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Mitreißender Familienroman um große Gefühle in einer Zeit des Aufruhrs
Dublin, Anfang des 20. Jahrhunderts: Sylvie und Gowry McCulloch führen ein geruhsames Leben, auch wenn es häufig zwischen beiden kriselt. Doch die Zeichen der Zeit stehen auf Sturm, und als eines Tages der Journalist Francis "Fran" Hagarty in ihr Leben platzt, wird alles anders. Gowry entdeckt, dass Fran heimlich Waffen schmuggelt, und wird unfreiwillig in dessen Machenschaften verwickelt. Sylvie aber fühlt sich vom irischen Freiheitskämpfer und seinem abenteuerlichen Leben magisch angezogen - und lässt sich auf eine heimliche Affäre mit ihm ein ...
"Die Stürme des Himmels" ist ein in sich abgeschlossener Roman und zugleich der zweite Teil der historischen Familiensaga über die Familien Franklin und McCulloch. Nächster und letzter Band der Trilogie: "Die Träume des Windes".
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Seitenzahl: 673
Veröffentlichungsjahr: 2019
Die McCulloch-Trilogie Band 1: Die Melodie der Wellen Band 3: Die Träume des Windes
Die Patterson-Schwestern Band 1: Sturm über Schottland Band 2: Die Schwestern aus Balnesmoor Band 3: Die Früchte der Erde
Die Highland-Schwestern Band 1: Die Frauen von der Insel Band 2: Im Schatten der Stürme Band 3: Die Insel der Zuversichtt
Mitreißender Familienroman um große Gefühle in einer Zeit des Aufruhrs
Dublin, Anfang des 20. Jahrhunderts: Sylvie und Gowry McCulloch führen ein geruhsames Leben, auch wenn es häufig zwischen beiden kriselt. Doch die Zeichen der Zeit stehen auf Sturm, und als eines Tages der Journalist Francis »Fran« Hagarty in ihr Leben platzt, wird alles anders. Gowry entdeckt, dass Fran heimlich Waffen schmuggelt, und wird unfreiwillig in dessen Machenschaften verwickelt. Sylvie aber fühlt sich vom irischen Freiheitskämpfer und seinem abenteuerlichen Leben magisch angezogen – und lässt sich auf eine heimliche Affäre mit ihm ein …
»Die Stürme des Himmels« ist ein in sich abgeschlossener Roman und zugleich der zweite Teil der historischen Familiensaga über die Familien Franklin und McCulloch. Nächster und letzter Band der Trilogie: »Die Träume des Windes«.
Jessica Stirling ist ein Pseudonym, unter dem Hugh Crauford Rae (1935-2014) erfolgreich Liebesgeschichten und historische Familiensagas veröffentlicht hat. In Glasgow geboren, arbeitete Rae nach der Schule vierzehn Jahre lang in einer Buchhandlung, bevor er sich auf das Schreiben konzentrierte. Als Jessica Stirling hat Rae zunächst zusammen mit der befreundeten Autorin Peggy Coghlan gearbeitet. Nach einigen Jahren zog sich Coghlan altersbedingt zurück, und Rae schrieb fortan mit Coghlans Zustimmung allein unter dem Pseudonym Jessica Stirling weiter. Er war Präsident der Scottish Association of Writers und hat Kurse in Kreativem Schreiben an der Universität Glasgow gegeben. Bis zu seinem Tod am 24. September 2014 hat er über siebzig Romane veröffentlicht, die meisten unter Pseudonymen.
JESSICA STIRLING
Die Stürmedes HIMMELS
Aus dem Englischen vonCécile G. Lecaux
beHEARTBEAT
Digitale Originalausgabe
»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment
Für die Originalausgabe: Copyright © 1985 by Jessica Stirling Titel der englischen Originalausgabe: »Shamrock Green« Originalverlag: Hodder & Stoughton
Für diese Ausgabe: Copyright © 2008/2019 by Bastei Lübbe AG, Köln Covergestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de unter Verwendung von Motiven © AdobeStock: photoenthuasiast | vitx
eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-6482-8
www.be-ebooks.de
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Zum Gedenken an meinen Großvater Soldat David McNair 7. Bataillon Gordon Highlanders Hazebrouck, 14. April 1918 sowie natürlich mit Liebe für Theresa
Das erste Mal begegnete sie ihm an einem Sonntagnachmittag im Juli, nur wenige Tage vor Ausbruch des Krieges. Sie war draußen und fütterte die Hühner, als sie durch den Torbogen einen Hudson sah, der in Schräglage auf zwei Reifen in die enge Gasse einbog. Die Gasse schien viel zu schmal für das breite schwarze Automobil zu sein, und im ersten Moment dachte sie, Stoßstange, Scheinwerfer und sogar Kotflügel würden abgerissen und Turk Trotter auf dem Trittbrett an die Hauswand gekleistert. Aber dann landete der Wagen wieder auf allen vier Rädern und raste mit Riesengetöse auf den Hof.
Die Hennen stoben auseinander, und der Gockel schoss senkrecht in die Höhe wie ein Kampfhahn. Maeve oben auf der Kohlenkiste verlor vor Schreck das Gleichgewicht und kippte hintenüber, wobei sie den Fremden unfreiwillig einen Blick auf ihre Strümpfe und mädchenhaften Strumpfhalter gewährte. Aber die Männer waren von den Ereignissen dieses Tages derart aufgekratzt, dass sie weder für kleine Mädchen noch für deren Strümpfe auch nur einen Funken Interesse übrig hatten.
Turk sprang vom Trittbrett, stakste vom Auto weg, schnappte sich Maeve und wirbelte sie durch die Luft. »Bei Gott, denen haben wir heute eine Lektion erteilt, die gesessen hat«, rief er strahlend. »Stell dir vor, mein Schatz, wir sind doch wahrhaftig als erste irische Armee seit einhundert Jahren in Dublin einmarschiert!«
Sylvie beachtete weder Turk noch seine Prahlereien. Sie stand vor der Küchentür, und das Maismehl rann ihr in staubigen Rinnsalen durch die leicht geöffneten Finger, während sie durch das Wagenfenster den Fremden im Fond betrachtete. Sein Kopf ruhte auf dem Bauch ihres Schwiegervaters. Sein Mantel, ein langer grauer, fadenscheiniger Ulster, war um seine Beine gewickelt. Er hatte die Fäuste zwischen die Knie gesteckt und den Oberkörper leicht abgewandt, als schämte er sich vor ihr. Oben aus dem Kragen ragte ein schmales, bleiches Gesicht, und der Kragen selbst wurde nicht von einer Nadel, sondern von einem Beschlagnagel gehalten. Die Krawatte, sofern man von einer solchen überhaupt sprechen konnte, erinnerte an ein altes Seil, auf dem ein Hund längere Zeit herumgekaut hatte. Vorn auf seinem Hemd sah Sylvie einen blattförmigen Blutfleck sowie frisches helles Blut zwischen den Falten seines Mantels.
»Was ist passiert?«, fragte sie.
Der junge Mann vorn neben Charlie auf dem Beifahrersitz beugte sich nach hinten und schimpfte: »Reiß dich um Himmels willen zusammen, Fran. Du machst ihr ja Angst.«
»Er blutet«, stellte Sylvie fest.
Der junge Mann auf dem vorderen Sitz war jünger als Charlie, der selbst gerade erst dem Knabenalter entwachsen war. Manchmal fiel es schwer, sich zu vergegenwärtigen, wie jung sie alle noch waren und dass es bis zu ihrem eigenen dreißigsten Geburtstag noch ein paar Jahre hin waren.
Turk trat hinter sie. Er schlang ihr einen Arm um die Taille und presste das Handgelenk an ihre Brust. Es störte Turk nicht weiter, dass sie Gowry McCullochs Frau war. Ob alt oder jung, hübsch oder unscheinbar, verheiratet oder ledig, Turk Trotter war das einerlei: Er war der jüngste Sohn eines Viehhändlers aus Wexford und hatte die derben Manieren eines Bauernflegels. »Ich glaube, er hat sich eine Kugel eingefangen«, meinte er.
Daniel McCulloch lachte. Nervöses Gelächter war in den meisten Situationen das Einzige, was ihr Schwiegervater beizutragen hatte. Wäre er nicht ein fettleibiger alter Mann gewesen, sondern ein schlankes junges Mädchen, hätte er wohl in jeder Situation albern gekichert. »Klar hat er das. Wir alle wissen, dass es so ist«, sagte er.
»Kugel hin oder her, er blutet«, stellte Sylvie fest. »Bringt ihn rein.«
»Nein«, wehrte Charlie ab. »Für den Fall, dass er nicht durchkommt, ist es besser, wenn er im eigenen Bett ins Gras beißt.«
»Im eigenen Bett?«, fragte Turk. »Ist er denn noch auf dem Internat?«
»Er unterrichtet seit Jahren nicht mehr«, entgegnete Charlie.
»Dann bringt ihn heim zu seiner Frau«, meinte Turk achselzuckend.
»Zu seiner Frau! Witzbold! Falls du Maureen damit meinst, die hat ihn an die Luft gesetzt.«
»Was ist jetzt«, drängte Sylvie ungeduldig. »Wollt ihr ihn im Wagen verbluten lassen?«
Charlie mit seinen seidigen Haaren und den abstehenden Ohren zuckte hilflos mit den schmalen Schultern.
Der junge Mann stammte ganz offensichtlich auch vom Lande: Er hatte die gleiche sonnengebräunte Haut und strahlte die gleiche Furchtlosigkeit aus wie alle, die noch nicht lange in der Stadt waren.
»Als hätten wir nichts Wichtigeres zu tun, als uns Leute wie Fran Hagarty aufzuhalsen«, knurrte Charlie.
