Die Midgard-Saga - Niflheim - Alexandra Bauer - E-Book

Die Midgard-Saga - Niflheim E-Book

Alexandra Bauer

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Beschreibung

Als Thea eines Tages von einem rotbärtigen Mann verfolgt wird, ahnt sie nicht, dass dies der Beginn von etwas Großem ist. Nach Asgard entführt, dem Wohnsitz der nordischen Götter, bekommt sie von Odin einen Auftrag: Sie soll Kyndill finden, ein Zauberschwert, das in den Händen des Feuergottes Loki die Macht besitzt, alle Götter zu töten. Zusammen mit ihrer Freundin Juli und begleitet von Thor und Wal-Freya, begibt sich Thea nach Niflheim, einer eisigen Welt im tiefen Norden. Hier ging das Schwert einst verloren. Aber auch Loki sucht nach der Waffe. Wie eine düstere Bedrohung lauert er hinter jeder ihrer Handlungen…

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Seitenzahl: 558

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Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
Personen und Wesen – Midgard-Saga 1 – NIFLHEIM

Impressum neobooks

Alexandra Bauer

Die Midgard-Saga - Niflheim

Die Midgard-Saga

~ Niflheim ~

Alexandra Bauer

Copyright © 2014 Alexandra Bauer 7. überarbeitete Auflage D-65817 Niederjosbach

[email protected] Illustration: Petra Rudolf

All rights reserved.

Für Dirk, weil du mich hältst, wenn mich niemand halten darf, weil du mich zum Lachen bringst, wenn ich nicht lachen mag, weil ich mit dir alle Gedanken teilen kann,

weil du mir aufhilfst, wenn ich falle, weil du da bist – egal wie spät,

weil ich bei dir immer ich selbst sein darf;

und weil es noch tausend andere Gründe dafür gibt, warum dieses Buch für dich ist!

Besonderer Dank

Einen besonderen Dank an Rhea und Kati von Leserunden.de, die in einer Testleserunde nicht mit Lob und Kritik gespart haben und dabei halfen, diese Geschichte noch besser zu machen.

Prolog

Am Anfang war nur die Dunkelheit, das Nichts.

Es gab keine Erde, keinen Himmel, keine grünen Täler, keine warmen Winde und keine kühlen Wellen. Doch die Dunkelheit begann sich zu bewegen, öffnete sich inmitten des Nichts und wurde zum bodenlosen Abgrund Ginnungagap. Vom frostigen Niflheim, bedeckt von endlosem Eis und Schnee, flossen kalte Bäche in den Abgrund und gefroren zu schweren, großen Blöcken. Aus Muspelheim, dem flammenden Ort des Lichts, flogen Funken in die Mitte der Welt und die Luft wurde warm und ruhig.

Aus dem tropfenden Wasser wurde ein Wesen geboren, es hieß Ymir. Er war der erste Riese und ein größeres Wesen hat nie gelebt. Zu Beginn schlief er. Unter seinen Achseln wurden eine Riesenfrau und ein Riesenmann geboren. Seine beiden Füße zeugten ein Kind miteinander. So wurde Ymir der Vater der Riesen. Sie waren die ersten Lebewesen und bekamen viele Kinder.

Die Wärme ließ mehr Eis schmelzen. Es erwuchs die Kuh Audhumbla. Aus ihrem Euter flossen vier Flüsse aus Milch, von denen Ymir und seine Riesen tranken. Mit ihrer warmen Zunge leckte sie Salz und Feuchtigkeit aus dem Eis; so setzte sie ein leuchtendes Wesen frei. Es war Búri. Búri hatte einen Sohn, der Burr hieß. Dieser heiratete eine Tochter der Riesen und zusammen bekamen sie drei Söhne: die Götter Odin, Vili und Vé.

Die drei Götter wuchsen und wurden stärker und stärker. Sie waren nur wenige, aber die Riesen wurden mehr und mehr. So beschlossen Odin, Vili und Vé, Ymir zu töten. Sie zerschmetterten seinen Rücken mit schweren Eisblöcken und das Blut floss in Strömen. Es füllte den großen Abgrund Ginnungagap und fast alle Riesen ertranken darin. Nur zwei retteten sich auf ein Boot, das sie aus einer abgerissenen Hand Ymirs gemacht hatten. Auf diese Weise gab es weiterhin Riesen auf der Welt und es gab immer Streit zwischen ihnen und den Göttern. Daher lauerte die Angst vor Rache hinter jedem Handeln.

Auch die Kuh Audhumbla wurde in den Abgrund gerissen und ward seither nicht mehr gesehen.

Die Götter hoben Ymirs toten Körper auf und warfen ihn in den Abgrund, wo er in seinem Blut trieb. So erschufen sie die Erde. Diejenigen Riesen, die übrig waren, ließen sich am Rande der Erde nieder, an einer Stelle, die sie Jötunheim nannten – die Heimat der Riesen. Bald schon wurden sie wieder mehr und mehr.

Um die Riesen fernzuhalten, schufen die Götter eine mächtige Festung aus Ymirs Augenbrauen. Auf diese Weise wollten sie die fruchtbare Mitte der Welt beschützen. Sie nannten sie Midgard – Mittelhof.

In der Festung pflanzten sie große Bäume. Es waren die Haare von Ymirs Haupt. Sie warfen seine Knochen umher und diese wurden zu großen Bergen.

Aber weit weg von Midgard kauerte eine Riesenfrau in den Höhlen des Eisenwaldes und sann auf Rache. Sie gebar viele Riesen in Gestalt von Wölfen.

Die Götter nahmen Ymirs Schädel und setzten ihn als Himmel über die Erde. Sie warfen die Funken, die aus Muspelheim geflogen kamen an den Himmel; so entstanden die Sterne. Einige Funken aber waren so groß, dass sie ihren eigenen Weg nahmen, sie wurden die Planeten. Ymirs Hirn bündelte sich zu schweren Wolken und tauchte die Erde in Dunkelheit. Um Licht zu schaffen, fingen Odin und seine Brüder zwei der größten Funken aus Muspelheim auf. Sie sandten sie an den Himmel, jeden in seinem eigenen Wagen, nannten sie Sonne und Mond und gaben Licht und Dunkelheit ihre Namen: Tag und Nacht, Morgen und Mittag, Abend und Dämmerung. Aber Sonne und Mond wurden von den Wölfen der Riesenfrau verfolgt, die sie eines Tages verschlingen würden. So liefen sie hastig über den Himmel und ließen Fürchterliches erahnen.

Als die warmen Strahlen der Sonne auf die Erde trafen, begann das Gras zu wachsen. Die Götter ließen sich einen eigenen Wohnort im Himmel schaffen, den nannten sie Asgard – Heim der Asen. Oft kamen sie nach Midgard. Dort fanden sie eines Tages zwei Baumstämme am Ufer. Sie bewunderten ihre Form und beschlossen, daraus den Menschen zu schaffen. Odin hauchte dem Stamm Geist ein. Vili formte die Gestalt und gab den Menschen die Fähigkeit zu denken. Vé verlieh ihnen die Schönheit und die Gabe, ihre Sinne zu gebrauchen.

Den Mann nannten sie Ask, die Frau Embla. Diese bezogen Midgard, wo die Götter sie vor den Riesen beschützten. Von ihnen stammen alle Menschen ab und deren Zahl wuchs stetig.1

Auch gab es mehr Asen auf der Welt. Die Götter bauten eine Brücke von ihrer himmlischen Stätte nach Midgard. Diese nannten sie Bifröst. Es war das schönste Bauwerk, das die Asen den Menschen, neben dem tanzenden Nordlicht, zu sehen gaben. Doch in das Nordlicht wagte kein Mensch zu sehen, denn sie fürchteten sich vor den Geistern, die dort im Himmel mit ihren Brandfackeln aufeinander schlugen. So auch Fengur, ein Schmiedgeselle. Beschützt von den Asen, die seit Anbeginn der Zeit über die Menschen wachten, hämmerte er eines Tages sein Meisterwerk aus einem Stück Eisen. Hart war die Schneide des Schwertes und weich sein Kern. Weit und breit sollte es kein besseres Schwert geben als dieses – selbst von der Schmiedekunst der Zwerge in Schwarzalbenheim nicht übertroffen.

Davon hörte auch Loki, der Feuergott der Asen. Auf eine Gelegenheit lauernd an eine mächtigere Waffe zu gelangen, als sein Götterbruder Thor, neidete er Fengur das Schwert. Mit dem Versprechen, es zur mächtigsten Waffe in ganz Midgard zu machen, überredete er den Jungen, ihm nach Niflheim zu folgen und dort das Schwert vom Drachen Nidhöggr brennen zu lassen. Fengur tat wie ihm geheißen, wagte sich in die Höhle des Drachen und fing die Flamme Nidhöggrs in der Klinge ein. Doch als Fengur das Schwert in der Quelle Hvergelmir zur Vollendung brachte und sich Loki am Ziel seiner Wünsche glaubte, erschien Thor. Von Lokis finsteren Plänen überzeugt, sendete er einen Blitz aus seinem Hammer, der das Flammenschwert aus Lokis Händen riss und es weit davon schleuderte. Nie wieder wurde es gesehen und nie wieder wurde in der Welt ein Flammenschwert geschmiedet. Als Fengur im hohen Alter starb, blickte er ins Nordlicht und nannte das Schwert zum ersten Mal bei seinem Namen – Kyndill. Er hatte es nie vergessen, doch die Zeit vergaß es rasch, ebenso wie ihn …

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1. Maria Mac Dalland: VØLVENS SPÅDOM – SKABELSEN / Danmark 1995

1. Kapitel

Schwer atmend und unsagbar gefährlich stand der Hüne vor ihnen. Seine breiten Schultern hoben und senkten sich im Rhythmus tiefer Atemzüge. Noch bewegten sich Tiray und Fengurd in seinem Schatten und er ahnte nichts von den Angreifern hinter ihm. Eine kostbare, blaugoldene Rüstung schützte seinen Körper, nur der Rückenkamm lag borstig und schwarz zwischen den gepanzerten Schultern frei. Auf seinem Rücken prangte eine schwere Doppelaxt, die behandschuhten Hände führten zwei kleinere Beile.

