Die Midgard-Saga - Jötunheim - Alexandra Bauer - E-Book

Die Midgard-Saga - Jötunheim E-Book

Alexandra Bauer

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Beschreibung

Kaum ein Jahr ist seit ihrem letzten Abenteuer an der Seite der Götter vergangen, da bittet Wal-Freya erneut um Theas Hilfe. Der Fenriswolf, der einer Überlieferung nach dem Göttervater den Tod bringen wird, ist entkommen. Steckt dahinter wieder einer von Lokis finsteren Plänen? Zusammen mit den Göttern Wal-Freya und Thor machen sich die Freunde um Thea erneut auf den Weg, die Prophezeiungen auf die Probe zu stellen. Dass ihr Leben tiefer mit dem Schicksal der Götter verwoben ist als zunächst angenommen, wird Thea bald klar. Auch, dass sie es schwer haben wird, je wieder in ihr altes Leben zurück zu finden ...

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Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
Epilog
Personen und Wesen – Midgard-Saga 2 – JÖTUNHEIM

Impressum neobooks

Alexandra Bauer Die Midgard-Saga - Jötunheim

Die Midgard-Saga

~ Jötunheim ~

Alexandra Bauer

Copyright © 2015 Alexandra Bauer 5. überarbeitete Auflage D-65817 Niederjosbach

[email protected]

Illustration Petra Rudolf All rights reserved.

Prolog

Angrboda heißt eine Riesin in Jötunheim, mit ihr zeugte Loki einst drei Kinder. Eines dieser Kinder war ein Wolf, das andere eine Schlange, das dritte ein Mädchen mit einem Gesicht halb schwarz, halb weiß.

Schlechtes ahnten die Asen von diesem Nachwuchs, deshalb sendete Odin die Götter aus und ließ die Kinder zu sich holen.

Odin warf Jörmungand, die Schlange, ins tiefe Meer, das alle Länder umgibt. Darin wuchs das Reptil heran und wurde so gewaltig, dass es ganz Midgard umschlang. Hel, das Mädchen, schleuderte er in die tiefste Höhle Niflheims und gab ihm Macht über die neunte Welt. Den Wolf Fenrir aber ließ er in Asgard, wo er ihn beobachten konnte. Die Asen zogen ihn auf und er lernte sprechen. Doch der Wolf wuchs rasch heran und wurde bald so groß, dass der Ase Tyr der einzige war, der sich in seine Nähe wagte.

Die Weissagungen prophezeiten Übel von dem Wolf kommen. So schmiedeten die Asen mächtige Ketten und überredeten Fenrir, seine Stärke an diesen zu messen. Die erste Kette, Leding genannt, zerriss Fenrir mühelos, ebenso Dromi, die zweite. In ganz Asgard gab es niemanden, der eine noch mächtigere Kette schmieden konnte. So ließen die Asen in Schwarzalbenheim eine weitere Fessel fertigen. Gleipnir ward sie genannt. Sie sah harmlos aus wie ein Faden. Doch der Faden war von den Zwergen gemacht. Er bestand aus den Sehnen der Bären, dem Atem der Fische, den Bärten der Frauen, dem Speichel der Vögel, dem Geräusch des Katzentritts und den Wurzeln der Berge. Der Fenriswolf ahnte Verrat und forderte ein Vertrauenspfand, sollte er sich abermals auf einen Wettstreit einlassen. Ein Ase sollte die Hand in sein Maul legen, bevor er sich mit diesem Band fesseln ließ. Niemand wollte sich zunächst dafür hergeben. Schließlich bot sich Tyr an und Fenrir stimmte dem Wettstreit zu. Erneut fesselten die Asen ihn und lachten. In böser Vorahnung versuchte der Wolf Gleipnir zu zerreißen – erfolglos! Je stärker er sich in der Fessel wandte, desto enger zog sich der Faden. Fenrir war gefangen und Tyr verlor seine rechte Hand, denn Fenrir biss sie ihm ohne zu zögern ab. Die Asen nahmen das Ende Gleipnirs, zogen es durch einen Felsen und versenkten diesen tief in der Erde.

Der gefesselte Wolf riss sein Maul auf und schnappte wütend nach den Göttern. Diese steckten ihm ein Schwert in den Rachen, mit der Spitze gegen den Gaumen. Seither heult der Fenriswolf entsetzlich und es fließt so viel Geifer aus seinem Maul, dass daraus der Fluss Ván geworden ist.

Hier auf der Insel Lyngwe liegt Fenrir, bis die Götter vergehen und nur das Nordlicht spendet ihm Trost, wenn es in klaren Nächten sanft über den Himmel weht.

Auch in dieser Nacht hing das Nordlicht still über einem einsamen Wald. Es umspielte Sterne und Mond und wechselte die Farben von sanftem Grün zu feurigem Purpur. Doch etwas war anders. Nur wenige Tiere hatten sich aus ihrem Unterschlupf gewagt und flüchteten rasch, als ein Schnaufen die Stille durchbrach. Taubedeckte Farne sprühten silberne Funken, als die mächtigen Pranken eines Wolfs auf den Waldboden trafen. Schattenhaft bewegte sich das Tier an den Bäumen vorbei. Immer wieder hielt es inne und spähte den Weg aus, ehe es mit schnellen Bewegungen in die nächste Deckung flüchtete. Dort sah sich der Wolf gehetzt um, hob die Nase und witterte nach seinen Feinden. Er hatte sich im Schmutz gewälzt, damit ihn sein silbergraues Fell im Mondlicht nicht verriet. Dennoch war es ihm nicht gelungen, seine Verfolger abzuschütteln.

Er war kein gewöhnlicher Wolf, das wusste Fenrir. Von der Größe eines Pferdes jagte er nicht nur den Menschen in Midgard Angst ein, selbst die Götter fürchteten ihn. Gebunden an eine magische Kette hatte er über Jahrhunderte in Gefangenschaft verbracht, doch nun war er frei! All die Jahre hinweg hatte er sich immer und immer wieder gegen seine Fessel gestemmt, dem magischen Faden versucht zu trotzen, doch niemals ließ dieser sich sprengen. In der heutigen Nacht jedoch hatte sich Gleipnir wie von Geisterhand gelöst und Fenrir die Flucht ermöglicht.

Ein tiefer Schnitt zog sich von seiner Stirn aus über das linke Auge bis zu den Lefzen. Er hatte sie ihm während seiner Flucht zugefügt: Heimdall, der Wächter der Regenbogenbrücke Bifröst, die Asgard und Midgard miteinander verband. Nachdem Fenrir durch den Fluss geschwommen und von der Insel Lyngwe geflohen war, war er über das Idafeld gerannt. Sein Weg hatte ihn geradewegs zu Bifröst geführt. In einem letzten verzweifelten Versuch ihn aufzuhalten, hatte Heimdall das Schwert gezogen und Fenrir hart im Gesicht getroffen. Fenrir war über den Wächter hinweggesprungen, aber Heimdall hatte die Asen zusammengerufen und nun verfolgten sie ihn erbarmungslos.

Mit einem Mal blieb Fenrir stehen. Drohend hob er die Lefzen und bleckte seine Reißzähne. Ein langer, hagerer Mann stand vor ihm und streckte die Hand nach ihm aus. Er trug einen roten Klappenrock und eine weite Hose gleicher Farbe, die in schwarzen Stiefeln steckte. Lange dunkle Haare umrahmten sein Gesicht. Links und rechts der Oberlippe wuchs ein Bart in zwei langen Strähnen, ebenso am Kinn. Seine dunklen Augen blickten liebevoll unter dünnen, geschwungenen Brauen.

„Was? Erkennst du mich etwa nicht?“, sprach er Fenrir an.

Fenrir schüttelte den Kopf, doch nicht, weil er die Frage verneinen wollte. Vielmehr war es ein Reflex, um das Schwert aus seinem Maul zu bringen, das schon ebenso lang in seinem Schlund steckte, wie er gefesselt war.

„Lass mich dir helfen“, bot sich der Mann an und mit einer raschen Bewegung riss er das Schwert aus dem Wolfsrachen. Ein Aufheulen begleitete die Handlung und Fenrirs Augen füllten sich mit Tränen. Die Waffe war entfernt, doch Fenrir vermochte das Maul nicht zu schließen. Rasch trat der Mann näher und fasste den Unterkiefer des Wolfs. Mit beiden Händen zog er den Kiefer nach vorne. Abermals heulte Fenrir auf, doch diesmal schloss er das Maul und nickte dankbar. Schon wandte er wieder den Kopf. Von fern trug ein Windhauch den Geruch der Verfolger heran.

Der Mann hob den Blick. „Flieh! Ich werde nicht zulassen, dass sie dich abermals mit diesem Band fesseln.“ Er ließ seine Hand über die Verletzung des Wolfs streichen, ohne sie zu berühren. „Sie werden dir nichts mehr tun“, flüsterte er mitfühlend. Dann krümmte er sich auf einmal und stürzte. Kaum dass seine Hände den Boden berührten, glaubte Fenrir in einen Spiegel zu sehen.

„Lauf, du Dummkopf!“, knurrte der andere Wolf und Fenrir, der nun die kräftigen Tritte seiner Feinde auf dem Boden spürte, rannte los. Der zweite Wolf nahm das Schwert zwischen die Zähne und wartete, bis er Heimdall und sein Gefolge am Horizont ausmachte. Als ihre Rufe erkennen ließen, dass sie ihn entdeckt hatten, rannte er in entgegengesetzter Richtung zu Fenrir davon. Mit geschickten Sprüngen verschwand er im Schatten und zog die Verfolger mit sich.