Turk nahm den Arm von Sylvies Taille und blickte auf den Abschnitt der Sperryhead Road, der durch den Torbogen hindurch zu sehen war.
Die Sonne stand bereits tief am westlichen Himmel. Der Schatten an der Mauer des Kaufhauses Watton’s zeigte steil zu den Dachgiebeln hin, und die Rückseite des Hotels lag bereits vollständig im Dunkeln.
Charlie öffnete die Fahrertür, lehnte sich hinaus und warf einen Blick durch den Torbogen hinaus auf das noch sonnenbeschienene Kopfsteinpflaster. »Haben wir sie abgehängt?«, fragte er.
»Und ob wir das haben!«, entgegnete Turk bestimmt. »Die Polypen hatten gar keine Zeit, die Verfolgung aufzunehmen, bei den vielen Leichen, die auf dem Bachelor’s Walk verstreut lagen.«
»Leichen?«, entfuhr es Sylvie schockiert. »Du meinst Tote?«
»Sie haben in die Menge geschossen«, entgegnete Turk.
»Die Soldaten«, ergänzte Charlie.
»Die King’s Own«, erläuterte Turk. »Die sind nicht hinter uns her, die Schweine.«
»Wir wissen nicht, auf wen sie es abgesehen haben«, meinte Charlie. »Jedenfalls sollten wir nicht hier rumsitzen und darauf warten, dass sie uns erwischen.«
Der Kopf des Verwundeten ruhte jetzt auf dem ledernen Sitz. Ihr Schwiegervater war von ihm abgerückt und öffnete die Wagentür. Auf den Lippen des Verletzten war kein Blut zu sehen, aber seine Augen wirkten stumpf, als würde das, was das Leben ausmachte, langsam, aber sicher versiegen. Er blickte zu Sylvie auf. »Lass mich nur hier liegen«, sagte er leise. »Es geht mir ganz gut hier.«
»Einen Teufel werde ich tun«, entgegnete Sylvie und riss die Wagentür auf.
Daniel McCulloch, ihr Schwiegervater, war Sekretär der Bruderschaft von Erin, Charlie ein aktives Mitglied. Wenn Gowry unterwegs war, trafen sie sich mit Turk in der Hinterhofkneipe des »Shamrock« und schwangen die ganze Nacht große Reden. Sylvie interessierte sich nicht die Bohne für Geheimbünde oder die Wirren der irischen Politik. Das ganze Geschwafel und sinnlose Getue überließ sie den Mannsbildern. Sie war nur auf einer großen Parade gewesen, drüben in Bodenstown, und auch das nur, weil Maeve unbedingt hatte hingehen wollen.
Maeve verstand es meisterhaft, ihre Eltern um den kleinen Finger zu wickeln, und da ihr Daddy einen Bus fuhr, den die Bruderschaft von Flanagan’s gemietet hatte, hatte sie nicht einsehen wollen, warum sie und ihre Mam nicht mitfahren sollten. Sylvie hatte zwar keine große Lust verspürt, sich die flammenden Reden und Kapellen anzuhören, aber in Anbetracht des drohenden Krieges wollte sie doch mehr wissen über die Hintergründe. Vor allem interessierte sie, weshalb ihre angeheirateten Verwandten bereit waren, für ein Irland zu sterben, das ihr selbst ganz wunderbar erschien, so wie es war. Als sie dann jedoch in Bodenstown mit Maeve bei der Parade mitmarschiert war, hatte sogar sie etwas von dem Nationalstolz empfunden, der ihre Tochter so faszinierte. Gowry war im Bus geblieben. Er hatte die Füße hochgelegt, die Mütze tief in die Stirn gezogen, Kirschen aus einer Papiertüte genascht und dabei Tit-Bits gelesen, als ginge ihn das alles nichts an.
Für Sylvie war es ein unerwartet schöner Tag gewesen, ein Tag ohne Hotel, ohne Hühnerfüttern, ohne Speckbraten und ohne Sorge tragen zu müssen, dass Jansis auch ordentlich die Treppe fegte. Und es bereitete ihr Freude, ihre Tochter so glücklich zu sehen. Erst rückblickend sollte ihr klar werden, dass die Teilnahme an der Parade von Bodenstown sie gewissermaßen vorbereitet hatte auf diese erste Begegnung mit Francis Hagarty.
Turk führte ihn durch die Küche ins Haus.
Fran Hagarty war zu stolz, um ihnen zu erlauben, ihn zu tragen. Er stützte sich beim Gehen schwer auf Turk, hielt die andere Hand zwischen die Beine geklemmt und drückte die Knie zusammen wie ein Komiker in einem Sketch drüben im Tivoli. Er hinterließ auf dem Weg durch den Flur bis zum Wohnzimmer eine Spur von Blut, das auf den Linoleumboden tropfte wie die Fährte eines waidwunden Tieres. Maeve folgte ihm und wischte die Tropfen nach und nach mit einer zerknüllten Seite Zeitungspapier auf. Als Mr. Hagarty sich schließlich in den Lehnsessel am Kamin fallen ließ, schob sie ihm vorausschauend einen Stapel Zeitungen unter die Füße, um den guten Teppich vor Flecken zu bewahren.
Turk betrachtete den Verletzten einen Augenblick stirnrunzelnd und kehrte dann zurück auf den Flur, wo Charlie rastlos auf und ab tigerte.
»Wo ist denn Gowry?«, hörte Sylvie Charlie fragen. »Wo steckt mein Bruder, der Spießer?«
»Dad ist mit dem Bus unterwegs«, entgegnete Maeve. »Er fährt Ausflügler raus zu den Seen. Er wird nicht vor neun zurück sein.«
»Gott sei Dank«, seufzte Charlie und ging.
Das Wohnzimmer befand sich auf der Vorderseite des Hauses. Die Vorhänge waren zugezogen, damit die Sonne die Bezüge der Polstermöbel nicht ausbleichte. Im Zimmer war es düster, friedlich und still. Ein Tisch, vier Stühle und zwei schwere Lehnsessel rechts und links der Feuerstelle spiegelten sich in dem ovalen Spiegel über dem Kaminsims.
Sylvie kniete sich vor den Fremden. »Wo genau sind Sie verletzt, Sir?«
»Nenn mich nicht ›Sir‹«, antwortete er leise. »Mein Name ist Fran Hagarty.«
»Was Sie nicht sagen. Nun, Mr. Hagarty, zeigen Sie mir Ihre Hand.«
»Das ist meine Hand«, erwiderte er. »Oder zumindest das, was davon noch übrig ist.«
Er zog die Faust zwischen den Knien hervor und hielt sie ihr hin. Blut tropfte reichlich auf die Zeitungen. Er verschwendete keinen Blick darauf, sondern starrte stattdessen auf Sylvies Kopf mit den wilden seidigen Locken.
»Sind die Finger noch dran?«, fragte er durch zusammengebissene Zähne.
Sie berührte vorsichtig die verletzte Hand. »Ist das die einzige Verletzung?«
»Ist eine denn nicht genug? Ich habe denen diese Hand in Freundschaft gereicht oder zumindest in friedlicher Absicht. ›Lasst mich mit eurem kommandierenden Offizier sprechen‹, habe ich gesagt … und da haben sie auch schon geschossen. Wie viele Finger sind noch da?«
»Alle«, stellte Sylvie nüchtern fest.
»Und der Daumen?«
»Der auch.«
Er holte tief Luft und atmete langsam wieder aus. »Also ist es nicht weiter schlimm?«
»Nein, es ist nicht weiter schlimm. Ich werde die Wunde säubern, dann können Sie die Hand selbst begutachten. Um die Ecke wohnt ein Mann, der einen ganzen Vorrat an Nähnadeln besitzt. Er verarztet auch die Hafenarbeiter, wenn sich einer verletzt.«
»Zum Teufel mit den Nadeln!«, knurrte Fran Hagarty. »Ich könnte allerdings etwas zu trinken brauchen.«
»Tee?«
»Whisky. Möglichst kräftig und einen ordentlichen Schluck, bitte.«
Die Kugel hatte den Handteller unterhalb des Daumens durchschlagen, aber Sylvie bezweifelte, dass etwas gebrochen war. Sie fühlte, wie sein Blut in ihre Hand lief, und es widerstrebte ihr, ihn jetzt schon loszulassen.
Sie wandte den Kopf und rief: »Maeve, bring dem Gentleman ein Glas Whisky aus der Bar. Und dazu Wasser vom …«
»Kein Wasser«, fiel Fran Hagarty ihr ins Wort.
»Bring mir noch heißes Wasser aus dem Teekessel, eine saubere Schüssel, Enziantinktur aus dem Schrank, ein Stück Zwirn und die Schere aus meinem Nähkästchen. Maeve?«
»Ich habe alles verstanden, Mam«, rief Maeve. »Ich bin schon unterwegs.«
»Ah, ein braves Mädchen haben Sie da«, lobte Fran Hagarty. »So folgsam.«
»Nur, wenn ihr der Sinn danach steht.«
»Haben Sie noch mehr Kinder?«
»Nur Maeve.«
Francis Hagarty beugte sich vor und betrachtete die Wunde. Er war älter als sie, vielleicht vierzig. Er strahlte die gleiche Art von Schäbigkeit aus wie viele der Handelsreisenden, die sich im »Shamrock« einquartierten, jedoch nicht deren Unterwürfigkeit. Sein Gesicht wirkte leicht aufgedunsen, und das ergraute Haar hätte einen Schnitt nötig gehabt. In seinen traurigen braunen Augen spiegelte sich Resignation, jedoch kein Selbstmitleid.
Draußen auf dem Flur polterte es, und gleich darauf hörten sie Turk fluchen und das nervöse Lachen ihres Schwiegervaters.
