Die Midkemia-Saga 3 - Raymond Feist - E-Book

Die Midkemia-Saga 3 E-Book

Raymond Feist

4,8
9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Krieg und Intrigen, Ehre und Tod, Liebe und Hass.

Arutha conDoin, Thronerbe von Rillanon und Lordmarschall des Westens, soll ermordet werden. Doch der vergiftete Bolzen trifft nicht ihn, sondern seine Verlobte. Selbst der mächtige Magier Pug kann sie nicht heilen. Arutha setzt alles daran, seine Feinde aufzuspüren und ein Heilmittel zu finden. Doch bei dem Mordversuch ging es nicht um die Krone von Rillanon oder um Intrigen bei Hofe. In den Augen seiner Feinde ist Arutha nur ein störendes Insekt. Denn die ebenso mächtigen wie schrecklichen Valheru bereiten ihre Rückkehr in die Welt der Menschen vor, und kein Sterblicher ist ihrer Macht gewachsen …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 688

Bewertungen
4,8 (16 Bewertungen)
13
3
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Arutha conDoin, Thronerbe von Rillanon und Lordmarschall des Westens, soll ermordet werden. Doch der vergiftete Bolzen trifft nicht ihn, sondern seine Verlobte. Selbst der mächtige Magier Pug kann sie nicht heilen. Arutha setzt alles daran, seine Feinde aufzuspüren und ein Heilmittel zu finden. Doch bei dem Mordversuch ging es nicht um die Krone von Rillanon oder um Intrigen bei Hofe. In den Augen seiner Feinde ist Arutha nur ein störendes Insekt. Denn die ebenso mächtigen wie schrecklichen Valheru bereiten ihre Rückkehr in die Welt der Menschen vor, und kein Sterblicher ist ihrer Macht gewachsen …

Autor

Raymond Feist wurde 1945 in Los Angeles geboren und lebt in San Diego im Süden Kaliforniens. Viele Jahre lang hat er Rollenspiele und Computerspiele entwickelt. Aus dieser Tätigkeit entstand auch die fantastische Welt Midkemia seiner Romane. Die in den 80er Jahren begonnene Saga ist bereits ein Klassiker des Fantasy-Genres, und Feist gilt als einer der wichtigsten Vertreter der Fantasy in der Tradition Tolkiens.

Raymond Feist bei Blanvalet:

Die Midkemia-Saga: 1. Der Lehrling des Magiers, 2. Der verwaiste Thron, 3. Die Gilde des Todes

Weitere Titel in Vorbereitung

Besuchen Sie uns auch auf www.facebook.com/blanvalet und www.twitter.com/BlanvaletVerlag

Raymond Feist

Die Midkemia-Saga 3

Die Gilde des Todes

Deutsch von Dagmar Hartmann

Die Originalausgabe erschien 1985 unter dem Titel »The Riftwar Saga 3: Silverthorn« bei Bantam Books, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält

technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die

Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte

Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche

Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt

und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe

Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung

eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag

keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage

Copyright der Originalausgabe © 1985 by Raymond Feist

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 1985 by Verlagsgruppe

Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Peter Thannisch

Umschlaggestaltung und -illustration: © Isabelle Hirtz, Inkcraft, in

Zusammenarbeit mit Max Meinzold und Melanie Korte

Karte: © Melanie Korte

HK · Herstellung: kw

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in Germany

ISBN 978-3-641-18448-3V001

www.blanvalet.de

Prolog

Die Dämmerung

Die Sonne versank hinter den Gipfeln.

Die letzten wärmenden Strahlen liebkosten den Boden, und vom Tag blieb nur ein rötliches Glühen am Horizont. Aus dem Osten näherte sich mit Riesenschritten blauschwarze Nacht. Der Wind schnitt wie eine scharfe Klinge durch die Berge, als wäre der Frühling nicht mehr als ein verblassender Traum gewesen, und das Eis des Winters haftete noch in schattigen Mulden.

Auf einmal waren die Tritte schwerer Stiefel zu hören, und aus dem Abenddunkel traten drei Gestalten in den Feuerschein. Die alte Hexe blickte auf, und ihre Augen weiteten sich ein wenig beim Anblick der drei Männer. Sie kannte den ganz links, den breitschultrigen, stummen Krieger mit der Skalplocke auf dem geschorenen Schädel. Schon einmal war er hier gewesen und hatte ihre Hilfe haben wollen für magische Riten. Sie hatte ihn fortgeschickt, obgleich er ein mächtiger Häuptling war, denn er war von Natur aus böse. Zwar bedeutete es der Hexe wenig, ob jemand oder etwas gut oder böse war, aber selbst für sie gab es Grenzen. Außerdem mochte sie die Moredhel nicht, und schon gar keinen, der sich als Zeichen seiner Ergebenheit gegenüber den finsteren Mächten selbst die Zunge abgeschnitten hatte.

Der Stumme betrachtete sie mit Augen, die für einen Angehörigen seiner Rasse ungewöhnlich blau waren. Seine Schultern wirkten breiter als die der meisten Männer, selbst jener von den Bergstämmen, die noch kräftigere Arme und Schultern hatten als ihre in den Wäldern hausenden Vettern. Er trug goldene Ringe in den großen Ohren, die anzubringen zweifellos schmerzhaft gewesen war, denn die Moredhel hatten keine Ohrläppchen. Drei Narben verunstalteten jede Wange – mystische Symbole, deren Bedeutung die Alte sehr wohl kannte.