„Wir müssen ihn gleichzeitig angreifen, sonst haben wir keine Chance. Hast du genug Tränke bei dir?“, fragte Fengurd. Die Zauberin kauerte neben einem schwer bewaffneten Zwerg in goldener Rüstung, ihre Hände ruhten über ihrem gewundenen Zauberstab auf dem Gras.

„Meinst du wir packen ihn wirklich? Ich habe keine Lust schon wieder zu sterben. Ich verliere über 100k Punkte, wenn es schief geht“, antwortete Tiray ängstlich. Eine schwere Axt wippte in seiner rechten Hand.

„Ich kann dich ja später ein wenig leveln, falls etwas passiert“, entgegnete Fengurd gelassen.

„Hast du es mit Tito abgesprochen? Sollten wir den platt machen, legen wir uns mit seiner ganzen Horde an.“

„Das Spiel macht doch keinen Spaß, wenn man den halben Tag friedfertig nebeneinander herläuft. Außerdem habe ich mit ihm noch eine alte Rechnung offen. Weißt du, wie oft er mich am Anfang gelegt hat? Ich bin froh, ihn endlich alleine anzutreffen.“

Thea bewegte sich nervös in ihrem Schreibtischstuhl und packte die Maus fester. Nur wenige Klicks und schon würde der Kampf losgehen. „Bereit?“, sprach sie in das Mikrofon um ihren Hals.

„Ich hoffe nur, seine Horde ist weit weg“, raunte es aus den Lautsprechern neben dem Monitor.

„Wird schon“, antwortete Thea. Sie fuhr mit dem Mauscursor über die fremde Spielfigur, und als das Schwertzeichen erschien, klickte sie. Die blau gewandete Magierin hob die Hände, murmelte einen Spruch und sofort gingen grüne Blubberblasen über den Minotauren nieder. Dieser drehte sich um und hatte schon eine große Axt statt der Beile in der Hand. Mit gewaltigen Schlägen hieb er auf Fengurd ein.

„Jetzt Juli, sonst hat er mich!“, rief Thea.

Tiray sprang vor, landete einige gut platzierte Treffer und brachte den Mino kurzzeitig zum Taumeln. Dieser versetzte Fengurd einen weiteren Hieb, ehe er sich dem Zwerg zuwandte. In einer gewaltigen Schlagabfolge liefen die Nummern über Julis Spielfigur nur so davon und der Lebensbalken schrumpfte in rasender Geschwindigkeit.

„Mach was Thea!“, rief es aus den Lautsprechern, doch Thea konnte nicht helfen, ihre Figur war mit einem Schlafzauber belegt und schwang langsam hin und her.

„Wirf einen Gegenzauber auf mich“, befahl Thea, während sie immer wieder auf ihre Maus klickte und versuchte ihrerseits einen Zauber auf den Mino zu werfen.

„Können vor Lachen!“, rief Juli und Thea beobachtete Julis vergebliche Versuche, ihren Zwerg aus den Schlagfolgen des Minos zu lösen. Flüche drangen aus der Lautsprecherbox, dann war der Schlafzauber von Fengurd genommen und Thea konnte endlich den erlösenden Klick auf den Mino tätigen. Feuerbälle hagelten auf den Gegner nieder und Juli steuerte ihren Zwerg mit neuen Energien zurück in das Geschehen, um ihrerseits einige Schläge auf den Feind hageln zu lassen. Thea ließ Fengurd einen Magietrank zukommen und beschwor abermals den Feuerzauber auf den Mino herab.

„Wie viel hält dieses blöde Viech eigentlich aus?“, schimpfte Juli von der anderen Seite des Computers und Thea beobachtete, dass Juli ihren Zwerg mit einigen Blitzangriffen in den Kampf jagte. Nun war es der Mino, über dem die Wölkchen der Betäubung aufstiegen.

„Gleich haben wir ihn“, triumphierte Thea und schickte ein letztes Mal ihren Feuerzauber auf den Mino los. Die gegnerische Figur erwachte, doch statt anzugreifen, floh sie. Schon schickte Juli ihren Zwerg mit einer weiteren Attacke los und stoppte den Lauf des Minos.

„Wenn er jetzt noch mal zuschlägt, bin ich geliefert“, kommentierte Juli trocken. Thea verübte ein paar hektische Klicks, öffnete ein Waffenfenster und rüstete ihre Figur rasch mit einem Speer aus. Gerade als der Mino einen Heiltrunk warf, stach die Magierin auf den Mino ein. Die Figur fiel zu Boden und löste sich vor ihnen auf.

„Du hast es geschafft! Ich glaube es nicht!“, rief es aus den Boxen, während Thea triumphierend von ihrem Schreibtisch aufsprang und die Faust ballte.

„Ja! Wir haben ihn! Danke Juli!“

„Keine Ursache, aber ich habe mir fast in die Hosen gemacht. Noch Lust auf ein Eis? Wir könnten uns in zehn Minuten im Fantasia treffen“, schlug Juli vor.

Thea äugte auf den Bildschirm. Der Mino, dessen Spielername Dein_Tod1995 war, schrieb etwas in den Worldchat. Das werdet ihr noch bereuen!

„Der ist wirklich sauer“, lachte Thea.

„Wäre ich auch. Was ist nun mit dem Eis?“

Thea starrte auf den Chat, überlegte rasch eine Antwort und kam nicht umhin sich herablassend zu äußern. Das war eine Genugtuung! Beim nächsten Mal stirbst du eher!

„Jetzt reiz ihn nicht noch. Ich habe keine Lust, dass er jeden Tag auf mich Jagd macht“, beschwerte sich Juli, die den Worldchat gleichwohl im Auge behielt. Nichts für Ungut, schrieb sie in Tirays Namen und damit war sie aus dem Spiel verschwunden.

„Also, in zehn Minuten im Fantasia. Entweder du bist da, oder nicht“, klang es fröhlich aus Theas Boxen und mit einem Blubb war Juli aus dem Messenger verschwunden. Thea betrachtete noch eine Weile den Worldchat, doch Dein_Tod schrieb nichts mehr und so schloss auch sie das Spielfenster und fuhr den Computer herunter. Ein Eis nach einer Schlacht wie dieser war genau das Richtige. Sie schnappte ihren Fahrradschlüssel, hüpfte die Treppe vom obersten Stock hinab und lief geradewegs ihrer Mutter in die Arme.

„Wohin so eilig?“, fragte diese interessiert.

„Ins Fantasia“, antwortete Thea, schon die Türklinke in der Hand.

Frau Helmken, eine Frau mit langen blonden Haaren und Augen wie blaue Ozeane, lächelte. „Eine fantastische Idee. Bringst du mir und deinem kleinen Bruder etwas mit, wenn du fertig bist?“

„Och Mama!“, stöhnte Thea genervt. Aber ihre Mutter hatte bereits das Portemonnaie in der Hand und reichte Thea einen Schein.

„Sei nicht so. Du darfst dir auch einen extra großen Becher auf meine Kosten gönnen“, lächelte sie.

Thea grinste breit und nahm das Geld an. „Na wenn das so ist!“, erwiderte sie. Schon war sie in der Tür verschwunden, die sich gleich wieder hinter ihr öffnete.

„Vergiss das Wiederkommen nicht!“, rief ihr ihre Mutter nach.

„Ja, ja“, entgegnete Thea, sprang aufs Rad und fuhr los.

Die Straßen, denen Thea zur Eisdiele folgte, waren gesäumt von spielenden Kindern und geschäftigen Menschen. Herr Gabel aus dem gegenüberliegenden Haus strich seinen Gartenzaun, gleich daneben polierte Frank, ein Junge aus der Oberstufe, sein Auto. In den Vorgärten der Häuser brummten Rasenmäher, Familien räumten taschenweise ihre Samstagseinkäufe aus ihren Autos und sportlich gekleidete Frauen und Männer joggten auf den Gehsteigen in Richtung des nahe gelegenen Parks. Eine Gruppe von Jungen vollführte mit ihren Skateboards waghalsige Sprünge über bereitgestellte Hindernisse, die sie rasch von der Straße räumten, sobald sich ein Auto näherte. Erst im Ortskern, mit den alten Fachwerkhäusern und seinen geschlossenen Hoftoren, wurde es ruhiger. Auf den gepflasterten Wegen der verkehrsberuhigten Zone wirkte die Zeit oft wie stehen geblieben. Ein Bäcker, mit einem historischen Gildenzeichen über seinem Ladengeschäft, hatte seine Türen bereits verschlossen und genoss sicher den wohl verdienten Feierabend – ebenso der Metzger nebenan. Auch die Apotheke mit ihren großen Fenstern, in denen allerlei Medizin feilgeboten wurde, war bereits geschlossen. Dafür hatte das örtliche Restaurant mit seinem angeschlossenen Biergarten geöffnet und bildete einen jähen Kontrast zum Idyll. Die Stimmen der Besucher drangen bis über die Straße zu Thea hinüber. Fahrräder, mit auf den Lenkertaschen platzierten Freizeitkarten, reihten sich dicht aneinander, ebenso ein paar Motorräder. Der kleine Parkplatz neben der Gaststätte war bereits hoffnungslos überfüllt und einige freche Fahrer hatten ihr Auto dicht an der Hofeinfahrt im Parkverbot abgestellt. An einem Samstagnachmittag schien die halbe Welt in diesen Teil der Altstadt einzufallen.