»Wie viele Zimmer haben Sie?«, fragte Fran Hagarty.
»Zehn Fremdenzimmer.«
»Wie viele sind belegt?«
»Fünf. Brauchen Sie eine Unterkunft? Wir berechnen einen Schilling und einen Sixpence pro Nacht und Bett einschließlich Frühstück mit Fleisch.«
»Sie sind Schottin, habe ich recht?«
»Das stimmt. Aus Glasgow.«
»Ich habe schon gehört, dass Daniel Verwandte in Glasgow hat.«
»Ich bin nur durch Heirat mit den McCullochs verwandt.« Sie war versucht, die ganze Geschichte auszuplaudern, ihm zu erzählen, dass sie früher Forbes McCullochs Geliebte gewesen war, der sie jedoch schwanger hatte sitzen lassen, und nur Gowrys Herzensgüte sie davor bewahrt hatte, vor die Hunde zu gehen. Für eine so frische Bekanntschaft wie die ihre wäre das alles jedoch zu persönlich gewesen; im Übrigen bezweifelte sie, dass Mr. Hagarty von ihrem Schicksal sonderlich beeindruckt gewesen wäre.
»Nur ein Kind?«, wollte Fran wissen. »Was sagt denn der Priester dazu?«
»Das geht den Priester gar nichts an«, entgegnete Sylvie knapp. »Wir sind nicht katholisch. Aber das wussten Sie sicher schon, Mr. Hagarty.«
»Ja, stimmt. Ich hatte es vergessen.«
»Was machen die da draußen?«
»Sie verstecken die Beute.«
»Beute?«
»Waffen.«
»Grundgütiger!« Sylvie stieß seine Hand fort. »Sie können nicht einfach Waffen in meinem Haus verstecken. Mein Mann bekommt einen Anfall, wenn er davon erfährt.«
»Haben Sie denn nicht noch mehrere leer stehende Zimmer?«
»Darum geht es nicht.«
Sylvie fuhr herum, als Maeve mit einem der schweren hölzernen Küchentabletts hereinkam. Sie war groß für ihr Alter, richtig schlaksig, ganz anders als ihre zierliche, püppchenhafte Mutter. Sie hatte Sylvies Locken geerbt, wenngleich diese nicht blond waren, sondern von einem satten Kastanienbraun. Sie hatte wache Augen und schien alles um sich herum wahrzunehmen. Maeve wirkte reifer und selbstsicherer als für Kinder ihres Alters üblich, eine Eigenschaft, die Sylvie gut kannte und die ihr Unbehagen bereitete.
»Whisky in einem sauberen Glas«, verkündete das Mädchen. »Dazu Enziantinktur, Scharpie und heißes Wasser.«
»Danke, Schatz«, entgegnete Sylvie eine Spur freundlicher, als wenn Mr. Hagarty nicht da gewesen wäre. »Stell das Tablett bitte auf den Tisch.«
Das Mädchen setzte das schwere Tablett vorsichtig ab, drehte sich dann um und starrte den Mann im Lehnsessel ungeniert an. »Sie sind der Zeitungsfritze. Ich habe schon von Ihnen gehört.«
»Aha. Hast du denn auch schon etwas von mir gelesen?«
»Nur das, was im Scissors & Paste stand.«
»Wo für gewöhnlich bei Zitaten herzlich wenig auf den ursprünglichen Kontext geachtet wird.« Er schien dankbar zu sein, einen Fan gefunden zu haben, auch wenn der noch so jung war wie Maeve. »In deiner Schule stehe ich sicher nicht als Pflichtlektüre auf dem Lehrplan, oder?«
»O doch. Mr. Whiteside liest der Klasse oft aus dem Scissors vor. Er findet Sie komisch.«
»Findest du mich auch komisch?«
»Die meiste Zeit verstehe ich, ehrlich gesagt, gar nicht, worum es überhaupt geht.«
»Häresie«, meinte Fran. »Die reine Häresie.«
»Was heißt das?«, wollte Maeve wissen.
»Das heißt, dass es für dich jetzt höchste Zeit ist zu verschwinden, junge Dame«, erklärte Sylvie streng.
Sie stand auf, ging zum Tisch und brachte dem Mann im Lehnsessel das Whiskyglas. Er nahm es mit der gesunden Hand entgegen, trank einen kräftigen Schluck und blies die Wangen auf. Er schaute Maeve an, zwinkerte ihr zu, straffte dann die Schultern und hob das Kinn. So aufrecht und mit einem Lächeln auf dem Gesicht wirkte er völlig verändert, und Sylvie sagte sich, dass er noch vor nicht allzu langer Zeit ein recht gut aussehender Mann gewesen sein musste.
»Sag deinem Großvater und Charlie, sie sollen sofort aufhören, was auch immer sie gerade tun. Ich lasse nicht zu, dass sie mein Haus in ein Waffenlager verwandeln.«
»Waffen sind das also. Das dachte ich mir schon«, entgegnete das kleine Mädchen.
»Mauser«, ergänzte Fran.
»Wo haben Sie denn deutsche Waffen her?«, fragte Sylvie überrascht.
Fran leerte das Glas und hielt es ihr hin.
»Hol die Flasche«, wies Sylvie ihre Tochter an, und als das Mädchen hinausgegangen war, erkundigte sie sich: »Ist das der Krieg, von dem so lange schon die Rede ist? Ist das der eigentliche Anfang?«
»Ich wünschte, es wäre so. Nein, es ist noch nicht der eigentliche Aufstand, aber es wird der Regierung zu denken geben.«
»Ist Waffenbesitz denn nicht illegal?«
»O doch, natürlich, doch niemand schert sich um die Umsetzung dieses Paragrafen. Nach dem heutigen Scharmützel auf den Kais dürfte sich das allerdings ändern.«
»Sind Sie dort angeschossen worden?« Sylvie trug das Tablett zum Kamin und stellte es zu Fran Hagartys Füßen auf den Teppich. Sie kniete sich wieder hin und trug eine lilafarbene Flüssigkeit auf seine Hand auf, die in der Wunde brannte. Aber er beklagte sich nicht, sondern holte nur zischend Luft und genehmigte sich noch einen Schluck, während er zusah, wie sie seinen Handballen verarztete.
»Auf dem Bachelor’s Walk«, antwortete er durch zusammengebissene Zähne. »Bis dahin lief eigentlich alles wunderbar glatt. Für die Zuschauer auf den Rängen war es nur ein weiterer sonntäglicher Marsch raus nach Howth. Nur eine Handvoll Offiziere waren eingeweiht.«
»Und was genau ist passiert?«, wollte Sylvie wissen.
Es war ein eigentümliches Gefühl, im eigenen Wohnzimmer vor einem Fremden zu knien und seine Hand zu versorgen. Das Blut fing an zu gerinnen, und die Wunde schloss sich langsam. Sie schnitt mit der Schere ein Stück Scharpie ab und, um ganz sicherzugehen, gleich noch ein zweites. Sie befestigte beide Streifen mithilfe sauberer Leinenbandagen um Daumen und Handgelenk, während er weiter erzählte und seinen Bericht nur hin und wieder unterbrach, um an seinem Glas zu nippen. Ihre Bemühungen um seine verletzte Hand ignorierte er hierbei völlig.
»Fünfzehnhundert Mauser, erworben mit amerikanischem Geld und mit dem Schiff rübergebracht. Was für ein Jubel war das, als die Jungs gesehen haben, was der Kahn geladen hatte! Nur das entschlossene Durchgreifen der Offiziere hat verhindert, dass die Jungs in ihrem Übereifer alles verderben.«
»Und was haben Sie dort gemacht?«
»Ich war als Beobachter dort.«
»Als Beobachter? Zusammen mit meinem Schwiegervater, Turk und Charlie?«
»Daniel hatte Wind davon bekommen, dass irgendwas Großes laufen sollte, und da hat er mir angeboten, mich im Wagen mitzunehmen.«
»Ich glaube Ihnen kein Wort«, entgegnete Sylvie.
»Ach, nein?«
»Ich denke, es war genau andersherum. Ich denke, Sie haben die anderen dorthin mitgenommen.«
»Nun, möglicherweise haben Sie recht, Mrs. McCulloch.«
»Sylvie.«
»Sylvie … möglicherweise haben Sie recht.« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Erst an der Einmündung der Dublin Road sind wir auf Soldaten mit aufgesteckten Bajonetten gestoßen.«
»Sind Sie mitmarschiert, Mr. Hagarty?«
»Zu Fuß gehen ist nicht mein Ding. Ich bin im Wagen hinter der Menge hergefahren. Als wir auf die Bajonette trafen, gab es einiges Gerangel, aber geschossen wurde nicht, und viele der Männer konnten mit den Waffen entkommen. Wir haben Charlies Freund aufgelesen und an die dreißig Waffen zur Aufbewahrung an uns genommen. Dann sind wir auf und davon, zurück in die Stadt … und da hat es mich dann erwischt.«
»Auf dem Bachelor’s Walk?«
»Es war viel los dort«, berichtete Fran Hagarty. »Vor allem Frauen und Kinder. Sie haben die Soldaten auf ihrem Marsch zurück in die Kaserne beschimpft, mehr nicht. Plötzlich wurde Befehl gegeben, das Feuer auf die Menge zu eröffnen. Ich war gerade aus dem Auto ausgestiegen, um mich nach einer Durchfahrtsmöglichkeit umzusehen. Ich befand mich am äußeren Rand der Menge und nicht mittendrin. Ich hatte eben die Hand gehoben, um meine friedlichen Absichten kundzutun, als die Soldaten losballerten.«
»Wie viele Tote hat es gegeben?«
»Ich war nicht mehr in der Lage, sie zu zählen. Ich habe mehrere, sogar viele, fallen sehen, bevor Charlie mich in den Wagen gezerrt hat und losgefahren ist.«
»Warum sind Sie hierhergekommen, Mr. Hagarty?«, fragte Maeve.