Der Stumme gab seinen Begleitern ein Zeichen, und der ganz rechts schien zu nicken. Ob er es wirklich tat, war schwer zu erkennen, da die tief ins Gesicht gezogene Kapuze seiner Kutte keinen Blick auf seine Züge zuließ. Beide Hände steckten in den ineinander überlaufenden weiten Ärmeln. Als spreche er aus weiter Ferne, sagte der Vermummte: »Wir begehren, dass du uns die Zeichen deutest.« Seine Stimme klang leicht zischelnd und hatte einen fremdartigen Klang. Eine Hand glitt aus dem Ärmel, und unwillkürlich wich die Hexe zurück, denn diese Hand war missgestaltet und schuppig, eine mit Schlangenhaut überzogene Klaue. Da erkannte sie, was für eine Kreatur sie vor sich hatte: einen Priester des pantathianischen Schlangenvolks. Verglichen mit ihresgleichen, standen die Moredhel geradezu in hohem Ansehen bei der Hexe.

Sie wandte ihre Aufmerksamkeit von den beiden links und rechts und widmete sie dem Mann in der Mitte. Er war einen ganzen Kopf größer als der Stumme und von noch kräftigerem Körperbau. Bedächtig nahm er seinen Bärenfellumhang ab – der Bärenschädel diente ihm als Helm – und warf ihn achtlos zur Seite. Die alte Hexe holte erschrocken Luft, denn er war der beeindruckendste Moredhel, den sie je gesehen hatte. Er trug die dicke Hose und kniehohen Stiefel der Bergstämme, und die offene Weste entblößte mehr seines Oberkörpers, als sie bedeckte. Sein kraftstrotzender Körper glänzte im Feuerschein, und er beugte sich ein wenig vor, um die Hexe zu mustern. Sein Gesicht war fast erschreckend in seiner nahezu vollkommenen Schönheit. Doch was sie verstört hatte, mehr noch als sein furchtgebietendes Aussehen, war das Zeichen auf seiner Brust.

»Kennst du mich?«, fragte er die Alte.

Sie nickte. »Ich glaube zu wissen, wer Ihr seid.«

Noch weiter beugte er sich vor, bis sein Gesicht von unten vom Glanz des Feuers beschienen wurde und etwas von seinem Wesen verriet.

»Ich bin der, der ich zu sein scheine«, wisperte er lächelnd. Furcht erfüllte sie, denn hinter seinen gut geschnittenen Zügen und dem scheinbar gütigen Lächeln erkannte sie die Fratze des Bösen. »Wir begehren, dass du uns die Zukunft deutest«, wiederholte er.

Sie kicherte. »Selbst einem so Mächtigen sind Grenzen gesetzt?«

Das Lächeln des schönen Moredhels schwand. »Seine eigene Zukunft zu lesen ist nicht erlaubt.«

Sie fand sich mit ihrem wohl unausweichlichen Los ab und sagte: »Ich brauche Silber.«

Der Moredhel nickte. Der Stumme kramte eine Münze aus seinem Gürtelbeutel und warf sie auf den Boden vor die Hexe. Statt nach ihr zu greifen, mischte sie ein paar Zutaten in einer Steinschale und goss das Ganze auf das Silber. Ein Zischen stieg sowohl von der Münze als auch vom Schlangenmann auf. Eine Klaue mit grünen Schuppen begann Zeichen in die Luft zu schreiben. Die Hexe fauchte: »Lass den Unsinn, Schlange. Eure Heißlandmagie würde mein Lesen nur beeinträchtigen!«

Eine sanfte Berührung und ein Lächeln des Mittleren, welcher der Hexe zunickte, hielt den Schlangenmann zurück.

Die Hexe krächzte fast, so trocken war ihre Kehle vor Angst, als sie fragte: »Was wollt Ihr wissen? Sagt es mir wahrhaftig.« Sie studierte die zischende Silbermünze, die nun ganz mit brodelndem grünem Schleim bedeckt war.

»Ist es Zeit? Soll ich nun tun, was vorbestimmt ist?«

Eine grellgrüne Flamme hüpfte von der Münze und tanzte. Die Hexe folgte angespannt ihrer Bewegung. Sie las etwas aus der Flamme, das nur sie erkennen konnte. Nach einer Weile sagte sie: »Die Blutsteine formen das Feuerkreuz. Das, was Ihr seid, seid Ihr. Das, was zu tun Ihr geboren seid – tut es!«

Bei den letzten Worten war ihre Stimme nicht mehr als ein Hauch.

Etwas im Gesichtsausdruck der Hexe machte den Moredhel misstrauisch: »Was sonst, Alte?«

»Ihr seid nicht ohne Gegner, und es gibt einen, der Euch gefährlich werden kann. Ihr steht nicht allein, denn hinter Euch … Ich verstehe es nicht.« Ihre Stimme klang schwach, war kaum zu vernehmen.

»Was?« Diesmal lächelte der Moredhel nicht.

»Etwas … etwas Ungeheuerliches, etwas Fernes, etwas Böses …«

Der Moredhel dachte sichtlich nach, dann wandte er sich an den Schlangenmann und sagte weich, doch gebieterisch: »So geh denn, Cathos. Setz deine geheimen Kräfte ein und stell fest, wo dieser Sitz der Schwäche zu suchen ist. Gib unserem Feind einen Namen! Finde ihn!«

Der Schlangenmensch verneigte sich schwerfällig und schlurfte aus der Höhle. Nun wandte sich der Moredhel an seinen stummen Begleiter: »Hebt die Standarten in den Wind, mein General, und lasst die getreuen Stämme sich auf der Ebene von Isbandia sammeln, unter den Türmen von Sar-Sargoth. Erhebt über alle jene Standarte, die ich für mich erkor, und verbreitet, dass wir mit dem beginnen, was uns vorbestimmt ist. Ihr sollt mein Feldherr sein, Murad, und alle sollen wissen, dass Ihr der Höchste unter meinen Getreuen seid. Ruhm und Größe erwarten uns! Sobald die besessene Schlange unser Opfer zu nennen weiß, führt die Schwarzen Meuchler an. Mögen jene, deren Seelen mein sind, uns dienen, indem sie den Feind stellen! Findet ihn! Vernichtet ihn! Geht!«

