht hatte die Mutter ja Verwandte, die gewillt sind …«

»Wo, Sir?«

»Es wird sich ein Asyl finden.«

»Im Armenhaus?«, fragte Gaddy.

»Ja«, entgegnete Mr. Leggat nickend. »Ja, im Armenhaus.«

»Dann nehme ich sie.«

»Das wird vielleicht nicht möglich sein«, gab Mr. Leggat zu bedenken.

»Ich nehme sie«, wiederholte die Frau aus den Highlands. »Ich werde mich um sie kümmern, als wäre sie mein eigen Fleisch und Blut.«

»Ganz zweifellos, aber …«

Doktor Rankellor tauchte wie ein Schatten an seiner Seite auf und unterbrach das Gespräch in einem für Leggat günstigen Moment.

»Was haben Sie festgestellt, Harry?«, fragte der Reverend.

»Es besteht keine Veranlassung, die Kirchenglocke zu läuten, William«, entgegnete der Arzt. »So weit ich feststellen konnte, ist sie nicht an einer ansteckenden Krankheit gestorben.«

»Gott sei Dank.«

»Nichts deutet auf Typhus, Cholera oder Pocken hin. Und ich konnte auch keine Anzeichen von Gewalt oder einer tödlichen Verletzung feststellen.«

»Und woran ist sie Ihrer Ansicht nach gestorben?«

»Das kann ich ohne genaue Untersuchung nicht genau sagen, William. Ich halte es aber für wahrscheinlich, dass die Todesursache Unterernährung und daraus resultierende Erschöpfung war.«

»Hatte sie noch Milch?«

»Nein – oder so gut wie keine mehr.«

Mr. Moodie hatte die Leiche wieder zugedeckt, kam ebenfalls herüber und stellte sich zu dem Doktor und dem Geistlichen dicht an das kleine Feuer. Rankellor hatte die Laterne auf den Boden gestellt, und der nach oben gerichtete Lichtschein tauchte die drei Männer in ein gespenstisches Licht, sodass sie richtig bedrohlich wirkten, ein Eindruck, der von den aufsteigenden schwarzen Rauchschwaden noch verstärkt wurde. Gaddy fand, dass sie aussahen wie Hexenmeister.

Unwillkürlich wich sie zurück, tiefer in die Ecke der Hütte, das Baby fest an sich gedrückt. Sie war entsetzt gewesen von den Worten des Geistlichen. Armenhaus. Das bedeutete Zwangsarbeit, sobald sie alt genug war. Sie hatte unterwegs zu viele halb verhungerte, misshandelte Waisen getroffen, die Sklaven grausamer Herren waren, um auf die Wohltätigkeit der Menschen zu vertrauen. Die Kirche mochte das Kind ja »unterbringen«, aber andere, weniger christliche Hände, würden über seine Zukunft bestimmen. Man würde sie verkaufen, sobald sie laufen konnte – wie sonst sollte man die Praktik nennen, Waisen als billige Arbeitskräfte »abzugeben«? An eine Kohlengrube, in der sie eine Lore schoben, Körbe schleppten oder das Seil der Wettertür bedienten, bis sie vor Anstrengung, Staub oder Feuchtigkeit ihr Leben aushauchten.

Gaddy wusste wohl, dass Kinder, wie jung sie auch sein mochten, für ihr Brot arbeiten mussten. Sie selbst hatte schon in frühen Jahren gemolken, Wolle gekämmt und gewaschen, Hühner gefüttert und Wasser und Getreide geschleppt. Aber das war immerhin abwechslungsreiche Arbeit gewesen und nie mehr, als sie zu leisten in der Lage gewesen war. Und wenn mal nicht genug zu essen da gewesen war, war es allen in Ardelve so gegangen. Aber Waisenkinder waren nicht besser dran als Sklaven, die an Ausbeuter verschachert wurden, sobald sie laufen konnten. Mit geschürzten Lippen hörte sie weiter zu. Der arme Donald, der draußen warten musste, lauschte sicher auch. Sie wusste nur zu gut, was Donald sagen, auf wessen Seite er sich stellen würde.