Sylvie und Fran schauten beide zur Tür. Sie waren so vertieft gewesen in Frans Bericht und so beschäftigt miteinander – Sylvies Unterarm ruhte auf Frans Knie, während er ihr eine Hand auf die Schulter gelegt hatte –, dass sie das kleine Mädchen auf der Schwelle gar nicht bemerkt hatten.
»Wir dachten, man würde uns verfolgen«, erklärte Fran.
»Hätten Sie denn nicht nach Towers zurückfahren können, zu meinem Großvater, und die Beute dort verstecken?«, hakte Maeve nach.
»Das ist eine berechtigte Frage, junge Dame. Ich werde dir auch verraten, warum wir das nicht getan haben. Wir konnten die Waffen nicht in Towers verstecken, weil die Polizei bald alle bekannten Geheimdepots durchsuchen wird, und dazu gehört auch die Brauerei.«
»Was ist das, ein Däpoh?«
»Frag nicht so viel«, schalt Sylvie. »Was treibt Charlie jetzt? Warum ist es plötzlich so still?«
»Sie sind in der Kneipe, trinken etwas und warten auf Mr. Hagarty.«
»Was haben sie mit … der Beute gemacht?«, fragte Sylvie.
»Ich denke, sie haben sie oben gelassen.«
»Nun, in der Sache ist das letzte Wort noch nicht gesprochen«, meinte Sylvie und schob Frans Hand von ihrer Schulter.
Sie trug ein einfaches Baumwollkleid mit einer schmutzigen Schürze und sah aus wie eine gewöhnliche Magd. Sylvie wünschte, sie wäre vorgewarnt gewesen, dass eine so bedeutende Persönlichkeit wie Francis Hagarty im »Shamrock« einkehren würde. Dann hätte sie eins ihrer hübschen Kleider aus dem Koffer auf dem Dachboden geholt und angezogen und dazu Lippenstift und Rouge aufgetragen, obwohl Gowry fand, dass sie damit aussah wie ein Flittchen. Es war Jahre her, dass sie sich für einen Mann hübsch gemacht hatte. Sie war Gowry treu gewesen, seit sie irischen Boden betreten hatte. Zum einen war sie damals hochschwanger gewesen und zum anderen unendlich dankbar für die standesamtliche Trauung, die Gowry in aller Eile arrangiert hatte, damit Maeve bei der Geburt einen Namen und einen Vater hatte.
Jetzt schmerzte es sie jedoch, dass sie auf Mr. Francis Hagarty offenbar keinen oder zumindest keinen großen Eindruck gemacht hatte. Sie stand auf. Er erhob sich ebenfalls, wobei er die bandagierte Hand schützend über das Whiskyglas hielt. Für Sylvie sah es so aus, als hätte er sich weitgehend erholt. Zwar sprühte er nicht gerade vor Vitalität, sondern wirkte vielmehr etwas träge, doch sie vermutete, dass das einfach seinem Naturell entsprach. Er sah sie nicht einmal an, sondern hatte den Blick auf Maeve gerichtet, die mit vor Konzentration gerunzelter Stirn in der Türöffnung stand.
Sie rechnete fast damit, dass das Mädchen mit dem erwachsenen Mann flirtete, aber obgleich Maeve alles in allem sehr frühreif war, war sie dafür wohl doch noch zu jung.
»›Depot‹ kommt aus dem Französischen. Es bedeutet so viel wie ›Lager‹. In unserem Fall steht es eher für ›Versteck‹.«
»Depot«, wiederholte Maeve leise. »Depot.«
»So, junge Dame, jetzt weißt du Bescheid. Du hast heute etwas Neues gelernt, also ist der heutige Tag nicht vergeudet.«
Hierauf schnappte er sich die Whiskyflasche und schlenderte rüber zu den anderen Rebellen in die Hotelbar.
Uniformen hatten Gowry schon immer gut gestanden. In Glasgow hatte er die Familie Franklin chauffiert und einen Ledermantel, eine gesteppte Haube und bis zu den Ellbogen reichende Handschuhe getragen, immer wenn er sie im Auftrag seines Bruders Forbes besucht hatte. Damals war sie allerdings noch so dumm gewesen, so verliebt in Forbes, dass sie Gowry gar nicht richtig wahrgenommen hatte. Jetzt sah er in der blau-schwarzen Uniformjacke mit dem hohen Kragen und der mit einer Tresse geschmückten Schirmmütze der Flanagan’s Motoring Company so militärisch aus, dass Kinder und Jugendliche, die zu dumm waren, einen Busfahrer von einem britischen Offizier zu unterscheiden, ihn gelegentlich beschimpften und anspuckten.
Hin und wieder durfte Gowry auch bei Hochzeiten oder Beerdigungen eine der schicken Limousinen von Flanagan’s fahren, aber für gewöhnlich kutschierte er Busse voll mit betrunkenen Fußballfans oder auch streng dreinblickende – aber nicht immer nüchternere – Vertreter des Komitees zu Versammlungen und Umzügen in irgendwelchen abgelegenen Ortschaften.
Im Sommer sammelte er Reisegruppen vor den großen Hotels ein, steife englische Ladys, sentimentale Amerikaner und sogar recht viele gut situierte Italiener, die ausgesprochen großzügige Trinkgelder gaben. Tatsächlich war der einheimische Adel auch nicht knickeriger und dazu bei Weitem nicht so herablassend: Ein Bus voller Gentlemen, die dem Brandy zugesprochen hatten und sich auf dem Weg zum Pferderennen befanden, war bares Geld wert.
Tagungen und Rennen bedeuteten für Gowry regelmäßig, dass er auswärts übernachten musste, und in der Hochsaison war er auch schon mal fast eine ganze Woche unterwegs, wobei sein Vater und seine Kumpel seine Abwesenheit nutzten, um in der Bar des »Shamrock« die Puppen tanzen zu lassen.
Maeve behielt für sich, was in Abwesenheit ihres Vaters vor sich ging, aber sie hatte seinen Terminkalender im Kopf, so wie die Tochter eines Fischers sich mit den Gezeiten auskannte, und warnte ihren Großvater und Onkel jedes Mal rechtzeitig vor Gowrys Rückkehr. Sie fand nichts dabei, ihre Loyalitäten zwischen den Parteien aufzuteilen, da in der Sperryhead School Nationalismus quasi zum Lehrstoff gehörte und ihr Lehrer, Mr. Whiteside, ständig die Vorzüge der Unabhängigkeit predigte. Sie half Jansis, die Aschenbecher auszuleeren und den Boden zu wischen, nachdem die Männer gegangen waren, und sie polierte die klebrigen Fingerabdrücke vom Tresen und dem Klavierdeckel.
Turk spielte regelmäßig auf dem Klavier in der Bar. Turk Trotter mit seinem südländischen Aussehen und den langen Wurstfingern vermochte dem alten Instrument ebenso mitreißende wie traurige Melodien zu entlocken, und nach einem Dutzend heller Biere sang er sogar dazu, mit einer Stimme, die, wie Maeve fand, genauso himmlisch klang wie die Harfe von Erin.
Als Daddy, keine zehn Minuten nach seiner Rückkehr von den Seen und noch in Uniform, rief: »Was zum Teufel ist das?«, fiel Maeve keine passende Antwort ein. Er hatte eine Patrone zwischen Daumen und Zeigefinger eingeklemmt und hielt ihr diese vor die Nase wie ein Verehrer eine Rose. »Sag die Wahrheit! War Trotter wieder hier? Oder Charlie? Und wen hatten sie diesmal dabei?«
»Ich … ich weiß nicht.«
Gowry beugte den Oberkörper vor. Er hatte ein längliches Gesicht und tiefe Falten zwischen Nasenflügeln und Mundwinkeln. Als er in Dublin auf der Werft gearbeitet hatte, hatte er sich einen kleinen Schnauzer wachsen lassen, und der schmale Oberlippenbart hatte Maeve gefallen, aber er hatte den Job bald wieder verloren, und seitdem war er wieder glatt rasiert. Auch an diesem Abend musste er sich irgendwo rasiert haben, da sie noch den flüchtigen Geruch der Rasierseife riechen konnte und einen winzigen Klecks getrockneten Schaums hinter einem Ohr entdeckte.
»Weißt du, was das ist, Maeve?«
»Nö.«
»Lüg mich nicht an.«
»Eine Kugel.«
»Eine Patrone, und zwar eine intakte. Wo ist die her?«
»K-k-keine Ahnung.«
»Dreh den Wasserhahn zu, Mädchen«, ermahnte ihr Vater sie streng. »Tränen beeindrucken mich nicht im Geringsten.« Er hielt immer noch die Patrone mit der Spitze nach oben in die Höhe und legte Maeve eine Hand auf die Schulter, um sie am Fortlaufen zu hindern. »Hast du gehört, was drüben bei den Kais passiert ist?«
»Nö.«
»Hat Mr. Dolan nichts erwähnt? Oder Mr. Pettu?«
»Ich hab keinen von beiden gesehen«, stammelte Maeve.
Ihrer Mutter mochte sie älter erscheinen als zehn, aber für ihren Vater war sie immer noch das kleine Mädchen von fünf oder sechs Jahren, voller Vertrauen, unschuldig und liebevoll. Damals wäre sie noch nicht fähig gewesen, ihn anzulügen. Er verfluchte die Einflüsse, die aus ihr ein so abgebrühtes, raffiniertes Biest gemacht hatten.
