Die Midgard-Saga - Muspelheim - Alexandra Bauer - E-Book

Die Midgard-Saga - Muspelheim E-Book

Alexandra Bauer

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Beschreibung

Als ein Diener Hels in Asgard auftaucht und davon berichtet, dass Loki die Toten auf Naglfar sammelt, weiß Odin, dass nur noch eine Möglichkeit existiert, um Ragnarök zu verhindern: Er will Surtalogi vernichten, das Flammenschwert, mit dem der Feuerriese Surtr den Weltenbrand auslösen wird. Alles scheint nach Plan zu verlaufen, doch dann wird ein alter Feind auf Odin und seine Begleiter aufmerksam und sinnt auf Rache …

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Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

Personen und Wesen – Midgard-Saga 4 – Muspelheim

Impressum neobooks

Die Midgard-Saga

~ Muspelheim ~

Alexandra Bauer

Copyright © 2018 Alexandra Bauer 2. Auflage D-65817 Niederjosbach

[email protected]

Illustration: Petra Rudolf Lektorat: Melanie Lübker

All rights reserved.

Prolog

Ein energisches Poltern an der Tür ließ Jordis von ihrer Arbeit aufschauen. Seit Wochen hüllten Schnee und Eis die Welt in eine frostige Decke. Abgeschieden hockte die Frau in ihrer Hütte, denn bei den klirrenden Temperaturen wagten sich die Menschen nicht weit in den Wald. Als sich die verriegelte Tür nach einem zweiten Klopfen wie von Geisterhand öffnete und eine hochaufragende Gestalt in einem blauen Mantel auf die Schwelle trat, runzelte Jordis die Stirn. Mit dem Fremden wirbelten Schneeflocken in den Raum. Der Wind brachte das Feuer unter dem Kochtopf zum Flackern und tauchte den Ankömmling in ein Spiel aus Licht und Schatten. Zwei Raben krächzten protestierend auf seiner Schulter und verabschiedeten sich kreischend in den Wald. Voller Argwohn kniff Jordis die Lider zusammen. Das Antlitz des Bemantelten wurde von einem breiten Schlapphut verdeckt, ein langer weißer Bart floss über seine Brust. Er verharrte einen Moment auf seinen Speer gestützt. Als er endlich das Kinn hob, gab er den Blick auf sein gefurchtes Gesicht frei. Obwohl der Mann ausdrucklos zu Jordis sah, wirkte er grimmig, was daran liegen mochte, dass eines seiner Augen unter einer schwarzen Klappe verborgen lag. Den Kopf zum Gruß neigend, bat er um Einlass.

Mürrisch winkte Jordis ihn näher. „Ehe du das letzte bisschen Wärme aus meiner Hütte treibst, tritt ein. Ich habe Suppe auf dem Feuer. Bediene dich!“

Dankbar brummend lehnte der Mann seinen Speer an die Wand und schloss die Tür. Wortlos holte er eine Schüssel aus dem Regal und schöpfte sich von der Suppe ein, ehe er auf dem Stuhl gegenüber Jordis Platz nahm. Unter dem wachsamen Blick der Frau schlürfte er die Speise.

„Du bist nicht von hier“, stellte sie fest.

Der Fremde hielt inne und nickte.

„Eine schlechte Jahreszeit zum Reisen, denkst du nicht?“

„Für mich keinesfalls“, erwiderte er.

Jordis beäugte den Mann genauer. „Wohin möchtest du? Hier wirst du nichts finden außer Einsamkeit.“

„Ich habe dich gesucht“, erklärte er einsilbig.

„Es muss wichtig sein, wenn du dafür bei diesem Wetter auf Reisen gehst. Woher kommst du?“

„Von weit her. Aus der Welt, die alle Wesen als Asgard kennen.“

Überrascht holte Jordis Luft, doch sie blieb gefasst. „So war meine Vermutung richtig. Der Allvater persönlich hat mein Heim betreten. Was ist es also, das dich zu mir treibt, Odin, oberster aller Götter?“

„Es ist das Wissen um mein Schicksal, nach dem ich strebe.“

Jordis runzelte die Stirn. „Niemand sollte seine Zukunft kennen“, brummte sie. „Nicht einmal du.“

Odin legte den Löffel zur Seite, setzte die Schüssel an den Mund und leerte sie mit einem Zug. Als er das Gefäß wieder abstellte, fixierte er Jordis mit seinem Blick. „Die Welt soll untergehen. Ich muss im Bilde sein, wie es geschieht.“

„Ihr Ende wurde mit ihrem Anfang bestimmt“, raunte die Alte.

„Und doch weiß ich nicht, wie das alles eintritt. Du bist eine Völva, du kannst es mir erzählen!“

„Es wird mir kaum möglich sein, meinem obersten Gott einen Wunsch zu verwehren. Aber sei gewarnt: Jenes Wissen wird dir keine Freude bereiten.“

„Fang an!“, beharrte Odin.

Jordis nickte bedächtig. Sie erhob sich, kramte aus einer Nische des Raums ein Gefäß und einen Stab hervor und kehrte an ihren Platz zurück. Summend öffnete sie das Töpfchen und breitete einen Halbkreis aus Kräutern auf dem Tisch aus. Dann stieg sie über den Stuhl hinauf und kniete vor den getrockneten Blättern nieder. Einen Singsang anstimmend, nahm sie den Stab in beide Hände. Behäbig bewegte sie die Arme auf und ab. Als die Schleier der Zukunft ihren Geist umfingen, sah sie das Schicksal des obersten Gottes in allen Details. Trauer überkam sie, denn das Ende der Welt würde grausam und unabwendbar über jedes Lebewesen hereinbrechen.

Nur langsam klärte sich Jordis‘ Blick und gab die Sicht zurück in ihre Hütte und den einäugigen Gott frei. Sein Gesicht spiegelte Besorgnis wieder.

„Was hast du gesehen?“, fragte er.

„Den Zusammenbruch von allem, was wir kennen. Willst du wirklich, dass ich dir davon berichte?“

„Tu es!“, befahl Odin.

Mit einem Seufzen schloss Jordis die Lider. „Es beginnt in der Menschenwelt. Kriege erschüttern Midgard und tränken die Erde mit Blut. Die Mächte des Chaos haben die Herzen der Menschen vergiftet. Asen und Wanen können der Zerstörung nur tatenlos zusehen.“ Sie öffnete die Augen und sah Odin traurig an. „Der eigene Bruder wird den Bruder töten. Die Überlebenden werden von einem dreijährigen Winter geplagt. Er lässt nur wenige Menschen und Tiere in Midgard zurück.“ Sie sah Odin lange an. „Alsdann holt Angrbodas Brut Sonne und Mond ein. Sie verschlingen beide, die Sterne verschwinden, die Welt wird in Finsternis gehüllt. Nidhöggr durchtrennt die Wurzel der Weltenesche, der Baum fällt.“

„Yggdrasil?“, stöhnte Odin fassungslos.

Jordis senkte den Blick. „Willst du es wirklich wissen?“

Odin nickte und Jordis fuhr fort: „Nachdem der Weltenbaum fällt, bläst Heimdall in sein Horn und ruft die Götter zur letzten Schlacht. Aber auch die Riesen vernehmen das Zeichen. Sie versammeln sich. Gierig und hungrig zu töten, ziehen sie zum Ort der Entscheidung. Die Midgardschlange weiß, dass ihre Zeit gekommen ist. Begierig wälzt sie ihren Körper über das Land. Nur wenige Menschen haben den Winter überlebt. Die Sturmfluten Jörmungands reißen die Überlebenden an den Küsten in den Tod.“ Jordis warf Odin einen prüfenden Blick zu. Als der Gott sie drängelte, weiterzusprechen, seufzte sie. „Auch Naglfar reißt sich los. Loki steuert das Heer der Toten gegen die Götter. In seiner Begleitung ist der Fenriswolf, der alles verschlingt, was ihm in den Weg kommt.“

„Loki!“, ächzte Odin. „Er ist mein Blutsbruder. Wieso sollte er das tun?“

„Die Fesselung und die vielen Jahre der Pein wird er nicht vergeben. Er ist ein stolzer und verletzter Freund. Einst half er den Asen aus Schwierigkeiten, nun trachtet er nach deren Tod.“

Alle Farbe wich aus dem Gesicht des Göttervaters. „Fesselung? Aber wir sind stark! Auch wir haben mächtige Kämpfer.“

„Und ihr werdet euch mutig euren Gegnern entgegenstellen. Doch die Last alter Schuld wird euch zum Verhängnis werden. Da ist Freyr, Freyas Bruder. Er gab sein Schwert vor langer Zeit seinem Diener, um die Riesin Gerda zu gewinnen. Nur mit einem Geweih bewaffnet stellt er sich gegen den mächtigen Surtr. Er bezahlt es mit dem Leben.“ Jordis legte eine Pause ein. „Du solltest gehen. Das Wissen um die Geschehnisse wird dein Herz nur schwer machen. Noch ist Ragnarök nicht gekommen.“

„Was ist mit Thor? Er ist der Machtvollste unter uns allen. Er wird die Riesen in die Flucht schlagen!“

„Thor kämpft gegen die Midgardschlange. Du hast recht, er ist stark, sein Herz rein und voller Mut. Er wird den Wurm besiegen, doch er läuft nur neun Schritte und fällt vergiftet zu Boden.“

Odin ächzte. „Auch Tyr versteht zu kämpfen. Was ist mit ihm?“

„Tyr trifft auf Garm. Er zahlt genauso für die Schuld, die er einst beging, wie es Freyr tut. Das Schwert in der linken Hand führend ist er nicht fähig, Hels Hund niederzuringen. Sie töten sich gegenseitig. Ebenso ergeht es Heimdall, der seinem alten Feind Loki begegnet. Beide sterben vom Schwert des anderen getroffen.“

„Ich will nicht glauben, dass Loki gegen uns kämpfen wird. Er ist mein Blutsbruder!“

„Und doch wird es geschehen.“

„Was ist mit mir?“

Jordis seufzte. „Der Fenriswolf wird dein Ende sein. Lokis Sohn wird vollenden, was der Vater nicht schaffte.“

„Fenrir? Er lebt unter uns in Asgard!“, protestierte Odin.

