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Der Bodensee birgt ein Geheimnis Nachdem ihre Mutter die Familie sitzenlässt, muss Laura ihre Freunde und ihr Studium in Hamburg hinter sich lassen und mit ihrem Vater an den Bodensee ziehen. Hier fühlt sie sich einsam – bis sie die High Scale entdeckt, eine Schwimmschule, in der man lernt, wie Meerjungfrauen zu schwimmen. Als Laura bei einer Party ins Wasser stürzt, taucht ausgerechnet Schwimmlehrerin Nayla aus dem Nichts auf und kommt ihr zur Hilfe – mitten auf dem Bodensee, fernab von allem. In Laura keimt der Verdacht, dass nicht alle in der High Scale wirklich nur als Meermenschen verkleidet sind ...
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Janika Hoffmann
High Scale
Die Mermaidingschule
1. Auflage Juni 2025
Copyright © 2025 by Janika Hoffmann.
Janika Hoffmann – Autorin, Gebrüder-Grimm-Straße 6,
63322 Rödermark
Titel- und Umschlaggestaltung: saje design, www.saje-design.de
unter Verwendung einer Hintergrundgrafik von shutterstock.com
Lektorat & Korrektorat: Thorsten Breuer
Printed in EU
Alle Rechte vorbehalten.
Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (auch auszugsweise)
ohne schriftliche Genehmigung der Autorin reproduziert, vervielfältigt
oder verbreitet werden.
ISBN der Druckausgabe: 978-3-949758-61-4
Für Fee. Nun hat unsere ›etwas eskalierte‹ Idee
doch den Weg in die Welt hinaus gefunden.
Janika Hoffmann, geboren 1995, wuchs in der Nähe der schleswig-holsteinischen Nordseeküste auf. Außerdem verbrachte sie einen Teil ihrer Kindheit in Südafrika und studierte für einige Zeit in Sydney.2013 erschien ihr erster Roman; 2020 machte sie ihre Leidenschaft für Geschichten zum Hauptberuf. Heute lebt sie in Südhessen und widmet sich voll und ganz ihren Fantasy-Geschichten.Nachdem sie als Jugendliche nur davon geträumt hat, hat sie vor einigen Jahren selbst mit Mermaiding begonnen.Wenn sie nicht gerade Welten entwirft, Figuren durch die Hölle schickt oder sich mit ihren Katzen beschäftigt, ist sie häufig auf Buchmessen, Conventions oder aber auf Wanderreisen in ihrem selbst ausgebauten Campervan anzutreffen.
Kapitelübersicht
Kapitel 1: Alles auf Anfang
Kapitel 2: Der Tag der offenen Tür
Kapitel 3: Schwimmstunde
Kapitel 4: Bekanntschaften
Kapitel 5: Verhängnisvolle Party
Kapitel 6: Geheimnis in Gefahr
Kapitel 7: Wundersame Rettung
Kapitel 8: Das Geheimnis des Bodensees
Kapitel 9: Die Mermaidingschule
Danksagung
Content Notes
Die Sonne strahlte von einem wolkenlosen Himmel und reflektierte auf dem Wasser. Das Licht brach sich auf den vielen kleinen Wellen und brachte den Bodensee zum Funkeln. Am gegenüberliegenden Ufer schwammen Schwäne, gänzlich unbeeindruckt von all den Menschen, die sich in der Nähe des Wassers aufhielten. Deutlich näher schwammen drei Erpel vorbei, die sich um eine Ente stritten. Die vier Wasservögel warfen einen Blick an den kleinen Strand und schnatterten irritiert, zogen dann jedoch weiter.
Meggie kicherte leise. Da sollte noch einmal jemand behaupten, Tiere in der Stadt wären so ziemlich alles gewöhnt. Vermutlich kannten diese Enten nur die meist einfarbigen Boote und Fähren, die hier verkehrten. Farbenfrohe Besucher wie sie selbst sahen die Tiere offensichtlich nicht so oft. Verschmitzt schlug Meggie auf die Oberfläche des hier flachen Wassers, dass es nur so spritzte. Die Vögel blickten sich zu ihr um, dann flogen sie unter lautem Schnattern auf und steuerten in Richtung Hafen.