1. Kapitel

Thea schob das Headset zurecht und drückte hektisch die Maustaste. Feuerbälle hagelten auf ihre Gilde herab, die Lebensanzeigen der Spieler schrumpften in atemberaubender Geschwindigkeit. Eine Master-Quest hatte die „Eternal Dragons“ tief in feindliches Territorium geführt. Durch ein weites Waldgebiet hatten sie sich bis zu diesem Ort vorgekämpft und eine riesige, goldene Drachenstatue umringt. Einer befreundeten Gilde zufolge mussten sie auf diese Statue einschlagen, bis diese zum Leben erwachte. Lange war Theas Gilde unentdeckt geblieben, doch statt der zu erwartenden Belohnung fanden sie sich nun von den „Wächtern des Friedens“ und den „Heroes and Thieves“ umringt, deren Mitglieder alle gleichzeitig auf sie einschlugen. Panicgirl war ihnen bereits zum Opfer gefallen.

Theas Augen flogen über den Bildschirm, während sie mit fieberhaften Klicks die einzelnen Menüpunkte öffnete. Abwechselnd führte sie ihrer Figur Mana zu, um ihre Magieleiste wieder aufzufüllen, und wirkte mächtige Heilzauber über ihre Gruppe. Während Panicgirl übelste Flüche und Verwünschungen in den Gildenchat spie, versuchte Thea, den Anweisungen der Gruppe zu folgen. Dabei behielt sie die einzelnen Lebensbalken ihrer Mitspieler stets im Blick.

„Reg dich ab, Panicgirl! Komm einfach wieder. Wenn du dich beeilst, bekommst du sicher so viele Erfahrungspunkte, dass du diesen Unfall gar nicht bemerken wirst“, klang es gleichzeitig aus Theas Headset und an ihrer Seite. Sie drehte den Kopf und sah zu Tom herüber, der auf seinen Laptop starrte und dabei immer wieder klagte, weil etwas nicht nach seinen Vorstellungen lief.

„Sollten wir nicht besser schauen, dass wir schnellstens wegkommen?“, fragte Thea in seine Richtung.

Tom antwortete, ohne von seinem Laptop aufzuschauen: „Und die ganze Quest in den Wind schießen? Niemals! Wir werden mit denen schon fertig.“

Wieder klickte Thea fieberhaft die Maustasten. Ihre Zauberin flüchtete aus dem Pulk der Spieler und platzierte sich an den Rand der Auseinandersetzung. Sofort eilten ihr drei feindliche Spieler hinterher. Unbarmherzig hieben sie auf Theas Zauberin ein, sodass sie abermals um ihr Leben rennen musste und die Rufe ihrer Gilde nach Heilung wirkungslos blieben.

„Haltet mir diese Deppen vom Leib!“, rief Thea. Während sie sich von den Feinden wegklickte, lösten sich Sasquatch und Migmus aus dem Tumult und rückten Theas Verfolgern auf die Pelle.

„Wo ist eigentlich dieser nervige kleine Zwerg, wenn man ihn braucht?“, brummte Tom.

„Sprichst du von Tiray? Juli kann nichts dafür, dass ihre Eltern plötzlich auf Familie machen“, ergriff Thea Partei für ihre Freundin.

„Heilen! Heilen!“, dröhnte es aus den Lautsprechern und Thea wirkte rasch einen Zauber auf die Gruppe. Abermals fand sie sich umringt von gegnerischen Spielern. Ihr HP-Balken schrumpfte in erschreckender Geschwindigkeit.

„Malefiz, Hilfe!“, rief sie, aber der Zauberer bewies wiederholt, dass er besser einen anderen Charakter gewählt hätte. Zwei Klicks später fiel Fengurd leblos zu Boden und Thea schleuderte wütend ihre Maus zur Seite.

„Großartig, Malefiz!“, murrte sie und ein geteiltes Raunen drang durch den Gildenchat.

„Malefiz, du Idiot! Du machst deinem Namen wieder ganze Ehre!“, knurrte Tom ungehalten. Während er wild auf seiner Maus klickte und seine Figur rasch aus dem Getümmel brachte, gab er Befehl zum Rückzug.

Thea äugte von ihrem Platz aus auf Toms Laptop und beobachtete, wie die Gruppe auseinanderstob. Aus ihrem Headset drangen immer wieder Flüche. Viele ihrer Gildenmitglieder fielen ohne die Unterstützung Theas der feindlichen Truppe zum Opfer. Besiegt lösten sie sich auf und erschienen kurz darauf an dem Platz, auf dem Theas Spielfigur stand.

„Das war ein Schuss in den Ofen!“, quakte Sid. Um seinen Worten Ausdruck zu verleihen, ließ er seinen Löwenmenschen wütend schreien.

„Das kannst du laut sagen“, seufzte Thea.

Überreiztes Klicken zu ihrer Seite ließ sie abermals zu Tom schauen.

„Wenn wir nicht schnellstens den Teleport erreichen, sind wir alle hinüber“, knurrte er.

Erneut war ein „Verdammt!“ aus dem Headset zu vernehmen und Thea wechselte abermals den Blick. Mit einem zufriedenen Lächeln entdeckte sie Malefiz auf der Erde liegend. Schon löste sich die Spielfigur auf. Tom drehte sich um und zwinkerte Thea zu, dann widmete er sich wieder dem Spiel. Als er seine Figur endlich aus der Gefahrenzone gebracht hatte, atmete er tief ein und stieß den Atem aus aufgeblasenen Wangen.

„Das war knapp!“, verkündete er. „Leute, das machen wir frühestens morgen noch mal. Ab sofort werden sie uns auflauern“, sprach Tom zur Gruppe. Mit einem Blick auf Thea legte er die Hand um das Mikrofon. „Sollen wir ein wenig leveln? Die verlorenen Punkte wieder reinholen?“

„Ich habe genug für heute“, wehrte Thea ab.

Tom nickte. Er löste das Mikrofon aus seinem Griff und verabschiedete sich von der Gilde: „Ich komme später noch mal on“, verkündete er. Ohne eine Antwort abzuwarten, loggte er sich aus und fuhr den Laptop runter. Noch während Thea damit beschäftigt war, es ihm gleich zu tun, griff Tom auf den Schreibtisch und rasselte mit dem Schlüsselbund vor ihrer Nase. „Fantasia?“

„Ich habe keine Lust auf Eis“, verneinte Thea.

„Kaffee?“, bot Tom stattdessen an.

Thea lächelte. „Das ist eine gute Idee!“

Er umschloss die Schlüssel in seiner Faust und presste sie auf die Brust. „Fein! Ich lade dich ein!“

Thea schmunzelte keck. „Dann trinke ich zwei Kaffee!“ Sie griff nach einer ledernen Tasche, die neben ihrem Schreibtisch lehnte. Im Aufstehen warf Thea sie sich über die Schulter. Ungewöhnlich lang hatte diese nichts mit einem Rucksack gemein, eher erinnerte sie an ein mittelalterliches Artefakt, an einen Köcher. Entlang der Nähte reihten sich kunstvoll eingestanzte Knotenmuster. Eine Schnalle in Form einer Frau, die in ihren ausgestreckten Händen ein Trinkhorn reicht, hielt den Deckel verschlossen. Mittelpunkt des Köchers jedoch war ein Runenkreis, der sich um einen Baum schloss. Das Knotenmuster entlang der Nähte wiederholte sich auf dem breiten Riemen, mit dem die Tasche quer über den Rücken getragen wurde. Tom hatte ebenso wie Theas Familie längst aufgegeben, zu versuchen sie davon zu überzeugen, die Tasche auch einmal stehen zu lassen. Seit über einem Jahr war Thea nicht mehr ohne sie anzutreffen.

Nur hin und wieder öffnete Thea den kreisrunden Deckel und holte den Fotoapparat und das Stativ hervor, um ein paar Bilder zu schießen. In Anbetracht dessen, dass Thea eines der besten Fotohandys besaß, war das Mitführen des Köchers inklusive Fotoausrüstung für andere schwer nachvollziehbar. Doch was niemand wusste, war, dass Thea diese Tasche von den Walküren geschenkt bekommen hatte, den Schildjungfern Odins. Thea war Hüterin Kyndills, eines magischen Schwertes, das die Macht besaß, Götter zu töten. Sie selbst hatte das Schwert einst in einem anderen Leben geschmiedet und es schließlich, als Thea, von den Riesen zurückgewonnen. Seither war sie dafür verantwortlich, dass es nicht erneut verloren ging, und es war allein an ihr, dass es nicht in falsche Hände geriet. Deshalb trug sie das Schwert jederzeit mit sich. Nur Juli kannte das Geheimnis, denn sie hatte Thea bei ihrem Abenteuer mit Thor und Wal-Freya begleitet.

Tom beobachtete Theas Handlung, ohne sie zu kommentieren. Während sie die Treppe hinab sprang, folgte er ihr langsam. Als Thea an seinem Wagen stand, betätigte er den Schlüssel und Thea saß noch vor ihm im Auto.

„Heute legst du die Füße bitte nicht auf das Armaturenbrett. Ich habe gestern geputzt!“, grunzte er und fuhr zur Veranschaulichung mit der Hand dessen Konturen nach.

„Zu Befehl, Tribun!“, erwiderte Thea und lachte. „Ich tue doch fast alles, wenn du den Kaffee zahlst.“

Mit einem Schmunzeln startete Tom den Wagen. Eine viertel Stunde später liefen sie bereits durch das Einkaufszentrum. Menschenmassen schoben sich durch die Passage, an der sich Geschäfte mit hohen Schaufenstern und kunstvoll dekorierten Auslagen reihten, um Kunden zu locken. Thea ließ ihre Blicke an den Geschäften vorüber schweifen, blieb hier und da stehen und schlenderte doch jedes Mal weiter. Zuletzt war es Tom, der an einem Sportgeschäft hängen blieb und fröhlich auf ein weißes Mountainbike mit einem ungewöhnlich geschwungenem Rahmen zeigte. Allerlei Federungen und zusätzliche Anbauten, von denen Thea nichts verstand, ließen das Rad futuristisch wirken, ebenso der Preis.