»Können Sie nicht irgendwelche Hinweise auf ihre Herkunft ableiten, Doktor Rankellor?«, fragte James Moodie. »Ich meine, ist so etwas möglich?«

»Nun, ein paar Angaben kann ich schon zu ihrer Person machen«, entgegnete der Doktor. »Sie ist etwa sechzehn Jahre alt und gehörte nicht der Arbeiterklasse an. Ihre Hände sind nicht schwielig, und ihre Kleider sind zwar geflickt, aber der Stoff ist von ordentlicher Qualität, so wie ihn Dienstboten aus der Stadt tragen.«

»Dann ist sie weggelaufen«, meinte Leggat. »Ich frage mich, was sie in Balnesmoor wollte.«

»Eine Herumtreiberin«, knurrte Moodie. »Ist ihrem Herrn davongelaufen, ohne sich darum zu scheren, wohin.«

»Ich kann mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass sie lange unterwegs war«, erklärte Rankellor. »Ihre Füße sind zerschunden und blutig.«

»Dann kommt sie von weither«, stellte Moodie fest.

»Heute ist sie aus dem Moor gekommen«, meinte Rankellor.

»Sie trägt keinen Ehering«, stellte Mr. Leggat fest.

»Man wird sie an die Luft gesetzt haben, als herauskam, dass sie schwanger war«, sagte Rankellor. »Gott allein weiß, wie das arme Ding so lange überlebt hat.«

»Keine zweifelhaften Umstände, Harry?«, wollte der Pfarrer wissen.

»Keine, abgesehen davon, dass der Mann, der ihr das Kind gemacht hat, sie ihrem Schicksal überlassen hat.«

»Ich fürchte, er wird nie erfahren, was sie erleiden musste«, murmelte Leggat.

»Wie auch immer, William. Ich würde jedenfalls dazu raten, sie unverzüglich zu bestatten.«

»Vielleicht finden wir irgendwo einen Hinweis auf sie«, entgegnete Mr. Leggat. »Wären Sie so gut, noch heute Abend an die umliegenden Gemeinden zu schreiben, Mr. Moodie?«

»Natürlich«, entgegnete der Küster wenig begeistert.

»Jetzt sehe ich mir erst einmal das Kind an«, sagte Rankellor. »Das kleine Mädchen mit der mächtigen Stimme.«

Der Säugling ließ sich anstandslos vom Doktor abtasten und Augen und Kiefer untersuchen. »Sie ist erstaunlich gesund dafür, dass sie so unterernährt ist. Sie hat schon ein paar Zähne. Man hat ihr Laudanum gegeben, aber glücklicherweise nur in geringer Menge. Vielleicht war es ein Glück, dass ihrer Mutter nicht nur die Milch, sondern auch das Geld ausgegangen ist, sonst hätte sie sie womöglich noch aus Unwissenheit vergiftet.«

»Was kann ich tun?«, fragte Gaddy.

»Überlass das braven Bürgern, Frau«, entgegnete James Moodie knapp.

Rankellor tätschelte der Frau den Arm. »Ein Teelöffel Lebertran in einer Tasse Flohkraut-Tee müsste die Ausscheidung des Giftes und ihre Genesung beschleunigen. Ich denke, sie ist alt genug für Brei, aber sie sollte noch eine Weile zusätzlich Milch bekommen.«

Gaddy konnte den Doktor riechen – ein trockener Geruch, durchdringend wie Schnupftabak vermischt mit Rum.

»Aber es ist nicht ihre Sache, sich um das Kleine zu kümmern«, wandte Moodie ein.

»Wer sollte es sonst tun?«, hielt Rankellor ihm entgegen.

»Der Säugling ist ein Findelkind und gehört in unsere Gemeinde.«

»Und was, wenn ich fragen darf, soll die Gemeinde mit ihr anfangen?«, fragte der Doktor.