„Vidar rächt dich. Er tötet den Wolf und wird Ragnarök überleben, doch gegen das Flammenschwert des Surtr wird auch er nichts ausrichten. Der Feuerriese schwingt seine todbringende Waffe in alle Richtungen und steckt die Welt in Brand. Das Feuer vernichtet Riesen, Zwerge, Einherjer ... und die letzten Asen ...“

„Surtr wird es also sein, der die Welt zugrunde richtet.“ Odin legte die Stirn in zornige Falten. „Er schwor, den Frieden zu wahren!“

„In jedem Ende liegt auch ein Neubeginn“, versuchte Jordis ihn zu besänftigen. „Zwei Menschen überleben. Fimbultyr wird ihnen eine neue Welt formen. Balder und Hödur kehren aus Hel zurück. Balder wird diese Welt lenken und eine Zeit nie gekannten Friedens einläuten.“

„Balder und Hödur kommen aus Hel zurück? Warum sind sie in Hel?“, staunte Odin.

„Sie werden dort sein, wenn Ragnarök über die Asen kommt.“ Freydis schlug die Augen nieder.

„Wann wird es geschehen?“, fragte Odin gefasst.

„Noch viele Winter werden kommen und gehen, Generationen von Menschen die Welt bevölkern. Du wirst ein sehr, sehr langes Leben führen, Allvater.“

Odin holte Luft. Dann lehnte er sich vor. „Erzähle mir mehr“, forderte er. „Ich muss alles wissen, bis ins kleinste Detail.“

Jordis nickte. „Wie du wünschst, Odin.“

1. Kapitel

Gedankenversunken saß Thea am Rande Asgards und blickte auf Midgard hinab. Guten Mutes, die dunklen Ereignisse aus Hel irgendwie hinter sich zu lassen, hatte sie in den letzten Tagen viele Stunden hier verbracht, doch es trieb die Geschehnisse nicht aus ihrem Kopf. In der Totenwelt war sie Menschen eines vergangenen Lebens begegnet, die zu einem unwiderruflichen Teil ihres jetzigen Selbst geworden waren. Sie vermisste jeden Einzelnen von ihnen, vor allem Geirunn. Schlimmer als die Sehnsucht war die Gewissheit, dass sie die Gefährtin ihres früheren Ichs niemals wiedersehen würde. Beim Versuch die Totengöttin zu hintergehen und Balder aus ihrem Reich zu befreien, hatte Thea Hel verärgert, worauf diese ihr jede Aussicht irgendwann ins Totenreich zurückzukehren, verwehrte. Das war die Strafe für ihren Verrat und Theas anschließende Flucht. Wie eine stete Mahnung lag die Fylgja neben ihr. Seit ihrem Abenteuer in Hel zeigte sich ihr der Folgegeist. Jeder Mensch befand sich in Begleitung eines solchen Schutzwesens – sie offenbarten sich ihm aber erst kurz vor dessen Tod. Laut Hel war Thea im Slidr, einem Fluss, in dem Schwerter und Messer treiben, gestorben. Da in Hel alle Wunden heilen, hatte niemand davon Notiz genommen. Die Fylgja allerdings schon. Das seltsame Gefühl weder zu den Lebenden, noch zu den Toten zu gehören, begleitete Thea. Auch wenn sie sich dagegen wehrte, die Ereignisse in Hel hatten tiefe Spuren in ihrer Seele hinterlassen. Tom war ihr kaum von der Seite gewichen, seit sie wieder in Asgard angekommen waren und auch die junge Baba Jaga und Juli taten ihr Bestes, um Thea aufzumuntern, doch selbst Wal-Freya war es nicht gelungen, die finsteren Wolken aus Theas Geist zu vertreiben. Sie zog die Einsamkeit den gemeinsamen Momenten vor und ihre Freunde akzeptierten es, wenn auch nur schweren Herzens.

„Hallo Grüblerin!“ Wie aus dem Nichts tauchte Djarfur hinter Thea auf. Sanft stieß das Walkürenpferd sie mit der Schnauze an. „Du solltest damit aufhören, Tag für Tag hier zu hocken und nach Midgard zu starren.“

„Es lenkt mich ab“, erwiderte Thea.

Djarfur wieherte amüsiert. „Tut es nicht. Das weißt du.“

„Was treibt dich zu mir?“, entgegnete sie mit einem Schmunzeln und leitete das Gespräch geschickt in eine andere Richtung.

„Odin und Frigg haben aufgehört zu streiten.“

Thea drehte sich ruckartig um. „Was? Kein Flax?“

Djarfur nickte. „Wal-Freya sagte, ich soll dich holen. Die Asen wollen über das weitere Vorgehen beraten.“

Sie stand auf. „Warum sagst du das nicht gleich? Wo sind sie? In Gladsheim?“

Ein Kichern begleitete Djarfurs Wiehern. „Wo sonst? Meinst du, Wal-Freya würde mich schicken, wenn sie sich am Thingplatz träfen? Dahin könntest du von hier aus schon selbst laufen.“

„Das stimmt wohl“, brummte Thea. Sie klopfte sich die Hose ab und umfasste Djarfurs Hals, um sich mit einem Sprung auf seinen Rücken zu schwingen.

Der Rappe schüttelte den Kopf. „Ich liebe es, wenn wir zusammen reiten, meine Heldin.“ Er galoppierte los und hob sich nur wenige Schritte danach in die Luft. Thea waren Höhen noch immer nicht geheuer, aber langsam gewöhnte sie sich daran. Das unangenehme Ziehen, das stets durch ihren Magen fuhr, wenn sie in die Tiefe blickte, machte sich auf Djarfurs Rücken kaum noch bemerkbar. Sie vertraute dem Tier und fühlte sich in seiner Begleitung sicher. Er hatte sie in den letzten Tagen oft aufgesucht und zu einem Ritt um Asgards Götterburg eingeladen. In diesen Momenten rückte ihre Schwermut für einen Augenblick in weite Ferne. Rasch überquerte er die Wiese, auf der sich Yggdrasils Wurzel erstreckte und fegte über die Wohnungen der anderen Asen hinweg, die den Weg zu Odins Palast säumten. Die Fylgja sprang neben ihnen durch die Luft, gerade so, als begrüße sie die Abwechslung. Auf der großen Terrasse Gladsheims setzte Djarfur seine Reiterin ab. Er verabschiedete sich von Thea und kehrte nach Folkwang zurück.