Der Stumme nickte knapp und verließ die Höhle. Der Moredhel mit dem Zeichen auf der Brust wandte sich der Hexe zu. »Nun, menschlicher Abschaum, weißt du, welche finsteren Mächte unterwegs sind?«

»Ja, Bote der Vernichtung, ich weiß es. Bei der finsteren Herrin, ich weiß es!«

Sein Lachen war kalt, freudlos. »Ich trage das Zeichen.« Er deutete auf das purpurne Muttermal auf seiner Brust, das sich im Feuerschein zu entzünden schien. Es bestand kein Zweifel, dass es keine übliche Entstellung war, sondern eine Art Talisman, denn es bildete die deutlichen Umrisse eines fliegenden Drachen. Er hob den Finger, deutete aufwärts. »Ich habe die Macht.« Mit dem erhobenen Finger zeichnete er einen Kreis. »Ich bin der Vorherbestimmte. Ich bin das Schicksal!«

Die Hexe nickte. Sie wusste, dass der Tod seine Klauen nach ihr ausstreckte. Hastig murmelte sie eine der schwierigen Beschwörungen, und ihre Hände schrieben Zeichen in die Luft. Kräfte sammelten sich in der Höhle, und ein eigenartiges Wehklagen erklang.

Der Krieger vor ihr schüttelte lediglich den Kopf. Sie hatte einen Zauber gewirkt, der ihn eigentlich an Ort und Stelle hätte zerschmettern müssen. Doch nichts dergleichen geschah, er grinste nur boshaft und sagte hämisch: »Willst du mich vielleicht mit deinen lächerlichen Künsten verunsichern, Seherin?«

Als ihr klar wurde, dass sie nichts erreichte, schloss sie die Augen, setzte sich aufrecht und erwartete ihr Los. Der Moredhel richtete einen Finger auf sie. Ein Silberstrahl zuckte heraus und traf die Hexe. Sie schrie auf vor unerträglichen Qualen, ehe sie im weißglühenden Feuer zu bersten schien. Einen Augenblick war ihre Gestalt noch schwarz und sich windend in der schrecklichen Lohe zu sehen, dann fiel sie mit den Flammen in sich zusammen.

Der Moredhel warf einen flüchtigen Blick auf die Asche am Boden. Mit abgrundtiefem Gelächter hob er seinen Bärenfellumhang auf und verließ die Höhle.

Vor dem Eingang warteten seine Begleiter mit seinem Pferd. Weit unten konnte er das Lager seiner Truppe sehen, klein noch, aber es würde wachsen. Er saß auf. »Nach Sar-Sargoth!«, rief er. Mit einem heftigen Zügelruck drehte er sein Pferd herum und führte den Stummen sowie den Schlangenpriester den Hang hinab.

Das Wiedersehen

Das Schiff war auf dem Weg nach Hause.

Der Wind wechselte die Richtung, und die Stimme des Kapitäns erklang. An den Masten beeilte sich die Mannschaft, den Forderungen einer steiferen Brise und eines Schiffsführers nachzukommen, der es eilig hatte, sicher in den Hafen einzulaufen. Ein erfahrener Segelmeister war er, fast dreißig Jahre in des Königs Marine, und seit siebzehn Jahren befehligte er sein eigenes Schiff. Der Königsadler war das beste Schiff der königlichen Flotte, trotzdem wünschte sich der Kapitän mehr Wind, eine höhere Geschwindigkeit, da er keine Ruhe haben würde, bis seine Passagiere sicher an Land waren.

Am Vorderdeck befanden sich die Gründe für die Sorge des Kapitäns: drei hochgewachsene Männer. Zwei, ein blonder und ein dunkelhaariger, standen an der Reling und machten offenbar Witze, denn beide lachten. Jeder von ihnen hatte die selbstsichere Haltung eines Kriegers oder Jägers. Lyam, der König des Reiches der Inseln, und Martin, sein älterer Bruder und Herzog von Crydee, unterhielten sich über so allerlei: über Jagden und Feste, über Reisen und Staatsgeschäfte, über Krieg und sonstige Auseinandersetzungen, und dann und wann sprachen sie über ihren Vater, Herzog Borric.

Der dritte, nicht ganz so groß und breitschultrig wie die zwei, lehnte etwas abseits an der Reling und hing seinen Gedanken nach. Arutha, Fürst von Krondor und der jüngste der drei Brüder, beschäftigte sich ebenfalls mit Vergangenem, doch nicht mit dem Vater, der im Kampf gegen die Tsuranis gefallen war, in dem Krieg, den man nunmehr »Spaltkrieg« nannte, da der Feind durch einen Spalt im Raum von einer anderen Welt gekommen war. Nein, er starrte ins Kielwasser des Schiffes, das durch smaragdgrünes Gewässer schnitt, und sah in ihm zwei strahlend grüne Augen.

Der Kapitän warf einen Blick empor und befahl, die Segel zu reffen. Wieder wandte er seine Aufmerksamkeit flüchtig den drei Männern auf dem Vorderdeck zu und murmelte ein Stoßgebet zu Kilian, der Göttin der Seefahrer. Wie sehr er sich wünschte, Rillanons hohe Türme wären bereits in Sicht! Denn diese drei Männer waren die mächtigsten und wichtigsten im Königreich. Der Schiffsführer wollte lieber gar nicht daran denken, welch Chaos ausbrechen würde, wenn im letzten Augenblick noch irgendetwas schiefgehen würde.

Nur dumpf vernahm Arutha die Rufe des Kapitäns und die Antworten seiner Leute. Die Ereignisse des vergangenen Jahres hatten ihn viel Kraft gekostet, und in seiner Erschöpfung achtete er wenig auf das, was sich um ihn tat. Bloß ein Gedanke beschäftigte ihn: Er kehrte nach Rillanon zurück – und zu Anita.