»Nun, eine arme Frau und zwei Männer sind tot, und in der ganzen Stadt wimmelt es von Regierungsbeamten, die ganz erpicht darauf sind, der Öffentlichkeit einen Schuldigen zu präsentieren.«
»Es waren die Soldaten. Die Soldaten sind schuld.«
»Dann hast du also doch davon gehört. Wo sind sie?«
»Wer?«
»Die Waffen. Sie sind doch hier, habe ich recht?«
Maeve schürzte die Lippen und kämpfte mit den Tränen. Sie war nicht so schwach, wie ihre Mutter es früher gewesen war. Und sie war stur. Gowry verspürte einen kleinen Funken Stolz im Herzen angesichts ihrer Haltung, auch wenn sich ihre Dickköpfigkeit diesmal gegen ihn selbst richtete. Er war Ire genug, um ihren Mut zu respektieren, aber er wusste, dass die heutigen Ereignisse bei den Kais Gefahr bargen, umso mehr, als es auch in Europa brodelte und auf dem Festland ein Krieg unausweichlich schien.
»Und wenn? Ich sage nicht, dass es so ist, doch was, wenn tatsächlich Waffen hier versteckt wären? Sind wir nicht Märtyrer, unterdrückt von einer fremden Macht, so wie … so wie Belgien?«
»Was soll das?«, fragte Gowry, immer noch gebückt und eine Hand auf ihrer Schulter. »Wo hast du denn diesen Unsinn her?«
»Das ist kein Unsinn«, protestierte Maeve trotzig. Dann verließ sie der Mut, und sie legte den Kopf in den Nacken. »Mam. Mam-iiii!«
Gowry richtete sich auf, schloss seine Finger fest um die glänzende Patrone, die er unter der untersten Treppenstufe gefunden hatte, und ließ seine Tochter los. Sofort stürzte sie davon, durch die Küche und hinaus auf den Hof. Wie so oft stieg auch jetzt Panik in ihm hoch, die quälende Furcht, ihr könnte etwas zustoßen, etwas, worauf er keinen Einfluss hatte.
Sylvie kam aus dem Wohnzimmer. Heute war kein Gast zum Abendessen erschienen, nicht einmal Mr. Dolan. Gowry fragte sich, was mit Dolan los sein mochte. Er war ein Maulheld von einem Nationalisten und würde sich niemals aus dem Haus wagen, wenn sich draußen etwas zusammenbraute.
»Was ist denn? Wo ist Maeve?«
»Sie ist rausgelaufen.«
»Ach? Warum denn das?«
»Weil ich ihr das hier gezeigt habe.« Er hielt die Patrone in die Höhe. »Ich habe sie gefragt, wo ihr Großvater die Waffen versteckt hat.«
»Waffen?«
»Jetzt komm du mir nicht auch noch so«, sagte er barsch. »Ich weiß, dass sie Waffen hier versteckt haben. Soll ich alles auseinandernehmen, oder verrätst du mir freiwillig, wo das Zeug ist?« Ohne auf die Antwort zu warten, fuhr er fort: »Mein Vater war heute Nachmittag hier, stimmt’s? War Charlie bei ihm?«
»Ich weiß nicht, wovon du …«
»Sylvie, wach auf!«, fiel er ihr schroff ins Wort. »Wenn die Polypen geschmuggelte Waffen unter unserem Dach finden, machen sie das Hotel dicht und schleifen mich zum Castle. Glaubst du ernsthaft, dass mein Vater oder Charlie dann vortreten, um mich zu entlasten? Die nicht! Die überlassen mich, ohne mit der Wimper zu zucken, der Justiz und beklagen nur den Verlust der Waffen. Was haben sie angeschleppt, und wo haben sie es versteckt?«
»Du wirst sie doch nicht den Behörden ausliefern, oder?«
»Das habe ich nicht vor. Ich will nur wissen, was sie hier versteckt haben.«
»Ich werde nicht zulassen, dass du sie auslieferst.«
»Das geht dich nichts an.«
»Das ›Shamrock‹ gehört mir. Du hast gesagt, dass es mir gehört.«
»Es läuft auf deinen Namen, Sylvie, aber bezahlt haben wir es von unserem Geld.«
»Forbes’ Geld.«
Es war das erste Mal seit Jahren, dass sie Forbes’ Namen ausgesprochen hatte. Sie rechnete damit, dass Gowry schockiert sein würde, den Namen seines Bruders aus ihrem Mund zu hören und daran erinnert zu werden, dass er sich freigekauft hatte mit dem Geld, das gerade gereicht hatte, um den ehemaligen Besitzern des »Shamrock« die geforderte Kaufsumme zu bezahlen und die bestehende Hypothek zu tilgen.
Doch sobald sie den Namen ausgesprochen hatte, tat es ihr leid. Die Wahrheit war, dass sie sich kaum noch an Forbes McCulloch oder die Intensität ihrer Gefühle für ihn erinnern konnte. Trotzdem war das Wiederaufleben der Vergangenheit stark genug, um sie empfänglich zu machen für das, was am Nachmittag in ihrem Wohnzimmer geschehen war, als sie Mr. Hagartys Hand gehalten hatte und sein Blut in ihre Handfläche getropft war.
»Also gut«, gestand Gowry ihr zu. »Forbes’ Geld. Aber das spielt nun auch keine Rolle mehr.« Er steckte die Patrone ein und schaute nach oben. »Was ist es? Waffen?«
»Ja, es sind Waffen«, gab Sylvie zu. »Du hast doch sicher gehört, was heute passiert ist?«
»Ja, habe ich.«
»Sie waren verzweifelt.«
»Wer war es? Charlie?«
»Daniel, Charlie und Turk.«
»Ist das alles?«
»Ein Junge war noch bei ihnen … und ein Mann. Ich weiß auch nicht, wer er war.«
»Waren sie zusammen mit den Freiwilligen draußen in Howth?«
»Ich glaube, ja.«
»Ich hätte mir denken können, dass mein alter Herr bei Waffenschmuggel die Finger im Spiel hat und keine Ruhe geben würde, bis er mich auch darin verstrickt hat. Wo hat er das Zeug versteckt, Sylvie?«
»Ich weiß es nicht. Ich war nicht oben, seit sie weg sind.«
Gowry steuerte mit einem Grunzen die Treppe an.
Sylvie schaltete das elektrische Licht an, das ihm den Weg in den ersten Stock weisen würde. Weiter oben gab es keinen Strom, und er würde sich eine der Öllampen nehmen müssen, die auf einem langen Bord auf dem Treppenabsatz standen. Sie blickte ihm nach, als er, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, nach oben hastete, und nach kurzer Überlegung folgte sie ihm, getrieben von der Furcht, er könne erfahren, dass Fran Hagarty hier gewesen war.
Sie folgte dem Schein der Öllampe bis hinauf ins oberste Geschoss. Die Wände waren nicht tapeziert und bestanden hier aus nackten Brettern. Die Zimmer selbst waren winzig, kaum größer als ein Wandschrank. Sie beobachtete die Schattenspiele an der Wand, als Gowry von Zimmer zu Zimmer ging. Er schaute sogar oben auf dem Dachboden nach, wo jedoch nicht mehr zu finden war als einige staubige Koffer und die Wasserzisternen. Er kehrte zurück zur Treppe. Sylvie folgte ihrem Mann Stockwerk für Stockwerk nach unten, während er Zimmertüren aufstieß und in den Schränken und unter den Betten nachschaute.
»Wer bewohnt dieses Zimmer?«
»Mr. Rice.«
»Und wo ist der jetzt gerade?«
»Bei den anderen in der Bar. Soweit ich weiß, waren sie unterwegs, um sich draußen mal umzusehen.«
»Um zu gaffen, meinst du!«, schimpfte Gowry. »Und wer wohnt sonst noch hier?«
»Niemand.«
Sie befanden sich im ersten Stock. Der Flur war t-förmig angelegt mit einem Fenster nach vorn zur Straße. Die Zimmer hier waren langfristig an Mr. Pettu vermietet, der für einen katholischen Weinhändler tätig war, sowie an Mr. Dolan, der von einer mageren Rente der Hafenbehörde lebte. Er war Hafenlotse gewesen, bis seine Augen ihn im Stich gelassen hatten. Er hatte keine lebenden Verwandten mehr und auch sonst niemanden auf der Welt. Mr. Dolan hatte schon hier gewohnt, als die McCullochs das Hotel übernommen hatten, und aller Wahrscheinlichkeit nach würde er auch bis zu seinem Tod hier wohnen bleiben.
Gowry überlegte. Er blickte von Sylvie zum Treppenabsatz. Sie schüttelte schulterzuckend den Kopf. Gowry klopfte an Dolans Tür.
»Mr. Dolan? Mr. Dolan, sind Sie da?«
Sie rochen Lampenrauch, aber sonst nichts, vom trockenen, staubigen Geruch des Hauses einmal abgesehen. Draußen war es noch hell, da der Abend gerade erst anbrach, doch das Fenster am Ende des Flures ließ nicht viel Licht herein. Gowry schwenkte die Lampe in seiner Hand, sodass das Öl höher schwappte und die Flamme heller leuchtete.
»Mr. Dolan?« Gowry rüttelte an der Türklinke.
»Gehen Sie weg.«
»Mr. Dolan? Warum sitzen Sie denn im Dunkeln?«
»Gehen Sie weg.«
»Sie haben nicht zu Abend gegessen, Mr. Dolan«, rief Sylvie. »Geht es Ihnen nicht gut?«
»Gehen Sie weg.«
Sie fischte den Generalschlüssel aus der Schürzentasche, ging zu Gowry hinüber und reichte ihn ihm. Er übergab ihr die Lampe. Sylvie hielt sie mit beiden Händen fest und sah zu, wie Gowry sich vorbeugte, den Schlüssel ins Schloss steckte und aufsperrte.