„Für das Geld kaufen sich andere ein Auto“, kommentierte Thea trocken und legte den Kopf schief, um die Beschreibung zu entschlüsseln. „Rock-Shox-Reverb-Stealth-Vario-Stütze“, las sie stockend vor und rümpfte die Nase.

Tom lachte. „Tja! Fahrräder sind eben nicht mehr nur Fahrräder!“ Er klopfte ihr freundschaftlich auf die Schulter. „Komm! Wir sind schließlich zum Kaffee trinken hier und nicht, um mir ein neues Fahrrad zu suchen!“

Thea warf einen letzten Blick auf das Mountainbike, dann folgte sie Tom, der bereits auf das Café zusteuerte. In gemeinsamer Vorfreude traten sie durch die Tür. Die Tafel mit der Auswahl fest im Blick, stellten sie sich in die Reihe und warteten geduldig, bis sich die Menge voranschob und sie die Theke erreichten. Thea überflog die Tafel mit dem Kaffeeangebot und bestellte einen Caramel Macchiato, Tom einen Flavored Latte. Dazu nahmen beiden einen Double Chocolate Muffin, ehe sie sich in die Sessel einer Sitzgruppe fallen ließen.

„Das war die beste Idee, die du heute hattest“, lobte Thea. Sie rührte in ihrem Kaffee und legte das Holzstäbchen zur Seite.

„Ich muss doch ausnutzen, dass Juli nicht da ist. Sonst würdet ihr mit der Begründung, dass ihr irgendein Mädchenzeugs besprechen müsst, ohne mich herkommen.“

„Das stimmt nicht!“, wehrte Thea mit einem Lächeln ab.

„Natürlich!“, lachte Tom.

Thea beobachtete die Schlange entlang der Theke und die dahinter arbeitenden Mitarbeiter in ihren grünen Schürzen. Sie vermisste Juli. Ihre Freundin war erst wenige Tage im Urlaub, aber es kam Thea schon jetzt vor wie Wochen. Kurzerhand zückte sie das Handy.

Du verpasst gerade Kaffee bei Starbucks, tippte sie rasch eine Nachricht.

Es dauerte nicht lange, da traf die Antwort ein: Wie toll! Und du verpasst gerade ein langweiliges Mittagessen in der Taverne Achilleon.

Thea lachte und legte das Handy neben sich.

Interessiert beugte sich Tom über den Tisch. „Was schreibt sie?“

„Sie beschwert sich.“ Thea zuckte mit den Schultern und nippte an ihrem Becher.

Tom lachte. „Sie beschwert sich immer!“ Er holte ebenfalls sein Handy hervor und ließ seine Daumen über den Bildschirm sausen.

Sag Tom, er kann mich mal ;) floppte eine weitere Nachricht vor Theas Augen auf.

„Ärgerst du sie?“, fragte Thea. Sie kniff in einer gespielt empörten Geste die Augen zusammen.

„Ich habe ihr gesagt, wir leveln so ausdauernd, dass wir ihr fünf Erfahrungsstufen voraus sein werden, bis sie wieder da ist.“

„Das können wir gar nicht. Die neuen Stufen sind nicht freigeschaltet“, erwiderte Thea.

„Das weiß doch Juli nicht“, neckte Tom.

„Sie schaut es augenblicklich nach, glaub mir.“

Tom kostete von seinem Kaffee. „Stell dir mal vor, sie würden es morgen freischalten, das wäre so lustig.“

Thea verschränkte die Arme. „Nein, wäre es nicht. Juli kann nichts dafür, dass ihre Eltern sie neuerdings überall mit hin schleifen.“

Herausfordernd biss Tom in seinen Muffin. „Genauer gesagt könnt ihr beide etwas dafür“, erinnerte er.

„Das war vor über einem Jahr! Julis Eltern könnten aufhören, so nachtragend zu sein.“

Tom lachte. „Na ja. Also wenn ich für zwei Wochen spurlos verschwinden und meinen Eltern erzählen würde, dass ich auf einem Festival gewesen bin, würden sie mich bis ans Ende meines Lebens einsperren.“

„Hör endlich auf, über diese Sache herzuziehen“, erwiderte Thea verstimmt.

Entschuldigend hob Tom die Hände. „Schon gut, tut mir leid. Ich bin ja nur sauer, dass ihr mich nicht eingeweiht habt. Ich sag’s doch: Immer macht ihr solchen Mädchenkram und schließt mich aus.“

„Klar!“, stimmte Thea spöttisch zu.

„Jetzt sei nicht sauer!“ Tom warf sich in seinen Sessel zurück.

„Bin ich nicht! Ich kann es nur nicht leiden, wenn du immer wieder darauf herumreitest.“

Tom hob die rechte Hand und streckte Zeigefinger und Mittelfinger hoch, während er die linke Hand aufs Herz legte. „Ich schwöre, dass ich es nie wieder ansprechen werde.“

Thea lachte versöhnt. „Das kannst du doch sowieso nicht halten!“

Verschmitzt grinste Tom und zog die Schultern hoch. „Vielleicht nicht, aber ich kann es versuchen.“

Sie aßen ihre Muffins und tranken den Kaffee aus. Auf dem Weg zurück zum Auto kehrten sie kurzerhand in einem Imbiss ein, bestellten sich zwei Pizzas und gönnten sich abschließend noch einen Nachtisch. Erst dann fuhren sie zurück.

Auf der Fahrt über die Landstraße legte Thea nun doch die Füße auf das Armaturenbrett, was Tom mit einem widerstandslosen Schmunzeln zur Kenntnis nahm. Thea begegnete seinem Blick mit einem herausfordernden Lächeln. Er konnte ihr einfach nichts abschlagen. Sie schwiegen, bis Tom in die Straße zu Theas Haus einbog.

„Willst du vielleicht doch noch eine Runde spielen?“, fragte Thea entgegen ihres ersten Plans.

Tom lächelte einverstanden. „Deine verlorenen Erfahrungspunkte wieder gut machen?“

„Das wäre schön“, erwiderte Thea.

Tom parkte auf dem Seitenstreifen und stellte den Motor ab. „Dann los!“

Erfreut quiekend riss Thea die Autotür auf und eilte voraus. Sie ließ die Eingangstür für Tom geöffnet und nahm zwei Treppen auf einmal in ihr Zimmer. Im Vorbeigehen schaltete sie erst Toms Laptop an und fuhr dann ihren eigenen Computer hoch. Als Tom das Zimmer betrat, begrüßte ihn bereits der Startbildschirm. Mit einem amüsierten Kopfschütteln warf er seine Jacke aufs Bett und setzte sich an seinen Platz. Rasch hatten sich die beiden in das Spiel eingeloggt. Von feindlichen Spielern weit genug entfernt, fanden sie Monster zum Jagen. Die Zeit flog dahin, während die Erfahrungspunkte langsam zurück auf Theas Spielerkonto krochen. Sie hatten schon beinahe alle verlorenen Punkte des Vormittags zurück erkämpft, als lange Zeit später Theas Mutter den Kopf durch die Tür steckte, eine blonde Frau, mit lachenden blauen Augen. Ihre Erscheinung erinnerte Thea oft an einen Engel. Häufig fragte Thea sich, wer ihr den roten Haarschopf vererbt hatte, denn sie war die einzige in ihrer Familie mit rotem Haar. Weder Mats, ihr kleiner Bruder, noch ihr Vater konnten mit dieser Farbe aufwarten.

„Ihr seht noch genauso aus, wie ich euch heute Morgen verlassen habe. Habt ihr auch irgendwann eine Pause gemacht?“, begrüßte Frau Helmken die beiden.

Thea wandte den Blick vom Bildschirm und äugte über die Lehne ihres Stuhls. „Ja. Wir waren im Einkaufszentrum Kaffee trinken und haben noch eine Pizza gegessen.“

Ihre Mutter trat nun ganz ein. „Oh wie schade. Da muss ich wohl alleine zu Abend essen.“

„Du hast Papa und Mats also erfolgreich am Bahnhof abgesetzt?“, scherzte Thea.

Frau Helmken lachte. „Absolut! Fast hätten sie noch den Zug verpasst, weil Mats seinen Teddybären verloren hat. Wir fanden ihn im Auto. Das war eine Aufregung! Aber es ist geschafft, Mission abgeschlossen! Für die nächsten zwei Wochen haben wir einen männerfreien Haushalt.“ Sie sah zu Tom und entschuldigte sich lachend. „Beinahe, jedenfalls.“

„Ihr Mann ist weg?“, staunte Tom.

„Er ist mit Mats zu seinen Eltern. In zwei Wochen, wenn ich Urlaub habe, fahren Thea und ich nach. Hat sie das nicht erzählt?“

„Doch. Aber ich dachte, sie fahren alle zusammen“, erwiderte Tom. Er sah zurück auf den Bildschirm und klickte ein angreifendes Monster an. Tribun führte ein paar gekonnte Schläge aus.

„Nein. Ich hatte keinen Urlaub bekommen“, erklärte Frau Helmken. Sie winkte ab. „Ich werde mir mal was zu essen machen. Was ist mit euch?“

„Danke, Mama. Wir sind satt.“ Thea richtete ihren Blick zurück auf den Bildschirm, weil Tom ihren Namen nannte. Rasch führte sie einen Heilzauber über seiner Figur aus und betäubte ein Monster mit Schlafzauber.

„Spielt nicht wieder so lange! Ihr werdet sonst noch dämlich von diesem Zeugs“, scherzte ihre Mutter.