Offenbar waren die Tiere nicht die Einzigen, die das Platschen vernommen hatten. Überraschte Ausrufe drangen an Meggies Ohren. Als sie den Kopf drehte, entdeckte sie mehrere Menschen auf der Terrasse des Hotels, zu dem der winzige Sandstrand gehörte. Drei Männer lehnten an der Balustrade und deuteten auf Meggie. Abermals riefen sie etwas, woraufhin eine Frau in kurzem Kleid und eine zierliche Kellnerin hinzukamen. Sie alle blickten mit großen Augen zum Strand.
Meggie zögerte kurz und spähte an sich hinunter. Im prallen Sonnenlicht war ihre Schwanzflosse nicht zu übersehen. Auf dem hellen Sand, umspielt vom flachen Wasser, mussten die orangeroten Schuppen mit den blauen, grünen und rosafarbenen Mustern wie ein Regenbogen schillern. Kurz flackerte Unwohlsein in ihr auf und eine leise Stimme wisperte ihr zu, dass sie schleunigst verschwinden sollte. Dann rief sie sich in Erinnerung, dass das nicht nötig war. Die Leute sollten auf sie aufmerksam werden, sie saßen hier gewissermaßen als lebendige Werbeschilder. Also setzte sie ein Lächeln auf, wandte sich wieder in Richtung der Terrasse und winkte den Leuten dort oben zu. Mit ihrer Geste löste sie weitere Ausrufe des Erstaunens aus.
»Jetzt halt doch mal still, sonst hast du gleich wieder alle Haare im Verschluss deiner Kette!« Cora drückte ihr einen Ellenbogen in den Rücken, um ihren Oberkörper zurück in Richtung Wasser zu drehen. Empört versuchte sie, die Strähnen von Meggies Haaren, die sie in den Händen hielt, anschließend weiter zu ordnen und zusammenzuflechten.
Meggie war bei ihrem Ausruf schuldbewusst zusammengezuckt. »Entschuldige«, antwortete sie kleinlaut. »Aber ich kann die Leute doch nicht ignorieren!« Jetzt, wo sie die Balustrade nicht mehr im Blick behalten konnte, fühlte sie sich doch ein wenig nervös. Unruhig griff sie nach ihrem Oberteil und überprüfte, dass der Stoff ihre Haut bis beinahe zum unteren Ende ihres Brustkorbs bedeckte. »Normalerweise kämen wir gar nicht so nah an die Menschen ran.«
Nun hielt Cora doch in der Bewegung inne. Ein leichter Zug an ihrem halbfertigen Zopf verriet Meggie, dass auch die Freundin umsah. Im nächsten Moment beugte die Meerjungfrau sich vor und flüsterte dicht an Meggies Ohr: »Na, aber das ändert sich ja hoffentlich bald. Nayla und Tara haben da so viel Arbeit reingesteckt.« Sie klang zuversichtlich, doch Meggie entging das leise Schwanken in ihrer Stimme nicht. Eindeutig: Auch Cora war nervös.
Sie wartete gerade so lange, bis ihre Freundin ihr das Haargummi um das Ende des Zopfs gebunden hatte, dann drehte sie sich zu ihr um. Die beiden tauschten ein hoffnungsvolles Lächeln.
Anschließend spähte Meggie wieder zu der wachsenden Menschenansammlung auf der Terrasse hinauf. Kein Wunder, dass sie Aufsehen erregten: Zwei Meerjungfrauen mitten in Konstanz, eine mit bunt schillernder Schwanzflosse und die andere mit weiß-rot-schwarz gescheckter – das sahen die adrett gekleideten Leute, die in so einem schicken Hotel einkehrten, sicher nicht alle Tage. Nachdem Meggie es gewohnt war, sich zu verbergen, war es ein unangenehmes Gefühl, angestarrt zu werden. Irgendwie war es aber auch aufregend, und sie liebte es, Neues kennenzulernen.
In diesem Moment nahm sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung auf dem Wasser wahr. Als sie den Kopf drehte, entdeckte sie wenige Meter entfernt eine wohlvertraute dritte Meerjungfrau. In Taras Blick stand Fassungslosigkeit; das Grüngrau ihrer Augen ließ es wie so oft wirken, als würden sich Sturmwolken zusammenbrauen.