»Mr. Dolan, ich komme jetzt rein.«
»Nein, nein, nein«, stöhnte ihr Gast. »O nein, Allmächtiger, tun Sie das nicht!«
Gowry öffnete die Tür, und Sylvie leuchtete in die winzige Kammer.
Mr. Dolan hockte im Halbdunkel zusammengesunken auf der Bettkante, die Füße auf den Kisten. Er sah nicht wütend aus, sondern völlig verängstigt. Mr. Dolan trug Wollsocken und ein Unterhemd, und die Hosenträger hingen lose über seinen mageren Schultern. Über dem Bett hing ein gerahmter Druck des Heiligen Herzens, und auf dem Nachttisch stand eine kleine Gipsfigur der Heiligen Jungfrau.
»Hier stecken Sie also, Mr. Dolan«, bemerkte Gowry. »Und was ist das, was Sie da als Fußschemel benutzen? Ich kann mich nicht erinnern, neues Mobiliar angeschafft zu haben.«
»O Gott! Heilige Muttergottes!«
Sylvie hatte noch nie einen derart verängstigten Menschen gesehen. Seine alten gelben Augen quollen förmlich aus den Höhlen vor Entsetzen. Seine Arme und Beine zuckten, und er schüttelte unablässig den Kopf auf dem dürren Hals, in dem Versuch, wider jede Vernunft das Offensichtliche zu leugnen. Sylvie erkannte, dass er schreckliche Angst vor Gowry hatte, vor seinem Zorn und davor, dass ihr Mann ihn denunzieren könnte.
»Ganz ruhig, ist ja alles nicht so schlimm«, meinte Gowry begütigend.
»Sie haben mir gesagt, ich darf Ihnen nichts verraten.«
»Klar, und was haben sie noch gesagt?«, wollte Gowry wissen.
»Dass ich das für Irland täte, zum Wohle meines Vaterlandes.«
»Und so war es auch«, hörte Sylvie sich ihm beipflichten. »So ist es, Mr. Dolan.«
Gowry war auf ein Knie gesunken und hatte die Hände flach auf den Kistendeckel gelegt. Für Sylvie sah es aus, als betete er am Sarg eines Kindes.
»Haben sie Ihnen auch erzählt, was hier drin ist, Mr. Dolan?«, fragte Gowry.
»Für Irland, haben sie gesagt. Für Irland.«
Gowry trommelte mit den Fingern auf das Holz. »Also, wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich das Zeug mitnehmen. Hier ist kein Platz dafür.«
»Sie werden mich verraten. Sie werden es ihnen erzählen. Sie werden ihnen erzählen, dass ich sie verraten habe.«
»Nicht doch«, beschwichtigte Gowry. »Nein, nein, Mr. Dolan. Das bleibt unser Geheimnis. Gehen Sie jetzt runter, und Mrs. McCulloch macht Ihnen etwas zu essen. Wenn Sie nach dem Essen auf Ihr Zimmer zurückkehren, wird nichts mehr davon hier sein.«
»Sie haben gesagt …«
»Wer hat das gesagt? Mein Vater?«, hakte Gowry nach, der sich inzwischen wieder aufgerichtet hatte.
»Er. Er ist hinterher mit den anderen raufgekommen.«
»Wer ist mit raufgekommen?«
»Mr. Hagarty. Er sagte, es wäre zum Wohle des Vaterlandes. Er hat mir einen ausgegeben und gesagt, ich solle Ihnen unter keinen Umständen verraten, dass die Ware hier in meinem Zimmer versteckt ist. Und jetzt habe ich es doch verraten.«
»Hagarty?«, wiederholte Gowry den Namen stirnrunzelnd. »Wer zum Teufel ist Hagarty?« Er drehte sich zu Sylvie um.
Sie schüttelte den Kopf. Dann stellte sie die Lampe auf den Fußboden, kam herüber, ergriff über die Kisten hinweg Mr. Dolans Hand und zog ihn auf die Füße. »Kommen Sie. Mr. Rice ist bestimmt jetzt auch unten. Sie mögen doch Mr. Rice, oder? Und Mr. Pettu wird ebenfalls jeden Moment aus der Kirche zurückkommen. Er wird Ihnen von den heutigen Ereignissen berichten. Kommen Sie, Mr. Dolan. Ich habe Stew gekocht, und das wird mir schlecht, wenn es nicht bald gegessen wird.«
Widerwillig und immer noch zitternd, stieg er über die Kisten mit der deutschen Aufschrift hinweg. Sylvie stützte ihn, während er die Hosenträger richtete und nach seinen Stiefeln griff. Es ärgerte sie, dass Fran Hagarty den armen alten Mann derart ausgenutzt hatte, doch gleichzeitig war sie fasziniert davon, wie es ihm gelungen war, mit sanfter, aber eindringlicher Stimme völlig skrupellos den alten Mann zu überreden, sein Leben für eine Sache zu riskieren, die er gar nicht wirklich verstand.
»Was wirst du tun, Gowry?«, fragte sie von der Tür aus. »Du wirst sie doch nicht zurückgeben, oder?«
»Nein, das nicht. Ich werde sie verstecken, allerdings an einem sicheren Ort.«
»Und wo sollte das sein?«, wollte Sylvie wissen.
»Das lass mal meine Sorge sein«, entgegnete Gowry. »Das brauchst du nicht zu wissen.«
Gleich nach dem Frühstück am nächsten Morgen setzte Sylvie ihren Strohhut auf, schlüpfte in ihr bestes Jäckchen und machte sich auf zum Bahnhof in der Amiens Street.
Es war warm, aber dunstig, und am Himmel zogen dünne Wolkenbänder vorbei, die später Regen bringen mochten. Die Schlagzeilen des Tages drehten sich um das Massaker. In der Stadt lag ein seltsames Summen in der Luft, wie von einem Bienenschwarm. In den Straßen und am Bahnhof wimmelte es förmlich von Polizei. Wohin man sah, grimmig dreinblickende Officer der Royal Irish Constabulary, der bewaffneten irischen Bundespolizei. Um die Fahrkartenschalter und vor dem Tor zu den Bahnsteigen standen kleine Gruppen von Soldaten mit Karabinern über der Schulter. Sylvie kaufte eine Fahrkarte nach Malahide und stieg nur drei Minuten vor der fahrplanmäßigen Abfahrt in den Zug. Sie setzte sich und faltete die Hände im Schoß wie ein kleines Kind, wobei ihre Schuhe kaum den Boden berührten. Aufmerksam lauschte sie den Gesprächen der anderen Fahrgäste im Abteil, die sich allesamt um das tragische Schicksal der unschuldigen Opfer vom Bachelor’s Walk drehten.
Schweigend hörte sie den Wortwechseln zu. Heute war es jedoch eine andere Art von Schweigen. Heute verfolgte sie sehr genau die Gespräche ihrer Mitreisenden, und ihr ging durch den Kopf, wie leicht es gewesen wäre, diese Leute mit ihrer Geschichte zum Schweigen zu bringen. Hinterher würden sie in ihr nicht mehr nur die adrette, hübsche junge Frau mit dem billigen Strohhut sehen, sondern jemanden, der unmittelbar beteiligt gewesen war, eine Freundin des berühmten Fran Hagarty.
Die Strecke betrug neun Meilen, wobei der Zug unterwegs mehrmals hielt. Als sie die Stadt hinter sich ließen und das flache Land mit dem Meer auf der rechten Seite erreichten, betrachtete Sylvie eine Weile ganz versunken die See, bevor sie den Blick wieder landeinwärts richtete, wo zwei Meilen vor Malahide der kleine Ort Towers vorbeihuschte. Jenseits der Gerstenfelder ragten die weißen Mauern der Brauerei auf und davor, umgeben von einigen Ulmen, das zweistöckige Wohnhaus, in dem Gowrys Vater zusammen mit seiner Frau Kay und jenen ihrer Kinder lebte, die noch keinen eigenen Hausstand gegründet hatten.
In Malahide stieg sie aus dem Zug, ließ die Droschken vor dem Bahnhof links liegen und machte sich zu Fuß auf den Weg. Es wehte kaum ein Lüftchen, aber Wellen brachen sich in schäumenden Bögen am Strand, und draußen auf dem Meer blähten sich die Segel einiger Boote. Am Wasser spielten fröhliche kleine Kinder. Sylvie schritt zügig aus und hatte die Ausflügler bald hinter sich gelassen.
Sie war erst drei oder vier Mal in Towers gewesen, da Gowrys Mutter Kay, eine geborene Franklin, die jedes Jahr mehrere Monate bei ihrem Sohn Forbes in Glasgow residierte, sie von Anfang an abgelehnt hatte. Die Brauerei warf kaum genug ab, um die Familie zu ernähren, hatte Gowry ihr erzählt, und erst recht reichte das Geld nicht, um den ehrgeizigen Ambitionen seiner Mutter gerecht zu werden oder auch nur die Schulden zu begleichen, die sein Vater beim Wetten auf lahme Krücken verloren hatte. Inzwischen hatten Charlie und der junge Peter die Leitung der Brauerei übernommen, während Daniel fast seine ganze Zeit mit der Bruderschaft vergeudete.
Sylvie verspürte nicht die geringste Lust, ihrer Schwiegermutter über den Weg zu laufen, und so schlich sie am Haus vorbei in die Gasse, die zur Giebelwand der Brauerei führte.