Sie lief auf den Eingang der Halle zu, die sich weithin sichtbar über Asgard erhob. Schon bevor Thea eintrat, empfing sie der Duft von gebratenem Huhn, vermischt mit dem Geruch gebackener Pfannkuchen. Ihr Blick fiel auf die schwere Tafel, die vor dem erhöhten Sitz des Allvaters stand. Sie war mit den gewohnt köstlichen Speisen Asgards angerichtet. Guter Dinge hockten die Götter beisammen, aßen und tranken. Mit Theas Erscheinen erstarben die Gespräche. Freudig begrüßten sie den Neuankömmling und warteten, bis sich Thea auf dem freien Platz neben Wal-Freya eingefunden hatte. Die Walküre legte ihr zur Begrüßung die Hand auf die Schulter, steckte aber sofort wieder den Kopf mit Freyr zusammen. Ebenso führten alle anderen Götter ihre Unterhaltungen fort. Juli zwinkerte Thea zu, lud ihren Teller voll und folgte den Gesprächen ihrer Tischnachbarn. Zu ihrer Rechten saß Tom, der erfreut lächelte, als ihn Theas Blick traf. Sie wich ihm ertappt aus. Auch ihr Freund war ein Grund dafür, dass sie sich in den letzten Tagen zurückgezogen hatte. Bestärkt durch Wal-Freyas Ermutigungen, hatte er Thea seine Zuneigung gestanden. Sie hatte diese längst gekannt und den Moment herbeigefürchtet, da er es offen aussprach. Sie mochte Tom, vielleicht mehr, als sie sich selbst eingestehen wollte, doch neben dem schlechten Gewissen, das sie Juli gegenüber empfand, die noch immer für Tom schwärmte, war da noch Geirunn. Treu und unermüdlich wartete ihre einstige Gefährtin auf sie in der Totenwelt. Wie sollte Thea jemals etwas für einen anderen Menschen empfinden? Mit abgewendetem Blick zog sie sich eine Schale mit Krapfen heran. Die Fylgja rollte sich hinter dem Stuhl ihres Schützlings zusammen und schloss die Augen, während sich Thea an den Speisen bediente. Odin thronte auf seinem erhöhten Sitz und überblickte die Versammlung mit versteinerter Miene. Die Wölfe Geri und Freki lagen zu seinen Füßen und schliefen. Hugin und Munin fehlten. Offensichtlich befanden sich die beiden Raben auf ihrem Flug durch die Welt. Thea lauschte hier und da den Unterhaltungen und wartete gebannt, dass der Allvater sich äußerte, doch er ließ darauf warten. Viel später rückte er sich räuspernd in seinem Sitz zurecht. Alle verstummten und blickten auf. Thea äugte unwillkürlich zu Odins Frau, die zur Rechten ihres Gemahls an der Tafel hockte. Als ihre Blicke sich trafen, überlegte Thea, ob die Göttin Traurigkeit oder Wut empfand. Es hatte sich herausgestellt, dass der Allvater am Tod ihres gemeinsamen Sohnes beteiligt gewesen war. Zusammen mit Loki, Gefjon und Balder hatte er beschlossen, der Weissagung der Völva zu entsprechen und Friggs Versuch ihren Sohn unsterblich zu machen mit einem tödlichen Ritual entgegengewirkt, das alle für ein Spiel gehalten hatten. Würde Frigg ihrem Mann jemals verzeihen können? Würde ihm überhaupt jemand der Anwesenden vergeben?

„Was ich tat, tat ich, um den Fortbestand dessen zu sichern, das wir einst erschufen“, verkündete Odin. „Ich werde mich nicht dafür entschuldigen oder rechtfertigen. Wir haben gemeinsam darüber entschieden und waren uns einig, dass es geschehen muss.“

„Mit gemeinsam meinst du dich, Gefjon, Balder und Loki“, grunzte Vidar mit offenem Vorwurf. „Den Rest von uns hast du bei deiner Entscheidung außer Acht gelassen.“

Odins Blick verdunkelte sich. „Euch über die Zukunft zu unterrichten, wäre falsch gewesen. Gefjon hingegen wusste ebenso wie ich um die Dinge, die eintreten würden. Balder hatte ein Recht darauf, sein Schicksal zu erfahren. Um dieses zu erfüllen, brauchte ich Lokis Hilfe, nur deshalb weihten wir ihn ein.“

Heimdall schnaufte. „Natürlich hast du ihn gewählt. Nur Loki konnte so niederträchtig sein, Hödur, einen Blinden, ins Verderben zu stoßen! Du hast deinen eigenen Sohn verraten – zwei von ihnen!“

„Es ist vorausgesagt, dass Hödur und Balder am Ende der Welt aus dem Totenreich zurückkehren und ein neues Midgard anführen. Es war notwendig.“

„Also hast du nur ihre Bestimmung erfüllt“, brummte Tyr sarkastisch.

Odin betrachtete den Kriegsgott mit eisigem Blick. „So ist es.“

Thor warf das Hühnerbein, an dem er kaute, erzürnt auf seinen Teller. „Wie konntest du nur? Du hast Balders Tod herbeigeführt und du hast zugelassen, dass Unschuldige dafür bezahlen!“

Wal-Freya nickte beipflichtend. Sie blickte zu Gefjon. „Was hat dich dazu bewegt, dabei mitzumachen? Als wäre das nicht schlimm genug, hast du dich all die Jahre in Schweigen darüber gehüllt!“

„Wir dachten, es sei das Richtige“, rechtfertigte sich Gefjon.

Thea betrachtete den obersten der Götter. Wie so oft fühlte sie sich klein und unbehaglich in seiner Nähe. Er hatte viele Dinge getan, die ihr Angst machten. Die Asen schoben Loki oft die Schuld für allerlei Dinge in die Schuhe, aber ihrer Meinung nach war der Allvater genauso unberechenbar wie der Feuergott selbst. Seinen Sohn Wali hatte er mit der Riesin Rind gegen deren Willen gezeugt, da es vorhergesagt war, dass nur sie ihm das Kind gebären würde, das Balders Tod rächte. Odins Beteiligung am Tod des Lichtgotts setzte Lokis Bestreben nach einem anderen Schicksal in ein völlig neues Licht. Er hatte nur getan, was Odin von ihm verlangte und bitter für seine Treue bezahlt. Der Zorn, den ihm die anderen entgegenbrachten, war nicht gerechtfertigt. Seit dem Beginn ihrer Reise war es das Ziel der Asen gewesen, die Dinge wieder ins rechte Lot zu bringen. Doch nicht Loki hatte zuerst in das Gefüge der Welt eingegriffen und die Zukunft verändert, es war Odin gewesen! Thea hatte ihren Verdacht schon einmal geäußert, nun zeigte es sich immer deutlicher.

Mithilfe der Gedankensprache nahm sie Kontakt zur Walküre auf: „Er hat alles gestanden. Ich habe es dir in Jötunheim gesagt: Odin hat damit angefangen, alles durcheinanderzubringen. Wenn er sich nicht die Zukunft hätte voraussagen lassen, wäre all das nicht geschehen. Er hätte Fenrir nicht gefesselt und er hätte nicht gewusst, dass Balder sterben würde. Vielleicht wäre alles ganz anders gekommen. Womöglich würde Balder noch leben!“

„Die Nornen legen unser aller Schicksal mit unserer Geburt fest, Thea. Wann begreifst du das endlich?“, erwiderte Wal-Freya.

„Du versuchst doch auch in das Schicksal einzugreifen. Zuletzt mit unserem Vorhaben Balder aus Hel zu holen“, erinnerte Thea.

„Ich wollte die Dinge nur in Ordnung bringen, indem wir die Weissagungen wieder wahrmachen. Nur weil wir Loki keinen Einhalt gebieten können, habe ich mich auf die Sache in Hel eingelassen, aus keinem anderen Grund.“

„Verstehst du nicht? Odin hat lange vor alledem hier versucht Ragnarök zu verhindern. Damit hat er es selbst vorangetrieben.“

Die Wanin nickte. „Da es vorausgesagt war, ist alles gekommen, wie es kommen sollte. Loki hingegen ist nicht an seinem Platz. Er wandelt frei durch die Welten und schmiedet Pläne gegen uns. Ich will, dass sich mein Schicksal erfüllt, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Loki hat die Ordnung durcheinandergebracht. Ich weigere mich, das zu akzeptieren!“

Mutig erhob sich Thea. „Odin, Frigg, ihr alle, bitte hört mich an! Vielleicht kann ich das große Gefüge der Welt nicht verstehen. Ich bin nur ein Mensch. Ich begreife nicht, warum ein Vater seinen Sohn opfert, um dessen Schicksal zu erfüllen, obwohl er damit all das auslöst, was wir jetzt verhindern wollen. Ihr habt mich vor langer Zeit aufgesucht, damit ich Kyndill für euch finde und dafür sorge, dass Loki Ragnarök nicht schneller über die Welt bringt, als es vorherbestimmt ist. Euer Ziel war es stets, ihn wieder an seinen Platz zu bringen. Dann kam Fenrir frei. Wir haben ihn vergebens versucht zu fangen. Als letzten Ausweg sind wir nach Hel aufgebrochen, um Balder zu befreien – wir sind gescheitert. Wir haben alles getan, um Ragnarök zu verhindern und die Fehler der Vergangenheit zu revidieren. Doch es scheint unmöglich. Loki ist uns stets einen Schritt voraus. Aber nicht er hat Ragnarök heraufbeschworen, du warst es, Odin. Durch deine Handlungen ist es so weit gekommen. Indem du den Wolf gefesselt hast, brachtest du ihn gegen dich auf. Da du Balders Tod zugelassen hast, wurde Ragnarök eingeläutet. Wäre all das nicht geschehen, würde Loki wahrscheinlich noch immer an eurer Tafel sitzen und Scherze mit euch treiben. Alle Versuche, das wieder gerade zu biegen, sind gescheitert. Vielleicht ist es an der Zeit, die Dinge einfach geschehen zu lassen, sie sind doch ohnehin von den Nornen bestimmt ...“

Bei ihren letzten Worten schnappten alle Anwesenden gleichzeitig nach Luft. Tyr sprang auf, ebenso Thor, Gefjon und Saga. Der Tisch war mit einem Mal erfüllt von aufgebrachten Stimmengewirr. Sif packte ihren Mann und zog ihn zurück auf seinen Stuhl. Während Juli Thea entgeistert anblickte, traf Wal-Freyas Blick sie kalt und unerbittlich.