„Das sagst du immer, Mama!“

Frau Helmken lachte. „Das kann man euch nicht oft genug sagen“, versetzte sie im Gehen und zog die Tür hinter sich zu.

„Wie schafft man es, so eine Mutter zu bekommen?“, fragte Tom, während er gebannt auf den Bildschirm starrte und seiner Figur neue Befehle erteilte.

„Zwei Leben als rechtschaffener Mensch gelebt, vermutlich“, erwiderte Thea.

Tom lachte abwehrend, doch er konnte nicht ahnen, wie ernst es Thea damit war.

Ihre Anwesenheit in der Spielwelt rief die „Eternal Dragons“ auf den Plan. Obwohl sie sich fest vorgenommen hatten, die Master-Quest in den nächsten Tagen zu meiden, drängelten einige ihrer Gildenmitglieder so lange, bis sich Tom und Thea dazu bereit erklärten, eine Gruppe zur Drachenstatue zu begleiten. Thea, schon völlig übermüdet, heilte die Gruppe gut, doch wie am Vormittag lauerten ihnen feindliche Spieler auf und nahmen die Gilde in die Zange, während diese noch mit dem Endboss kämpfte. Viele Gildenmitglieder brachen augenblicklich auf, um zu helfen, aber für Thea war es abermals zu spät. Als drei Gegner sie gleichzeitig angriffen, nahm ihr Lebensbalken so rasch ab, dass sie nur noch verzweifelt um Hilfe rufen konnte. Wie so oft warf Malefiz aber den Heilzauber nicht schnell genug. Ihre Figur fiel und mit Fengurds Tod verlor Thea die gesamte Erfahrung, die sie nach ihrer letzten Pleite zurückgewonnen hatte.

Verärgert warf sie sich in ihren Stuhl zurück. „Heut ist nicht mein Tag!“, knirschte sie.

„Tut mir leid. Malefiz ist wirklich eine Niete!“, erwiderte Tom.

Thea spähte über Toms Rücken und verfolgte den Kampf auf seinem Laptop, da ihre Spielfigur fern des Geschehens zu neuem Leben erwacht war.

Thea! Völlig unerwartet nahm sie eine Stimme in ihrem Geist wahr. Es war eine vertraute Stimme und doch zuckte Thea zusammen. Ihre Hand griff unwillkürlich zu dem Amulett an ihrem Hals. Der runde Anhänger mit dem Knotenmuster und den drei ineinandergreifenden Monden war ungewöhnlich heiß. Mit gerunzelter Stirn sah sie sich nach Tom um. Noch immer starrte dieser auf seinen Bildschirm, klickte die Maus und verfolgte das Spiel. Er schien nichts Ungewöhnliches bemerkt zu haben. Thea nahm das Headset vom Kopf, um die Gilde aus ihrem Ohr zu bekommen. Konzentriert lauschte sie in die Stille hinein, aber nur das Klicken von Toms Maus und hier und da ein paar von ihm ausgestoßene Flüche waren zu hören.

„Ich gehe mir etwas zu trinken holen“, erklärte sie.

„Mach das. Hier kannst du gerade nicht helfen“, bestätigte Tom.

„Keinen Finger werde ich mehr für Malefiz krümmen“, prophezeite Thea verstimmt. Dabei spielte sie nachdenklich mit dem Amulett und betrachtete es. Hatte ihre Einbildung ihr einen Streich gespielt? Schon stand sie auf, packte in der Bewegung die Schwerttasche und warf sie sich über den Rücken.

„Wohin willst du denn jetzt damit?“, fragte Tom verblüfft.

„Nur was nachsehen“, antwortete Thea abwehrend.

Tom runzelte die Stirn, beließ es aber bei dieser Geste und kümmerte sich wieder um das Spiel.

Thea bedachte ihn mit einem flüchtigen Blick und nahm die Treppe nach unten. Sie erwischte sich dabei, dass sie noch immer nachdenklich an dem Amulett fingerte.

Erst als sie sich in sicherer Entfernung befand, wagte sie es, in Gedanken den Namen der nordischen Göttin zu rufen. Wal-Freya? Wehmütig dachte sie an die oberste der Walküren zurück, die ihr das Amulett nach ihrem gemeinsamen Abenteuer überlassen hatte. In Niflheim hatte sie es Thea anvertraut und ihr gesagt, dass sie damit stets in Verbindung stehen würden. Es war ein Teil von Wal-Freyas magischer Halskette Brisingamen und mit Magie belegt. Seit sie zurück in Midgard war, hatte Thea keinen Kontakt mehr mit der Liebesgöttin und obersten der Walküren gehabt, zumindest glaubte sie das.

„Wal-Freya?“,rief sie abermals, aber sie vernahm keine Antwort. Möglicherweise hatte sich Thea geirrt und ihr Wunsch nach einer Botschaft hatte ihr einen Streich gespielt.

In der Küche angekommen, öffnete sie den Kühlschrank. Sie schenkte sich gerade ein Glas Orangensaft ein, da klopfte es an die Haustür. Stirnrunzelnd sah Thea auf die Uhr. Es war mitten in der Nacht! Sie stellte das Glas ab, ging zur Tür und öffnete diese ein Stück. Sofort befand sich eine Hand im Spalt, welche die Tür gegen Theas Willen aufdrückte. Überrumpelt stolperte Thea zurück. Atemlos beobachtete sie, wie eine Person an ihr vorbei eilte. Dunkle Haare wehten lang um ihre Schultern, eine weiße Strähne zog sich entlang der Stirn und steckte mit einem Teil des restlichen schwarzen Haares hinter dem linken Ohr. Ein schwerer Umhang wehte um ihre Stiefel, mit denen die Person geradewegs ins Wohnzimmer schritt. Sofort kehrte sie zurück, spähte in die Küche und öffnete die Tür des Gästeklos, um auch dort einen Blick hineinzuwerfen. Erst dann trat die Frau auf Thea zu und nahm sie zur Begrüßung in den Arm.

„Thea! Wie geht es dir?“

„Wal-Freya“, staunte Thea und erwiderte die Umarmung.

Die Walküre betrachtete Thea eine Armlänge entfernt. Eine Weile sahen sie sich einfach nur an, froh einander wieder zu sehen. Dann fuhr Wal-Freyas Hand über den Riemen auf Theas Brust. „Du hast es bei dir, sehr schön!“ Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. „Du bist gewachsen! Gut siehst du aus.“

„Das kann ich nur erwidern. Aber du bist nicht den ganzen Weg aus Asgard gekommen, um mir das zu sagen!“, erwiderte Thea überrumpelt.

Wal-Freya schüttelte den Kopf. „Nein, gewiss nicht.“ Ihre Miene wurde für einen Augenblick von Sorge überschattet, dann lächelte sie aufmunternd. „Lass uns sitzen! Ich bin ganz scharf auf einen Kaffee.“

Thea musste lachen. „Auf einen Kaffee?“ Sie ging in die Küche, nahm eine Tasse aus dem Schrank und stellte sie unter den Auslauf der Maschine. „Ihr seid Götter. Es sollte euch irgendwie gelingen, Kaffee in Asgard zu kochen.“

Lachend legte Wal-Freya einen Arm über den Kopf. „Wir reisen gerne nach Midgard und trinken Kaffee.“

„Ich hörte, der soll besonders gut in Italien sein“, erwiderte Thea keck.

Wal-Freya faltete schmunzelnd die Hände hinter dem Kopf und lehnte sich im Stuhl zurück. „So, hast du das? Ich hörte, bei dir soll er auch besonders gut sein und das bei hervorragender Gesellschaft.“

Das Mahlwerk unterbrach sie. Thea wartete, bis Milch und Kaffee sich dampfend vermischten, dann nahm sie das Getränk aus der Maschine. Mit einer angedeuteten Verbeugung stellte sie die Tasse vor Wal-Freya ab. Diese bedankte sich, umfasste das Gefäß mit beiden Händen und hielt seufzend die Nase darüber.

„Dieser Geruch ist so einzigartig!“

Theas Herz klopfte gleichzeitig vor Freude und Aufregung. Erwartungsvoll nahm sie neben der Wanin Platz. Diese nippte an der Tasse und sah Thea über den Becherrand an.

„Ich wollte nach dem Rechten sehen“, erklärte sie, als Theas Blick fordernder wurde.

Thea klangen noch immer die Worte der Walküre in den Ohren, die sie damals zum Abschied gesprochen hatte und welche eine Aussicht auf ein Wiedersehen völlig unwahrscheinlich erscheinen ließen. Sie war sich sicher, dass Wal-Freya nicht gekommen war, um einen Kaffee zu trinken. Geduldig wartete sie, bis Wal-Freya einen weiteren Schluck aus ihrer Tasse genommen hatte, dann hob Thea die Augenbrauen und legte den Kopf zur Seite.

„Fenrir ist entkommen“, erklärte Wal-Freya endlich.

Theas Augen weiteten sich. „Fenrir? Aber … Oh mein Gott!“

Unwillkürlich sprang Thea auf. Fenrir, der Wolf, der sich am Weltenende von seiner Kette losriss! Der Ragnarök brachte! In einer einzigen Sekunde schossen ihr tausend Gedanken durch den Kopf.

Wal-Freya machte eine beschwichtigende Handbewegung und zog Thea zurück auf den Stuhl. „Keine Sorge, nichts ist passiert!“

Thea legte die Hände über dem Tisch zusammen und versuchte ruhig zu atmen. „Ich verstehe nicht. Fenrir frei … wie das?“

Wal-Freya schüttelte leicht den Kopf. „Niemand kann es erklären.“

„Odin?“, fragte Thea vorsichtig.