Arutha lächelte vor sich hin. Die ersten achtzehn Jahre seines Lebens erschienen ihm nun schier ereignislos. Dann aber hatte die Invasion der Tsuranis die Welt für immer verändert. Man zählte ihn zu einem der besten Feldherrn des Königreichs, er hatte unerwartet mit Martin einen weiteren Bruder erhalten, und er hatte tausend Grauen und Wunder gesehen und erlebt. Das Wundersamste aber für Arutha war Anita.

Nach Lyams Krönung waren sie durch die Umstände getrennt worden, denn Arutha hatte Lyam mit Martin auf eine einjährige Reise durch den Osten begleitet, wo der neue König sowohl die Fürsten der Provinzen als auch die Herrscher der angrenzenden Reiche besuchte. Endlich kehrten sie zurück.

Lyams Stimme riss Arutha aus seinen Gedanken. »Was siehst du in den Schaumkronen, kleiner Bruder?«

Martin lächelte, als Arutha aufblickte. Der ehemalige Jagdmeister von Crydee, einst Martin Langbogen genannt, nickte seinem jüngsten Bruder zu. »Ich wette die Steuern eines ganzen Jahres, er sieht ein grünes Augenpaar und ein herzliches Lächeln in den Wellen.«

»Ich nehme die Wette nicht an, Martin. Seit wir Rillanon verlassen haben, erhielt ich drei Botschaften von Anita, die mit dem einen oder anderen Staatsgeschäft zu tun hatten. Die halten sie offenbar in Rillanon fest, während ihre Mutter bereits einen Monat nach meiner Krönung nach Hause zurückkehrte. Arutha dagegen hat, grob geschätzt, während der ganzen Zeit im Durchschnitt zwei Botschaften pro Woche von ihr bekommen. Man könnte daraus Schlüsse ziehen.«

»Hätte ich jemanden, der wie sie auf mich wartet, könnte ich auch nicht schnell genug zurückkehren«, sagte Martin.

Arutha war ein in sich gekehrter Mensch, dem es schwerfiel, seine tiefen Gefühle zu zeigen, und er war doppelt empfindlich, wenn es um Anita ging. Er liebte das schlanke Mädchen von ganzer Seele und war berauscht von der Art, wie sie sich bewegte, von dem Klang ihrer Stimme, der Innigkeit, mit der sie ihn anblickte. Doch obwohl diese beiden Männer möglicherweise die Einzigen in ganz Midkemia waren, denen er sich so verbunden fühlte, dass er ihnen seine Gefühle zeigen könnte, hatte er es schon als Junge nie gut verkraftet, die Zielscheibe selbst gutmütigen Spottes zu sein.

Als sich sein Gesicht verfinsterte, sagte Lyam: »Nicht so grimmig, kleine Sturmwolke! Vergiss nicht, ich bin nicht nur dein König, sondern immer noch dein älterer Bruder, der dir die Ohren lang ziehen kann, falls es sich als nötig erweisen sollte!«

Die Benutzung des Spitznamens, den seine Mutter ihm gegeben hatte, und die bildhafte Vorstellung, dass der König dem Fürsten von Krondor die Ohren langzöge, zauberten unwillkürlich ein Lächeln auf Aruthas Gesicht, und er gestand: »Ich mache mir Sorgen, dass ich meine Hoffnungen vielleicht zu hoch stecke. Ihre Briefe, obgleich freundlich, waren förmlich und manchmal kühl. Und es gibt so viele junge Höflinge in deinem Palast.«

Martin lächelte. »Von dem Augenblick an, da wir aus Krondor geflohen sind, war dein Geschick besiegelt, Arutha. Sie hatte dich im Auge wie ein Jäger einen Rehbock. Noch bevor wir damals Crydee erreichten, waren die verstohlenen Blicke, mit denen sie dich bedachte, unverkennbar. Nein, sie wartet ganz sicher auf dich!«

»Außerdem«, fügte Lyam hinzu, »hast du ihr gestanden, wie es um dich bestellt ist.«

»Nun, nicht direkt, aber ich hab ihr geschrieben, dass ich ihr geneigt bin.«

Lyam und Martin wechselten Blicke. »Arutha …« Lyam schüttelte den Kopf. »Deine Briefe waren wahrscheinlich von der Leidenschaftlichkeit eines Schreibers, der die jährliche Steuerabrechnung aufsetzt.«

Alle drei lachten. Die Monate der Reise hatten ihre Einstellung zueinander gewandelt. Martin war den beiden andern in ihrer Kindheit und frühen Jugend sowohl Lehrer als auch Freund gewesen, hatte sie im Jagen unterwiesen und sie mit dem Wald und seinen Geschöpfen vertraut gemacht. Aber er war ein Bürgerlicher gewesen, obwohl er natürlich als Jagdmeister eine hochgeachtete Stellung an Lord Borrics Hof innegehabt hatte. Nachdem die beiden erfahren hatten, dass auch er ein leiblicher Sohn ihres Vaters und somit ihr älterer Halbbruder war, hatten sich alle drei an die neuen Verhältnisse gewöhnen und anpassen müssen. Seither hatten sie auch die aufdringliche, falsche Kameradschaft jener kennengelernt, die sich Vorteile davon versprachen, ihnen Freundschaft vorzugaukeln. Während dieser Zeit war ihnen etwas klar geworden, nämlich dass sie in den beiden anderen jemanden hatten, auf den man sich verlassen und dem man sich anvertrauen konnte. Jemanden, der verstand, was dieser plötzliche Aufstieg an die Spitze des Reiches bedeutete, und der mit ihnen den Druck der neuen Verantwortung teilte. In den beiden anderen hatte jeder wahre Freunde gefunden!

Arutha schüttelte den Kopf und lachte über sich selbst. »Ich glaube, ich habe es ebenfalls von Anfang an gewusst, obwohl mich Zweifel quälten. Sie ist so jung!«

»Etwa in Mutters Alter, als sie Vater heiratete, meinst du das?« Lyam lächelte.