„Was erlaubst du dir, Thea?“, knirschte Wal-Freya.

Es war Frigg, die nachdrücklich Gehör forderte und die Versammelten zum Schweigen brachte. Gebannt richteten sich alle Augen auf sie, auch die von Thea.

„Bevor ihr das Mädchen verurteilt, solltet ihr wissen, dass ich ihrer Meinung bin.“ Sie hob energisch die Hand, als erneut Stimmen laut wurden. „Odin hat die Dinge vorangetrieben. Es war ein schrecklicher Fehler zu glauben, mit der Erfüllung von Balders Schicksal würde er helfen das Fortbestehen seiner Schöpfung zu sichern. Statt all dies in Gang zu setzen, hätte er mich nur bei dem Versuch Balder unsterblich zu machen, aufhalten müssen. Er hat es nicht getan.“ Ihr Blick traf auf Gefjon. Verbitterung war aus ihm zu lesen. „Auch ich habe vorausgesehen, dass es Balder nicht helfen wird. Doch das Wissen um die Zukunft zu gebrauchen, ist falsch. Auf diese Weise geschehen Dinge schneller, oder sie tragen dazu bei, dass man das Schicksal herausfordert und es aus den Fugen gerät. Ihr werft all dies Loki vor und habt doch genauso gehandelt. Unsere Bestimmung wurde verändert, weil die Sehenden ihr Wissen nicht für sich behielten.“ Sie ließ den Blick über jeden Einzelnen schweifen. „Doch die Dinge sind geschehen und es führt zu nichts, wenn wir nun nach einem Schuldigen suchen ...“ Ihre Augen blieben auf Thea haften. „Oder wir aufgeben, die Ordnung wieder herzustellen.“

Beschämt senkte Thea den Kopf.

Frigg sah zu Odin. „Alles was du getan hast, war vorherbestimmt. Ragnarök lag fern, doch seit Loki in sein Schicksal eingriff, rückt es unaufhaltbar näher. Ich spüre die wachsende Feindschaft zwischen den Menschen. Noch versuchen sie, sich dagegen zu wehren, aber das Chaos wabert langsam aus den Tiefen der Erde und umschmeichelt sie, so wie Jörmungand arglistig ihre Bahnen um Midgard zieht. Die Schlange lauert, sie spürt ihre Zeit, ebenso wie die Jöten. Das Totenschiff liegt nicht mehr still, seichte Wellen schlagen an seinen Bug und bringen es kaum merklich zum Schaukeln. Wir haben Hel verärgert. Ihr werdet gleich verstehen, wie sehr ...“

Thea lief ein eisiger Schauer über den Rücken. Frigg war in der Lage, in die Zukunft zu sehen, aber niemals machte sie von ihrem Wissen Gebrauch. Nun schwieg sie nicht länger. Die Göttin malte eine Zeit, die bis vor wenigen Minuten noch weit entfernt für Thea lag. Sie hob den Kopf und suchte Friggs Blick, doch Odins Frau hatte ihn in Richtung des Eingangs gerichtet, in dem zeitgleich Heimdall erschien. In seiner Begleitung befand sich ein Wikinger. Die Haut des Mannes schien ungewöhnlich blass. Mit dem Erscheinen des Kriegers sprang die Fylgja fauchend auf. Ein Schwert steckte in seinem Gürtel, an der gleichen Seite hielt er einen Schild. Der Blick hinter seinem Brillenhelm wirkte leer, obwohl er diesen zielgerichtet über die Anwesenden schweifen ließ. Auf dem Allvater blieb er ruhen. Rasch legte Wal-Freya eine Hand auf die von Thea. Diese ahnte Übles, doch sie wagte den Gedanken nicht auszuführen.

Stirnrunzelnd betrachtete Odin den Fremden.

„Hel schickt mich“, sprach der Fremde mit fester Stimme und bestätigte Theas Verdacht, dass es sich bei ihm um einen von Hels Wardonen handelte.

Mit dem Gesandten der Totengöttin wehte jäh die Kälte der Unterwelt in die Halle. Thea fröstelte. Ebenso wie ihr schien es Juli zu ergehen, denn ihre Freundin schlug mit einem unheilvollen Blick zu Thea die Arme um den Körper.

„Ich soll euch ausrichten, dass Hel euren Verrat nicht verzeiht. Lange hat sie dem Wunsch ihres Vaters widersprochen, nun gibt sie seiner Bitte nach. Loki sammelt Getreue auf Naglfar. Einst starben wir tapfer auf dem Schlachtfeld, doch die Walküren haben uns nicht ausersehen, ihnen nach Walhall zu folgen. Es wird die Zeit kommen, an dem sie ihre Wahl bereuen. Der Tag der Abrechnung rückt näher.“

Es war Odin, der aufsprang und Thors Arm ergriff, in dessen Hand bereits Mjölnir lag, um der Respektlosigkeit des Wardonen ein Ende zu setzen.

„Halte ein, Junge! Asgard ist eine heilige Stätte!“

Die Adern unter der Haut des Donnergottes schwollen an, als er gegen seinen Zorn und den Griff seines Vaters ankämpfte. Mit einem Poltern, das im dichten Umkreis Teller und Speisen zur Seite fegte, schlug er Mjölnir auf den Tisch.

Odin wandte sich an den Nachrichtenüberbringer. „Hel sollte ihren Entschluss noch einmal überdenken.“

„Ihre Wut ist endlos. Ihr Asen habt versucht, sie zu hintergehen und ihr habt sie aus der Totenwelt geführt.“ Er deutete auf Thea, der sofort der Atem stockte.

„Das sollte Hel nicht allzu sehr grämen“, brummte Odin. Er machte eine einladende Geste. „Möchtest du dich stärken, ehe du zurück zu deiner Herrin kehrst?“

Thor knurrte widerstrebend und wieder war es Sif, die ihren Gatten sanft, aber bestimmt auf seinen Platz zog.

„Wir verwehren niemandem das Gastrecht“, erinnerte sie.

Der Wardone blickte in die Runde, dann setzte er sich. Thea konnte über das Verhalten der Asen nur staunen. Tom rückte unwohl in seinem Stuhl zurück, als sich der Krieger auf den freien Platz zu seiner Rechten niederließ. Er leerte einen Becher und bediente sich an den Speisen, während er die Anwesenden schweigend betrachtete.

„Richte deiner Herrin aus, dass es auch für sie ein schlechtes Ende nehmen wird, wenn sie ihren Entschluss nicht überdenkt“, sprach Odin nach einer Weile.

„Das Totenreich wird es immer geben“, erwiderte der Wardone, leerte einen zweiten Becher und erhob sich. „Aber ich werde ihr deine Worte überbringen.“ Sein Blick fiel auf Thea. „Vielleicht ließe sie sich besänftigen, wenn ihr ...“

Nun sprang Wal-Freya auf. „Vergiss es! Hel irrt, wenn sie glaubt, dass sie einen Anspruch auf Thea hat.“

Ein dünnes Grinsen huschte um den gestutzten Bart des Kriegers. „Ist es das Schwert, das ihr fürchtet zu verlieren oder den Menschen?“

„Beides“, antwortete Odin für Wal-Freya. „Thea wird in Asgard bleiben. Darüber werde ich nicht verhandeln.“

Ein Blitz fuhr durch Theas Körper. In Asgard bleiben, hallte durch ihren Kopf. War es das, was Odin plante? Hatte er sie deshalb nicht nach Midgard zurückgehen lassen? Er hatte gesagt, er wäre um ihr Wohlbefinden besorgt. Natürlich stand Kyndills Sicherheit für ihn im Mittelpunkt. Das Schwert durfte nicht in falsche Hände geraten. Nur sie war in der Lage es zu führen – und Loki, wie alle seit ihrem Abenteuer in Hel wussten. Noch immer waren Thea die Auswirkungen der Ereignisse in Hel auf ihr Dasein nicht ersichtlich. Von einem auf den anderen Tag wusste sie nicht mehr, wohin sie gehörte. Nach Hel? Nach Midgard?

„Mach dir keine Sorgen“, drang Wal-Freyas Stimme in ihren Geist. „Wir werden die Dinge richten und du wirst bald wieder bei deiner Familie sein.“

„Es klang so endgültig“, erklärte sich Thea.

„Hier in Asgard hat Hel keine Macht über dich. Deswegen bist du hier. Wir wollen weder dich, noch Kyndill an die Totenwelt verlieren.“

Der Wardone verneigte sich leicht. „Habt Dank für eure Gastfreundschaft. Es wird nicht viel Zeit verstreichen, bis wir uns wiedersehen.“

Das Tafelgeschirr erzitterte, da Thor die Tischkante umklammerte und gegen die Wut kämpfte, die in ihm aufkochte. Ungeachtet dessen machte der Wardone kehrt und verließ in Heimdalls Begleitung die Halle.