„Erfreut sich bester Gesundheit. Fenrir hat nicht versucht, ihn anzugreifen. Er lief geradewegs davon.“

Thea rieb sich die Augenbrauen. „Was hat das zu bedeuten?“

„Niemand weiß es.“

„Besagt die Weissagung der Völva nicht das Ende der Welt, wenn Fenrir frei ist?“ Verlegen knetete Thea ihre Finger. „Verzeih, ich konnte mir die ganzen Lieder schon nicht merken, als ich noch unter den Wikingern lebte. Aber wenn Fenrir sich losreißt, ist die Schlacht auf dem Idafeld doch schon in vollem Gange?“

„Wigrid“, verbesserte Wal-Freya. Sie schüttelte den Kopf. „Da geben wir dir das Wissen gleich zweier Leben zurück, damit sie dir in diesem nützlich sind und jetzt sagst du mir, Fengur hat das nie gewusst? Njal etwa auch nicht?“

Thea hob in einer Geste des Bedauerns die Hände.

„Sei es drum. Die Prophezeiung scheint ohnehin hinfällig zu sein. Seit Loki sein Schicksal änderte, ist alles aus den Fugen geraten.“

„Ich werde Kyndill jetzt noch aufmerksamer bewachen“, versprach Thea, die vermutete, dass die Walküre aus diesem Grund nach Midgard gereist war.

Ertappt hob Wal-Freya die Augenbrauen. „Ehrlich gesagt wollte ich dich bitten, uns bei der Suche nach Fenrir zu unterstützen …“

„Was?“, rief Thea aus und legte erschrocken die Hand auf den Mund, da sie fürchtete, mit ihrem Schrei das ganze Haus geweckt zu haben. Sofort senkte sie die Stimme: „Weißt du, was beim letzten Mal hier los war, als wir zurückgekehrt sind? Julis Eltern hatten schon zwei Tage, nachdem sie nichts von ihr hörten, die Polizei informiert. Kaum standen die Beamten vor unserer Tür, um nach ihr zu suchen, war es wohl auch mit deinem Zauber vorbei. Meine Mutter ist durchgedreht. Die Polizei hat eine Großfahndung nach uns eingeleitet. Juli und ich durften uns zwei Monate lang nicht mehr sehen. Meine Mutter hat mich zur Schule gebracht und wieder abgeholt! Wegen Vertrauensverlust, sagte sie. Es war entwürdigend!“

„Verstehe ich nicht. Sie hätten doch froh sein müssen, dass ihr wieder da gewesen seid“, staunte Wal-Freya.

„Das waren sie für eine Minute. Das legte sich aber rasch, als wir ihnen erzählten, dass wir uns davongestohlen haben, um ein Festival zu besuchen“, erwiderte Thea.

„Ein … Festival?“ Wal-Freya hob ungläubig die Augenbrauen. „Warum erzählt ihr so etwas?“

„Hätten wir behaupten sollen, wir seien entführt worden?“

Wal-Freya nippte an ihrem Kaffee. „Wir hatten euch doch entführt“, erwiderte sie ungerührt.

„Und das hätten wir dann bei der Polizei angegeben? Entschuldigen Sie, wir sind nach Asgard entführt worden, von Thor und Wal-Freya.“

Wal-Freya lachte und erntete einen bösen Blick von Thea. Die Walküre verschränkte die Arme. „Es hätte der Wahrheit entsprochen.“

„Das hätten sie uns doch nie geglaubt!“

Wal-Freya schmunzelte amüsiert. „Wie gerne hätte ich das Gesicht des Beamten gesehen, wenn du ihm das erzählt hättest!“

„Genau deswegen! Wir hätten als Lügner dagestanden, obwohl es der Wahrheit entsprach!“

Wal-Freya runzelte die Stirn. „Du hattest doch schon Tage vorher bei der Polizei angegeben, dass dich ein Thor belästigte. Warum hätten sie es nicht glauben sollen? Mit der Entführungstheorie wäre euch eine Menge Ärger erspart geblieben.“

„Wir dachten, es sei unehrlich und es wäre die beste Idee, es so zu lösen.“

„Ihr wolltet ehrlich sein mit einer Lüge? Das ist doch absurd!“

Thea hob abwehrend die Hände. „Wir konnten ja nicht ahnen, dass fast 500 Beamte tagelang jeden Stein nach uns umgedreht haben. Meine Mutter dachte tatsächlich an eine Entführung. Das ganze Umland war in Aufruhr.“

„Verständlich. Und dass sie dann durchgedreht sind, wenn ihr erzählt, dass ihr einen Ausflug gemacht habt, ist noch verständlicher! Das ist dein drittes Leben, Thea, und trotzdem ist dir nichts Besseres eingefallen?“, konterte Wal-Freya vorwurfsvoll und nahm einen Schluck aus ihrer Tasse. „Wo ist Juli jetzt?“

„Ihre Eltern haben sie auf eine Geschäftsreise mitgenommen. Sie ist schon zwei Wochen vor Ferienbeginn abgereist. Ihre Eltern haben geschworen, sie nicht mehr alleine zu Hause zu lassen, bis sie achtzehn Jahre alt ist.“

Wal-Freya holte Luft, um zu antworten, verharrte aber augenblicklich, als sie Tom im Türrahmen stehend entdeckte. Überrascht runzelte er die Stirn.

Thea fuhr auf und sprang von ihrem Stuhl. „Tom!“

„Guten Tag“, grüßte er Wal-Freya höflich und blickte verunsichert zu Thea. „Ich habe mich gefragt, wo du bleibst.“

Die Frage hinter seiner Erklärung füllte den Raum, wie der Duft des Kaffees.

„Das ist …“, Thea suchte verzweifelt nach einer Ausrede. „Tante Freya. Sie liebt Rollenspiele.“

Wal-Freya senkte den Kopf, runzelte die Stirn und sah Thea prüfend an, während Tom seinerseits Blickkontakt mit der fremden Frau suchte.

„Rollenspiele?“, hörte Thea die Stimme der Walküre vorwurfsvoll in ihrem Geist. Thea schnappte nach Luft. Es war Brisingamen, das ihr und Thea die Macht dazu verlieh, in der Gedankensprache zu sprechen. Thea hatte die Fähigkeit während ihrer Reise in Niflheim erworben, dennoch war es ihr nach so langer Zeit fremd. Sie bereute ihre rasch gesuchte Antwort, hätte sie doch mit Wal-Freya im Geheimen eine gemeinsame Geschichte finden können, die sie Tom dann präsentierte.

„Bitte Wal-Freya, mach mit! Ich weiß nicht, wie ich Tom das erklären sollte!“, flehte Thea.

„Live Rollenspiel, oder? Coole Sache! Wo machen Sie das?“, fragte Tom interessiert und nahm ohne Umschweife am Tisch Platz.

Mit einem herausfordernden Lächeln zu Thea lehnte sich Wal-Freya zurück. „In Asgard“, erklärte sie ungerührt.

Thea atmete hörbar ein. Schon lehnte sich Tom vor. In seinen Augen blitzte Begeisterung. „In Asgard? Heißt so Ihre Spielwelt? Ist das nicht eine Götterstadt?“

Mit einem Zucken der Augenbrauen erwiderte Wal-Freya: „Genau genommen ist es die Götterstadt.“ Abermals blickte sie provozierend zu Thea.

Diese stand schon hinter Toms Stuhl, um ihn mit einem Rütteln an der Lehne zum Aufstehen zu bewegen. „Vielleicht könnt ihr das ein anderes Mal besprechen“, wehrte sie ab. „Es ist Zeit für dich zu gehen, Tom! Meine Mutter wird bald aufstehen.“

„Hey, bleib locker! Du tust gerade so, als würde ich das erste Mal bei dir am Frühstückstisch sitzen“, lachte Tom.

Wal-Freya hob die Augenbrauen und sah zu Thea, die abwehrend die Hände vor den Körper streckte. „Nicht was du jetzt denkst!“

Wal-Freya spitze die Lippen. „Ach? Nicht?“ Sie musterte Tom. „Das ist doch ein gut aussehender junger Mann. Den solltest du dir nicht entgehen lassen. Schwarze Strubbelhaare, ein süßes Bärtchen. Er erinnert mich an einen Musketier, den ich mal kannte.“

Da ihm die Röte ins Gesicht stieg, senkte Tom den Kopf, strich sich durchs Haar und brachte dabei scheinbar ein paar Wirbel in Form. „Vielleicht sollte ich wirklich gehen“, lenkte er diplomatisch ein.

„Genau! Ich denke nicht, dass jetzt die Zeit dafür ist, das zu besprechen“, wehrte Thea ab.

Schmunzelnd lehnte sich Wal-Freya in ihren Stuhl zurück. „Wir haben schon noch ein wenig Zeit. Also mich würde es interessieren“, sagte sie herausfordernd. „Ich bin schließlich auch Liebes…“

„Noch einen Kaffee?“, unterbrach Thea sie rasch, wirbelte herum und nahm Wal-Freya die Tasse aus den Händen. „Warum tust du das?“, fragte sie dabei in der Gedankensprache und sah sie durchdringend an.

„Ich bin interessiert an deinem Leben, das ist alles“, rechtfertigte sich Wal-Freya und setzte eine Unschuldsmiene auf.

„Du bist eine Göttin! Du weißt doch, was los ist!“

„Glaubst du, ich schwirre die ganze Zeit über dir und gucke zu, wie du dein Leben gestaltest?“

Tom erhob sich. „Ich hole meine Sachen.“

Wal-Freya beobachtete, wie sich Tom aus dem Stuhl hob. Aus dem Flur waren seine Schritte zu vernehmen, als er die Holztreppe in den ersten Stock nahm.