»Hast du eine Antwort auf alles?«, brummte Arutha.

Martin schlug Lyam auf die Schulter. »Deshalb ist er ja der König!« Als Lyam ihn mit einem Blick vorgetäuschter Strenge bedachte, fuhr der älteste Bruder fort: »Sobald wir zurück sind, solltest du sie gleich bitten, dich zu heiraten. Dann können wir den alten Pater Tully aus seinem Schlaf vor dem Kamin reißen und uns gemeinsam nach Krondor zu einer fröhlichen Hochzeit begeben. Und ich kann all diesen lästigen Reisen ein Ende machen und nach Crydee zurückkehren.«

Aus dem Mastkorb rief eine Stimme: »Land voraus!«

Martin mit seinen scharfen, erfahrenen Jägeraugen war der Erste, der die ferne Küste erspähte. Ruhig legte er die Hände auf seiner Brüder Schultern. Nach einer Weile konnten alle drei die Umrisse ferner Türme sehen, die sich vom strahlend blauen Himmel abhoben.

»Rillanon!«, hauchte Arutha.

Die leichten Schritte und das Rascheln des weiten Rockes begleiteten den Anblick einer schlanken Gestalt, die zielstrebig einen Korridor entlangeilte. Die lieblichen Züge der jungen Dame verrieten unheilvolle Stimmung. Die Wachen, die am Gang Posten standen, behielten Haltung, doch ihre Blicke folgten ihr. Mehr als einer der Gardisten ahnte, wem der Zorn der temperamentvollen jungen Dame galt, und sie lächelte insgeheim. Für den Minnesänger würde es im wahrsten Sinne des Wortes ein schlimmes Erwachen geben!

Auf äußerst undamenhafte Weise stürmte Prinzessin Carline, die Schwester des Königs, an einem überraschten Diener vorbei, der versuchte, gleichzeitig beiseitezuspringen und sich zu verbeugen, was dazu führte, dass er auf seiner Kehrseite landete, während Carline im Gästeflügel des Palasts verschwand.

Vor einer Tür hielt sie inne. Sie strich sich über das dunkle Haar und hob die Hand, um anzuklopfen. Doch dann unterließ sie es und riss die Tür einfach auf.

Es war dunkel in dem Gemach, denn die Nachtvorhänge waren noch zugezogen. In dem großen Bett lag jemand unter den Decken verborgen, der laut aufstöhnte, als Carline die Tür zuschlug. Die Prinzessin bahnte sich einen Weg durch die auf dem Boden verstreut liegenden Kleidungsstücke, riss die Vorhänge zur Seite und ließ die strahlende Vormittagssonne ein. Ein neuerliches Stöhnen wurde laut, während ein Kopf mit rotumrandeten Augen unter der Bettdecke hervorkam. »Carline«, krächzte der Mann. »Willst du, dass mich die Sonne umbringt?«

Das Mädchen stellte sich ans Bett und fauchte: »Wenn du nicht die Nacht durchgefeiert hättest und wie erwartet zum Frühstück erschienen wärst, wüsstest du inzwischen, dass das Schiff meines Bruders gesichtet wurde. Es wird innerhalb von zwei Stunden einlaufen.«

Laurie von Tyr-Sog, fahrender Spielmann, Held des Spaltkriegs und seit kurzem Hoftroubadour und ständiger Begleiter der Prinzessin, setzte sich auf und rieb sich die müden Augen. »Ich habe nicht gefeiert, in dem Sinn, den du meinst! Der Graf von Dolth bestand darauf, jedes meiner Lieder zu hören, und so sang ich bis fast zum Morgengrauen.« Er blinzelte und lächelte Carline an. Sich über den säuberlich gestutzten blonden Bart streichend, sagte er: »Der Mann hat eine unerschöpfliche Ausdauer, aber auch einen guten Geschmack, was Musik betrifft.«

Carline setzte sich auf den Bettrand und küsste Laurie flüchtig. Geschickt befreite sie sich aus den Armen, die sich um sie legen wollten. Eine Hand gegen seine Brust gedrückt, hielt sie ihn zurück. »Hör zu, du liebeshungrige Nachtigall. Lyam, Martin und Arutha werden bald hier sein. Sobald Lyam Hof hält und alle Formalitäten hinter sich hat, werde ich wegen unserer Heirat mit ihm sprechen.«

Laurie schaute sich um, als suche er eine Ecke, in die er sich verkriechen könnte. Über das Jahr hinweg hatte sich ihr Verhältnis an Liebe und Leidenschaft immer mehr vertieft, trotzdem zuckte Laurie instinktiv zurück, wenn Carline das Gespräch auf eine mögliche Vermählung brachte. »Aber, Carline …«, begann er.

»Aber, Carline … wirklich!«, unterbrach sie ihn und stupste ihm den Finger gegen die Brust. »Du … du Possenreißer! Es gibt Fürsten aus dem Osten, Söhne von über der Hälfte aller Herzöge im Reich, und wer weiß, wie viele andere, die geradezu darum betteln, mich freien zu dürfen. Und ich habe keinen Einzigen beachtet. Wozu? Damit so ein dummer Minnesänger sein Spiel mit meinen Gefühlen treiben kann? Warte nur, ich rechne schon noch mit dir ab!«

Laurie lächelte schief und strich sein zerzaustes Blondhaar zurück. Er beugte sich vor, und ehe sie sich wehren konnte, küsste er sie stürmisch. Als er sie schließlich freigab, bat er: »Carline, Liebe meines Lebens, bitte! Fang nicht wieder damit an!«

Ihre Augen, die sie während des Kusses geschlossen hatte, starrten ihn sofort empört an. »Oh, fang nicht wieder damit an, sagst du!«, fauchte sie. »Wir werden heiraten! Das ist endgültig!« Sie stand auf, um seinen neuerlichen Umarmungen zu entgehen. »Die Prinzessin und ihr Minnesänger! Das ist schon zum Hofskandal geworden. Und es ist nicht einmal originell. Ich werde zum Gespött! Verdammt, Laurie! Ich bin fast sechsundzwanzig. Die meisten Frauen meines Alters sind seit acht oder neun Jahren verheiratet. Möchtest du, dass ich als alte Jungfer sterbe?«