Odin überblickte die Anwesenden, dann ließ er sich auf seinen Sitz nieder.

„Loki scharrt also eine Armee von Toten um sich“, knirschte Tyr.

„Die Weissagung nimmt Gestalt an“, fügte Saga hinzu.

Odins Auge richtete sich auf seine Frau. „War es das, wovon du sprachst?“

„Ragnarök war uns nie so nah wie in diesem Augenblick“, antwortete Frigg unheilvoll.

„Das ist doch viel zu früh, oder nicht?“, japste Tom.

Frigg nickte stumm.

„Das müssen wir verhindern!“, rief Juli.

„Ich will nicht, dass meiner Familie etwas passiert“, stimmte Thea zu. „Egal was zu tun ist, ich werde es wagen. Der Wardone sagte, Loki sammelt die Toten. Er ist also noch in Hel. Wir gehen zurück und legen ihm endgültig das Handwerk!“

Odin seufzte. „Das wird nicht gelingen.“

„Klingt, als willst du das Feld räumen“, staunte Thor.

Odin schüttelte den Kopf und richtete sein Auge auf Thea. „Mit dem, was ich tat, habe ich die Zukunft nie verändert, auch wenn du das glaubst.“

„Das ist richtig“, flüsterte Thea. „Wir alle haben sie verändert. Stück für Stück. Mit unserem Plan, Ragnarök zu verhindern, haben wir es auf die Spitze getrieben. Weil wir nach Hel gegangen sind, ist Ragnarök kein fernes Ereignis mehr. Mit unserem Versuch, Balder zu befreien, haben wir die Tötengöttin gegen uns aufgebracht – und nicht zuletzt ich, weil ich vor ihr geflohen bin. Deswegen lässt sie Loki jetzt gewähren.“

Gefjon schüttelte zeitgleich mit Wal-Freya und Frigg den Kopf. „Es war richtig, dass du dich ihrem Zugriff entzogen hast. Nicht auszudenken, wenn du und Kyndill in ihre Gewalt geraten wärt. Du trägst keine Schuld. Ragnarök rückte an jenem Tag näher, da Loki sein Schicksal abwandelte.“

„Wir legen ihm das Handwerk! Ohne Wenn und Aber!“, beharrte Juli.

„Es muss eine andere Lösung geben. Auf diese Weise haben wir es zu oft versucht, er schlüpft uns nur wieder durch die Finger“, widersprach Thor.

„Es ist zu viel geschehen, als dass die Gefangennahme Lokis das Gefüge wieder ins Lot rücken wird“, bestätigte Frigg.

„Soll heißen?“, fragte Tom zerknirscht.

Tyr brummte. „Es ist bereits zu viel geschehen. Ragnarök ist nah, obwohl die Zeit dafür noch nicht gekommen ist. Wir müssen unseren Weg weiterverfolgen und es aufhalten. Wie wir jetzt wissen, liegt die Lösung nicht in der Befreiung Balders.“

„Aber worin sonst? Wenn sich Loki zu fangen als aussichtslos erweist, bleibt uns nichts anderes als Balder zu befreien!“, rief Ullr.

„Es gibt noch eine Sache, die wir versuchen können“, brummte Odin.

Alle blickten auf den Allvater.

Odin wartete lange, ehe er antwortete: „Mehrere Ereignisse erschüttern die Welt an Ragnarök. Aber Muspels Söhne sind es, die sie vernichten werden. Der Völva nach schwingt Surtr sein Flammenschwert und entfacht damit einen Feuersturm, der sich gierig über alle Welten frisst, bis dieser sie verzehrt.“

„Ein zweites Flammenschwert? Das ist ja verrückt“, sagte Tom mit zu viel Begeisterung, wie Thea fand.

Bedächtig nickte Odin. „Ja, ein zweites. Wir sollten unseres dazu benutzen, um das andere zu zerstören.“

„Das ist doch verrückt!“, wehrte Wal-Freya ab. „Was soll Kyndill gegen Surtalogi bewirken?“

„Feuer bekämpft man mit Feuer. Vielleicht hat uns das Schicksal Kyndill nur für diesen Zweck in die Hand gespielt“, erwiderte Odin.

Wal-Freya schnappte nach Luft, Thor hingegen sprang auf. „Seit Jahren rede ich davon! Lasst uns diese Feuerriesen endlich in die Schranken weisen.“

„Und wie sollen wir das anstellen? Wir schaffen es niemals, ungesehen nach Muspelheim zu reisen“, protestierte Wal-Freya.

„Um Ragnarök zu verhindern, bleiben uns nicht mehr viele Optionen“, entgegnete Hermodr.

Juli schob ihre Brille den Nasenflügel hinauf. „Da ist doch noch dieser dreijährige Krieg auf Midgard. Vielleicht sollten wir den verhindern.“

Odin schüttelte den Kopf. „Lokis Eingreifen in sein Schicksal hat die Dinge aus dem Gefüge gebracht. Ragnarök hat keine Reihenfolge mehr. Erst am Ende der Welt sollte sich Loki von seinen Fesseln befreien und das Schiff Naglfar klar machen. Doch das tut er jetzt bereits. Wenn er die Toten zusammen hat, wird auch die Midgardschlange aktiv. Es hat begonnen ...“

Hermodr brummte nachdenklich. „Wenn wir also Surtr aufhalten, retten wir damit zumindest die Welten. Vielleicht sorgen wir auch dafür, dass die anderen Riesen in ihren Unterschlüpfen bleiben. So müssten wir uns nur um Loki und seine Brut kümmern. Das klingt erst einmal gut.“

Wal-Freya schüttelte ungläubig den Kopf. „Das sind Urriesen! Und es werden verdammt viele sein.“

Thor lachte. „Es sind Riesen. Ob jetzt ein Ur davor steht oder nicht, spielt keine Rolle. Lass es meinetwegen tausend von ihnen sein, ich werde einen nach dem anderen in den Boden stampfen.“

„Oh bitte, Thor! Hast du vergessen, wer dir in Niflheim den Hintern gerettet hat?“, rief Wal-Freya. „Wenn Odin und die anderen nicht aufgetaucht wären ...“

„Ach! Uns wäre etwas eingefallen“, wehrte Thor ab.

Mit Schrecken dachte Thea an Niflheim und die Eisriesen zurück. Sie hatten eine lange, harte Schlacht geschlagen, bei der Wal-Freya an den Rand ihrer Kräfte geraten war, als sie versuchte die Gruppe mit ihren Zaubern zu schützen.

„Außer erneut auf die Suche nach Loki und Fenrir zu gehen, scheint es keine Alternativen zu geben. Und das haben wir schon versucht!“, erwiderte Thor.

„Ich werde euch begleiten“, sagte Odin unerwartet und beschwor damit den Unmut aller Versammelten herauf.

„Auf keinen Fall!“, rief Hermodr. „Das haben wir im Thing besprochen. Das darfst du nicht riskieren!“

Odin erhob sich. „Diesmal werde ich darüber nicht mit euch verhandeln. Thor, Wal-Freya, ihr begleitet mich. Thea ebenfalls.“ Er blickte zu Tom.

„Ich bin dabei“, erklärte dieser und entlockte Odin ein Lächeln.

„Ich auch!“, sagte Juli, ohne darauf zu warten, ob man sie ansprach.

„Das habe ich erwartet“, nickte Odin.

„Ich werde gleichwohl mitkommen“, sagte Tyr.

Odin schüttelte den Kopf. „Ich brauche dich hier, ebenso die anderen. Ihr müsst Asgard beschützen.“

„Du willst nur mit Thor, Wal-Freya und drei Menschen reisen? Ihr könnt euch auch gleich hier umbringen lassen, das ist weniger aufwendig!“, schnappte Tyr.

Hermodr nickte grimmig. „Du wirst nicht nach Muspelheim gehen und dich dort in Gefahr begeben! Wir gehen. Wir sind genug gute Kämpfer, um damit fertig zu werden. Freyr, Magni, Modi und ein paar Walküren werden reichen – und natürlich Thea, wenn du glaubst, dass sie der Schlüssel zum Gelingen des Vorhabens ist.“

„Ihr alle seid dafür verantwortlich, Asgard zu beschützen, während Thor und ich unterwegs sind“, erwiderte Odin.

Abermals wollte Hermodr etwas erwidern, doch Odin hob die Hand und erstickte jedes Wort im Keim. „Mein Entschluss steht fest!“

„Glaubst du wirklich, dass das eine gute Idee ist?“, lenkte Wal-Freya ein.

„Allerdings. Wir werden Surtr das Schwert nehmen und damit das Instrument unsere Welten zu vernichten. Wir haben ihm gegenüber einen großen Vorteil, denn wir wissen, was die Zukunft bringt. Wir kommen ihm zuvor.“

„Ich kann es kaum erwarten!“, frohlockte Thor.