Thea stieg von ihrem Fahrrad ab und lenkte es, noch immer auf dem Pedal stehend, in das autofreie Gässchen, das zur Eisdiele führte. Auch hier glich das Bild dem der Biergartenanlage – längst passte ihr Fahrrad nicht mehr in eine der aufgestellten Halteplätze. Kinder spielten am Brunnen vor der Eisdiele und auf dem Spielplatz, während sich ihre Eltern noch bei einem kühlen Getränk an den Gartentischen aufhielten. Am Straßenverkauf wartete eine geduldige Menschenschlange auf ihre Bedienung, nur einige wenige kehrten bereits mit gefüllten Waffeln zurück und schleckten an Pistazieneis und anderen Sorten.

Thea parkte ihr Rad an einer freien Laterne und schloss es sorgfältig ab. Mit schnellen Schritten erklomm sie die hölzernen Stufen der Terrasse, während sie nach einem unbesetzten Tisch Ausschau hielt. Als ihr Blick den ihrer Freundin traf, geriet sie ins Staunen. Thea hätte wetten können, dass sie vor Juli an der Eisdiele ankommen würde, schließlich wohnte sie beinahe um die Ecke und Thea war zügig gefahren, doch hier saß Juli bereits an einem der oberen Tische, vor sich stehend eine große Portion Eis, auf der sich Sahne und jede Menge Obst türmte.

„Ich wusste, dass du dich nicht lange bitten lassen würdest“, begrüßte Juli sie.

Misstrauisch sah sich Thea um. Kaum ein Platz in der Eisdiele war unbesetzt. Familien, Paare, Cliquen, sie alle badeten sich in den frühsommerlichen Sonnenstrahlen, lachten und unterhielten sich, während sie mit den Löffeln in ihren Eisbechern gruben oder an ihren Getränken nippten.

„Heute ist der Tag der Unmöglichkeiten. Wir haben Dein_Tod geschlagen und ich bin vor dir in der Eisdiele und habe bereits meinen Becher!“, triumphierte Juli.

„Wie hast du das angestellt?“, fragte Thea verschwörerisch und setzte sich auf den freien Platz ihr gegenüber.

„Du hast wohl noch nicht davon gehört, dass ich eine echte Hexe bin!“, lachte Juli und strich eine Strähne ihres blonden Haares von ihrer Brille, die ihrem akkurat zur Seite gekämmten Pony entkommen war.

„Ha, ha“, erwiderte Thea, während sie die Karte studierte.

Juli steckte den Löffel in den Mund und gab einen genüsslichen Laut von sich, worauf Thea missmutig nach der Bedienung sah.

„Die lässt sich Zeit“, knurrte sie. „Wie hast du das gemacht? Jetzt sag schon!“

Juli nahm ein Stück Erdbeere zwischen die Finger und verschlang es provozierend. „Magie, pure Magie.“

Abermals suchte Thea nach der Bedienung. Ihr Blick begegnete dem eines jungen Mannes. Wirres, fuchsrotes Haar umgab sein Gesicht. Ein Bart rund um Kinn und Wangen leuchtete in der gleichen Farbe. Ertappt sah Thea weg, suchte aber ein weiteres Mal nach dem Fremden, um sich zu überzeugen, dass er ebenfalls den Blick abgewandt hatte. Das Gegenteil war der Fall und Thea schnappte sich die Karte und hielt sie studierend vor ihr Gesicht.

„Wenn du sie nicht hinlegst, kommt nie jemand vorbei“, belehrte Juli sie.

„Ach ne!“, schnarrte Thea.

„Bestellst du heute keinen Nussbecher?“

„Was? Doch.“

„Na dann nimm endlich das Ding runter“, lachte Juli.

Thea äugte über die Karte. Langsam nahm sie sie aus dem Gesicht. „Der starrt die ganze Zeit zu mir rüber“, murrte sie.

Juli folgte ihrem Blick. „Wer?“ Sie hob sich leicht aus ihrem Stuhl und überschaute die Menge. „Ich sehe niemanden. Aber vielleicht ist es Dein_Tod, der dich mit seinen Augen durchbohren will!“, raunte sie verschwörerisch und lehnte sich verstohlen über den Tisch.

„Du hast einen Knall“, lachte Thea.

Endlich näherte sich die Bedienung. Statt den Bestellzettel mit sich zu führen, brachte sie jedoch einen großen Becher Eis und Sahne mit sich, gespickt mit Haselnüssen und Mandelsplittern, den sie vor Thea abstellte.

Staunend sah Thea zu ihr auf und erntete dafür schallendes Gelächter von Juli.

„Glaub mir, ich bin eine Hexe“, scherzte sie ein weiteres Mal.

Thea verschränkte die Arme. Mit zusammengekniffenen Augen sah sie Juli an.

Ihre Freundin legte den Kopf schief. „Ich habe angerufen, bevor ich losgefahren bin und einen Tisch und mein Eis bestellt“, löste sie das Rätsel auf. „Meine Mutter musste noch einkaufen fahren. Sie hat mich rasch mit dem Auto abgesetzt. Als ich hier war, habe ich dein Eis bestellt. War doch klar, dass du einen Nussbecher nimmst!“

Langsam tauchte Thea ihren Löffel in die Sahne. „Du bist schrecklich!“

„Danke, ebenso“, grinste Juli.

Sie aßen ihr Eis und ließen es sich nicht nehmen, im Anschluss noch einen Milchshake zu trinken. Sie sprachen über die Schule und das Spiel, über ihren gelungenen Kampf gegen Dein_Tod und schließlich bestellte Thea zwei Portionen Eis zum Mitnehmen. Als sie zahlte, begegnete sie abermals dem Blick des Fremden, der, ebenso wie sie, noch immer im Café saß. Begierig darauf, seinem Blick zu entkommen, ergriff Thea das Eispäckchen, stand auf und ging zu ihrem Fahrrad.

„Sehen wir uns später online?“, fragte sie an Juli gewandt, die ihr gefolgt war.

„Hm, ich weiß nicht, ob ich heute noch mal ins Spiel will. Dein_Tod wird uns keine Ruhe lassen.“

Thea lachte. „Dann bleiben wir einfach in der Stadt hocken und sehen uns an, wie er im Worldchat schimpft.“

„Das können wir gerne machen“, erklärte sich Juli einverstanden. „Also bis später!“

Behutsam bettete Thea die verpackten Becher in den Fahrradkorb, verabschiedete sich und radelte davon. Noch immer hatte die Aktivität auf den Straßen nicht nachgelassen, nur die Autos, mit den vollgestopften Kofferräumen, waren vor den Häusern verschwunden. Man schien die Einkäufe ohne Umwege auf den Grill gelegt zu haben, denn von überall her drang der Duft von gebratenem Fleisch.

Zu Hause angekommen überkam Thea ein seltsames Gefühl, das sie über ihre Schulter blicken ließ. Ein Schreck fuhr ihr durch die Glieder, als sie den rothaarigen Mann aus der Eisdiele entdeckte, der ihr durchdringend nachsah. Rasch knallte Thea die Tür zu, aber ehe sie sich ihrem Unbehagen hingeben konnte, tanzte ihr kleiner Bruder um sie herum. Er trug, wie schon in den vergangenen zwei Wochen, seine Lieblingshose – eine kurze, karierte Shorts, die er sich selbst ausgesucht hatte und die ihm viel zu groß war. Wie Glocken schaukelten die Hosenbeine um seine dünnen Knie. Fast jeden zweiten Abend stopfte Theas Mutter das Kleidungsstück in die Waschmaschine, damit es am nächsten Morgen keine Wutausbrüche gab, weil Mats eine andere Hose tragen sollte. Thea brachte der Trotzphase des dreijährigen Gnoms nur wenig Verständnis entgegen. Sie war fest davon überzeugt, dass sie als Mutter anders handeln und sich nicht derart terrorisieren lassen würde, Dennoch liebte sie ihren Bruder abgöttisch. Immer wenn er Thea mit seinen Kulleraugen ansah, konnte sie ihm nicht böse sein. Genauso wenig wie jetzt, da er sich mit seinen kleinen nackten Füßen und seinem nackten Oberkörper gierig nach den Eisbechern reckte und mit den schmutzigen Fingern an ihrem T-Shirt riss.

„Was hast du mir mitgebracht? Was?“, rief er fröhlich.

„Bananensplit. Hier nimm und gib schon Ruhe!“, sagte Thea liebevoll und reichte ihm das Päckchen.

Auch Theas Mutter ließ nicht lange auf sich warten. „Warum schlägst du so die Tür?“, fragte sie vorwurfsvoll.

Thea warf einen Blick durch das Flurfenster und stellte fest, dass der Fremde noch immer auf der Straße stand und sie beobachtete.

„Ich glaube, dieser Typ hat mich verfolgt“, erklärte sie.

Frau Helmken stürzte augenblicklich zum Fenster und starrte hinaus.

„Wer?“, fragte sie.

Thea folgte ihrem Blick, doch die Gegend war menschenleer. Kurzerhand riss Frau Helmken die Eingangstür auf und hastete hinaus auf die Straße. Mit wachsamen Augen wanderte sie den Bürgersteig hinauf und ließ auch den kleinen Fußgängerpfad nicht aus. Kopfschüttelnd kam sie zurück.

„Niemand da“, erklärte sie.