»Das bestimmt nicht, mein Herzblatt«, antwortete er belustigt. Sie war nicht nur bezaubernd schön, und es würde bestimmt niemand auf den Gedanken kommen, sie eine alte Jungfer zu nennen. Sie war auch zehn Jahre jünger als er, und so betrachtete er sie als noch sehr jung, wozu ihre manchmal kindlichen Temperamentsausbrüche nicht wenig beitrugen. Er setzte sich nun hoch auf und spreizte die Hände in einer Geste der Hilflosigkeit, während er sich verzweifelt bemühte, seiner Erheiterung Herr zu werden. »Ich bin, was ich bin, Liebling. Nicht mehr, nicht weniger. Ich bin schon länger hier, als ich irgendwo sonst je als freier Mann war. Allerdings muss ich zugeben, dass es eine weit angenehmere Unfreiheit ist als beim letzten Mal.« Er meinte damit die Jahre, die er als Sklave auf Kelewan, der Heimatwelt der Tsuranis, verbracht hatte. »Aber man kann nie wissen, wann die Wanderlust mich wieder packt.« Er sah, wie sie bei seinen Worten innerlich zu kochen begann, und musste sich eingestehen, dass es häufig seine Schuld war, wenn sich ihr Temperament entlud. Schnell änderte er die Taktik. »Außerdem weiß ich nicht, ob ich einen guten – nun, wie immer der Gemahl der Königsschwester genannt wird – abgeben würde.«

»Du wirst dir Mühe geben müssen. Und jetzt steh auf und zieh dich an!«

Laurie fing die Hose auf, die sie ihm zuwarf, und schlüpfte hinein. Als er fertig angekleidet war, stellte er sich vor Carline und legte die Arme um ihre Taille. »Seit dem ersten Augenblick, da ich dich sah, Carline, bete ich dich an. Ich habe nie jemanden so geliebt wie dich und werde auch nie jemanden so lieben können. Aber …«

»Ich weiß. Seit Monaten höre ich dieselben Ausreden.« Wieder stieß sie ihm den Zeigefinger gegen die Brust. »Du warst immer ein fahrender Spielmann«, spöttelte sie. »Du warst immer frei. Du weißt nicht, wie du es durchhalten könntest, immer am selben Ort gebunden zu sein – obwohl mir aufgefallen ist, dass du dich im Königspalast recht gut eingewöhnt hast.«

Ergeben richtete Laurie den Blick himmelwärts. »Das kann ich nicht leugnen.«

»Nun, mein Liebster, diese Ausreden helfen dir vielleicht, wenn du Abschied von einer armen Wirtstochter nimmst. Aber hier nutzen sie dir wenig! Wir werden sehen, was Lyam von alldem hält. Ich könnte mir vorstellen, dass es in den Archiven irgendein altes Gesetz gibt, das sich mit Bürgerlichen befasst, die sich bei Edlen einschmeicheln und …«

Laurie grinste. »O ja, so ein Gesetz gibt es. Meinem Vater steht ein Goldstück zu, außerdem ein Maultiergespann und ein Bauernhof, weil du mich verführt hast!«

Carline konnte ein Kichern nicht mehr zurückhalten, dann lachte sie laut. »Du gemeiner Kerl!« Sie schlang die Arme um ihn, legte den Kopf an seine Brust und seufzte. »Ich kann dir einfach nicht lange böse sein.«

Er wiegte sie sanft in den Armen. »Ich gebe dir auch manchmal Grund, wütend auf mich zu sein«, murmelte er.

»Das tust du allerdings!«

»Na ja, so oft auch wieder nicht!«

»Hör zu, Freundchen. Meine Brüder nähern sich dem Hafen, und du stehst hier herum und streitest mit mir. Du magst ja mit mir nach Belieben umspringen, aber möglicherweise sieht der König das etwas anders.«

»Das habe ich befürchtet.« Echte Besorgnis sprach aus Lauries Stimme.

Plötzlich war Carline milder gestimmt. Sie blickte ihn aufmunternd an. »Lyam wird tun, worum immer ich ihn bitte. Er war nie imstande, mir etwas abzuschlagen, das ich mir wirklich wünschte. Das war schon so, als ich ganz klein war. Und du, Laurie, du bist schließlich kein einfacher Bauer oder Schuhmacher. Du beherrscht mehr Sprachen als jeder Edle, dem ich je begegnet bin. Du liest und schreibst. Du bist weitgereist, ja, warst sogar auf der Tsurani-Welt. Du bist klug und begabt. Du bist viel eher befähigt zu herrschen als so mancher, der dazu geboren ist. Außerdem, wenn ich einen älteren Bruder haben kann, der Jäger war, ehe er Herzog wurde, weshalb sollte ich dann keinen Gatten haben dürfen, der Spielmann war?«

»Deine Logik ist unwiderlegbar. Mir fällt keine gute Antwort darauf ein. Du weißt, ich liebe dich über alle Maßen, aber ansonsten …«

»Dein Problem ist, du hast die Begabung zu herrschen, aber du scheust vor der Verantwortung zurück. Du bist ganz einfach faul!«

Er lachte. »Das war auch der Grund, weshalb Vater mich mit dreizehn Jahren aus dem Haus geworfen hat. Er sagte, ich würde nie einen tüchtigen Bauern abgeben.«