Freyr schüttelte widerstrebend den Kopf. „Wie wollt ihr zu sechst gegen eine Horde Feuerriesen bestehen? Das ist Selbstmord!“

Odins Blick traf in hart. „Mit weniger Kämpfern werden wir auch weniger Aufsehen erregen. Wir werden Surtr keine Möglichkeit geben, sein Heer gegen uns zu sammeln.“

„Ich bin damit nicht einverstanden“, beharrte Freyr.

Odin hob die Hand. „Wir haben zwei Zauberinnen, zwei Kämpfer mit unerschütterlichem Mut ...“

„Und Thor!“, warf der Donnergott ein. „Was braucht die Gruppe mehr? Macht euch mal keine Sorgen!“

„Damit ist es beschlossen“, versetzte Odin endgültig.

Forseti erhob sich. „Ich kann nicht länger schweigen. Ich bin entschieden dagegen. Frigg, sag etwas!“

Ehe Frigg das Wort erheben konnte, hallte ein tiefer Schrei durch die Halle, der jeden erstarren ließ. Begleitet wurde er von einem Donnern, da Odin seine Wut mit einem Schlag auf die Tischplatte entlud. „Ich sagte, ich werde darüber nicht mit euch diskutieren!“, polterte er und erstickte alle weiteren Widersprüche. Betroffenes Schweigen legte sich über die Versammelten.

Nervös drehte Thea ihre Gabel in der Hand. Sie wusste, dass es der schlechteste Zeitpunkt war, den sie sich für ihre Frage aussuchen konnte, aber sie wollte es nicht unversucht lassen: „Darf ich noch einmal nach Midgard gehen, bevor wir aufbrechen? Ich bin schon zu lange fort. Meine Eltern ...“

„Nein!“, sagte Odin bestimmt. „Ich werde nicht deine und Kyndills Sicherheit riskieren, es steht zu viel auf dem Spiel. Sei froh. Wir werden diesem Spuk bald ein Ende bereiten. Sobald der Sonnenwagen seine nächste Bahn über Midgard zieht, reiten wir los. Packt eure Sachen.“

Im Aufstehen lud sich Thor ein Brot und zwei gebratene Hühnchen unter den Arm. „Vor unserer Reise muss ich noch ein paar Dinge erledigen“, erklärte er, drückte Sif einen Kuss auf die Schläfe und verschwand.

„Wie sieht dein Plan aus, Odin?“, griff Wal-Freya die Diskussion erneut auf. Tapfer begegnete sie dem Blick des Allvaters, der sie so unerbittlich traf, dass Thea ungewollt tiefer in ihren Stuhl rutschte.

Odin knurrte jedes Wort. „Wir reisen nach Muspelheim, finden den Aufenthaltsort von Surtr und vernichten sein Flammenschwert.“

„Mit Kyndill“, konkretisierte Wal-Freya.

„Es wird gelingen.“

„Und was ist mit all den anderen Feuerriesen? Wer bekämpft die?“, verlangte Tyr zu wissen.

„Um die kümmert sich Thor“, antwortete Odin. „Wir werden zusehen, dass wir auf so wenig Riesen wie möglich stoßen.“ Er erhob sich und stützte beide Fäuste auf die Tischplatte. „Und jetzt kein weiteres Wort.“

Wal-Freya senkte den Blick. Leicht drehte sie ihren Kopf zu Thea. Ein langer Seufzer begleitete die Worte, die sie ihrem Schützling in Gedanken schickte: „Ich habe dir damals gesagt, dass du das Schwert nicht behalten sollst. Sei hoffnungsvoll. Nach diesem Auftrag werde ich dafür sorgen, dass du deine Eltern wiedersehen kannst.“

„Sorge dich nicht, ich kannte seine Antwort, ehe ich die Frage stellte“, erwiderte Thea gefasst. „Solange du bei mir bist, habe ich keine Angst vor dem, was mich erwartet. Wenn Ragnarök naht, wird die Welt von Kriegen erschüttert, ich weiß, dass ich das alles auch für meine Familie tue. Ich hätte sie vorher nur gerne gesehen und ihnen gezeigt, dass es mir gutgeht. Wir werden es schaffen und dann werde ich sie wiedersehen.“

Wal-Freya lächelte. „So wird es sein.“

„Ich nehme an, du wirst auf Djarfur reiten?“, sprach Odin zu Thea.

Sie zuckte mit den Schultern. „Wenn er es will. Ich werde ihn fragen.“

Odin nickte. „Kümmere dich darum. Ihr anderen sorgt ebenfalls für eure Pferde. Proviant werden die Walküren zusammentragen.“

Frigg verschränkte die Arme vor der Brust. „Ein paar Vorräte, die ihr auf dem Rücken tragt, werden euch wohl kaum durch Muspelheim bringen. Ihr werdet Wasser benötigen. Eine Menge Wasser.“

„So wie in Hel?“, scherzte Tom.

„Niemand weiß, wie es in Muspelheim aussieht, nicht einmal ich. Keiner von uns war jemals dort“, brummte Odin.

„Es ist ein Land des Feuers. Seine Funken sind so weit geflogen, dass sie das Eis um Ymir zum Schmelzen gebracht haben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihr auf viele Flüsse trefft“, antwortete Saga.

Juli streckte in einer Siegespose die Fäuste zur Decke. „Hurra! Endlich müssen wir uns nicht darum sorgen, dass Thea ertrinkt.“

„Sehr witzig“, schmollte Thea.

„Ihr werdet eher verdursten, bevor das passiert“, raunte Hermodr.

Freyr nahm seufzend einen Schluck aus seinem Becher und stand auf. „Ich hole Skidbladnir.“

Thea presste die Lippen zusammen. „Und ich gehe zu Djarfur.“

„Er wird ausflippen“, kommentierte Wal-Freya trocken.

„Bleib! Bis zum Morgen ist noch viel Zeit. Wer weiß, wann wir das nächste Mal ein solches Festessen zu Gesicht bekommen“, warf Juli ein und winkte ihrer Freundin mit einem Pfannkuchen zu.

„Danke, ich habe genug“, erwiderte Thea.

Sie lächelte Juli zu und verabschiedete sich höflich von allen. Dann stand sie auf und verließ die Halle. Schon auf dem Weg nach draußen rief sie nach Djarfur. Sie erwartete die Antwort des Tieres in ihren Gedanken, ebenso wie sie Kontakt zu ihm aufgenommen hatte. Umso erstaunter war sie, als es plötzlich neben ihr schnaubte und Djarfur sie sanft anstieß.

„Ich dachte, du bist zurück nach Folkwang gegangen“, begrüßte sie ihn.

„Hast du gedacht, ich stehe tatenlos auf einer Wiese und grase, während ihr da drinnen meine Zukunft plant?“

Thea hob die Augenbrauen. „Deine Zukunft?“

Djarfur lachte. „Welche sonst? Du bist schon eine Heldin. Sag! Was folgt als Nächstes? Ich begleite dich, komme was wolle!“

„Ich hatte gehofft, dass du das sagst.“

„Wie kannst du daran zweifeln? Egal, wohin es geht, ich bin an deiner Seite. Na ja, eher unter deinem ...“ Er wieherte amüsiert.

Thea rollte die Augen und tätschelte das Pferd dankbar am Hals. „Wir reisen nach Muspelheim. Odin will Surtr das Flammenschwert nehmen.“

Nun schnaubte Djarfur überrascht. „Wirklich? Dorthin? Das ist ... mutig.“

„Was meinst du?“

„Ist Surtr nicht ein Feuerriese?“

„Ja“, antwortete Thea verunsichert.

Djarfur sprang im Kreis und bäumte sich übermütig auf. „Das ist phantastisch! Es wird gefährlich werden – brandgefährlich. Ich bin mir sogar sicher, dass es keinen bedrohlicheren Ort gibt, an den die Zweige des Weltenbaums reichen.“

Freyr trat aus der Halle. Staunend verharrte er an Theas Seite und beobachtete das Walkürenpferd. „Was hat er?“

Thea holte tief Luft. „Er glaubt, dass es gefährlich in Muspelheim wird.“

„Er sieht eher aus, als würde er sich freuen“, staunte er.

„Das tut er.“

Freyr runzelte die Stirn. „Soll einer schlau aus diesem Gaul werden.“ Er zwinkerte amüsiert. „Deswegen schätze ich Gullinbursti.“

Beunruhigt presste Thea die Lippen zusammen. „Meinst du, ich sollte besser nicht mit ihm reiten?“

Djarfur blieb stehen und wieherte auf. „Bist du verrückt? Es gibt kein Pferd in allen neun Welten, das mutiger ist als ich! Ich sagte doch, dass sie noch Lieder von uns singen werden.“

„Ehrlich gesagt denke ich, dass ihr ganz gut zueinander passt“, erwiderte Freyr mit einem Lachen und lief davon.

„Was ...“, stutzte Thea. „Was soll das nun heißen?“

Freyr winkte nur über seine Schulter und verschwand.