„Tut mir leid“, entschuldigte sich Thea abwesend. „Vielleicht ist er auch nur zufällig hier gewesen und ich habe mich geirrt.“

„Du bist doch sonst nicht so ängstlich! Wie sah er aus?“, hakte Frau Helmken besorgt nach.

Thea rümpfte die Nase. „Ich weiß nicht genau. So ein Rothaariger mit einem Bart.“

„So ein Rothaariger“, wiederholte Frau Helmken schmunzelnd und ließ eine Strähne von Theas roten Schopf durch ihre Finger gleiten. „Rothaarige gibt es nicht viele. Vielleicht hat er dich doch verfolgt und war er auf der Suche nach einer Gleichgesinnten.“

Thea fasste ihre Haare am Hinterkopf zusammen, zwirbelte sie und legte sie über die rechte Schulter. „Der war mindestens zwanzig“, empörte sie sich.

Frau Helmken hob den Finger. „Ich glaube auch an einen Zufall. Aber sollte er dir noch einmal folgen, droh ihm mit der Polizei!“

„Ja, ja und laut schreien“, erwiderte Thea und war schon auf dem Weg in ihr Zimmer.

„Ich hätte wetten können, dass du dir einen zweiten Eisbecher einpacken lässt“, schmunzelte ihre Mutter, nachdem sie einen Blick ins Wohnzimmer geworfen hatte, in dem Mats über seinem Bananensplit saß. Der Becher der Mutter stand unbeachtet in der geöffneten Verpackung.

„Ich hatte daran gedacht, aber ich hatte noch einen Zusatzmilchshake“, gestand Thea fröhlich und winkte über ihre Schulter. In ihrem Zimmer zog sie das Handy aus der Tasche und wählte Julis Nummer.

„Hallo Frau Ungeduld. Hast du vergessen, dass ich nach Hause laufen muss?“, lachte es aus dem Hörer.

„Juli, dieser Typ mit den roten Haaren – den wir gesehen haben, als wir im Eiscafé saßen …“, stammelte Thea und schob ein paar CDs mit ihrem Fuß zusammen, die vor dem Regal der Stereoanlage verstreut lagen.

„Das ist jetzt ein wenig spät. Wenn du einen Typen entdeckst, zeig ihn mir doch gleich!“

Thea fuhr ihren Computer hoch. „Er ist mir bis vor die Haustüre gefolgt“, entgegnete sie.

„Wie jetzt?“

„Als ich zu Hause angekommen bin, stand er hinter mir auf dem Gehsteig.“

„Echt jetzt? Du meinst, er ist dir nachgelaufen?“

„Einhundertprozentig!“, versicherte Thea.

„Das war doch sicher nur ein Zufall!“

„Vielleicht. Trotzdem komisch.“

Thea setzte sich auf den Schreibtischstuhl, stellte das Gespräch auf Lautsprecher und legte das Handy neben der Tastatur ab. Rasch gab sie ihr Passwort ein.

„Sah er denn gut aus? Vielleicht ist er ja verliebt“, lachte Juli.

„Sehr witzig. Der ist unheimlich! Und viel zu alt. Er ist sicher schon 25!“

„Komm schon! Wenn er dich verfolgt hätte, wäre er sicher noch da.“

„Mutter hat ihn bestimmt verschreckt.“

„Guck raus und wenn er wieder da ist, rufst du die Polizei“, schlug Juli vor.

Mit mulmigem Gefühl gehorchte Thea. Sie stieß sich mit beiden Händen vom Schreibtisch ab, rollte in Richtung Tür und saß noch halb in ihrem Stuhl, während sie nach der Klinke griff. Leise schlich sie die Treppe hinab und lupfte den Vorhang. Der Mann blieb verschwunden.

„Er ist weg“, erklärte sie.

„Na siehst du. Es war nur ein Zufall“, beruhigte Juli sie.

„Wahrscheinlich hast du Recht“, pflichtete Thea ihr bei.

Zurück in ihrem Zimmer verabschiedeten sich die Freundinnen. Thea loggte sich ins Spiel ein und wartete, bis Juli mit Tiray auf dem Monitor erschien. Ist er noch einmal aufgetaucht? stand in der Sprechblase über dem Zwerg. Bisher noch nicht, tippte Thea zur Antwort. Ich spreche von Dein_Tod1995, erwiderte Juli. Ach so! Nein, ich habe ihn noch nicht gesehen, schrieb Thea. Dann wollen wir hoffen, dass es so bleibt. Levelst du mich ein wenig? Thea schmunzelte und tippte: Ich dachte, du wolltest nur in der Stadt hocken!

DAS IST LANGWEILIG stand in großen Buchstaben über Julis Zwerg. Thea lachte und führte Juli in ein nahe gelegenes Waldstück, in dem sie die nächsten vier Stunden damit verbrachten, Sumpfmonster zu töten.

Tage vergingen und das Ereignis mit dem Rothaarigen verschwand aus Theas Gedanken. Dafür tauchte Dein_Tod immer häufiger in ihrer virtuellen Nähe auf und machte ihr das Leben schwer. Der Zwischenfall mit ihm, Juli und ihr hatte einen Gildenkrieg heraufbeschworen, der all ihre Zeit und Konzentration in Anspruch nahm. Kaum dass sie nach der Schule zu Hause angekommen war, eilte Thea zum Computer und verließ den Schreibtisch erst wieder zum Abendessen. Ein mütterlich verhängtes Computerverbot setzte dem Treiben ein jähes Ende und beschwor einen anderen, einen wirklichen Streit herauf. Als Thea heute von der Schule kam und mit einem kurzen Hallo in ihr Zimmer verschwand, öffnete sich wenige Augenblicke später die Tür.

„Seit Tagen machst du nichts anderes mehr, als an diesem Ding zu hocken!“, schimpfte Theas Mutter.

„Es ist wichtig!“, fauchte Thea zurück, der die Diskussionen um ihren Computergebrauch allmählich auf die Nerven gingen. Wartet einen Augenblick, hackte sie in den Gildenchat und drehte sich auf dem Stuhl zu ihrer Mutter um, die mit dem Geschirrtuch bewaffnet im Türrahmen stand.

„Du machst das jetzt aus und kommst helfen!“, befahl diese verärgert.

„Ich kann nicht, ich werde gebraucht“, erklärte Thea zähneknirschend.

„Ja, und zwar in der Küche!“

Thea knurrte beleidigt, drehte sich um und las rasch den Gildenchat, in dem ihre Freunde sie bereits zur Eile drängten. Alle hatten sich im Moor verabredet, wo Tom kurz zuvor einige Mitglieder der feindlichen Gilde erspäht hatte. Fengurd, mit ihren heilenden Kräften, war in einem Kampf unerlässlich, wenn sie gewinnen wollten.

„Kommst du jetzt?“, fragte ihre Mutter eindringlich.

„Ich kann nicht! Mach deine Küche doch selbst!“, erwiderte Thea aufgebracht.

Frau Helmken schnappte nach Luft und fuchtelte mit dem Geschirrtuch vor ihrem Gesicht. „Jetzt reicht es! Du hast eine Woche Computerverbot!“

Thea sprang auf. „Das kannst du nicht machen!“

„Und wie ich das kann, meine Dame! Aus das Teil!“

Ihre Blicke trafen sich und Thea wusste, dass ihr nichts anderes übrig bleiben würde. Sie fauchte verärgert und schaltete den Computer aus, ohne ihn herunterzufahren. Dann schnappte sie sich das Handy und eilte wütend an ihrer Mutter vorbei. Ihr Ziel führte sie allerdings nicht in die Küche, sondern kurzerhand aus dem Haus. Auf Frau Helmkens rasch folgende Frage, wohin Thea wolle, antwortete diese nur mit dem Donnern der Haustür. Kaum zwei Schritte gegangen, klingelte Theas Handy.

„Wo bist du plötzlich hin?“, fragt Juli.

„Computerverbot“, antwortete Thea knapp.

„Oh, wie uncool. Dann komm rüber, du kannst am Lappi von meinem Vater spielen.“

„Ich bin schon auf dem Weg“, erklärte Thea lachend.

„Beeil dich! Es geht gleich los. Wir brauchen dich!“

„Ich fliege“, antwortete Thea, legte auf und rannte los.

Sie lief den Bürgersteig entlang und eilte durch den kleinen Park, bis sie zur Straße gelangte, die zu Julis Wohnhaus führte. Juli wartete bereits an der Tür und sauste davon, als sie ihre Freundin erblickte. Nachdem Thea die letzten Schritte zum Haus genommen hatte, schloss sie die Haustür hinter sich und kam zu Juli ins Zimmer, die in heller Aufregung vor ihrem Spiel saß. Neben sich hatte sie den Laptop aufgebaut. Das Login-Fenster zum Spiel leuchtete bereits auf dem Bildschirm. Rasch tippte Thea ihre Daten in das Feld.

Da bist du ja endlich wieder, Fengurd!, erschien eine private Nachricht im Chatfenster und gleich darauf folgte die Gruppeneinladung.

Tut mir leid! Meine Mutter hat mir Computerverbot erteilt, antwortete Thea und nahm die Einladung an. Sofort reihten sich acht kleine Balken mit der Energieanzeige ihrer Mitspieler auf der rechten Bildschirmseite an. Eine weitere Einladung zum Sprachchat poppte auf und Thea wandte sich zu Juli um.

„Skype ist an. Hast du ein zweites Headset?“

„Klar!“ Juli stand auf und zog einen Kopfhörer mit Mikrofon aus dem Regal, den sie Thea reichte. Kaum dass Thea die Hörkapseln auf die Ohren setzte, drang eine Vielzahl von Stimmen auf sie ein.