»Hier steckt ihr! Wisst ihr eigentlich, wie lange ich euch suchen musste?«
Cora strich sich ihren eigenen schwarzen Zopf mit den roten Spitzen über die Schulter. »Oh, Tara«, rief sie zurück. »Wir haben gerade von Nayla und dir gesprochen.«
»Besser wärs, wenn ihr helfen würdet.« Die Meerjungfrau ruckte mit dem Kopf, dass die Tröpfchen nur so aus ihren streichholzkurzen, roten Haaren spritzten. »Wir haben hier alles erledigt und warten auf euch. Na los. Je schneller wir zurück sind, desto besser. Wir brauchen jetzt jede Flosse!«
Ihr Rufen wurde von Jubel unterbrochen. Die drei Meerjungfrauen richteten die Blicke zur Terrasse hinauf. Einige Leute hatten ihre Handys gezückt, andere applaudierten. Meggie fragte sich, ob sie das Ganze womöglich für eine Show hielten.
Tara machte reflexartig Anstalten, sich abzuwenden und unterzutauchen, doch dann hielt sie inne und dachte sichtlich nach. Einen Moment später hob sie stattdessen die Hände aus dem Wasser und formte damit einen Trichter vor ihrem Mund. »Kommen Sie morgen zum Tag der offenen Tür der High Scale, unserer brandneuen Mermaidingschule«, rief sie den Menschen zu. »Drüben in Ludwigshafen. Wir freuen uns auf Sie!« Sie senkte die Hände wieder und bedachte Meggie und Cora mit einem eindringlichen Blick. »Und jetzt kommt!«
Meggie war sich nicht sicher, warum Tara es so eilig hatte. Machten die Menschen sie nervös? Oder dachte sie wirklich nur daran, wie viel für den Tag der offenen Tür noch vorzubereiten war? So oder so hatte die Meerjungfrau recht: Es war an der Zeit, zu verschwinden und sich auf den Rückweg zu machen. Also wechselte Meggie einen raschen Blick mit Cora, dann rutschten die beiden zurück ins Wasser. Sobald sie tief genug im kühlen Nass waren, schlugen sie mit den Flossen und schwammen zu Tara hinaus, die ihnen ungeduldig entgegensah. Zu dritt ließen sie die Terrasse mit den aufgeregten Menschen hinter sich und tauchten unter.
Schlagartig blieben die Rufe und der Lärm der Oberfläche hinter ihnen zurück. Das Wasser säuselte an Meggies Ohren, und die Sonnenstrahlen brachen sich über ihr und hüllten den Bodensee in sich stets änderndes Licht. Einige Schemen huschten vor den drei Meerjungfrauen davon – ob die Menschen überhaupt wussten, welch große Fische in ihrem Hafen zwischen den Fähren schwammen?
Jetzt, da die Menschen sie nicht mehr anstarrten, wirkte Cora losgelöster. Sie gewann an Geschwindigkeit, warf einen verschmitzten Blick zurück und begann dann, eine Schraube nach der nächsten zu schwimmen. Sonnenlicht drang durch das klare Wasser und malte flackernde Linien auf ihre gescheckte Flosse.
Meggie beobachtete Cora vergnügt und überlegte, es ihr gleichzutun, da erregte etwas aus dem Augenwinkel ihre Aufmerksamkeit. Sie richtete den Blick nach unten und kniff die Augen ein wenig zusammen. Am Grund meinte sie eine Kontur auszumachen, die sich von den umliegenden Steinen unterschied.
Kurzerhand tauchte sie hinab und streckte eine Hand aus. Ihre Finger schlossen sich um eine gigantische Muschel. Andächtig drehte sie ihren Fund in der Hand, dann kehrte sie damit zu den anderen zurück. Im Näherkommen reckte sie die Muschel triumphierend nach vorn.
Cora hatte ihre Kapriolen beendet, um Meggie nachzusehen. Jetzt legte sie den Kopf schief und grinste wissend. Die Geste sagte alles: Es war kein Geheimnis, wie gern Meggie Muscheln und kleine Schätze sammelte.
Tara bemühte sich sichtlich, einen deutlich ernsteren Gesichtsausdruck beizubehalten, doch auch ihre Mundwinkel zuckten verdächtig. Als Meggie die beiden Freundinnen eingeholt hatte, ließ Tara ihre Maske schließlich fallen und schoss davon. Rasant tauchte sie tiefer, nur um dann einen schwungvollen Looping zurück in die Höhe zu schwimmen und das Wasser mit den kräftigen Schlägen ihrer Finne in Aufruhr zu versetzen.