„Willst du mich in Schwierigkeiten bringen? Wenn dir daran gelegen ist, dass Kyndills Geheimnis gewahrt bleibt, solltest du in Gegenwart meiner Freunde vorsichtiger sein!“, murrte Thea.

„Ich konnte doch nicht ahnen, dass du so früh am Morgen noch Besuch hast“, erwiderte Wal-Freya. Wieder sah sie Thea mit diesem Blick an.

Diese rollte die Augen, stellte die Tasse unter den Auslauf und ließ erneut einen Kaffee für Wal-Freya aus. „Komm am besten mit hinauf. Wenn meine Mutter aufwacht, komme ich erstrecht in Erklärungsnöte“, seufzte Thea. Sie nahm die Tasse und lief voraus. Kaum im Flur angekommen, stolperte sie geradewegs in ihre Mutter hinein, der Kaffee schwappte über den Rand der Tasse und landete in einem braunen Fleck auf dem Boden.

„Mama!“, stieß Thea aus.

„Thea! Was machst du hier so früh? Und wer ist das?“ Frau Helmken spähte über Theas Schulter in die Küche.

„Das ist … Frau Dahlberg. Von meiner Schule.“

Misstrauisch runzelte Frau Helmken die Stirn. „Deine Lehrerin? Um diese Zeit? Es sind Ferien!“, schnappte sie.

Tom, der gerade auf der Treppe erschien, die rechte Hand am Riemen seines Rucksacks, verharrte staunend. Thea sah das Kartenhaus, das sie gerade mühevoll errichtet hatte, mit einem Mal zusammenbrechen.

„Geschichte“, kam Tom unerwartet zu Hilfe.

Missbilligend hob Frau Helmken den Blick zur Treppe. „Tom! Habt ihr schon wieder die ganze Nacht mit diesem Spiel verbracht?“

„Eigentlich nicht. Ich bin nur wegen Frau Dahlberg da. Wir haben doch heute Exkursion.“

„Er hat keine Ahnung, was gerade vor sich geht und dennoch springt er für dich in die Bresche“, zollte Wal-Freya Anerkennung und verschränkte die Arme vor der Brust. „Einen schnellen Geist hat er außerdem.“

„Ich sterbe gleich!“, ächzte Thea.

„Exkursion? Heute ist euer dritter Ferientag! Und es ist gerade sieben Uhr!“ In jedem einzelnen Wort, das Frau Helmken sprach, klang so viel Misstrauen, dass es Thea beinahe das Herz zerriss. Zu oft hatte sie ihre Mutter im letzten Jahr angelogen. Sie hasste es, aber wieder einmal war es nötig.

„Das ist eine Ferien-AG. Völlig freiwillig“, merkte Thea an.

„Geschichte der Wikinger“, stimmte Tom zu.

„Richtig! Und wir müssen jetzt wirklich los“, erwiderte Thea. Schon setzte sie sich in Bewegung, da hielt sie Frau Helmken fest.

„In Hausschuhen? Es gibt keine Ferien-AGs! Was wird hier gespielt, Thea? Wir haben doch darüber gesprochen, dass du ehrlich sein sollst!“ Der aufkommende Zorn spiegelte sich sowohl in der Stimme ihrer Mutter, als auch in ihrem Gesicht wieder.

Wal-Freya legte ihre Hand auf die von Frau Helmken und löste sanft ihren Griff von Theas Arm. „Lass gut sein“, sprach sie Frau Helmken direkt an. „Wir werden dir alles erklären.“

Argwöhnisch runzelte Frau Helmken die Stirn. Sie ließ sich aber überraschenderweise ohne Widerstand von Wal-Freya in die Küche und auf einen der Stühle führen.

„Was hast du vor?“, rief Thea in der Gedankensprache.

„Mir missfällt, wie du dich quälst. Es wird Zeit, reinen Tisch zu machen“, erwiderte Wal-Freya. Sie nahm gegenüber von Theas Mutter Platz und wies Thea und Tom mit einer Geste an, sich ebenfalls zu setzen. Seufzend faltete sie die Hände auf der Tischplatte und nahm Frau Helmken in ihrem Blick gefangen.

„Es wird Zeit, dir die Wahrheit über den Verbleib deiner Tochter im letzten Jahr zu erzählen“, begann Wal-Freya.

Thea setzte sich protestierend gerade, doch Wal-Freya hob die Hand.

„Vertraue, Thea“, mahnte Wal-Freya in ihrem Geist und Thea ließ die Dinge geschehen, wechselte aber nervöse Blicke zu ihrer Mutter und zu Tom.

„Was soll das? Ich hole meinen Mann!“, wehrte Frau Helmken ab. Schon im Aufstehen legte Wal-Freya schnell die Hand auf die der Mutter, sodass sie verharrte.

„Ich weiß von den alten Geschichten, die dir dein Großvater immer erzählte, den Geschichten von Odin, Thor und Loki“, sagte sie sanft.

Der zornige Ausdruck im Gesicht ihrer Mutter wechselte in offenes Staunen. Unwillkürlich nahm sie wieder Platz.

„Janish war sein Name, nicht wahr? Er war ein gutherziger Mann.“

Ruckartig drehte Frau Helmken ihren Kopf zu Thea, die den ihren verlegen senkte.

„Wer sind Sie? Was wird das?“, fragte sie fordernd, doch Furcht klang nun in ihrer Stimme.

„Ich kannte Janish gut. Vor der Hochzeit mit deiner Großmutter bat er nicht nur um Thors Segen. In deiner Familie ging der Glaube an die alten Götter erst mit dieser Heirat verloren.“ Wal-Freya schnalzte mit der Zunge. „Deine Großmutter war ganz und gar katholisch. Doch Janish bewahrte den Glauben, den er so sehr liebte. Deshalb erzählte er dir die Geschichten von den alten Göttern.“

Wieder spürte Thea den Blick ihrer Mutter auf sich, aber sie wagte nicht, den Kopf zu heben. Schwer atmend starrte sie auf die Tischplatte. Zwischen den Strähnen ihrer roten Haare sah sie, dass sich Frau Helmken nervös die Hände rieb. Was mochte jetzt in ihrer Mutter vor gehen? Würde sie Wal-Freya Glauben schenken, oder jeden Moment um Hilfe schreien? Tom ließ sich nicht anmerken, was er fühlte, doch auch er wechselte den Gesichtsausdruck zwischen Staunen und Unglauben.

„Nun ist es an dir, diesen Glauben zu bewahren, Mirjana. Als Thea und Juli vor einem Jahr verschwanden, da waren sie nicht …“ Nun blickte auch Wal-Freya für einen Augenblick zu Thea. „… auf einem Festival. In Wahrheit halfen sie mir, Odin und all den anderen Asen einen Gegenstand zurückzuerlangen, der für unser Überleben wichtig ist. Loki suchte nach einem sehr alten, magischen Schwert. Es ist sehr mächtig, das sagten uns die Völven voraus. Über Jahrhunderte versuchten wir, es vor Loki zu entdecken, Thea gelang es schließlich. Sie war mutig und tapfer wie eine Walküre.“

Frau Helmkens Miene versteinerte sich, nur die roten Wangen ließen erkennen, dass Wal-Freyas Worte etwas in ihr auslösten.

„Es mag jetzt alles klingen wie eine verrückte Geschichte. Aber ich weiß, dass du als Kind fasziniert von den alten Göttern gewesen bist. Du magst christlich geheiratet haben, aber als du Thorsten, deinen heutigen Mann, kennengelernt hast, da hast du dich auch bei der Liebesgöttin Freya bedankt. Ich weiß das, denn ich bin Freya, diejenige, die du damals leise angerufen hast.“

Nun legte Frau Helmken die Hände auf den Mund. Thea hob den Kopf und entdeckte, dass ihre Mutter Wal-Freya mit großen Augen ansah. Diese lächelte.

„Es ist wahr. Schau tief in dich hinein, dann siehst du es.“

„Das ist doch nicht möglich“, flüsterte Frau Helmken, nachdem sie die Hände aus dem Gesicht genommen hatte. „Wer hat das eingefädelt, Thea? Dein Vater?“

„Was?“ Thea hob die Augenbrauen.

Wal-Freya lächelte. „Ich sagte doch, dass es kein Scherz ist.“ Sie sah zu Thea und erhob sich. „Zeig ihr Kyndill“, forderte sie Thea auf, während sie um den Tisch lief. Sorgsam zog sie die Vorhänge der Küche zu.

„Was? Aber …“, schnaufte Thea und schickte in der Gedankensprache nach: „Tom!“

„Er ist gerade so liebevoll für dich in die Bresche gesprungen. Er wird dein Geheimnis bewahren. Du willst doch nicht mehr lügen müssen.“

„Nein, das möchte ich nicht.“ Unsicher stand Thea auf und streifte den Schwertköcher von ihrem Rücken. Sie hob den Deckel an, nahm den Fotoapparat heraus und legte ihn neben sich ab. Noch einmal sah sie zu Wal-Freya, die ihr aufmunternd zunickte. Dann umfasste sie Kyndills Griff, verharrte noch einmal und zog das Schwert aus der Tasche. Mit der Bewegung loderten Flammen um die Klinge und setzten Küche und Gesichter der Anwesenden in helles Licht. Frau Helmken und Tom fuhren gleichzeitig in ihren Stühlen zurück. Während das Rauschen der Flammen den Raum füllte, herrschte stilles Entsetzen in ihren Gesichtern.

2. Kapitel

Alle Farben waren aus Frau Helmkens Gesicht gewichen. Der einzige Laut, der die Küche erfüllte, war das Rauschen von Kyndills Flammen. Gebannt verfolgte Tom das Geschehen. Ihm war nicht anzusehen, was er fühlte oder dachte. Ebenso wie ihre Mutter starrte er auf Thea und das lodernde Schwert in ihren Händen.