Erregt setzte Moodie zu einer Antwort an, obwohl die Frage des Doktors rhetorisch gemeint gewesen war. »Sie wird in Pflege gegeben, bis die Gemeinden, an die ich bezüglich dieser Angelegenheit schreiben werde, erklärt haben, dass es keine Einträge über Mutter und Kind gibt. Das sollte etwa zwei Wochen dauern.«

»Und was, wenn niemand Anspruch auf das Kind erhebt?«

»Dann kommt es ins Armenhaus von Judgehead.«

»Damit Sie es los sind?«, meinte Rankellor abfällig.

»Ich bin nicht für den Säugling verantwortlich«, erregte sich James Moodie. »Und ich kann auch nichts für das System, Doktor.«

»Könnte man sie nicht in einer christlichen Familie unterbringen?«, meinte Rankellor.

»Doch, aber …«

»Warum nehmen Sie sie nicht auf, Bürger Moodie?«

»Ich? Warum ich? Ich habe keinen Platz. Außerdem kann ich nicht …«

»In diesem Fall schlage ich vor, dass Sie sich um eine andere Unterkunft für das Kind kümmern.«

Als Küster wusste Moodie wohl, wie schwierig es war, ein Waisenkind unterzubringen, vor allem, wenn kein finanzieller Anreiz gegeben war wie eine Unterstützung seitens der Gemeinde. Das Armenhaus von Judgehead war die einzige Armeneinrichtung des Countys, ein abstoßendes gefängnisartiges Heim, das mit einem minimalen Budget unterhalten wurde. Es flüchteten mehr Menschen von dort als welche um Obdach ansuchten, aber es war der gesetzlich vorgesehene Hort für Kinder, die ihre Eltern verloren oder in Sünde geboren wurden sowie für jene, die nicht so klug waren, sich lieber in den Graben zu legen, um dort zu sterben. Rankellor hatte Moodies mitleidlose Ansichten zur Wohltätigkeit schon früher gehört. Diesmal aber sprach der brave Bürger zögernd und ohne rechte Überzeugung.

»In Judgehead bekommt sie zu essen, wird eingekleidet und lernt beten. Mehr braucht ein Kind nicht.«

»Das wäre wie lebendig begraben zu sein, und das wissen Sie, Mr. Moodie«, entgegnete Rankellor.

»Schicken Sie sie nicht dorthin«, flehte Gaddy. »Ich behalte sie und kümmere mich um sie, ich verspreche es.«

»In Judgehead ist sie besser aufgehoben als bei der Hure eines Wanderhirten«, entgegnete Moodie kalt.

»Mr. Moodie«, mischte sich der Pfarrer ein, »das reicht.«

»Ich muss sicher sein, dass das Kind gut aufgehoben ist«, entgegnete Moodie stur.

»Darf ich Sie daran erinnern, dass es nicht bei Ihnen liegt, über den Verbleib des Kindes zu entscheiden«, sagte Mr. Leggat.

Moodie gab sich sofort kleinlaut. »Natürlich, Sir. Ich habe voreilig gesprochen. Selbstverständlich muss über das Schicksal des Findelkindes abgestimmt werden.«

Gaddy wandte sich an den Geistlichen. »Überlassen Sie sie mir, ich flehe Sie an. Ich werde sie großziehen, als wäre sie meine Tochter.«

»Hast du schon Kinder?«

»Gott hat es nicht gefallen, mich mit Kindern zu segnen.«

»Harry, was meinen Sie?«, fragte der Pfarrer.