Meggie bemühte sich, nicht allzu offensichtlich zu feixen, als Taras Figur zwischen ihnen ein Ende fand. So ernsthaft die Meerjungfrau mit den kupferschwarzen Schuppen oft auch tat – insgeheim tollte sie mindestens genauso gern herum wie Cora oder Meggie.
Nach den Spielereien waren die Bewegungen der drei ausgelassener. Dennoch fanden ihre Kunststückchen für den Moment ein Ende. In stummer Einigkeit strebten sie stattdessen wieder vorwärts. Der Weg zurück war weit, und in einem hatte Tara recht gehabt: Zu tun gab es vor dem folgenden Tag noch mehr als genug.
Reglos hielt Laura den Blick aus dem Fenster der Beifahrertür gerichtet. Was draußen vor sich ging, nahm sie dennoch kaum wahr; vielmehr starrte sie ins Leere. Sie reagierte auch dann nicht, als der Wagen entriegelt und die Fahrertür aufgerissen wurde.
»So, da bin ich wieder.« Ihr Vater klang bemüht fröhlich. Es klimperte lautstark, als er sich auf den Fahrersitz fallen ließ. »Mit allen Schlüsseln für unser neues Zuhause. Einmal für mich, einmal für dich und einmal in Reserve. Wir müssen nur noch rüberfahren, die Kisten aus dem Kofferraum holen, und dann zaubere ich uns etwas zu essen. In Ordnung?«
Laura rührte sich nicht. Tatsächlich konnte sie gerade so viel Selbstbeherrschung aufbringen, nicht laut zu seufzen. Sie hatte keine Lust auf die neue Wohnung, auch wenn sie das besser nicht laut sagte.
Doch auch so fiel die bemüht gute Laune von ihrem Vater ab. Bei seinen nächsten Worten klang er sehr viel zögerlicher. »Laura? Hast du gehört?«
»Hm?« Sie wusste nicht, ob es gut war, so zu tun, als wäre sie in Gedanken versunken gewesen. Es passierte ganz von allein. »Ja, Paps«, antwortete sie schließlich leise. »Wir sind gleich da.«
Sie hätte wohl wenigstens einen Hauch Lebhaftigkeit in ihre Stimme legen sollen. Ihr Vater rutschte einen Moment lang auf dem Sitz hin und her, und als er weitersprach, klang er verzagt. »Ich weiß, dass das nicht leicht für dich ist. Aber versuch auch das Positive zu sehen, ja? Wir haben deine Kisten schon dabei, also kannst du gleich morgen anfangen und dein neues Zimmer ganz so einrichten wie dein altes. In Ordnung?«
Als ob das etwas ändern würde. Abermals musste Laura ein Seufzen unterdrücken. Es würde nicht ihr altes Zimmer sein, sondern ein neues. In einer neuen Wohnung, in einer neuen Stadt, in einem neuen Bundesland ganz am anderen Ende Deutschlands. Darüber würde keine vertraute Deko hinwegtäuschen können, und es würde Laura auch nicht zurück zu ihren Freunden aus der Uni bringen.
Aber natürlich konnte sie das nicht laut aussprechen. Sie hatte ja zugestimmt, mit umzuziehen, und sie wusste genau, wie sehr ihr Vater sie hier brauchte. Das leise Zittern in seiner Stimme war ein deutliches Zeichen dafür, wie viel für ihn selbst von ihrer Reaktion in diesem Moment abhing. Also gab sie sich Mühe, zu lächeln, als sie den Kopf hob und Blickkontakt aufnahm. »Klar. Das wird schon.«
Sie hörte genau, dass ihre Worte nicht gerade überschwänglich klangen, doch zumindest hatte sie etwas mehr Interesse an ihrer Situation gezeigt. Und für den Moment war das anscheinend genug: Die Miene ihres Vaters hellte sich ein wenig auf. Noch immer lag eine Mischung aus Hoffen und Flehen darin, doch er nickte eifrig und reichte ihr eines der Schlüsselsets. Die anderen verschwanden in seiner Hemdtasche, dann tippte er kurz auf dem Navi herum und steckte den Zündschlüssel ins Schloss.