Sie schob ihn sanft von sich, und ihre Stimme klang wieder ernster. »Die Dinge ändern sich, Laurie. Ich habe viel darüber nachgedacht. Ich habe schon zweimal zuvor geglaubt zu lieben. Aber du bist der einzige Mann, der mich vergessen lässt, wer ich bin, und mich dazu bringt, mich ohne Scham so zu benehmen. Wenn ich bei dir bin, ergibt nichts einen Sinn, aber das macht nichts, denn es ist mir egal, ob es Sinn macht, dass ich fühle, wie ich es tue. Aber nun sieh zu, dass du eine Entscheidung triffst, und zwar bald. Ich wette mein Geschmeide, dass Arutha und Anita ihre Verlobung bekannt geben werden, noch ehe meine Brüder einen vollen Tag im Palast sind. Was bedeutet, dass wir umgehend alle nach Krondor zur Vermählung aufbrechen werden. Wenn sie verheiratet sind, werde ich mit Lyam hierher zurückkehren. Es liegt nun bei dir, dich zu entscheiden, ob du mit uns wieder hierherkommen wirst.« Sie blickte ihn fest an. »Es war wundervoll mit dir. Meine Gefühle sind noch stärker als damals, als ich ein junges Ding war und von Pug und dann von Roland schwärmte. Doch du musst die Entscheidung treffen. Du wirst immer meine größte Liebe bleiben, aber wenn ich hierher zurückkomme, wirst du entweder mein Gemahl sein oder eine Erinnerung.«

Ehe er antworten konnte, ging sie zur Tür. »Ich liebe dich über alles. Aber die Zeit drängt.« Sie blickte ihn an. »Nun komm schon mit, den König begrüßen.«

Er eilte an ihre Seite und öffnete ihr die Tür.

Sie bestiegen eine der draußen wartenden Kutschen, die zum Empfang des Königs zum Hafen fuhren. Laurie von Tyr-Sog, fahrender Spielmann und Held des Spaltkriegs, war sich der Gegenwart der Frau an seiner Seite sehr bewusst. Er fragte sich, wie es wäre, wenn sie ihm für immer versagt würde. Bei dieser Aussicht fühlte er sich ausgesprochen unglücklich.

Rillanon, die Hauptstadt des Königreichs der Inseln, wartete darauf, ihren König willkommen zu heißen. Die Häuser waren mit Girlanden geschmückt, Fahnen flatterten von allen Dächern, und Wimpel in allen Farben waren zwischen den Häusern der Straßen aufgehängt. Rillanon war das Kleinod des Königreichs und erstreckte sich über die Hänge vieler Hügel, wo es mit seinen schlanken Türmen, hohen Spitzbogen und luftigen Brücken einen malerischen Anblick bot. Der verschiedene König Rodric hatte mit einer Verschönerung der Stadt begonnen, den meisten Häusern um den Palast eine neue Fassade aus Marmor oder Quarz geben lassen und die Stadt zu einem glitzernden Wunder gemacht, was die Nachmittagssonne nun noch hervorhob.

Die Königsadler legte am Kai an, wo die Empfangsgesellschaft bereits wartete. In der Ferne, auf den Dächern und den Hangstraßen, von denen aus man zum Hafen blicken konnte, begrüßte die Menge jubelnd die Rückkehr ihres jugendlichen Königs. Viele Jahre hatte die Stadt unter den unheilvollen Folgen von König Rodrics Wahnsinn gelitten, und obgleich Lyam den meisten der Bürger noch fremd war, verehrten sie ihn, denn er war jung und gut aussehend, sein Heldenmut während des Spaltkriegs war weitbekannt, und seine Großzügigkeit war bereits spürbar, denn er hatte die Steuern gesenkt.

Mit meisterhafter Geschicklichkeit lenkte der Hafenlotse das Schiff des Königs an seinen Anlegeplatz. Es wurde sofort festgemacht, die Laufbrücke wurde heruntergelassen, und Lyam ging als Erster von Bord, wie die Sitte es erforderte. Suchend wanderte Aruthas Blick währenddessen über die Menge. Wo war Anita? In dem Gedränge der Edlen, die es kaum erwarten konnten, Lyam zu begrüßen, fand er sie nicht. Eisiger Zweifel stach in sein Herz.

Martin stupste ihn unauffällig an, denn dem Protokoll nach musste er als Zweiter von Bord gehen. Arutha ging die Landungsbrücke hinunter, Martin einen Schritt hinter ihm. Aruthas Blick fiel auf seine Schwester, die sich von der Seite des Sängers Laurie trennte, um Lyam stürmisch zu umarmen. Jubeln begrüßte den König, während Carline die Arme um ihn schlang. Sie küsste ihn und sagte glücklich: »Wie sehr ich dein finsteres Gesicht vermisst habe.«

Wie immer, wenn er in Gedanken versunken war, wirkte Aruthas Miene düster. »Finsteres Gesicht?«

Carline blickte Arutha in die Augen und sagte mit unschuldsvollem Lächeln: »Du siehst aus, als hättest du was verschluckt, das sich noch rührt.«

Darüber lachte Martin laut, und Carline umarmte nun auch ihn. Er erstarrte zunächst, denn in Gegenwart seiner Schwester fühlte er sich noch etwas befangen. Doch dann entspannte er sich und schloss sie ebenfalls in die Arme. Carline sagte: »Ich habe mich ohne euch drei gelangweilt.«

Martin, der Laurie entdeckt hatte, schüttelte den Kopf. »Wohl nicht so sehr, wie du uns weismachen willst.«

»Es gibt kein Gesetz, nach dem bloß Männer sich vergnügen dürfen. Abgesehen davon ist er der beste Mann, den ich kenne, von meinen Brüdern abgesehen.«

Lord Caldric, Herzog von Rillanon, Oberster Ratgeber des Königs und außerdem Lyams Großonkel, lächelte breit, als er dem König beide Hände reichte. Um das Jubeln der Menge zu übertönen, musste Lyam fast brüllen: »Onkel, wie steht es mit Unserem Königreich?«