»Es ist weniger eine Frage der moralischen oder materiellen Eignung«, meinte Rankellor nach einer Weile. »Tatsächlich wäre uns allen damit gedient, wenn sie das Kind adoptieren würde. Und wenn das Mädchen älter wäre – sagen wir sechs –, dann würde ich nicht zögern, es in die Hände eines Wanderhirten zu geben. Das ist ein anständiger und ordentlicher Beruf.«

»Bitte, Sir. Bitte.«

»Aber ich muss das zarte Alter der Waise berücksichtigen.«

Gaddy blickte an Rankellor vorbei. Sie konnte Donald in der schmalen Tür erkennen, die Mütze voller Schnee und einzelne Flocken in den buschigen Brauen. Mit den Händen auf den Hüften und den zurückgeschobenen Mantelaufschlägen sah er aus wie ein gereizter Kampfhahn, bereit, sich mit den umgeschnallten Sporen auf seinen Widersacher zu stürzen.

»Wollen Sie damit sagen, ich wäre nicht würdig und gottesfürchtig genug, um ein Kind großzuziehen?«, polterte er.

»Ich sage nur meine Meinung, die sich auf persönliche Erfahrungen stützt«, erklärte Harry Rankellor. »Im Übrigen werde ich mich nicht bei dir entschuldigen, Hirte, immerhin nimmst du es mit dem Gesetz nicht allzu genau. Du kannst dich glücklich schätzen, dass ich dich nicht nach Ottershaw schaffen und einsperren lasse. Sir Gilbert hat nicht viel übrig für Leute, die sich unerlaubt auf seinem Land aufhalten.«

»Dann nehmen Sie das Kind«, lenkte Donald ein. »Nehmen Sie es und lassen Sie uns weiterziehen.«

»Nein«, rief Gaddy dazwischen.

Sie ließ sich schwerfällig in einer Ecke der Hütte zu Boden sinken, die Arme besitzergreifend um das Kind gelegt. Jeder der Männer erkannte in ihrem Blick die weibliche Unnachgiebigkeit, die er mit einem Mädchen oder einer Frau aus seinem persönlichen Umfeld in Verbindung brachte – wobei Moodie derer gleich drei daheim hatte.

»Dann ziehe ich ohne dich weiter«, drohte Donald.

»Dann geh doch.«

»Ich lasse dich hier zurück.«

»Dann bleibe ich eben.«

»Zweiundzwanzig Jahre, Gaddy«, brummte Donald. »Bist du nicht glücklich gewesen mit mir?«

»Eine halbe Ehefrau und ein halbes Leben, Donald?«

»Was meint sie damit?«, murmelte Moodie. »Halbe Ehefrau?«

Weder Rankellor noch der Pfarrer antworteten ihm.

»Ich habe mir immer ein Kind gewünscht und konnte keins bekommen. Du selbst hast gesagt, du willst ein Kind von mir, Donald. Jetzt hat Gott unsere Gebete erhört.«

»Unsinn!«, schalt der Hirte. »Ein Findelkind. Der Fehltritt eines anderen Mannes. Das ist es nicht, was ich wollte, Weib, und das weißt du.«

»Ich will es aber.«

»Sie oder ich«, sagte McIver kalt. »Entscheide dich.«

»Ich wünsche dir alles Gute.«

Donald McIver schien nicht sonderlich überrascht.

»Dann war es das also?«

»Das war’s.«

»Moment, nicht so hastig.« Moodie versuchte, den Hirten am Arm festzuhalten, aber McIver war zu schnell und zu stark. Er riss sich los und stürmte hinaus in die stürmische Nacht.

»Dumm«, bemerkte Rankellor. »Sehr dumm.«

Aber Gaddy schien Donald bereits aus ihren Gedanken gestrichen zu haben. »Wenn sonst niemand Anspruch erhebt, keine Angehörigen, würden Sie den Säugling dann in meine Obhut geben, Sir?«

Rankellor seufzte. »Wovon willst du das Kind ernähren?«

»Ich werde arbeiten.«

»Es gibt in dieser Gegend nur sehr wenig Arbeit für ledige Frauen mit Kind«, gab Rankellor zu bedenken.