Laura nutzte den Moment, in dem der Motor startete, um unauffällig durchzuatmen. Während der Wagen anrollte und das Navi die ersten Anweisungen quäkte, richtete sie den Blick wieder aus dem Beifahrerfenster und versank in ihren Gedanken.
Abends war Lauras Energie, Zuversicht vorzugaukeln, aufgebraucht. Es hatte sich seltsam angefühlt, die Kisten mit Dingen aus ihrem alten Leben in dieses neue, fremde Zimmer zu tragen. Einfach … nicht richtig. Aber natürlich hatte sie all die Erinnerungen auch nicht wegwerfen wollen. Gefangen zwischen diesen Gedanken, hatte sie noch nicht wirklich viel ausgepackt, sondern die Zeit lieber damit verbracht, ihren Freundinnen daheim in Hamburg zu schreiben.
Nun saß sie an dem neuen, dunklen Esstisch vor der halb offenen Küche, sie am einen Kopfende, ihr Vater am anderen. Zwischen ihnen stand ein großer Topf mit Nudeln in Pesto. Sogar den Parmesan hatte ihr Paps schon eingepackt. Die Portion auf Lauras Teller roch so köstlich wie immer; ihr Vater machte herausragendes Pesto. Heute jedoch lief ihr das Wasser nicht im Mund zusammen; stattdessen stocherte sie eher lustlos im Essen herum.
Ihr Vater schob sich eine Gabel voll Nudeln in den Mund und kaute darauf herum. Er hatte schon wieder dieses betont fröhliche Gesicht aufgesetzt. »Gut, dass ich in der Küche schon so viel ausgepackt habe. Ein anständiges Essen im neuen Zuhause ist doch was Feines.« Er machte Anstalten, die Gabel abermals zum Mund zu führen, hielt dann jedoch inne und spähte über den Tisch. Unsicher ließ er das Besteck wieder sinken. »Schmeckt es dir nicht?«
Verdammt. Eine Runde erzwungen guter Laune würde Laura wohl noch zustande bringen müssen. Also blickte sie kurz auf, schenkte ihrem Vater ein Lächeln und drehte dann rasch einige Nudeln auf ihre Gabel. »Dein Essen schmeckt doch immer, Paps.« Das war nicht gelogen; er konnte wirklich gut kochen. Auch jetzt breitete sich der Geschmack angenehm auf Lauras Zunge aus, als sie sich die mit Nudeln beladene Gabel in den Mund schob. Überdeutlich begann sie zu kauen.
»Dann ist ja gut.« Irgendwie klang die Stimme ihres Vaters hohl. Bestimmt nahm er ihr die kleine Vorführung nicht völlig ab, dafür kannte er sie zu gut. Doch sie musste einfach versuchen, gute Miene zu bösem Spiel zu machen.
Für einen Moment herrschte unangenehmes Schweigen am Tisch, während sie beide wortlos ihre Nudeln aufdrehten und aßen.
Schließlich versuchte ihr Vater, das Gespräch doch noch fortzusetzen. »Und, freust du dich schon darauf, zu sehen, wie das Studium hier läuft? Ist sicher praktisch, die Lehrmethoden von zwei verschiedenen Hochschulen kennenzulernen.«
Innerlich rollte Laura mit den Augen. Was sollte an BWL denn hier anders laufen als in Hamburg? Das war kein sonderlich spannendes Studium, das hatte sie vorher schon gewusst. Und hier konnte sie sich erst viel später auf die interessanten Bereiche spezialisieren. Mal ganz davon abgesehen, dass die Dozenten in Hamburg wenigstens noch versucht hatten, die trockenen Grundlagen kreativ zu vermitteln.
Doch sie sagte nichts davon. Stattdessen konzentrierte sie sich darauf, die nächsten Nudeln aufzurollen. »Ja, sicher.«
Ihr Vater ließ nicht locker. »Die Kollegin, die mich einarbeiten soll, hat wohl einen Sohn, der auch dort studiert. Vielleicht kann der dich ja rumführen, dir ein paar neue Leute vorstellen?