„Wir sind zu zwölft. Maniac führt die andere Gruppe“, erklärte eine junge Männerstimme. „Panicgirl, kümmerst du dich um den Assassinen? Timba und Schmunzelkeks, ihr müsst mit aller Kraft auf den blauen Zauberer einschlagen! Wir nehmen den anderen.“

„Kein Problem, Tribun!“

„Bin dabei!“

„Fengurd, Feentraum, ihr müsst heilen, was das Zeug hält!“

„Vor allem mich!“ Es war Julis Stimme und sie ließ Thea einen Blick zur Seite werfen.

„Mach ich! Immer auf den Zwerg!“

„Tiray, nimm mal meine Axt, sie ist +12 und hat gute Angriffs- und Verteidigungswerte.“

„Gerne! Gib her!“

„Die bekomme ich aber wieder!“

Sie sortierten ihre Ausrüstung, und als alle das Okay gaben, eilten sie aus den Winkeln und stürzten auf die gegnerische Gruppe zu.

Der Schlagabtausch wogte hin und her. Zwischen hektischen Klicks und wilden Wortgefechten ertönte aber bald Gelächter, da sich der Kampf zugunsten der Angreifer wendete. Als endlich der Zauberer ausgelöscht war, rannten die übrigen Gegner um ihre letzten Hitpoints, doch vergebens. Beharrlich eilte ihnen die Gruppe hinterher, und einer nach dem anderen fiel ihnen zum Opfer und löste sich in Nichts auf.

„Gewonnen!“, kreischte Juli, warf die Arme in die Höhe und sprang erleichtert aus ihrem Stuhl.

Tribun, der die Gruppe angeführt hatte, bedankte sich bei den Mitspielern. Einige verabschiedeten sich, da sie nur für den Kampf online gekommen waren, ein paar zogen in kleineren Gruppen davon, um Quests zu erledigen. Einer nach dem anderen verließ den Sprachchat und am Ende blieben einzig Juli, Thea und Tribun in der Gruppe.

„Gut gemacht, Juli! Du bist gar nicht gestorben“, scherzte Tribun.

Juli lachte. „Was soll das denn heißen?“

„Dass Thea ganze Arbeit geleistet hat, denke ich“, erwiderte Tribun.

„Unverschämtheit! Vielleicht habe ich auch einfach gut gekämpft!“, erwiderte Juli.

„Vielleicht“, bestätigte Tribun, aber aus seinem Ton war herauszuhören, dass er es nicht ernst meinte.

„Wollen wir noch zusammen leveln?“, fragte Juli kurzerhand.

„Ich muss jetzt leider los“, antwortete Tribun. „Meine Mutter wollte noch einkaufen. Wir sehen uns später oder morgen!“

„Okay. Schade!“ Juli hatte die Worte kaum ausgesprochen, da war Tribun schon verschwunden. Sie nahm das Headset von den Ohren und Thea folgte ihrem Beispiel.

„Das war obercool!“, jubelte Juli.

Thea nickte. „Allerdings! Ich glaube, die handeln bald ein Friedensabkommen aus.“

„Das wird sie aber teuer zu stehen kommen. Wo gehen wir hin? Zu den Orks? Die geben viele Punkte.“

Thea verzog das Gesicht. „Ich weiß nicht, Juli. Meine Mutter wird schon jetzt sauer sein. Ich sollte nicht zu lange wegbleiben.“

„Aber du bist doch gerade erst gekommen! Sie wird so oder so böse sein. Du kannst also noch ein wenig bleiben.“

Thea wollte verneinen, als sie jedoch in die flehenden Augen ihrer Freundin schaute, konnte sie nicht widersprechen. „Na gut. Aber nur eine Stunde.“

Sie suchten sich ein ungefährliches Eckchen, in dem selten andere Spieler auftauchten und während Thea alle Hände voll damit zu tun hatte, Julis Charakter zu heilen, schlug diese die gegnerischen Orks nieder und sammelte Erfahrungspunkte. Einige Zeit später machte Juli eine Entdeckung:

„Wuuhuuu! Wer sind die? Achtung Thea!“

„Was?“

Thea runzelte die Stirn. Am unteren Bildschirmrand näherten sich zwei Figuren, die geradewegs aus einem anderen Spiel zu stammen schienen. Man hatte die Wahl zwischen acht Rassen, weiblich oder männlich. Im Allgemeinen war außer Kleidung, Haarfarbe und Ausrüstung nicht viel Unterschied zwischen den Spielern auszumachen, doch diese hier entsprachen keiner der vorgegebenen Figuren. Ein Spieler war eine Frau, mit einer markanten weißen Strähne in den langen, schwarzen Haaren und einem hellen Gewand. Der andere Spieler hatte rote Haare und einen Bart. Er trug eine goldrote Rüstung, in seiner rechten Hand ruhte ein Hammer.

„Verfluchte Cheater!“, murrte Juli. „Nur weg hier! Sonst verliere ich sämtliche Erfahrungspunkte der vergangenen drei Tage. Ich steige frühestens heute Nacht im Level auf.“

Eine Sprechblase bildete sich über dem Spieler. Hallo stand in großen weißen Buchstaben darin.

Thea hörte Juli etwas tippen. Wir haben keine Lust auf Cheater! Verschwindet, sonst melde ich euch einem Supporter!

„Ich melde die lieber gleich! Mach mal einen Screenshot“, raunte Thea.

„Längst geschehen“, erwiderte Juli.

Wir wollen nur mit Fengurd sprechen stand über dem Kopf der Frau.

„Gemeldet“, erklärte Thea.

Wir wissen nicht, wie wir uns dir sonst nähern können, ohne dir Angst zu machen. Wir sind nur stark in Midgard, wenn der Glaube an uns stark ist.

„Was zur Hölle sind das für Spinner?“, ächzte Juli.

Thea tippte auf den Meteor-Zauber und fuhr mit der Maus über die Frau. Als das Schwertsymbol erschien, klickte sie und ein Hagel aus Feuerbällen ging im Umkreis von ihr nieder und schloss die männliche Spielfigur mit ein. Getroffen fielen die Charaktere zu Boden und lösten sich auf.

„Was für Verlierer!“, kommentierte Thea trocken.

„Aber ehrlich!“, bestätigte Juli.

„Lass uns in die Stadt zurückgehen, bevor die noch einmal mit Verstärkung auftauchen, ich sollte ohnehin nach Hause“, brummte Thea. Sie gab den Teleportbefehl für ihre Figur, ehe Juli sich damit einverstanden erklärt hatte.

„Na gut“, antwortete Juli.

Thea vernahm das Geräusch des Teleports aus Julis Boxen. Sie loggte sich aus. „Soll ich den Laptop anlassen?“

Juli stand auf und schüttelte den Kopf. „Nein, fahr ihn runter. Ich brauche ihn nicht mehr.“ Sie klickte sich durch einige Ordner durch. „Ich schicke nur rasch das Bild an den Support. Dann schaue ich mal, ob noch jemand Zeit zum Leveln hat.“

Thea gesellte sich neben sie und beobachtete Juli dabei, wie sie den Screenshot öffnete, den sie kurz zuvor erstellt hatte.

„Das ist der Falsche“, kommentierte Thea, als sie die Waldszene erblickte. Nur Fengurd und Tiray waren darauf zu sehen.

Juli nahm wieder Platz. Sie klickte sich in den letzten Ordner zurück. „Nein, das ist er“, beharrte Juli.

„Und ich habe Meldung gemacht“, nörgelte Thea.

„Das kann aber gar nicht sein, oder?“

„Was hast du schon wieder angestellt?“

„Nichts. Schau doch, das ist von heute!“ Juli öffnete die Eigenschaften des Bildes. Verunsichert schüttelte Thea den Kopf, als sie Datum und Uhrzeit las.

„Das geht eigentlich nicht“, stammelte sie.

„Langsam wird es unheimlich. Erst der Typ aus der Eisdiele und jetzt das. Ich begleite dich nach Hause!“

„Hör schon auf, mich verrückt zu machen! Das eine hat doch mit dem anderen nichts zu tun!“

„Und wenn doch?“

„Juli! Du machst mir Angst. Hör auf damit! Sie haben das sicher so gehackt, dass man keinen Screenshot von ihnen schießen kann.“

„Das könnte natürlich sein. Ja, eigentlich ist das die beste Erklärung. Aber wenn die so gut im Cheaten sind, warum sind die dann gleich hops gegangen, nach nur einem Meteoritenangriff. Sie müssen Level eins gewesen sein“, vermutete Juli.

„Wer hackt sich in ein Spiel ein und wählt nur Level eins?“, entgegnete Thea.

Juli lachte. „Vielleicht dachten sie, eins wäre die höchste Stufe!“

„Quatsch!“

„Das war ein Trick! Ganz sicher stehen sie mit Dein_Tod in Verbindung!“ Aufgeregt sprang Juli aus ihrem Stuhl und schob ihn unter den Schreibtisch. „Natürlich! Erst spielen sie uns vor, sie seien schwache Figuren und beim nächsten Mal: Bamm! Hauen sie unsere ganze Gilde aus den Schuhen!“

Thea lachte amüsiert. „Juli, du übertreibst wie immer!“

„Du kannst sie beim nächsten Mal fragen. So wie es ausgesehen hat, waren sie ja auf der Suche nach dir.“

„So wie bald meine Mutter“, grunzte Thea. „Ich geh dann mal besser nach Hause.“

„Wenn ich dich morgen nicht in der Schule antreffe, weiß ich, dass sie dich umgebracht hat“, scherzte Juli und Thea winkte lachend ab.

„Das macht sie sicher nicht, aber ich bereite mich mal auf ihre Strafpredigt vor.“

Sie gingen zur Tür und Juli drückte Thea zum Abschied.