»Andererseits, Harry«, gab Mr. Leggat zu bedenken, »wenn das Kind innerhalb der Gemeindegrenzen bliebe …«

»Es ist Schicksal, Sir. Sehen Sie denn nicht, dass die Vorsehung es so gewollt hat? Warum sonst sollte ich ausgerechnet heute Abend hier auf diese Hütte gestoßen sein, gerade rechtzeitig, um die Kleine vor dem sicheren Tod zu bewahren?«

»Vielleicht hat sie Recht«, meinte Mr. Leggat. »Die Wege des Herrn sind wahrhaft unergründlich.«

Von draußen war die immer leiser werdende Stimme des Hirten zu hören, der zornig seine Herde zusammentrieb. Er würde Ponys und Pferde wütend durch die stockfinstere Nacht treiben bis zu einem der Stände am Thorn of Cadder. Der Mann, der von Donald Wegezoll forderte, war zu bedauern, auch wenn dieser um eine Weidegebühr nicht herumkommen würde.

Rankellor gehörte nicht zu denen, die Wanderarbeiter als romantische Abenteurer sahen. Sie kamen und gingen emotionslos und fast ohne Spuren zu hinterlassen, wie der Wind, der über die Hügel strich, wie der Wind, der das arme tote Mädchen hergeführt hatte, ein zerrupftes Blatt, abgerissen vom Baum des Lebens.

»Hat er dich wirklich verlassen?«, wollte der Pfarrer wissen.

Gaddy lächelte. »Nicht doch. Donald wird in zwei Wochen mit eingekniffenem Schwanz zurückkommen.«

»Und was willst du bis dahin tun?«, fragte Rankellor.

»Ich werde hier bleiben. Zusammen mit meiner kleinen Tochter«, entgegnete Gaddy Patterson bestimmt.

Der Doktor schnaubte verächtlich angesichts der naiven Überzeugung der Frau, dass Liebe allein genügen würde, um das Überleben des Kindes zu sichern. Aber er ließ ihr ihren Willen und gab ihr so die Gelegenheit, ihn eines Besseren zu belehren – und einen Schilling, von dem sie Milch kaufen sollte, sobald es hell wurde.

2Käsebrot und Küsse

In vielen Teilen Schottlands, im Hochland wie in der Ebene, galten Schafe bereits als Feinde des kleinen Mannes. So unschuldig die Tiere an sich auch waren, wurden sie gleichgesetzt mit einer weit weniger unschuldigen Spezies, sprich abwesenden Großgrundbesitzern. Diese hohen Herren residierten in London und überließen es Aufsehern und Verwaltern, ihre geschäftlichen Belange in Schottland zu regeln. Entmutigt von Krone und Gerichten, gehörten so genannte Privatbezirke der Adligen der Vergangenheit an, und Gutsherrn konnten nicht mehr auf ein Heer loyaler Pächter zählen. Hinzu kam, dass gepachtetes Ackerland und das alte Landverteilungssystem, das vorsah, einzelnen Pächtern jeweils mehrere Streifen Land zur Bewirtschaftung zu überlassen, die zwischen jenen der anderen Pächter lagen, aus der Mode kamen. Nur hohe Marktpreise hatten die unaufhaltsame Ausweitung der Schafzucht, der immer mehr ehemalige Ackerflächen zum Opfer fielen, hinausgezögert.

In Balnesmoor aber waren gemischte Landwirtschaft und eingezäunte Schafweiden bereits Alltag. Die Geistlichen brauchten nicht erst die Vertreibung als Teil von Gottes Strafe für Sünder zu predigen und zu verkünden, dass Auflehnung gegen das Göttliche Gebot ein unverzeihliches Sakrileg sei – nicht dass Mr. Leggat sich auf eine so krasse Heuchelei eingelassen hätte, wenn sie denn vom lokalen Adel verlangt worden wäre. Mr. Leggat ging sparsam mit Drohungen um, und er hielt auch nichts davon, dass sich die Kirche in politische Belange einmischte. Im Übrigen wurden im ganzen Bezirk keine Grenzmauern eingerissen, und Aufstände gab es ebenso wenig. Sogar in Fintry, das für gewöhnlich keine Gelegenheit ausließ, den Gutsherren das Leben schwer zu machen, und wo ebenso schnell ein Aufstand angezettelt werden konnte wie man ein Bier in sich hineinschüttete, war es damals ruhig. Aber die Kunde von den Ereignissen in Frankreich hatte die herrschende Klasse Stirlingshires beunruhigt. Und so fern die Revolution des französischen Volkes auch scheinen mochte von kargen schottischen Landstreifen und heimischen Tälern, waren die Grundbesitzer doch darauf bedacht, den Status quo zu erhalten – was nicht weiter schwer war, da Schafe bereits ganz selbstverständlich den Löwenanteil der lokalen Landwirtschaft ausmachten.