Einzig Wal-Freya wirkte zufrieden. Sie lehnte an der Wand, die Arme verschränkt, und blickte stolz in die Runde.

„Du hast es vollendet. Es hat einen Griff“, stellte sie fest.

Thea nickte.

Ein Lächeln umspielte die Lippen der Walküre, als sie ihren Blick von Kyndill löste und zu Tom und Frau Helmken sah. „Eine wunderschöne Waffe, nicht wahr? Geschmiedet an einem Wikingerfeuer vor über 1500 Jahren. Ebenso lange war es verloren, blieb seine Zauberkraft unentdeckt. Nur Thea vermag es zu führen und vermutlich Loki. Jeder andere würde sich bei diesem Versuch unweigerlich verbrennen.“

Noch immer waren Tom und Frau Helmken keiner Worte fähig. Seufzend steckte Thea das Schwert zurück in die Tasche, packte den Fotoapparat dazu und schloss sorgsam den Deckel, ehe sie diese wieder über die Schulter warf.

„Thea ist Hüterin des Schwerts. Sie allein ist dafür verantwortlich, dass es nicht in falsche Hände gerät.“

Endlich löste Tom die beklemmende Stimmung auf: „Wahnsinn! Warum hast du das nie erzählt?“

Während Thea die Augenbrauen hob und zu einer Antwort ansetzte, stand ihre Mutter auf.

„Weil ich es ihr verboten hätte!“, sagte sie zornig.

„Das ist nichts, das du hättest entscheiden können“, erwiderte Wal-Freya, ehe Thea sich zu erklären vermochte.

„Warum ausgerechnet sie? Sie ist noch ein Kind!“, rief Frau Helmken.

„Sie ist eine junge Frau“, widersprach Wal-Freya ruhig. „Außerdem hatten weder sie noch wir eine Wahl. Thea war es, die das Schwert einst schmiedete und mithilfe Lokis in eine magische Waffe verwandelte.“

Frau Helmken schnappte nach Luft. „Was? Wann?“

„In einem anderen Leben, vor sehr langer Zeit. Thea mag eine junge Frau sein, aber ihre Seele hat viel erfahren. Zwei ihrer vergangenen Leben haben wir Thea gezeigt. Aber es sind nicht ihre einzigen.“

„Das ist doch absurd! Völlig unmöglich!“

„So unmöglich, wie ein Feuerschwert zu besitzen?“ Wal-Freya trat auf Thea zu und legte den Arm um sie. „Sie hat in unserem letzten Abenteuer bewiesen, dass sie eine großartige Kämpferin ist, des Schwerts und ihrer Aufgabe würdig.“

„Das hört jetzt auf!“, entschied Frau Helmken.

Ein Lächeln huschte über Wal-Freyas Lippen. „Ich verstehe deine Besorgnis, Mirjana. Aber es wird nicht aufhören, so sehr du auch darauf pochst. Thea hat einen göttlichen Auftrag erhalten und sie hat ihn angenommen. Darüber hast du nicht zu entscheiden.“

„Bist du deshalb hier? Um mir das zu sagen? Glaubst du, mir wird es besser gehen, wenn ich es weiß? Ihr bringt meine ganze Familie in Gefahr! Ich werde mein Leben lang kein Auge mehr zutun.“

„Sie hat recht! Was bezweckst du damit?“, rief Thea sie in der Gedankensprache an.

Wal-Freya hob die Hand in Theas Richtung. Dabei ließ sie Frau Helmken nicht aus den Augen. „Ich erzähle dir das, damit du weißt, wo Thea ist. Als wir dich das letzte Mal im Unwissen gelassen haben, hat deine Sorge Dinge entfesselt, die ich diesmal von Thea fernhalten will. Ich möchte nicht, dass Thea wieder in Schwierigkeiten gerät, wenn sie zurückkommt. Damals musste unser Vorhaben unentdeckt von Loki bleiben. Nur darum nahmen wir sie mit, ohne jemanden zu informieren. Verschwiegenheit ist jetzt nicht mehr nötig.“

Frau Helmkens Augen waren mit jedem Wort, das Wal-Freya sprach, größer geworden. „Was soll das heißen, wenn sie wieder zurückkommt?“, fragte sie atemlos.

„Fenrir ist frei. Wir wissen noch nicht, was das zu bedeuten hat. Aber wir sind sehr beunruhigt. Ganz Asgard ist auf der Suche nach ihm. Thea hat sich schon einmal als wertvolle Hilfe erwiesen. Darum möchten Tyr und ich, dass sie uns begleitet.“

„Das verbiete ich!“, rief Frau Helmken. „Thea, du gehst sofort in dein Zimmer und Sie …“, ihr Finger richtete sich auf Wal-Freya, „verlassen augenblicklich mein Haus.“

„Mirjana, ich verstehe deine Sorge …“, lenkte Wal-Freya ein, doch Frau Helmken hatte sie schon unterbrochen.

„Ich sagte raus!“, rief Frau Helmken. Nun war ihr Finger auf die Tür gerichtet.

Mit einem Mal war sie da, die Kriegerin und unnahbare Anführerin der Walküren. Mit verhärtetem Blick und einem Ton, der an der Endgültigkeit ihres Entschlusses nicht zweifeln ließ, verschränkte sie die Arme. „Du sprichst mit einer Göttin, Mirjana. Ich nehme Thea mit! Das werden wir nicht diskutieren!“

Rote Flecken bildeten sich auf Frau Helmkens Hals. „Ich rufe jetzt deinen Vater an!“, brauste sie auf, stürzte in den Flur und kam mit dem Telefon in der Hand zurück. Schon tippte sie die Nummer.

„Ich hätte dir gleich sagen können, dass das schief geht“, sagte Thea. Beunruhigt sah sie zu Wal-Freya.

„Ihr Glaube ist jetzt sehr groß. Ich könnte einen Zauber wirken“, schlug Wal-Freya etwas ratlos vor.

„Nein!“, rief Thea unwillkürlich.

„Oh doch, Liebes!“, erwiderte Frau Helmken, da sie glaubte, Thea habe mit ihr gesprochen.

„Mama bitte! Was soll das bringen? Willst du Papa erzählen, die nordische Liebesgöttin würde an deinem Frühstückstisch sitzen und möchte deine Tochter mit nach Asgard nehmen?“

„Gerade steht sie“, kommentierte Tom trocken. Als er sich unversehens von drei Augenpaaren gefesselt sah, hob er entschuldigend die Hände.

Frau Helmken donnerte das Telefon auf den Tisch. „Was soll ich stattdessen tun? Dich mit ihr gehen lassen? Allein der Gedanke daran dreht mir den Magen um.“

„Warum holen sich Götter überhaupt Hilfe von einem Menschen? Ich meine, ihr seid Götter! Was kann ein Mensch, was ihr nicht könnt?“, fragte Tom.

Seufzend presste Wal-Freya die Lippen zusammen. „Machst du mir noch einen Kaffee?“, bat sie Thea und nahm kurzerhand wieder am Tisch Platz. Frau Helmken folgte ihrem Beispiel. Während Thea sich an der Kaffeemaschine zu schaffen machte, ließ Frau Helmken die Walküre nicht aus den Augen. Erst als Thea die Tasse vor Wal-Freya abstellte und sie ihrer Mutter ebenfalls ein Getränk anbot, hob sie den Blick und schüttelte mit dem Kopf.

„Ich würde einen Kaffee nehmen“, meinte Tom.

Ein weiterer Kaffee lief durch die Maschine und Thea stellte die Tasse vor Tom ab.

Wal-Freya beobachtete geduldig, wie Thea das Wasser der Maschine auffüllte und sich nun selbst einen Macchiato bereitete.

„Ich hoffe, du weißt, dass ich diese Scharade nur dir zuliebe spiele. Ein kleiner Zauber und wir könnten sofort los!“, hörte Thea die Walküre in ihrem Geist.

„Ja, ich weiß. Ich danke dir.“

„Nun … Tom“, holte Wal-Freya das Gespräch zurück. „Es ist nichts Ungewöhnliches daran, dass sich Götter Hilfe von Menschen holen. Ich bin nicht nur Freya, die Liebesgöttin. Ich bin die Oberste der Walküren und als jene als Wal-Freya bekannt. Seit Jahrhunderten führen wir die tapfersten Krieger nach Walhall oder Sessrumnir. Die Menschen werden es sein, die uns in der letzten Schlacht beistehen. Wir nennen sie Einherjer. Ihr Menschen seid viele und für den Schutz, den wir euch gewähren, kann man hin und wieder auch eine Gegenleistung verlangen.“

„Schutz?“

„Vor den Riesen. Siehst du welche hier in Midgard?“

Tom lachte, worauf Wal-Freya die Tasse auf den Tisch stellte und ihn finster ansah. „Da gibt es nichts zu lachen! Die Asen haben die Riesen zum Schutz der Menschen in die äußersten Winkel der Welt verbannt. Vor allem Thor hält sie von Midgard fern.“

Toms Miene erhellte sich. „Der mit dem Hammer?“

Seufzend rollte Wal-Freya die Augen. „Ja! Der mit dem Hammer!“

Thea spürte, dass Wal-Freya allmählich die Geduld verlor. „Das kann er alles nicht wissen“, setzte sich Thea für ihn ein.

„Ich weiß“, erwiderte Wal-Freya abermals seufzend. Sie nippte an ihrem Kaffee. „Thea ist Hüterin Kyndills, einer sehr mächtigen, magischen Waffe. Auch deshalb ist es nicht ungewöhnlich, ihre Hilfe in Anspruch zu nehmen. Um Fenrir zu fangen, werden wir alle Kräfte bündeln müssen. Er ist sehr gefährlich und stark.“

„Noch mehr Gründe, die dagegen sprechen, Thea auf diese Reise zu lassen“, meldete sich Frau Helmken wieder zu Wort.