„Bis morgen dann!“

„Ja! Bis morgen!“, erwiderte Thea und rannte nach Hause. Sie erwischte sich dabei, dass sie sich das ein oder andere Mal nach einem Verfolger umsah.

2. Kapitel

Als Thea am nächsten Morgen erwachte, lag die erwartete Strafpredigt hinter ihr. Wie vermutet war diese milde ausgefallen, aber sowohl ihre Mutter als auch ihr Vater verstanden es großartig, Theas Moralknopf zu drücken. Nach einer unruhigen Nacht lastete das schlechte Gewissen noch immer wie ein Felsbrocken auf ihr. Verhalten betrat sie die Küche und setzte sich an ihren Platz, der bereits mit warmen Kakao und Marmeladentoast angerichtet war. Während sich Frau Helmken einen Kaffee aus der Maschine zog, nahm Thea einen Schluck aus ihrer Tasse. Sie beobachtete ihre Mutter, bis sich diese neben sie setzte.

„Es tut mir leid“, entschuldigte sich Thea sofort.

Ein Lächeln huschte über Frau Helmkens Lippen. „Du hast dich doch schon gestern entschuldigt.“

„Ja, aber du hast Recht. Es war total überzogen und unangebracht. Ich war ungerecht.“

Frau Helmken umfasste die Kaffeetasse mit beiden Händen. „Du bist ein Teenager, es ist deine Aufgabe überzogen zu sein“, scherzte sie.

Thea zog einen Schmollmund und Frau Helmken musste lachen. „Wirklich, Thea. Es ist in Ordnung, ich habe nie vergessen, wie es ist, sechzehn Jahre alt zu sein. Das nächste Mal müssen wir eine gute Verabredung treffen, damit so etwas nicht wieder geschieht.“

„Es war wirklich wichtig. Die anderen haben mich gebraucht“, erklärte Thea.

Frau Helmken hob die Schultern. „Das kann ich nicht wissen. Auf jeden Fall solltest du darauf achten, dass du das Spiel kontrollierst und nicht das Spiel dich!“

„Das tut es nicht. Ehrlich!“

Frau Helmken hob die Augenbrauen und Thea biss sich auf die Lippe. „Ich werde darauf achten“, versprach sie.

„Gut! Computerverbot hast du trotzdem!“

„Mama!“

„Nichts Mama! Trink deinen Kakao und dann los zur Schule! Ich hole dich später ab!“

„Du holst mich ab?“

„Du brauchst doch neue Turnschuhe. Schon vergessen?“

Thea blickte an ihrer Jeans herunter auf die abgelaufenen Gummisohlen der Sneakers. „Okay“, antwortete sie mit einem Seufzen, und Frau Helmken, die gerade aufgestanden war, um die Butter in den Kühlschrank zurückzustellen, drehte sich mit vorwurfsvollem Blick um. „Das klingt nicht sehr begeistert!“

Thea lachte. Hastig trank sie ihren Kakao aus und stand auf. „Doch! Ich bin begeistert!“, erwiderte sie, schnappte sich ihre Tasche und winkte über ihre Schulter, ehe sie durch die Haustür schlüpfte. „Bis später!“

„Bis später!“, rief ihr Frau Helmken nach und Thea zog die Tür hinter sich ins Schloss.

Auf dem Schulhof angekommen, stürzte ihr Juli sofort entgegen.

„Thea! Da bist du ja endlich!“

Sie fielen sich zur Begrüßung in die Arme und liefen zusammen in Richtung des Klassenraums. „Waren die Cheater noch einmal da?“, fragte Thea sofort.

„Nein, die sind nicht mehr aufgekreuzt. Dafür Dein_Tod. Er hat sich so was von daneben benommen. Seine Gilde hat sich jetzt mit der Gilde der Feuertänzer verbündet. Dein_Tod meinte, wir würden fortan an dem Spiel keine Freude mehr finden. Er hat unseren Gildenmitgliedern ein Ultimatum bis morgen Abend gestellt, die Gilde zu verlassen. Alle, die bleiben, würden auf der Abschussliste stehen.“

„Der spinnt doch! Wie kann man nur so nachtragend sein. Und? Gab es Reaktionen?“

„Tom war nicht mehr online. Wir fragen gleich, was er von der Sache hält. Aber Panicgirl sagte bereits, dass sie keine Lust darauf hätte ständig getötet zu werden und sie dann lieber die Gilde verlassen würde.“

„Pfff! Soll sie doch!“ Thea lachte. „So macht sie ihrem Namen jedenfalls ganze Ehre.“

„Ja! Sie sollte sich in „Panic vor Dein_Tod“ umbenennen“, stimmte Juli zu.

Sie begrüßten ihre Mitschüler, die sich bereits vor der Klassentür versammelt hatten. Ein Junge trat auf sie zu und streckte die Faust nach ihnen aus, die Juli und Thea mit ihrer Faust antippten.

„Tribun“, sagte Juli und verbeugte sich in gespielter Ehrfurcht.

„Tiray“, antwortete er, legte die Hand auf die Brust und erwiderte die Geste.

Thea rollte die Augen. Sie schüttelte den Kopf. „Ihr Spinner!“

Er lachte. „Was, Fengurd? Schlecht gelaunt? Hast du etwa Computerverbot?“

„Als ob du das nicht wüsstest, Tom!“

„Und wenn du gestern nicht so schnell abgerauscht wärst, wüsstest du auch, dass wir jetzt Krieg mit zwei Gilden haben!“, erklärte Juli.

Tom winkte ab. „Das weiß ich längst. Schmunzelkeks hat mir sofort eine Nachricht aufs Handy geschickt. Dein_Tod hat einen Vollschuss!“

„Aber hallo! Und ich dachte gestern noch, jetzt würden sie uns bald ein Friedensangebot machen!“

„Solange alle in der Gilde bleiben und wir zusammenhalten, kann uns nicht viel passieren. Wir haben ein paar sehr hohe Spieler mit guten Waffen. Ich werde jedenfalls nicht klein beigeben. Wir werden ihnen nach der Schule einen blutigen Empfang bereiten. Wollen wir doch mal sehen, wer hier die Lust am Spiel verliert!“ Er gab Thea einen Knuff. „So eine gute Magierin wie wir haben sie nicht!“

„Ich kann nach der Schule nicht“, wehrte Thea ab.

„Du kommst einfach zu mir und spielst wieder am Laptop“, entgegnete Juli.

Herr Eppert unterbrach ihr Gespräch, als er sich mit bereitgehaltenem Schlüssel durch die Schüler hindurch zur Tür schob und den Klassenraum aufschloss.

„Nein, das geht nicht. Ich werde von meiner Mutter abgeholt. Wir kaufen neue Schuhe für mich ein“, erklärte Thea, während sie ihren Mitschülern in den Klassenraum folgte.

„Schuhe? Sie kann dir doch welche mitbringen“, motzte Juli, schwieg aber im gleichen Moment, da Thea ihr einen rügenden Blick zuwarf.

„Schon gut! Schon gut! Kauf deine Schuhe“, erwiderte Juli.

„Wir brauchen dich jetzt mehr als je zuvor. Schau, dass du einen Weg findest heute online zu kommen“, beschwor Tom sie und nahm an seinem Tisch Platz.

„Ich werde es versuchen, aber ich kann für nichts garantieren“, versprach Thea.

Nach dem Unterricht wartete Frau Helmken wie verabredet vor der Schule. Thea öffnete die Beifahrertür und warf ihren Rucksack auf den freien Platz der Rückbank. Mats strampelte mit Händen und Beinen in seinem Kindersitz und rief begeistert: „Endlich! Endlich! Das hat so lange gedauert!“

„Du Knallkopf“, schmunzelte Thea. Sie kniete sich auf den Sitz und lehnte sich zu Mats vor, um ihm einen Kuss auf die Wange zu drücken. Dann schloss sie die Tür und nahm auf dem Beifahrersitz Platz.

„Wie war dein Tag?“, begrüßte Frau Helmken sie.

„Gut“, antwortete Thea.

Erschrocken fuhr sie zusammen, als Juli ihren Kopf durch das Fenster steckte und ohne Vorwarnung fragte: „Frau Helmken! Fahren sie Thea nach dem Einkaufen bei mir vorbei? Wir müssen das Referat fertig machen.“

„Hallo Juli“, erwiderte Frau Helmken. „Welches Referat?“

Für den Bruchteil einer Sekunde zögerte Juli, dann antwortete sie wie selbstverständlich: „Über das Kastensystem in Indien. Hat Thea nichts erzählt?“

„Nein, hat sie nicht.“ Frau Helmken hob die Augenbrauen. „Bist du sicher, dass es nicht eher ein Referat über Onlinespiele ist?“

„Schön wär’s“, prustete Juli und winkte ab.

„Und bis wann, Thea, müsst ihr dieses Referat abgeben?“, fragte Frau Helmken nun ihre Tochter mit offenem Argwohn.

„Bis morgen!“, antwortete Juli, ehe Thea die Möglichkeit hatte zu reagieren. Sie drehte den Kopf zu ihrer Freundin und riss die Augen auf, um ihr zu bedeuten, die Sache nicht noch schlimmer zu machen. Doch Juli ignorierte sie beflissen.

„Bis morgen“, wiederholte Frau Helmken und verschränkte die Arme hinter dem Steuer. „Stimmt das, Thea?“

Thea zog die Lippen an und schüttelte mit dem Kopf, worauf Juli empört quiekte. „Frau Helmken, bitte! Sie wissen doch, dass ich ohne Thea aufgeschmissen bin. Ich muss das Referat halten. Ohne Thea schaffe ich das nicht!“

Frau Helmken legte die Hände ans Lenkrad und drehte den Zündschlüssel. „Ich vertraue meiner Tochter, aber dir, Juli, vertraue ich nur bis zu dieser Autotür. Ihr werdet das Spiel nicht anrühren!“

Juli strahlte über beide Ohren. „Natürlich nicht, Frau Helmken.“ Sie nahm den Kopf aus dem Auto, knuffte Thea auf den Oberarm und winkte ihrer Freundin nach.