2. Kapitel

Wie so oft in den letzten Tagen, saß Thea am Rand Asgards. Diesmal wartete sie auf den Sonnenwagen und ihren baldigen Aufbruch nach Muspelheim. Schwermütig betrachtete sie die Landmasse unter ihren Füßen. In einem breiten weißen Teppich zogen die Wolken über das Firmament hinweg. Hier und da ließen sie einen Blick auf den Kontinent zu und erlaubten Thea, ihren Gedanken freien Lauf zu lassen. Das Aufschauen der Fylgja kündigte einen Gast an, noch ehe dieser seine Stimme erhob. „Natürlich finden wir dich hier!“

Thea drehte sich um und lächelte gezwungen. Es war Juli. Begleitet wurde sie von Tom und der jüngsten der Baba Jagas.

„Du musst aufhören Trübsal zu blasen“, stimmte Tom zu. Er setzte sich neben sie und legte seine Hand auf ihr Knie. Die zärtliche Berührung tröstete Thea, sie erwischte sich aber dabei, dass sie ertappt in Richtung ihrer Freundin blickte, der die Geste nicht entgangen war. Was immer Juli empfand, sie verbarg es. Thea legte ihre Hand auf die von Tom, drückte sie dankbar und schob sie sanft von sich weg.

„Ich blase kein Trübsal. Ich denke nach“, widersprach sie.

„Du starrst seit Tagen Löcher in die Wolken“, erwiderte Baba Jaga vorwurfsvoll.

„Zwischendurch war ich in Gladsheim und habe meinen neuen Auftrag entgegengenommen“, antwortete Thea mit einem Zwinkern.

Juli stellte sich auf die Zehenspitzen und äugte in die Tiefe. „Vielleicht werfen wir wieder ein paar Steinchen auf Midgard – nur ganz kleine. Das bringt dich auf andere Gedanken. Wir könnten versuchen, den Eiffelturm zu treffen.“

„Bist du wahnsinnig? Ich werde mir nicht noch einmal eine Strafpredigt von Wal-Freya anhören!“, rief Tom sofort.

Juli lachte und Thea fiel mit ein. Tom schaute so entsetzt, als würde er mit Fenrir persönlich in einen Kerker gesperrt.

„Das war ein Scherz“, stellte er fest.

„Natürlich!“ Juli zwinkerte. „Aber es hat funktioniert. Es hat sie abgelenkt.“

Thea seufzte. „Ich kann nichts dafür. Ich vermisse meine Familie. Wir reisen schon wieder fort und sie werden weiterhin auf uns warten. Habt ihr denn nie Sehnsucht nach euren Eltern?“

Juli zuckte mit den Schultern. „Ab und zu ein bisschen. Aber da sind wir eben anders. Im Gegensatz zu dir habe ich Eltern, die ohnehin kaum zu Hause sind. Ich bin nicht so eng mit ihnen wie du mit deiner Familie. Und jetzt aufstehen! Du wirst dich ein wenig von Thor ablenken lassen. Er hat dich einbestellt.“

„Das ist lieb. Sag ihm, er soll mir nicht böse sein, aber bis wir aufbrechen, möchte ich hierbleiben. Außerdem bin ich nicht hungrig.“

„Das sagst du ihm schön selbst. Er ist im Stande und schickt mich die Treppe noch einmal runter“, versetzte Juli.

Baba Jaga kicherte. „Du hättest Juli mal fluchen hören sollen, bevor sie sich endlich in Bewegung gesetzt hat.“

„Ja! Und ihr Gesicht, als sie Thor mit seinem Wagen hat davonfahren sehen“, gluckste Tom.

„Er ist weggefahren?“, staunte Thea.

Juli zuckte mit den Schultern. „Ja. Er sagte allerdings, er sei gleich wieder da und bis dahin sollst du in Thrudheim sein.“ Sie beugte sich zu ihrer Freundin hinunter und stieß ihr sachte mit der Faust auf den Arm. „Nun komm!“

Mit einem Lächeln erhob sich Tom und half Thea auf. Ohne Gegenwehr schloss sie sich ihren Freunden an.

Ihr Weg führte sie die goldene Treppe hinauf, neben der sich die Götterpaläste zu einem einzigen Gebilde verwoben. Thrudheim, der Ort, an dem Thors Palast Bilskirnir stand, offenbarte sich erst hinter einem dichten Tannenwäldchen. Die Freunde waren den Weg schon so oft gegangen, dass es ihnen keine Mühe machte, den versteckten Pfad zu finden. Die weite Hügellandschaft, die dem Wald folgte, mischte sich mit vielen kleinen Schonungen, über die sich weithin sichtbar der goldene Weg zu Thors Halle schlängelte. Als sie das leuchtende Gebäude mit dem reetgedeckten Dach erreichten, klopfte Juli an die Tür. Ohne auf ein Zeichen von innen zu warten, trat sie ein. Sie waren gern gesehene Besucher in Asgard und das Ausharren auf Einlass hatte man ihnen rasch abgewöhnt.

Sif stellte gerade eine Fleischplatte auf der großen Tafel ab. Lächelnd schaute sie von ihrer Arbeit auf und begrüßte die Ankömmlinge. Seufzend überschaute Thea die Speisen. Sie hatte Recht behalten. Natürlich hatte Thor zum Festmahl gerufen. Röskva und Thjalfi bestätigten den Verdacht, als sie weitere Köstlichkeiten auf dem Tisch anrichteten. Nicht ohne die drei zusätzlichen Gedecke außer Acht zu lassen, nahm Thea Platz. Vielleicht erwartete Thor seine Kinder Magni, Modi und Thrud. Ihre Aufmerksamkeit wurde auf ihre Fylgja gelenkt, da sich diese unvermittelt schnurrend und leise maunzend an der Haustür rieb.

Juli setzte sich neben ihre Freundin und knuffte ihr in die Seite. „Und das wolltest du dir entgehen lassen!“

Die sich öffnende Tür nahm Thea die Antwort von den Lippen. Mit einem breiten Grinsen trat Thor ein. In seiner Begleitung befand sich ein blonder Junge, dessen Kleider sofort verrieten, dass er aus Midgard stammte. Er trug Jeans, Sneakers und einen Pullover. Kurz hinter ihm erschienen eine Frau und ein Mann. Fröhlich stieß die Fylgja ihr Köpfchen an die Beine der Ankömmlinge. Thea glaubte ihren Augen kaum. Quiekend sprang sie auf und stürzte ihren Eltern in die Arme. Eine Woge des Glücks umfing sie. Niemals hätte sie diese Begegnung für möglich gehalten.

„Und wo ist der Rest?“, beschwerte sich Juli. „Hast du nur Theas Eltern mitgebracht?“

„Deine sind an einem Ort, den die Menschen Malaysien nennen. Ich wäre nicht rechtzeitig vor unserem Aufbruch zurückgewesen. Außerdem habt ihr beide nicht den Eindruck gemacht, dass es euch so wichtig ist.“

„Selbstverständlich wäre es das! Na ja, irgendwie ist es auch wieder typisch, wie immer sind sie nicht zu Hause.“

Thor lachte erheitert und nahm Platz.

Die Familie öffnete den Kreis. Einladend winkte Theas Mutter den Jungen heran, der die Szene still beobachtete.

„Komm zu uns, Mats. Das ist deine Schwester!“

Thea durchfuhr ein Blitz. Die Ähnlichkeit des Jungen mit ihrem kleinen Bruder war nicht von der Hand zu weisen, doch er war um wenigstens zwanzig Zentimeter gewachsen. Er wirkte so viel älter, zudem schien er keine Erinnerungen mehr an sie zu haben.

„Was hat das zu bedeuten?“, flüsterte Thea. Sie ahnte die Antwort bereits, wagte aber nicht, den Gedanken weiter zu führen.

Thor brummte abwehrend.

„Es sind zwei Jahre vergangen“, sagte ihre Mutter mit erstickter Stimme.

Erschrocken legte Thea die Hand über den Mund. Ihr Vater drückte sie an sich, als sich ihre Augen mit Tränen füllten. „Du kannst nichts dafür“, wisperte er und gab ihr einen Kuss aufs Haar.

Sif trat heran. „Komm Mirjana, setz dich zu uns, oder möchtest du, dass ich dich Ilona nenne?“

Sie schüttelte den Kopf. „Das ist in Ordnung.“

Thea musterte ihre Mutter. Auch Wal-Freya sprach von ihr niemals als Ilona. Möglicherweise hatten die nordischen Götter Gefallen an ihrem Zweitnamen gefunden.

Sif nickte und deutete auf die Plätze an der Tafel. „Setzt euch alle, wir haben nicht viel Zeit, doch wir können ein paar Fragen aus dem Weg räumen und über Vergangenes sprechen.“

Thea löste sich aus der Umarmung und kniete zu ihrem Bruder nieder. Behutsam ergriff sie seine Hände. „Erkennst du mich denn gar nicht?“

„Wir haben ein Bild von dir im Wohnzimmer stehen. Mama und Papa haben immer von dir gesprochen. Sie haben mir aber nie gesagt, wohin du gegangen bist.“ Sein Blick fiel auf Kyndill.