Sie war ganz angespannt vor nervöser Erwartung. Sie hoffte, dass Charlie ihn in dem amerikanischen Automobil hergebracht hatte. Zwar war es streng genommen wahrscheinlicher, dass er irgendwo in der Stadt für eins der schäbigen, unter der Hand vertriebenen Blätter, die Gowry abfällig als »nationalistische Schmiererei« bezeichnete, an einem Bericht über das Massaker schrieb. Sie fragte sich, was man wohl mit Schreiben verdienen mochte und warum das College und seine Frau ihn hinausgeworfen haben mochten. Waren Alkohol, Ehebruch oder das Schreiben an sich schuld, dass er so weit gesunken war, den Teppich fremder Leute vollzubluten und sich von einer ihm unbekannten Frau seine Schussverletzung verarzten lassen zu müssen?
Sylvie durchquerte den Hof der Küferei und passierte Fässer und leere Bierkästen. Es kam ihr sehr still vor, unnatürlich still, da sie nicht wusste, dass das eigentliche Einmaischen und Brauen in den Wintermonaten stattfand.
»Charlie«, rief sie. »Charlie, bist du da?«
Die Luft roch säuerlich, und aus einem Lüftungsschacht hoch oben an der fensterlosen Mauer entwich Dampf.
»Charlie?«
Peter kam aus der offen stehenden Tür. Er trug nur Hose und Unterhemd und troff von Schweiß. Er war erst sechzehn oder siebzehn und hatte den gleichen langen Hals und die unfertigen Züge, die auch Gowry eigen gewesen sein mussten, bevor er zum Mann gereift war. »Was willst du denn hier?«, fragte Peter feindselig.
»Charlie«, entgegnete Sylvie. »Ich muss Charlie sprechen.«
»Der hat zu tun.«
»Hol ihn sofort her. Wenn nicht, bekommst du Ärger.«
»Du kannst uns gar nichts«, entgegnete Peter stur.
Ein Mann tauchte hinter dem Jungen in der Tür auf, ein hässlicher Hüne mit tonnenförmigem Oberkörper und Bierbauch. Er trug einen langstieligen Holzspaten über der Schulter. Der Mann blieb im Schatten hinter der Tür stehen und musterte sie abschätzig.
»Ich nicht«, gab Sylvie zu, »aber die Polypen.«
»Was redest du da von Polypen?«, hakte Peter gereizt nach.
»Ich rede nicht mit kleinen Jungs. Geh und hol Charlie! Sag ihm, dass ich hier bin.«
In dem Sekundenbruchteil, den sie brauchte, um den Blick von Peter auf die Türöffnung zu richten, war der Mann mit dem Spaten verschwunden.
Dreißig Sekunden später eilte Charlie herbei. Er trug einen braunen Anzug, einen steifen Pappkragen, Pappmanschetten und Krawatte. Das Jackett hatte er über den Arm gelegt. Charlie schob sich an seinem Bruder vorbei und blieb vor Sylvie stehen. Er warf einen Blick hinter sie und schaute sich dann auf dem Hof mit den geweißten Mauern um, sah zu den Möwen auf dem Dach und richtete den Blick dann wieder auf seine Schwägerin.
»Was zum Teufel willst du denn hier, Sylvie? Ist etwas passiert?«
»Allerdings. Gowry hat die Waffen gefunden.«
»Hast du …«
»Nein, habe ich nicht.«
»Maeve? Hat die Kleine sich verplappert?«
»Nein, auch nicht. Er hat eine Patrone auf dem Fußboden gefunden und eins und eins zusammengezählt.«
»Will er uns ans Messer liefern?«
»Warum habt ihr die Kisten ausgerechnet bei Mr. Dolan untergebracht?«
»Der alte Knabe ist einer von uns.«
»Einer von euch, sagst du? Der gehört nirgends dazu.«
»War Gowry im Castle?«
»Nein«, entgegnete Sylvie. »Aber er hat die Waffen weggebracht.«
»Was erzählst du da? Wohin hat er sie gebracht?«
»In ein sicheres Versteck, hat er gesagt.«
»Und wie hat er sie transportiert?«
»Er hat ganz früh heute Morgen den Bus von Flanagan’s geholt, hat die Kisten eingeladen und ist davongefahren.«
»Er hat die Kisten doch niemals allein da runtergeschleppt und in den Bus geladen.«
»Maeve hat ihm geholfen.«
»Grundgütiger!«
»Ich ebenfalls.«
»Wer hat euch gesehen?«
»Niemand. Dazu war es noch zu früh. Außerdem brauchten wir nicht die vollen Kisten zu schleppen. Gowry hat sie gestern Abend geöffnet, und wir haben je zwei Gewehre pro Gang runtergetragen. Die Munitionskisten haben wir zusammen getragen. Sollte uns jemand dabei beobachtet haben, hat er jedenfalls nichts gesagt.«
»Und was hat Gowry mit dem Zeug vor? Wo wollte er es verstecken?«
»Er hat nur von einem sicheren Ort gesprochen.«
»Heutzutage ist es nirgendwo mehr sicher. Wenn er erwischt wird …«
»Gowry lässt sich nicht erwischen.«
»Diese Waffen wurden nicht nur mit Geld, sondern auch mit Blut bezahlt«, erklärte Charlie. »Sie sind unersetzlich.«
»Daran hättet ihr gestern denken sollen«, entgegnete Sylvie.
Charlie warf einen Blick über die Schulter.
Peter lehnte mit verschränkten Armen am Türrahmen, rauchte und spuckte auf den Boden. Peter war nie im »Shamrock« gewesen. Charlie hatte bislang versucht, ihn von der Bruderschaft fernzuhalten, aber der harte, hässliche Ausdruck auf seinem Gesicht ließ vermuten, dass er bald Anschluss suchen würde, und wenn er erst den Fuß in der Tür hatte, würde er nicht mehr zu halten sein.
»Das hättet ihr bedenken sollen, bevor ihr die Kisten bei dem armen Mr. Dolan deponiert habt. Wie ist Mr. Hagarty nur auf diese Idee gekommen?«
»Es war zweckdienlich. Weißt du, was das heißt?«
»Ich bin kein Ignorant«, erwiderte Sylvie bissig. »Ich bin ein gebildeter Mensch.«
»Schon gut, schon gut. Und wo ist Gowry jetzt?«
»Er ist mit einer Reisegruppe vom ›Jury’s‹ an die Westküste gefahren. Sie wollten heute mal raus aus Dublin, und darum fährt er sie nach Bunratty Castle, zu den Klippen und … was weiß ich, wohin sonst noch.«
»Moher«, meinte Charlie. »Moher in der Grafschaft Clare?«
»Keine Ahnung.«
»Dann kommt er heute nicht mehr nach Hause.«
»Nein, und morgen auch nicht«, bestätigte Sylvie. »Er wird drei Tage unterwegs sein.«
»Willst du damit sagen, er nimmt die Waffen mit nach Clare?« Charlie legte das Jackett von einem Arm auf den anderen. »Wir wollten sie eigentlich heute Abend abholen. Dada ist gerade in der Stadt, um die Einzelheiten für den Transport zu regeln.«
»Wo ist Mr. Hagarty?«
»Fran? Was willst du von dem?«
»Er würde wissen, was zu tun ist, oder?«
»Nein, Unsinn.«
Sylvie blieb hartnäckig. »Er kennt Gott und die Welt, oder etwa nicht? Warum rufst du ihn nicht an und bittest ihn um Rat?«
»Ich brauche seinen Rat nicht.«
»Ich will nicht, dass ein Lastwagen vor dem ›Shamrock‹ vorfährt und eure Leute Ärger machen, weil es nichts abzuholen gibt«, entgegnete sie fest. »Es würde uns einen Riesenärger einbringen, wenn auf der Sperryhead Road ein Tumult entsteht, und das vor den Augen der halben Nachbarschaft.«
»Ich kann ihn telefonisch nicht erreichen«, meinte Charlie. »Fran hat kein Telefon. Gott, er besitzt gerade mal das Hemd, dass er auf dem Leib trägt.«
»Ich dachte, es wären seine Waffen?«
»Das sind nicht seine Waffen. Die Waffen gehören uns allen. Halt dich da raus, Sylvie. Das ist nichts für eine Frau.«
»Ach, nein? Ist gestern nicht auch eine Frau auf dem Bachelor’s Walk ums Leben gekommen?« Energisch setzte sie den Strohhut wieder auf und wandte sich ab. »Ach, mach doch, was du willst!«
Er stürzte ihr nach. »Warum bist du wirklich hier?«
»Ich wollte helfen. Wenn du es genau wissen willst: Ich denke, dass Gowry die Waffen nicht vor den Behörden verstecken will, sondern vor euch. Er will nicht, dass ihr sie habt. Gowry glaubt nicht an eure Methoden, Charlie. Er ist gegen jedes Blutvergießen.«
»Das weiß ich. Natürlich weiß ich das. Er hat es mir ja oft genug gesagt.«
»Gowry glaubt zu wissen, warum du die Waffen ausgerechnet bei uns versteckt hast.«
Charlie kniff die Augen zusammen. »Ach ja?«
»Er nimmt an, ihr stehlt den Freiwilligen die Waffen, weil ihr sie anderweitig einsetzen wollt.«
»Mein Bruder redet zu viel.«
»Ich denke, ihr wollt warten, bis die Engländer gegen die Deutschen in den Krieg ziehen, um ihnen dann hier in Dublin einzuheizen. Habe ich recht?«
»Und wenn dem so wäre?«
»Dann bräuchtet ihr die Waffen. Du musst eure Jungs unbedingt davon abhalten, heute Abend zum Hotel zu kommen. Und ich denke, dass Mr. Hagarty der Richtige wäre, das zu verhindern.«
»Was du nicht sagst.«
»Ich fahre gleich zurück nach Dublin. Wenn du willst, bin ich gern bereit, Mr. Hagarty eine Nachricht zu überbringen.«
Charlie grunzte. »Er hat dich auch um den Finger gewickelt, was? Na ja, wärst ja nicht die Erste. Aber ich hätte nie gedacht, dass wir so leicht zu durchschauen sind, dass sogar die Frau meines Bruders dahinterkommt, was wir vorhaben. Hagarty ist viel mehr als nur ein Schreiberling, Sylvie. Du ahnst ja nicht, wozu er fähig ist, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat.«
»Wo wohnt er?«
»In der Endicott Street. Oben am Mountjoy.«
»In der Nähe des Gefängnisses?«
»Nein, nicht so weit oben. In einem der Mietshäuser.«
»In welchem?«
»Dem letzten auf der linken Seite gegenüber dem Kanal. Er hat ein Zimmer im obersten Stock.«
»Und was soll ich ihm ausrichten?«
»Das, was du auch mir erzählt hast.«
»Und er wird wissen, was zu tun ist?«
»Ja, das wird er.«
Sylvie nickte und wandte sich erneut ab. Sie betrachtete ihre Mission als erledigt.