„Referat über das Kastensystem in Indien“, schnaubte Frau Helmken. „Was Besseres ist euch wohl nicht eingefallen.“

„Ich habe damit nichts zu tun!“, versicherte Thea.

Wortlos fuhr Frau Helmken los. Sie vermied es, den restlichen Nachmittag über das Thema zu sprechen und lenkte die Gespräche auf belanglose Themen. Fünf Schuhgeschäfte und zwei Eisläden später hatte Thea endlich ein paar Sneakers gefunden. Wie verabredet fuhr Frau Helmken sie nun bei Juli vorbei. Thea sah ihrer Mutter an, dass sie es nicht gerne tat, umso mehr dankte sie ihr dafür. Als Thea, mit ihren neuen Sneakers ausstaffiert, aus dem Auto sprang, war es bereits früher Abend. Sie verabschiedete sich und musste erneut versprechen, das Spiel nicht anzurühren. Erst dann rannte sie zur Haustür. Sie hatte kaum den Daumen auf die Klingel gelegt, da wurde die Tür bereits aufgerissen. Juli packte sie an der Hand und zog Thea mit sich.

„Beeil dich! Der Lappi ist schon an!“, rief sie. Rasch rannte sie in ihr Zimmer. Dort setzte sie ohne ein weiteres Wort das Headset auf und nahm am Schreibtisch Platz.

„Ich habe es meiner Mutter versprochen!“, empörte sich Thea.

„Du spielst ja auch nicht! Wir beraten uns! Du wirst dich hüten, Spaß dabei zu haben“, lachte Juli.

Seufzend schüttelte Thea den Kopf. Dann tippte sie ihren Benutzernamen und das Passwort ins freie Feld und tauchte ebenfalls in das Spielgeschehen ein. Fast alle Gildenmitglieder waren online und beratschlagten über ihr weiteres Vorgehen. Wie Juli es vorausgesagt hatte, kam Thea dabei kaum zum Spielen. Man tauschte Waffen und Ausrüstung, verabredete Spielergemeinschaften und schwor sich ein, nur noch in Gruppen zu spielen, bis der Gildenkrieg beendet war. Stunden später, als es bereits dunkelte, sah Thea das erste Mal auf die Uhr.

„Es ist schon halb zehn!“, stellte sie mit Schrecken fest und nahm unwillkürlich ihr Handy zur Hand. „Oh nein! Der Akku ist leer! Sie wird mich umbringen“, raunte Thea.

„Du bist sechzehn Jahre alt. Es wird dir ja noch erlaubt sein, bis um zehn Uhr auszugehen“, motzte Juli.

Thea schrieb eine Verabschiedung in den Gildenchat. Sie loggte sich aus dem Spiel aus. „Ich gehe besser, sonst gibt es wieder Ärger.“

Brummend stimmte Juli zu. „Wir sehen uns dann morgen in der Schule“, verabschiedete sie sich. „Und wenn sie ausflippt, kommst du einfach wieder.“

Thea nickte, im besseren Wissen, dass ihre Mutter nicht dazu neigte auszuflippen und verabschiedete sich. Juli hielt mit starrem Blick den Monitor im Fokus und nahm kurz die Hand von der Maus, um zu winken. Sicher, dass Juli sie nicht zur Tür begleiten würde, ging Thea alleine hinaus. Sie war kaum der ersten Straße gefolgt, als sie aus dem Winkel einer Seitengasse den rothaarigen Mann von der Eisdiele erspähte. Er lehnte an einer Hauswand und löste sich aus seiner Haltung, als er Thea entdeckte. Mit einem Mal war die Erinnerung an ihn wieder da. Angst packte Thea. Sie begann zu laufen. Ihre Schritte hallten im Gleichklang zu ihrem Herzen auf dem Asphalt wider. Als sie wagte sich umzusehen, wurde ihre böse Vorahnung traurige Gewissheit. Der Mann hatte die Verfolgung aufgenommen und eilte unerbittlich auf sie zu. Nun rannte sie und kurz darauf gesellte sich zu ihren Schritten ihr keuchender Atem hinzu. Gehetzt zog sie das Handy aus der Tasche, aber es ließ sich nicht anstellen. Der Fremde hielt Schritt, kam näher und näher und drohte Thea jeden Augenblick zu packen. Tränen der Verzweiflung rannen über ihre Wangen, als sie gegen eine der Haustüren hämmerte. Aber sofort rannte sie weiter, da der Fremde sie zu erreichen drohte, ehe sich diese öffnen würde. Instinktiv folgte sie dem gewohnten Weg durch den Park nach Hause. Die Zweige der Bäume wiegten sich friedlich im Abendwind und wirkten doch abschreckend auf Thea. Die wenigen Laternen, die entlang des Schotterweges standen, erleuchteten die Szenerie nur spärlich. Alle Farben waren aus dem Park gewichen. Die freundliche Grünanlage breitete sich schwarz und unangenehm vor ihr aus, oder war es ihre Angst? Weit und breit war keine Seele zu erblicken. Schon spürte sie eine feste Hand auf ihrer Schulter, die sie erbarmungslos packte und sie zu Fall brachte.

„Ich will dir nichts!“, sprach der Fremde sie an und kniete sich neben sie. Mit aller Wucht hieb Thea ihm ins Gesicht, rappelte sich hoch und lief weiter. Sie hörte das ärgerliche Knurren des Mannes und sah, wie er erneut die Verfolgung aufnahm. Verzweifelt rief sie um Hilfe. Aber nur ein Falke flog über die Szenerie hinweg und begleitete ihre Schreie.

Endlich entdeckte Thea eine weitere Person. In ihrem weißen Kleid stand sie wie ein rettender Engel in der Dunkelheit. Das lange schwarze Haar der Frau war zu einem Zopf geflochten und vom hinteren Teil des Nackens über ihren Kopf gelegt. Ein paar einzelne Strähnen baumelten lose hinter den Ohren.

„Helfen Sie mir!“, rief Thea und lief der Frau geradewegs in die Arme. „Helfen Sie mir“, schluchzte sie ein weiteres Mal, als sie sich in der Umarmung der Fremden wiederfand.

„Keine Angst“, beruhigte die Frau sie und hob die Stimme. „Thor, du Tölpel! Du solltest die Kleine nicht erschrecken!“

Alarmiert sah Thea zu der Frau auf. Sie kannte den Mann! Schon war sie zur Flucht bereit, da spannten sich die Muskeln der Fremden und ihre rettende Umarmung wurde zu einem Gefängnis. Ihr Griff war ungewöhnlich stark.

„Keine Angst, keine Angst! Wir ersuchen dich um Hilfe, wir wollen dir nichts tun“, sprach die Frau beruhigend auf sie ein. Aber Thea konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass sie in eine Falle gelaufen war.

„Ihr Angst einjagen …“, grummelte der Mann und wischte sich immer wieder das Blut aus dem Gesicht, das ihm aus dem Mundwinkel quoll.

„Was wollt ihr von mir?“, wimmerte Thea. Schluchzend wand sie sich im Griff der Frau.

Der Mann, der Thor hieß, hockte sich ins Gras und schaute zu Thea auf. Seine blauen Augen stachen trotz der Dunkelheit entschlossen aus dem gebräunten Gesicht. „Wir haben lange nach dir gesucht, Thea. Ich wusste nicht recht, wie ich dich ansprechen sollte, ohne Aufsehen zu erregen. Zu deiner eigenen Sicherheit ist es unerlässlich, dass wir unentdeckt bleiben. Deshalb haben wir es gestern über dein Computerspiel versucht. Aber auch da hörst du uns nicht an. Entschuldige, wenn ich dich erschreckt habe.“

Der Griff der Frau lockerte sich, da sie scheinbar bemerkte, dass Thea bereit war zuzuhören. Was blieb Thea auch anderes übrig?

„Wie, über das Computerspiel? Seid ihr etwa diese Cheater gewesen?“

„Wir haben keine Ahnung von solchen Sachen, ein Mensch hat uns dabei geholfen“, erklärte er.

„Wer? Dein_Tod?“

„Das spielt keine Rolle. Hör zu! Wir waren lange auf der Suche nach dir! Du bist eine Nachfahrin Fengurs, des Schmieds. Mit Hilfe Lokis fertigte er vor ewiger Zeit das Feuerschwert Kyndill an. Eine mächtige Waffe, der es gelingen würde, selbst Götter zu töten. Wir wissen, dass Loki Kyndill sucht. Mit diesem Schwert will er seinem Schicksal entrinnen. Das darf nicht passieren!“

Mit zunehmendem Grauen stellte Thea fest, dass sie zwei Verrückten in die Arme gelaufen war. Ihr Puls pochte bis zum Hals, während sie um Atem ringend nach einer Möglichkeit suchte, sich aus der Situation zu stehlen.

„Haben Sie schon einmal versucht, sich professionelle Hilfe zu holen“, druckste sie verlegen.

„Gerade eben“, sagte Thor offenherzig.