„Das hätte auch eher an ein Märchen erinnert“, antwortete Thea betrübt. Sie sah zu ihrem Vater. „Zuletzt waren wir in Hel ...“ Lokis Worte drangen in ihr Gedächtnis. „Er hatte Recht. Loki sagte, der Strom der Zeit würde ihn Hel anders verlaufen.“ Sie warf einen Blick zu Tom und Juli, die diesen erschüttert erwiderten.

„Thor sagte, es ist noch nicht so weit, dass ihr zurück nach Midgard kommt“, flüsterte ihre Mutter.

„Setzt euch!“, erneuerte Sif ihre Aufforderung. Sie kam heran, nahm sanft die Hand der Mutter und führte sie an den Tisch. Die Fylgja blieb mit zufriedenem Blick zurück und rollte sich zum Schlafen vor der Tür ein.

Mirjana Helmken schloss Juli und Tom in die Arme, bevor sie neben Juli Platz nahm. Thea setzte sich zu ihr, gleich dann folgte ihr Vater. Auch er ließ sich nicht nieder, ohne zuvor Juli und Tom zu begrüßen. Etwas verhalten rückte Mats an den Tisch. Seine Achtsamkeit ruhte auf Thor, der ihm freundlich zuzwinkerte.

„Keine Sorge, Junge. In Asgard brauchst du nichts und niemanden zu fürchten.“

„Zwei Jahre, Thor?“, wiederholte Thea mit Schrecken. Sie griff nach dem Arm ihrer Mutter. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, wie sich ihre Eltern in der Zeit gefühlt hatten. „Wie ist das möglich?“

Thor seufzte. „Das hat irgendwie mit Hel zu tun.“

Baba Jaga nickte bestätigend. „Loki hat dir nichts vorgemacht.“

„Aber ...“ Thea versuchte das Gehörte zu verstehen, doch es gelang ihr nicht.

„Wie kann das sein?“, sprach Juli die Frage aus. „Wir haben uns dort nicht in Zeitlupe bewegt und tot sind wir auch nicht. Also nicht wirklich ...“ Sie sah zu Thea, die sie mit einem vernichtenden Blick zum Schweigen brachte.

Baba Jaga schüttelte den Kopf. „Nein, natürlich nicht. Das lässt sich schwer erklären. Odin sagt, die Zeit dort ist einfach eine andere. Man merkt es nicht, wenn man sich in ihr bewegt.“

„Hat Odin das gewusst, bevor er uns dort hingeschickt hat?“, schnappte Thea.

„Nein. Niemand von uns war je lang genug in Hel gewesen, um das festzustellen“, erwiderte Thor.

„Und du? Hast du zwei Jahre vor Utgard-Lokis Feste gesessen und gewartet?“, staunte Juli.

Thor fasste sich an den Hinterkopf. „Nicht ganz“, lachte er. „Aber ja. Für uns fühlen sich zwei Jahre nicht so an wie für euch. Denk an Odin und Frigg. Ein Streit zwischen ihnen kann rasch zwei Wochen dauern.“

„Unsere armen Eltern“, brummte Tom.

„Es tut mir so leid“, sagte Thea.

Theas Vater seufzte. „Es war nicht leicht. Wir wussten, wo du bist. Toms Mutter hingegen hat alle Hoffnungen fahren lassen.“ Er sah zu ihm. „Sie fürchtet, dich nie wieder zu sehen.“

Tom schüttelte den Kopf. „Die ärmste.“

„Wolltet ihr euch nicht darum kümmern, sie zu informieren?“, murrte Juli.

Der Donnergott brummelte abwehrend. „Wal-Freya hat das übernommen.“

Mirjana nickte. „So war es. Einige Wochen, nachdem ihr fortgegangen seid, kamen Walküren und teilten uns mit, dass wir uns auf eure Rückkehr gedulden müssen.“

Der Vater seufzte bestätigend. „Weißt du, wie schwer es mir zunächst fiel, deiner Mutter zu glauben, dass du zusammen mit Juli und Tom nach Asgard aufgebrochen bist? Ich dachte, sie hätte den Verstand verloren. Ehe diese Frauen auftauchten, ging ich davon aus, sie einweisen zu müssen.“

„Es tut mir leid. Wal-Freya hielt es für eine gute Sache, euch nicht wieder im Unklaren über unseren Aufenthaltsort zu lassen. Du warst leider nicht da, um es dir ebenfalls zu zeigen.“

„Diese Sigrún konnte mich davon überzeugen, dass deine Mutter nicht verrückt geworden ist. Besser gemacht hat es das aber nicht. Nach zwei Monaten warst du noch immer nicht zurück. Wir machten uns große Sorgen. Von den nordischen Göttern fehlte bis zum heutigen Tag jede Spur.“ Mit leichtem Vorwurf blickte er zu Thor.

„Sieh mich nicht an, ich war beschäftigt“, erwiderte dieser mit erhobenen Händen. Dann schnappte er sich ein Stück Fleisch und stopfte es in den Mund. „Jetzt seid ihr ja da. Nutzt die Zeit lieber. Bedient euch und sprecht miteinander.“

Thea blickte zu ihrer Fylgja, die unverwandt vor der Haustür lag und schlief. „Ich habe Großvater getroffen“, sagte sie unerwartet. „Ich soll dich grüßen, Mama.“

Ihre Mutter staunte. „Großvater?“

Abwechselnd erzählten sie von ihren Abenteuern, davon, wie sie Fenrir jagten, auf Baba Jaga und Angrboda stießen und sie die Spur von Lokis Sohn schließlich verloren. Sie beschrieben ihren Weg durch Hel und dass Balder nach Lokis Verrat die Entscheidung traf, in der Unterwelt zu bleiben. Die gefährlichen Situationen sparten sie aus. Immer wenn jemand von ihnen drohte, zu viel zu offenbaren, fielen sie sich gegenseitig ins Wort.

„Und nun müssen wir nach Muspelheim, um Midgards Vernichtung zu verhindern“, schloss Juli.

„Das Schärfste hätten wir fast vergessen. Thea kann jetzt zaubern, so richtig!“, fügte Tom hinzu. Er sah sie mit einem Stolz an, der Thea peinlich berührte.

„Nur ein bisschen“, wehrte sie ab.

Tom lachte. „Ein bisschen? Sie kann Dinge bewegen und Luftblasen zaubern ...“

Zum ersten Mal, seit sie das Gespräch begonnen hatten, meldete sich Mats zu Wort: „Echt? Sie zaubert?“ Er griff nach einem Pfannkuchen.

Sein Vater sah ihn streng an. „Dir ist klar, dass du niemandem davon erzählen darfst.“

Baba Jaga winkte ab. „Das würde keiner glauben.“

„Trotzdem! Nicht auszudenken, was passiert, wenn er auf dem Schulhof erzählt, dass seine Schwester nach Asgard gereist ist, um den Untergang der Welt zu verhindern ...“

Thor lachte. „In früheren Zeiten hätte man euch und eure ganze Sippe dafür verehrt und mit Geschenken überhäuft.“

„Wie sich Dinge ändern. Heute wandert man dafür zum Psychologen“, kicherte Juli.

Sif rückte ihren Teller vor. „Das ist bedauerlich.“

Alle nickten. Im gleichen Augenblick wurde die Tür aufgestoßen. Die Fylgja sprang mit einem erstaunten Laut zur Seite. Sämtliche Aufmerksamkeit richtete sich auf die Person, die im Türrahmen stand.

„Hier steckt ihr. Wir warten auf euch“, sagte Wal-Freya und geriet sofort ins Stocken, als sie die drei Menschen entdeckte, die mit Thea am Tisch saßen. „Mirjana, Thorsten, Mats“, erkannte sie. Rügend wanderte ihr Blick zu Thor. „Du hast sie hierher gebracht?“

„Wenn Thea nicht zu ihnen kann, dann müssen sie eben zu ihr“, erwiderte der Donnergott leichthin.

Die oberste der Walküren trat auf Mats zu, strich ihm übers Haar und begrüßte erst Theas Vater, ehe sie Mirjanas Hand in die ihre schloss. „Verzeih uns. Erneut benötigen wir die Hilfe deiner Tochter. Du wirst dich noch einmal auf ihre Rückkehr gedulden müssen.“

„Das wissen wir“, sagte Mirjana leise.

„Hätten wir eine Wahl, würden wir es verbieten“, nickte der Vater.

„Ihr habt keine Wahl“, sagte Wal-Freya freundlich.

Sif erhob sich und deutete auf den Platz. „Setz dich zu uns, Wal-Freya.“

„Ich würde deine Einladung gerne annehmen, aber ich bin gekommen, um Thea auf die Reise vorzubereiten.“ Sie sah zu ihr. „Wir müssen deine Sachen packen.“

„Ihr Zauberzeugs“, sagte Juli bedeutungsvoll zu Mats.

„Ja, ihr Zauberzeugs“, bestätigte Wal-Freya nachdrücklich.

„Kann das nicht warten?“, flehte Thea.