Sie zuckte mit den Schultern. »Vielleicht.«
Diesmal war sie zu gleichgültig gewesen. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie ihr Vater erstarrte. Einen Moment später legte er seine Gabel mit leisem Klirren auf dem Teller ab. »Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich dir eine Wohnung in Hamburg bezahlt.« Er klang jetzt geknickt, außerdem schlich sich ein Zittern in seine Stimme. »Oder wenigstens ein Zimmer. Aber die Mieten …«
»Paps …«, versuchte Laura ihn zu unterbrechen, doch er ließ sich nicht bremsen. Seine Stimme wurde hektischer.
»Wirklich, ich hätte dir das gern ermöglicht! Ich weiß nur nicht, wie ich das allein bezahlen sollte. Und nachdem deine Mutter, na ja –«
»Abgehauen ist«, unterbrach Laura ihn rigoros. »Sag es, wie es ist.« Wieder einmal fragte sie sich, wo ihre Mutter gerade sein mochte. Der letzte Stand hatte gelautet, dass sie mit ihrem Assistenten zu einer Marineforschungsreise ans Amazonasdelta aufbrechen wollte. Laura unterdrückte ein abschätziges Schnauben. Wie klischeehaft war es bitte, die Familie für den Assistenten sitzenzulassen und mit ihm ins Ausland abzuhauen?
Als Laura merkte, dass ihr Vater sie seit ihrem Ausruf anstarrte, konzentrierte sie sich wieder auf das Hier und Jetzt. In seinen Augen lag eine Mischung aus Schmerz und Hoffnung, die ihr in der Seele wehtat. Das war der eigentliche Grund, aus dem sie mitgekommen war. Vielleicht hätte sie es irgendwie schaffen können, in Hamburg zu bleiben. Mit zwei Jobs, einer Wohnung außerhalb und immer nur am Existenzminimum lebend. Vielleicht hätte sie das auch durchgezogen, einfach um in ihrer geliebten Stadt bei ihren Freunden bleiben zu können.
Aber dann wäre ihr Vater allein gewesen, und so hart, wie der Weggang ihrer Mutter ihn getroffen hatte, hatte sie das nicht zulassen können. Er versuchte weiterzumachen, hatte den Wasserzoll gebeten, ihn vom Hamburger Hafen hierher an den Bodensee zu versetzen. Er bemühte sich darum, positiv in die Zukunft zu sehen, das merkte Laura ganz deutlich. Aber sie war nicht sicher, ob es ihm allein gelingen würde. Ja, die Sorge um ihren Vater war der Hauptgrund gewesen, aus dem sie beschlossen hatte, mit ihm in das kleine Örtchen zwischen Konstanz und Ludwigshafen zu ziehen. Sie waren jetzt nur noch zu zweit, da würde sie ihn auf gar keinen Fall alleinlassen. Und gerade jetzt brauchte er sie.
Laura atmete tief durch, während sie nach den richtigen Worten suchte. »Es ist nicht deine Schuld, Paps. Und wir haben darüber gesprochen. Mutsch hat uns beide sitzen lassen. Ich weiß, dass es für eine eigene Wohnung nicht reicht, auch dann nicht, wenn ich mir einen Job suche. Außerdem musste ich doch …«
Rasch biss sie sich auf die Zunge. Sie versuchte ihren Paps hier immerhin aufzumuntern. Wenn sie eingestand, dass sie sich Sorgen um ihn machte, würde er nur wieder diese kummervolle Miene ziehen und sich die Schuld an der ganzen Situation geben. Und das durfte sie nicht zulassen. Kurz druckste sie herum, dann hob sie stattdessen die Gabel und zwang ein Grinsen auf ihre Lippen. »Außerdem hätte ich doch niemals auf deine Kochkünste verzichten können!«
Ein kurzes Lachen kam ihrem Vater über die Lippen, doch es klang gezwungen. Nun war es Laura, die einen leisen Stich von Schuldbewusstsein verspürte. Eindringlich blickte sie ihn an. »Wirklich, Paps. Wir haben zusammen entschieden, dass der Ortswechsel dir guttut. Und dass ich mit dir komme. Es ist in Ordnung.«
»Ich will nur, dass du glücklich bist«, antwortete er leise. Er klang bekümmert.