Sir Gilbert Bontine beispielsweise mochte Schafe fast so gerne wie Pferde und hätte seinen Bestand um mehrere hundert Tiere aufgestockt, wenn dies ohne weitere Einfriedungen machbar gewesen wäre. Aber er war ein typischer Vertreter der alten Noblesse, für die Geduld weniger eine Tugend war als eine angeborene Charaktereigenschaft. Er konnte es sich leisten zu warten. Immerhin lebte die Familie schon seit Generationen in diesem stillen Winkel Stirlingshires und genoss das beschauliche Landleben des kleinen Landadels. Das Land um Ottershaw und Balnesmoor war Anfang des 17. Jahrhunderts lange Zeit Lehensgut eines Marquis von Montrose gewesen, und seitdem war noch einiges an Grundbesitz dazugekommen. Inzwischen umfasste Bontines Besitz 2200 Morgen Land in Ottershaw und Balnesmoor, wobei 300 Morgen in Balnesmoor als Gemeinschaftsweiden den Bewohnern des Bezirks zur Verfügung standen. Das Dorf gehörte selbstverständlich ebenfalls den Bontines, bis hin zum Schweinepferchen hinter dem Black Bull, einer üblen Kaschemme, die das Ale verwässerte und deren schwarz gebrannter Whisky aus Destillerien irgendwo in den Wäldern von Aberfoyle stammte, ein Schnaps, der so feurig und urtümlich war, dass man mit den Fingern Holzsplitter herausfischen musste und sich dabei die Nägel braun verfärbten.

Das Herrenhaus von Ottershaw war 1670 errichtet worden. Was von dem ursprünglichen Gebäude noch erhalten war, war längst unter diversen angebauten Flügeln und Stockwerken begraben, die an der Westseite von einem ansehnlichen quadratischen Turm überragt wurden. Dort befand sich auch der Haupteingang, eine an der Oberseite abgerundete massive Eichentür. Darüber, zu den Hügeln des Loch Lomond hin ausgerichtet, befand sich ein Erkerfenster aus Bleiglas, hinter dem sich ein lang gestreckter, mit Eichenholz getäfelter Raum befand, die so genannte Bibliothek. In diesem Zimmer suchte Sir Gilbert Zuflucht vor den Anstrengungen und Geduldsproben, denen ein Vater von elf Kindern ausgesetzt war, davon acht von seiner verstorbenen ersten Frau und drei von seiner zweiten Gemahlin, die umso lebendiger war. Sir Gilbert nahm jeden Morgen das Frühstück in der Bibliothek ein, und wenn er nicht gerade zu Pferd auf den Ländereien unterwegs war, aß er dort auch am späten Nachmittag zu Abend. Der Großteil der Verwaltungsarbeit wurde von diesem Raum aus erledigt, wenn dieser auch keine echte Zuflucht war. Sir Gilbert war sehr nachsichtig mit seinem Nachwuchs, sodass ständig irgendwelche Kinder unterschiedlichen Alters herein- und hinausstürmten wie herumtollende Kälber, Kinderfrauen und Hausmädchen dicht auf den Fersen. An diesem Novembermorgen war der Gutsherr jedoch aufgrund der frühen Stunde für sich allein.