Die Frau hob die Hand und schüttelte den Kopf. „Das meint sie nicht“, erklärte sie dem Mann. Verstimmt sah sie Thea an. „Wir sind nicht verrückt, Thea“, sagte sie energisch. „Außerhalb deiner Welt gibt es noch andere Heime. Das Wissen um sie ist fast in Vergessenheit geraten, aber sie haben nie aufgehört zu existieren – ebenso wie wir. Von Thor wirst du vielleicht schon gehört haben. Er ist der Gott des Donners. Ich bin Wal-Freya, Göttin der Liebe und Anführerin der Walküren.“

Mit wachsendem Unbehagen sah sich Thea im Park um, ein rettender Helfer blieb jedoch aus. Thea hatte schon genug Fantasy-Spiele gespielt, um Walküren zu kennen. Schildjungfrauen des Odin, die gefallene Krieger nach Walhall bringen. Das ging nun wirklich zu weit.

„Ich würde jetzt gerne gehen. Ich bekomme sowieso schon Ärger“, sagte sie.

Der Mann, der sich Thor nannte, sprang auf und schimpfte: „Es war dein Ahne, der das Schwert schmiedete. Du trägst Verantwortung für sein Tun!“

„Ich? Warum ich? Wann soll er dieses Schwert überhaupt geschmiedet haben?“

Die Frau, die sich Wal-Freya nannte, streckte ihre Hand vor die Brust des Rothaarigen und bedeutete ihm Ruhe zu bewahren. Dann antwortete sie: „Vor über 1500 Jahren, Thea.“

Thea schnaufte. „Vor über 1500 Jahren? Und ich soll dafür den Kopf hinhalten? Wofür noch? Dass Kleopatra von einer Schlange getötet wurde?“

„Fengur und Loki haben das Schwert in Nidhöggrs Flamme gebrannt und es anschließend in der Quelle Hvergelmir gehärtet. Es ist ein magisches Schwert, nur Loki oder ein Nachfahr Fengurs wird es führen können. Wir haben sehr lange gebraucht, um dich zu finden. Du kannst uns jetzt nicht im Stich lassen.“

„Und was soll mein Part bei dieser Geschichte sein?“

„Du sollst Kyndill finden, bevor es Loki tut“, antwortete die Frau unbeeindruckt.

Thea betrachtete die Gestalten einen Augenblick. „Na gut!“, sagte sie dann, senkte den Kopf und stöberte den Boden ab.

Ungläubig runzelte Thor die Stirn und sah zu Wal-Freya. „Was tut sie?“

„Uns für dumm verkaufen“, knurrte die Walküre. Sie verschränkte die Arme und betrachtete das Schauspiel mit wachsendem Zorn.

Thea hob aus einiger Entfernung die Hände und schüttelte im Bedauern den Kopf. „Hier ist nichts. Es tut mir außerordentlich leid. Ihr solltet rasch zu Loki gehen, sicher hat er es.“

Gerade als die Frau die Stimme anhob, wurde Theas Name durch den Park gerufen. Erleichtert folgte Theas Blick der Stimme. Aus einiger Entfernung stapfte Frau Helmken heran. Die Jacke ihres Mannes um ihren Oberkörper geschlungen und die Füße rasch in ein paar Gummistiefel gesteckt, schlotterte eine Trainingshose um ihre Beine. Es war nicht zu übersehen, dass sie in der Auswahl ihrer Kleider nicht wählerisch gewesen war, als sie sich auf die Suche nach ihrer Tochter begeben hatte. Thea vermutete, dass sich unter dieser Kluft ein Schlafanzug befand.

„Mama!“, rief sie und schon rannte sie ihrer Mutter entgegen. Beruhigt fiel sie ihr in die Arme und schaute erleichtert an die Stelle zurück, an der die beiden Verrückten standen – sie waren nicht mehr da!

Theas Mutter erwiderte die Umarmung. „Verdammt, Thea! Wo bleibst du nur? Ich komme um vor Sorge! Du hast also doch wieder gespielt! Darum stellst du auch das Handy aus!“ Sie hob den Blick und verfolgte einen Falken, der gerade kreischend über sie hinweg flog.

Thea löste sich aus der Umarmung. „Tut mir leid, der Akku ist leer“, erklärte sie. Zur Bekräftigung ihrer Aussage zog sie das Telefon aus der Tasche.

„Ich habe bei Juli angerufen, da ich glaubte, dass du dich noch immer dort aufhältst. Als sie sagte, dass du schon eine ganz Weile fort bist, bin ich dir gleich entgegengelaufen.“

„Danke! Ich bin froh, dass du das getan hast“, erwiderte Thea ehrlich.

Frau Helmken zog fröstelnd die Jacke enger. „Wer waren die beiden?“, fragte sie.

„Der Mann aus der Eisdiele. Er hat mich verfolgt und die Frau hat mich festgehalten. Sie behaupteten, sie seien Thor und Wal-Freya und ich solle ihnen helfen ein Schwert zu finden“, antwortete Thea weinerlich.

„Was?“, rief Frau Helmken und zog das Handy aus der Tasche. „Jetzt reicht es! Ich rufe die Polizei!“

Kaum hatte sie es ausgesprochen, tippte sie bereits die Nummer. „Guten Abend, mein Name ist Ilona Helmken. Meine Tochter wurde gerade im …“, sie stockte und runzelte die Stirn. Ihre Stimme wurde dünn, „Odin-Park …“ Sie legte die Hand über das Telefon und sah Thea streng an. „Das war kein dummer Scherz von dir?“

Thea schnappte nach Luft. „Nein!“

Sie nickte und fuhr fort: „Meine Tochter wurde gerade im Odin-Park von zwei Leuten belästigt, die behaupteten Thor und Freya zu sein. Sie wurde bereits vor einigen Tagen von einer dieser Personen bis nach Hause verfolgt.“

Sie schwieg für einen Moment, behielt Thea aber im Blick. „Nein, sie sind verschwunden. Ja … ja. Sofort? Gut. Wir sind auf dem Weg.“

Frau Helmken steckte das Handy weg. „Sie schicken eine Streife, die die Gegend abfahren wird. Du und ich sollen auf die Wache kommen, um eine Aussage zu machen.“ Sie nahm Theas Hand. Aufmunternd lächelte sie ihr zu. „Keine Angst, das dauert sicher nicht lange.“

Im sanften Griff ihrer Mutter ließ sich Thea nach Hause bringen. Dort erzählte Frau Helmken dem Vater rasch von den Ereignissen, während sie nach dem Autoschlüssel und ihrem Portemonnaie griff. Besorgt und fassungslos zugleich ließ Herr Helmken sie gehen. Er küsste Thea zum Abschied auf die Stirn und bat darum, ihn sofort anzurufen, wenn die beiden zurückfahren würden.

Drei Stunden später öffneten sie erschöpft und müde die Haustür. Über eine Stunde hatten sie gewartet, ehe Thea ihre Aussage machen durfte. Gleich dreimal musste sie die Ereignisse schildern. Das erste Mal hatte der Polizist aufmerksam zugehört, die beiden nächsten Male Thea immer wieder mit Fragen unterbrochen und sich dabei die Täter beschreiben lassen. Erst dann hatte er gestattet, dass sie nach Hause fuhren, wo Thea ihren Vater erleichtert in die Arme schloss. Gefangen von den Ereignissen und mit aufkeimender Hoffnung, dass die Polizei ihr helfen würde, legte sich Thea schlafen. Sie hoffte inständig, den Mann nie wieder zu sehen. Er war unheimlich und die Frau war nicht viel besser.

Der Schrecken des vergangenen Abends milderte sich mit dem anbrechenden Morgen nicht. Auch Frau Helmken war noch immer besorgt, als sich Thea zu ihr an den Frühstückstisch setzte. Zu ihrer Verwunderung war Mats ebenfalls wach. Mit großen, fröhlichen Augen sah er Thea an, während er an seinem Schokotoast kaute.

„Wie geht es dir, mein Schatz?“, begrüßte Frau Helmken sie.

„Ganz gut“, antwortete Thea.

„Ich fahre dich zur Schule!“, verkündete Frau Helmken.

Thea nahm einen Schluck aus ihrer Tasse. „Das brauchst du nicht. Wirklich!“, wehrte sie ab. „Ich habe Juli eine Nachricht geschickt. Sie kommt vorbei und holt mich ab.“

„Ich weiß nicht. Bist du dir sicher, dass das eine gute Idee ist? Soll ich dich nicht doch lieber fahren?“, erwiderte ihre Mutter.

„Der Polizist hat gesagt, sie würden die Gegend kontrollieren und er glaubt nicht, dass sie noch einmal auftauchen, wenn sie erst die Polizeipräsenz bemerken.“

„Ich mache mir trotzdem Sorgen!“

Ehrlicher Weise war auch Thea nicht ganz wohl bei dem Gedanken, alleine mit Juli zur Schule zu laufen. Sie befürchtete aber unangenehme Fragen ihrer Mitschüler, wenn sie sich plötzlich von ihrer Mutter zur Schule begleiten lassen würde. Lange saß sie am Fenster, starrte hinaus auf die Straße und wartete. Es war schon hell und im Schein der aufgehenden Sonne sah sie hier und da einige bekannte Gesichter. Lea und Carina aus der Parallelklasse liefen laut quasselnd vorbei, dicht auf Björn, völlig in sein Handy vertieft, aber erst als sie Juli vor dem Haus stehen sah, trat Thea hinaus.

Ihre Freundin trug einen Rucksack über der linken Schulter und lehnte am gegenüberliegenden Gartenzaun. Am Morgen wirkten Julis Augen noch viel kleiner als sonst. Schlecht gelaunt blickte sie unter ihrer großen Brille hindurch, was jedoch vielmehr an der Tatsache lag, dass ihr der Tag zu früh anbrach, als an Theas Bitte sie abzuholen.

Noch einmal wurde die Tür aufgerissen und Frau Helmken trat auf die Straße, Mats auf ihrem Arm. „Passt auf euch auf!“, rief sie.