Laura zog es das Herz zusammen. Diesmal war es leicht, Kraft in ihre Worte zu legen: »Wir schaffen das, Paps. Gemeinsam.« Kurz war sie versucht, aufzustehen und ihren Vater in den Arm zu nehmen, doch wenn er so emotional war, war es immer ein Glücksspiel, ob ihm das half oder es nur noch schlimmer machte. Also bemühte sie sich stattdessen um ein weiteres Grinsen, stopfte sich die letzte Gabel voll Nudeln in den Mund und hob anschließend ihren Teller an. »Wetten, mit deinem Essen gewinnst du die Leute hier ganz schnell für dich? Also ich hätte gern noch Nachschlag!«
Der traurige Ausdruck wich nicht gänzlich aus seinem Blick, doch nun mischte sich auch Erleichterung darunter. Bereitwillig beugte er sich vor und griff nach der Schöpfkelle für die Nudeln.
Als Laura einige Zeit später ihr Zimmer betrat, trug sie noch immer ein leicht gezwungenes Lächeln auf den Lippen. Dieses fiel jedoch von ihr ab, sobald sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. Zugleich entwich ihr der leise Seufzer, der den ganzen Tag über auf seine Chance gelauert hatte. Wenig euphorisch schaute sie sich in dem Raum um, den sie ab sofort bewohnen würde.
Zu ihrer Linken stand ein Bücherregal, das aufgebaut, aber noch nicht eingeräumt war. Ihr Kleiderschrank schloss direkt daran an. An der Wand ihr gegenüber wartete ihr Computer darauf, verkabelt zu werden, und zu ihrer Rechten schmiegte sich das Bett an die Wand, mit dem Kopfende gerade unterhalb des Doppelfensters.
Überall standen Umzugskisten, teils übereinander gestapelt. Eine befand sich sogar auf dem Bett – das musste ihr Vater gewesen sein, denn sie selbst hatte alle Kartons schon möglichst passend anzuordnen versucht.
Kopfschüttelnd trat Laura näher und beugte sich vor, um die Kiste vom Bett zu heben. Als sie jedoch die Beschriftung auf der Seite las, zögerte sie und zog dann stattdessen den Deckel auseinander. Sie atmete tief durch, als ihr gleich obenauf ein silberner Bilderrahmen entgegenblitzte, und hob ihn aus der Box hervor. Sehnsüchtig betrachtete sie das Foto, das sie zusammen mit drei der wichtigsten Menschen in ihrem Leben zeigte: einer schlanken, jungen Frau mit blonden Haaren, einer etwas pummeligen Brünetten mit Igelfrisur und einem hochgewachsenen Jungen mit streichholzkurzen, rötlichen Haaren. Julia, Nele und Max – ihre besten Freunde, mit denen sie schon seit der Mittelstufe durch dick und dünn ging. ›Friends forever‹ war in geschwungenen Lettern in den Rahmen eingraviert.
Eine Welle von Wehmut schwappte über Laura hinweg. Sachte strich sie über das Bild, dann atmete sie tief durch und stellte es auf ihren Schreibtisch, schräg neben den Monitor. Sie wollte sichergehen, dass sie so oft wie möglich an ihre Freunde denken würde. Vielleicht würde sie sich dann weniger einsam fühlen, auch wenn die drei im über achthundert Kilometer entfernten Hamburg waren und sie hier, am Bodensee, irgendwo ein Stück nördlich von Konstanz.
Einen Moment stand Laura einfach nur da und starrte weiter auf das Bild, dann kramte sie ihr Tablet aus ihrem Rucksack hervor und öffnete die Messaging-App. Sie öffnete ihre gemeinsame Gruppe, machte ein Foto des Bilderrahmens und tippte ein paar Worte dazu: Damit ihr immer in meiner Nähe seid.
Nachdem sie das Foto abgeschickt hatte, vergingen nur wenige Sekunden, ehe ein rotes Herz darunter aufploppte, gefolgt von einer kleinen Ziffer: drei. Dann blinkte eine neue Nachricht auf. Du schaffst das, Süße!, schrieb Nele, gefolgt von: Wir sind in Gedanken bei dir!
Auch Max schaltete sich ins Gespräch ein, indem er den Link zu einer Ferienwohnung in den Gruppenchat stellte. Wir sparen schon fleißig, um die hier für die Semesterferien zu buchen. Keine Sorge, uns wirst du nicht los!
Jetzt musste Laura tatsächlich lächeln. Sie legte das Tablet auf ihren Nachttisch, zog die kleine Sporttasche mit ihren nötigsten Klamotten heran und holte Schlafanzug und Kulturtasche daraus hervor.