„Wer ist dieser Fenrir überhaupt?“, lenkte Tom wiederholt ein.

Wal-Freya richtete ihren Blick in eine Ecke des Raumes, so als könne Fenrir jeden Moment aus dem Winkel springen. Den Blick wieder auf Tom gerichtet, antwortete sie geduldig: „Er ist ein Balg Lokis, eine Bestie in Gestalt eines Wolfes, groß und unsagbar gefährlich. Die Völva sagte voraus, dass es Fenrir sein wird, der Odin einst töten wird. Deshalb banden wir ihn mit einem magischen Faden auf der Insel Lyngwe fest. Er hätte sich niemals befreien dürfen, aber er hat es geschafft.“

Tom rümpfte die Nase und wühlte dabei in seinen Haaren. „Ihr verurteilt ein Wesen aufgrund einer Prophezeiung und bevor es überhaupt eine Straftat begangen hat? Ich dachte immer, Götter seien so gerecht. Was ist das hier? Minority Report?“

„Es steht dir nicht zu, unsere Taten zu verurteilen. Wenn wir Ragnarök nicht verhindern, werden nicht nur die Asen sterben, ganz Midgard wird vernichtet!“

„Das ist doch keine Aufgabe für ein Mädchen!“, beharrte Frau Helmken.

„Und wo wollt ihr ihn finden?“, fragte Tom, Frau Helmkens Einwand ignorierend.

„Seine Spur führte direkt nach Midgard.“

„Nach Midgard?“, schnappte Thea.

Wal-Freya antwortete mit einem Nicken. „Thor, Freyr, Magni und Modi suchen ihn bereits seit Tagen. Bisher ohne Erfolg.“

„Wo?“

„Im äußersten Zipfel des Landes, das ihr Norwegen nennt. Hier gibt es genug Wildnis für ihn, um sich zu verstecken.“

„Das wäre ja nicht so weit weg“, brummte Thea in die Richtung ihrer Mutter.

Tom hob die Hand. „Moment, das verstehe ich nicht. Habt ihr nicht erzählt, dass der Wolf in Asgard ausgerissen wäre?“

„Er ist über Bifröst, die Regenbogenbrücke zwischen unserer und eurer Welt, gereist. Heimdall und Thor hatten seine Spur bereits aufgenommen, ihn aber dann in den Fjorden verloren.“

„Und was will er ausgerechnet in Midgard? Hier ist doch nichts!“

Wal-Freya blickte verblüfft. „Wie meinst du das?“

„Tom hat recht. Wenn mich jemand über Jahrhunderte gefangen gehalten hätte, würde ich nicht nach sonst wo fliehen, ich würde versuchen nach Hause zu kommen“, stimmte Thea zu.

„Sein Vater ist Loki und der hat kein Zuhause, er ist selbst auf der Flucht. Und Fenrir wohnte vor seiner Gefangenschaft in Asgard. Er hat also kein Zuhause, zu dem er fliehen kann. Wir haben ihn schon als Kind nach Asgard …“ Wal-Freya stockte. Ihre Augen bewegten sich unter finster zusammengezogenen Brauen von einem zum anderen. „Angrboda“, raunte sie.

„Angrboda? Was ist das?“, fragte Tom.

„Wer!“, verbesserte Thea. „Sie ist Fenrirs Mutter.“

„Aber seine Spur verlor sich doch hier“, murmelte Wal-Freya. Jeder am Tisch konnte sehen, dass ihre Gedanken gerade Achterbahn fuhren.

„Vielleicht ist es eine falsch gelegte Spur“, setzte Tom nach.

„Wir werden das mit Odin besprechen!“, beschloss Wal-Freya.

Thea nickte bestätigend. Schon meldete sich Frau Helmken zu Wort. Thea hatte völlig vergessen, dass sie noch keine Zustimmung gegeben hatte.

„Ohne Thea! Wenn ihr etwas zustößt!“, rief sie.

Thea holte augenblicklich Luft, nicht um zu widersprechen, sondern um Wal-Freya an einer Antwort zu hindern, die einen Blick aufgesetzt hatte, der nichts Gutes verhieß. Die Walküre verlor die Geduld, das konnte Thea deutlich erkennen. Wal-Freya war schneller und entgegnete ungerührt: „Ich bin sicher, dass meine Walküren sie im Falle ihres Todes gerne nach Sessrumnir bringen.“

Frau Helmken wurde kreidebleich. Schon sprang sie vom Stuhl, packte Theas Handgelenk und versuchte, ihre Tochter mit sich zu ziehen. Im gleichen Moment, da Thea sich gegen ihre Mutter stemmte, stand auch Wal-Freya auf. Schon hatte die Göttin ihre Handfläche gegen Frau Helmkens Stirn gepresst. Diese fiel zurück auf den Stuhl und sackte bewusstlos in sich zusammen. Thea riss die Augen auf. Starr beobachtete sie, wie sich die Walküre zurück in ihren Stuhl setzte und nach der Kaffeetasse griff, während ihre Mutter in ihrer unglücklichen Position verharrte.

„Jetzt können wir uns in Ruhe unterhalten“, verkündete Wal-Freya ungerührt.

„Was … was hast du mit ihr angestellt?“, stotterte Thea.

„Schlafzauber, würde ich sagen“, vermutete Tom.

„Ganz richtig. Thurisaz setzt einen Elefanten außer Gefecht. Thea, so funktioniert es nicht! Deine Mutter wird dich niemals gehen lassen. Da helfen auch keine gut gemeinten Erklärungen.“

„Ich fasse nicht, was du getan hast!“, ächzte Thea.

„Bist du eine Zauberin?“, fragte Tom interessiert.

Wal-Freya nickte nur. „Wenn ich meinen Kaffee ausgetrunken habe, können wir los, Thea. Zieh dich um!“

„Was? Und meine Mutter?“

„Sie wird nicht versuchen, dich aufzuhalten“, erwiderte Wal-Freya und machte eine selbstgefällige Geste in Frau Helmkens Richtung.

„Aber …“ Sie sah zu ihrer regungslosen Mutter. „Das können wir doch nicht machen!“

„Sie weiß alles, was sie wissen muss. Nach Asgard wird sie die Polizei nicht schicken. Wenn du wieder zurück bist, kann sie dich nicht verantwortlich machen.“

„Und wann wacht sie wieder auf?“

Wal-Freya zuckte mit den Achseln. „Keine Ahnung. Diesen Zauber habe ich bisher immer nur bei Riesen eingesetzt – und randalierenden Kriegern in Sessrumnir. Die schlafen meistens zwei Tage. Aber das kann auch vom Met kommen.“

Thea hatte das Gefühl, der Boden würde sich vor ihr auftun. „Du machst Witze!“, rief sie. Aber als sie in die Augen der Walküre blickte, wusste sie, dass sie ganz und gar nicht scherzte.

„Ich komme mit!“, mischte sich Tom ein. „Ich kann helfen!“

„Wenn wir dich mitnehmen, bist du der nächste, wegen dem die Polizei gerufen wird“, wehrte Wal-Freya ab.

„Den Ärger riskiere ich gerne“, erwiderte Tom.

Die Walküre schüttelte den Kopf. „Wir haben keine Zeit, dich mit Erfahrungen aus vergangenen Leben zu füttern. Außerdem weiß ich weder, wie alt deine Seele ist, noch ob diese irgendwelche Kampferfahrungen hat. Was, wenn du eine Balletttänzerin warst?“

Tom öffnete empört den Mund, während Thea amüsiert kicherte.

„Ich wette, ich habe dich in weniger als fünf Handgriffen geschlagen!“, versetzte Tom. Herausfordernd stand er auf und fixierte Wal-Freya mit seinem Blick.

„Ich hab dich gern, Tom. Aber mach dich nicht lächerlich. Hast du vergessen, mit wem du am Tisch sitzt?“

Tom biss sich auf die Lippe. „Weniger als fünf Handgriffe!“, wiederholte er.

„Das könnte gelingen“, stimmte Thea zu. „Wenn du nicht zauberst! Das wäre unfair!“

Wal-Freya hob die Augenbrauen. „Du bist nicht bei Sinnen, Thea!“

„Angst?“, fragte Tom herausfordernd.

„Nun wirst du frech“, erwiderte Wal-Freya warnend, aber mit einem leichten Anflug von Erheiterung.

„Bitte Wal-Freya! Gib ihm eine Chance! Nicht mit dem Schwert, einfach nur mit ein paar Stöcken!“

„Wenn er dir so sehr am Herzen liegt, solltest du dafür sorgen, dass er sich diese Idee aus dem Kopf schlägt. Ich könnte dir nie wieder unter die Augen treten, wenn ihm etwas zustößt!“

„Ich will zeigen, was ich kann!“, beharrte Tom.

Mit einem Seitenblick auf ihre Mutter stand Thea auf. Im Schirmständer fanden sich immer allerlei Stöcke, die Mats auf seinen Sparziergängen mitnahm. Sie suchte zwei halbwegs passende Stäbe heraus, ging zurück in die Küche und übergab einen an Tom. Als sie den anderen Wal-Freya reichen wollte, schüttelte sie den Kopf. „Es wird niemals fair, Thea, und das weißt du.“ Sie nahm den Stock, erhob sich gelangweilt und nahm Aufstellung.

Sie wog den Stock in den Händen. „So kann ich dir wenigstens nicht wehtun.“

„Wollt ihr nicht irgendwo hin, wo mehr Platz ist?“, frage Thea.

„Für fünf Handgriffe? Wohl kaum“, erwiderte Wal-Freya und hob den Stock in Toms Richtung. „Bereit?“, fragte sie.