»Warte«, rief Charlie ihr nach. »Ich lasse Peter die Pferde anspannen, er wird dich zum Bahnhof fahren.«
Sylvie warf einen Blick auf den grimmig dreinblickenden Burschen, der immer noch rauchend und spuckend in der Tür lehnte. »Nein danke. Ich gehe lieber zu Fuß.«
Es war kein weiter Weg von der Amiens Street rüber zur Summerhill Parade. Hier standen noch einige nette Häuser, aber zwischen Gefängnis und der Liffey-Nebenstrecke war die Armut nur allzu deutlich sichtbar. In den zehn Jahren, die sie nun schon hier in Dublin lebte, war Sylvie noch nie in diesem Teil der Stadt gewesen, auch wenn sie wie alle anderen um die schrecklichen Lebensumstände nördlich der Parnell Street wusste und gehört hatte, dass die Elendsviertel überall bis unmittelbar an die georgianische Pracht heranreichten.
Die Endicott Street wurde von einer schmalen Gasse gekreuzt. Auf den Stufen der heruntergekommenen Mietskasernen sah sie in Schals gehüllte Frauen, zerlumpte Kinder und weinende Babys, während an der Straßenecke draußen vor dem Pub Männer mit ihrem obligatorischen wichtigtuerischen Gehabe herumlungerten. Auf der Flussseite der Gasse ragten vier Mietskasernen wie Opernkulissen auf, und die Straße schien sich in einen breiten, dunklen Trichter zu verwandeln. Viele Fenster standen weit offen, um einen Hauch von Luft hereinzulassen und die Gerüche zu vertreiben, die zehn oder zwanzig Schläfer über Nacht hinterlassen hatten. Der Gestank nach Frittierfett, gekochtem Kohl und verstopften Abflüssen erinnerte sie an bestimmte Straßen in Glasgow, ganz in der Nähe des Viertels, in dem sie als Forbes McCullochs Geliebte gewohnt hatte, bevor Gowry sich ihrer erbarmt und sie nach Dublin mitgenommen hatte.
Der Eingang des letzten Mietshauses bestand in einem hohen, noch recht gut erhaltenen Säulenvorbau, von dem aus man in einen Flur gelangte. Von hier führte eine Wendeltreppe mit rostigem Geländer zu den oberen Stockwerken hinauf. Im Eingang stand eine junge Frau, die einen in eine alte Zeitung gewickelten Säugling im Arm hielt. Auf der Treppe hockte ein Junge von acht oder neun Jahren, nackt bis auf eine fleckige alte Unterhose. Er hielt eine winzige Plastikflöte in der Hand und spielte darauf eine kleine Melodie, zu der die Frau sich wie in Trance wiegte.
Der Junge blickte nicht einmal auf, als Sylvie ihn nach Mr. Hagarty fragte. Er begnügte sich mit einem knappen Nicken in Richtung Treppe und fuhr fort, Note für Note die fehlerhafte Melodie zu spielen. Sylvie ging um ihn herum und stieg mit klopfendem Herzen die Eisentreppe hinauf. So hatte sie sich nicht mehr gefühlt, seit sie damals in der Wohnung in Glasgow darauf gewartet hatte, Forbes’ Schlüssel in der Tür zu hören. Sie fragte sich, warum sie so aufgeregt war bei der Aussicht auf ein Wiedersehen mit einem Mann, dem sie erst ein einziges Mal begegnet war. Sylvie war nervös, weil sie nicht wusste, warum es wichtig war, was sich daraus ergab, oder ob das Prickeln nach dieser zweiten Begegnung bereits wieder schwinden würde.
Als sie den oberen Treppenabsatz erreicht hatte, blickte Sylvie zurück die Treppe hinunter. Das eiserne Geländer war so eng geschwungen wie die Spirale eines Dynamos, und weit unten starrte der Junge mit offenem Mund zu ihr hoch.
Sie trat vor und klopfte an Fran Hagartys Tür.
»Es ist offen«, rief er.
Es gab keine Klinke, nur einen Schnappriegel.
Sie öffnete und trat ein.
Das Zimmer war sehr klein, quadratisch, sauber und spartanisch eingerichtet. Auf einem kleinen Tisch am Fenster sah sie eine Schreibmaschine, einen Stapel Schreibhefte, eine Lampe und eine halb volle Whiskyflasche. Auf dem Nachttisch standen ein Wasserkrug, eine Waschschüssel und eine Kerze in einem Blechhalter. Darüber hinaus gab es zwei Holzstühle mit gerader Rückenlehne. Das Fußende des Bettes zeigte zur Tür.
Fran lag auf dem Bett, über das eine Patchworkdecke in Brauntönen gebreitet war. Er trug nur Hosen und ein weißes Baumwollunterhemd. Seine Füße waren nackt. Fran lehnte an einer Nackenrolle, seitlich flankiert von zwei Federkopfkissen. Die bandagierte linke Hand ruhte hinter seinem Kopf, in der anderen hielt er eine Zigarette.
Er musterte Sylvie einen Moment reglos, ehe er sich auf die Seite rollte und die Zigarette im Kerzenhalter ausdrückte. Dann drehte er sich wieder auf den Rücken und verschränkte beide Hände hinter dem Kopf. »Sylvie, das ging aber schnell.«
»Ich verstehe nicht.«
»Ganz so schnell hatte ich deinen Besuch nicht erwartet.«
Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da hätte Sylvie sich über drei Polizisten in Zivil auf ihrer Türschwelle nur amüsiert.
Vor Bodenstown, vor Fran, hatte sie ja nicht geahnt, welche Gefahr sie für Recht und Ordnung darstellte. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, dass das »Shamrock« zum Treffpunkt subversiver Elemente geworden war, hauptsächlich deshalb, weil die meisten dieser Subversiven Verwandte waren. Für sie war ihr Schwiegervater nicht mehr als eine Figur wie aus einer Komischen Oper mit seinem dicken Schmerbauch, dem großtuerischen Gehabe und dem nur mäßig bestückten Oberstübchen. Auch fiel es ihr schwer, sich vorzustellen, dass Turk oder Charlie mit der gleichen Begeisterung, mit der sie nach einem Glas Starkbier griffen, die Zügel der Macht an sich rissen. Und doch standen sie nun im Licht des Vormittages auf ihrer Schwelle, Detective Inspector Vaizey und zwei weitere Detectives der Special Crime Branch.
Jansis öffnete. Sie war eine große, grobknochige Frau, nicht viel älter als dreißig, aber mit einem länglichen Gesicht, das ein wenig an ein Pferd erinnerte, und dazu ewig mürrisch, als hätte sie sich damit abgefunden, nie einen Mann zu finden. Obwohl die Männer in Zivil waren, erkannte Jansis sie sofort an den typischen Regenmänteln und Hüten mit schmaler Krempe. »Wir sind ausgebucht«, sagte sie. »Bedaure.«
Sie machte Anstalten, die Tür zu schließen, aber ein derber Stiefel schob sich in den Türspalt. Jansis trat einen Schritt zurück, stützte mit weit abgespreizten Ellbogen die Fäuste auf die knochigen Hüften und bellte mit einer Autorität, geboren aus jahrelangem Umgang mit Handelsreisenden: »Dienstausweise!«
Der feuchte Schnauzbart auf Vaizeys Oberlippe zuckte. Er hob eine Hand und schnippte mit den Fingern. Einer der Männer, der einen ganzen Kopf größer war als Vaizey, hielt Jansis einen Ausweis unter die Nase.
»Metropolitan Police«, knurrte er. »Wenn Sie wissen, was gut für Sie ist, lassen Sie uns rein, ohne sich anzustellen.«
»Sie sind also Bullen, ja?«, stellte Jansis fest. Sie drehte den Kopf und tat, als spuckte sie über die Schulter.
»Schaff sie weg, Ames, bitte«, sagte Vaizey.
Der stämmige Polizist betrat die Eingangshalle, hob Jansis an den Ellbogen hoch wie einen großen Blumenkübel und setzte sie ein Stück weiter wieder ab. Noch bevor ihre Füße den Boden berührten, kreischte Jansis: »Überfall, Razzia, Missus McCulloch. Razzia.«
Vom oberen Treppenabsatz hörten sie eine Stimme fluchen. »Mistkerle!« Gleich darauf regnete der Inhalt eines Wasserkruges herab, dicht gefolgt vom Krug selbst. Dann flog eine Packung Kerzen herab, platzte auf dem Fußboden auf, und die Wachskerzen rollten den Beamten zwischen die Füße.
»Mam, Mamee, die Polypen«, kreischte Maeve und rannte, Ames dicht auf den Fersen, die Treppe hinauf.
»Sie ist doch noch ein Kind, ein kleines Mädchen. Wollen Sie sie auch erschießen?«, schimpfte Jansis.