Ein wenig zuversichtlicher als vorher verließ sie noch einmal ihr Zimmer, um sich im Bad fertig für die Nacht zu machen. Lange aufbleiben würde sie nach der langen Fahrt definitiv nicht mehr, und sich ins Bett zu kuscheln, das Licht auszuschalten und zu vergessen, wo sie war, klang nach genau dem richtigen Programm für den Rest des Abends.
Als sie nach wenigen Minuten zurückkehrte, setzte sie sich direkt auf ihr Bett. Aus Gewohnheit griff sie nach dem Kopfkissen. Frisch bezogen war es ihr immer zu hart, kam ihr irgendwie steif vor. Sie hatte sich angewöhnt, es auszuschütteln, ehe sie es nach dem Waschen das erste Mal benutzte, und gerade tat ihr diese gewohnte Handlung doppelt gut.
Als sie das Kissen wieder am Kopfende ihres Bettes platzierte, fühlte es sich schon viel weicher als zuvor an. Testweise ließ Laura sich darauf sinken, rollte sich einige Male hin und her. Noch war keine gewohnte Mulde zu spüren, aber das würde sich hoffentlich bald geben.
Mit einem leisen Ächzen wälzte Laura sich auf den Bauch und zog ihr Tablet vom Nachttisch. Während sie im Bad gewesen war, hatte auch Julia in den Gruppenchat geschrieben: Wie geht es dir? Seid ihr gut angekommen?
Laura überlegte kurz, begann zu tippen und löschte die Zeilen dann doch wieder. Nach einem Moment entschied sie sich für eine möglichst neutrale Antwort: Die Fahrt war ziemlich anstrengend, aber wir sind da, haben gegessen, und ich glaube, alle Kisten sind jetzt im Zimmer.
Wieder dauerte es nur kurz, ehe eine Reaktion erfolgte, diesmal in Form eines Emojis mit hochgerecktem Daumen. Neles Name blinkte im Chat auf. Sehr gut. Und, hast du schon ein paar der Orte angeschaut, die ich dir rausgesucht hatte? Noch ehe Laura reagieren konnte, folgte eine weitere Nachricht: Ach, was frag ich eigentlich. Wehe, du fängst dieses Wochenende nicht damit an, kapito?
Diesmal war Lauras Schmunzeln schon breiter. Die Freundin kannte sie einfach zu gut. Und Laura wusste genau, dass Nele nachbohren würde, bis sie eine Zusage erhielt. Also tippte sie rasch eine Antwort in den Chat: Naaa gut. Versprochen.
Eine Weile chattete Laura noch mit ihren Freunden, dann legte sie das Tablet beiseite, knipste die Nachttischlampe aus und schlüpfte unter die Decke. Reglos lag sie im Dunkeln und beobachtete, wie der Umriss des Fensters sich allmählich aus der Schwärze schälte. Ihre Gedanken begannen abzudriften, eilten vom Bodensee aus zurück nach Hamburg und dann weiter in die Leere, als sie in den Schlaf hinüberglitt.
Helles Sonnenlicht empfing Laura, als sie die Haustür öffnete und ins Freie trat. Nur wenige, zarte Wolken waren am Himmel zu sehen, und schon jetzt waren die Temperaturen mild genug, um im T-Shirt an der frischen Luft herumzulaufen. Der Tag versprach angenehm warm zu werden.
Laura tat ein paar Schritte, dann blieb sie stehen und atmete tief durch. Die Luft war hier viel klarer als in Hamburg, und diese Tatsache freute sie mehr, als sie erwartet hätte. Sie ließ den Blick über die Bäume schweifen, die die Straße säumten. Die Seestraße. Ihr neuer Wohnort – doch würde es auch ihr Zuhause werden? Anders als am Vorabend verspürte Laura heute einen Hauch von Zuversicht, klein, aber doch da. Das Gefühl von Wehmut war nicht verschwunden, doch für den Moment schlich sich eine gewisse Neugier auf die neue Umgebung in den Vordergrund. Es fühlte sich gut an, als wäre sie nach Wochen endlich wieder sie selbst, zumindest ein bisschen.
Sie beschloss, den Tatendrang zu nutzen, ehe er womöglich wieder verflog, also öffnete sie die Augen und setzte sich wieder in Bewegung.