»Gut, mein König, nun, da Ihr zurück seid.«

Als Aruthas Miene immer niedergeschlagener wurde, lächelte Carline ihm zu. »Genug des langen Gesichts, Arutha. Sie ist im Ostgarten und wartet auf dich.«

Arutha küsste Carline auf die Wange und ließ sie und einen wissend lächelnden Martin zurück. Während er an Lyam vorbeirannte, rief er: »Mit Eurer Majestät Erlaubnis.«

Lyams Verblüffung wandelte sich ebenfalls in ein Lächeln, während sich Caldric und die anderen Höflinge über das Benehmen des Fürsten von Krondor wunderten. Lyam beugte sich näher zu Caldric und flüsterte: »Anita.«

Ein sonniges Lächeln verjüngte Caldrics furchiges Gesicht. »Dann werdet Ihr wohl bald wieder unterwegs sein, nach Krondor diesmal, zur Vermählung Eures Bruders?«

»Wir würden sie ja lieber hier abhalten, aber die Tradition gebietet, dass der Fürst in seiner eigenen Stadt heiratet, und der Sitte müssen Wir Uns beugen. Aber bis dahin werden noch ein paar Wochen vergehen. So etwas dauert seine Zeit. Und Wir müssen in der Zwischenzeit über das Reich regieren, obgleich Uns scheint, dass Ihr das in Unserer Abwesenheit recht gut gemacht habt.«

»Danke, Eure Majestät. Doch nun, da es wieder einen König in Rillanon gibt, wird Euch so manches, was in diesem Jahr aufgeschoben wurde, zur Entscheidung vorgebracht werden. Die Gesuche und andere Schriftsachen, die wir Euch während Eurer Reisen nachschickten, waren höchstens ein Zehntel von jenen, die Euch erwarten.«

Lyam stöhnte übertrieben. »Wir glauben, Wir werden den Kapitän veranlassen, sofort wieder in See zu stechen.«

Caldric lächelte. »Kommt, Majestät. Eure Stadt möchte gern ihren König sehen.«

Von einer einzigen Person abgesehen, war der Ostgarten leer. Sie wandelte ruhig zwischen den bestens gepflegten Beeten umher, wo die Pflanzen kurz davor standen, Knospen zu bilden. Ein paar unempfindliche Arten leuchteten schon im freundlichen Grün des Frühlings, und viele der abgrenzenden Hecken waren immergrüne Gewächse. Doch im großen Ganzen erinnerte der Garten in seiner Kargheit noch mehr an den Winter als an ein Versprechen des Frühlings, der in wenigen Wochen einziehen würde.

Anita blickte hinab auf Rillanon. Die Burg krönte die Kuppel des Berges. Vor Urzeiten hatte man hier eine trutzige Festung errichtet, um die herum später weitere Gebäude und Mauern erbaut worden waren. Sieben Bogenbrücken führten über den Fluss. Der Nachmittagswind war kühl, so zog Anita den feinen Seidenschal enger um die Schultern.

Sie lächelte, als ihre Gedanken zurückwanderten, doch dann verschleierten Tränen ihre Augen in der Erinnerung an ihren zu früh dahingeschiedenen Vater, Prinz Erland, und an all das, was im vergangenen Jahr und zuvor geschehen war: Wie Guy du Bas-Tyra in Krondor eingetroffen war und sie zu einer Heirat aus Staatsgründen hatte zwingen wollen. Wie Arutha unerkannt in die Stadt gekommen war. Sie hatten gemeinsam mehr als einen Monat Zuflucht bei den Spöttern gefunden, der Diebesgilde von Krondor, bis diese ihnen die Flucht nach Crydee ermöglichten. Nach Beendigung des Spaltkriegs war sie zu Lyams Krönung nach Rillanon gereist. Während all dieser Monate war ihre Liebe zum jüngeren Bruder des Königs gewachsen. Und nun kehrte Arutha nach Rillanon zurück.

Schwere Schritte auf dem Fliesenweg veranlassten sie, sich umzudrehen. Sie nahm an, ein Diener oder Gardist der Palastwache würde ihr die Ankunft des Königs im Hafen melden. Stattdessen näherte sich ein müde wirkender Mann in prächtiger, aber etwas mitgenommener Reisekleidung. Der Wind zauste sein dunkelbraunes Haar, und er hatte dunkle Ringe unter den braunen Augen im fast hageren Gesicht. Seine Stirn war leicht gerunzelt, wie immer, wenn er sich mit etwas Ernsthaftem beschäftigte – und gerade das gefiel ihr an ihm. Während er auf sie zuschritt, staunte sie insgeheim über seine Haltung und seinen Gang. Seine Bewegungen waren geschmeidig wie die einer Katze. Als er sie fast erreicht hatte, lächelte er etwas verlegen. Anita kämpfte vergebens um ihre am Hof anerzogene Haltung, und Tränen perlten über ihre Wangen. Plötzlich lag sie in seinen Armen und klammerte sich an ihn. »Arutha!« Mehr brachte sie nicht heraus.

Eine Weile schwiegen beide und hielten einander nur fest umarmt, dann drückte er seine Lippen auf die ihren. Wortlos sprach er von der Sehnsucht nach ihr, die ihn gequält hatte, und von seiner Liebe, und wortlos antwortete sie auf gleiche Weise. Er blickte hinunter auf Augen so grün wie die See und ein mit niedlichen Sommersprossen bestäubtes Näschen, die einzige, doch erfreuliche Unvollkommenheit ihrer ansonsten makellos hellen Haut. Mit müdem Lächeln sagte er endlich: »Ich bin wieder da!«

Dann musste er selbst über diese überflüssige Bemerkung lachen, und sie lachte mit ihm. Er fühlte sich unendlich beschwingt mit dieser zierlichen jungen Frau in den Armen. Er roch den sanften Duft ihres dunkelrotbraunen Haares, das auf ausgefallene Weise hochgesteckt war, wie es die Hofmode zurzeit vorschrieb. Er war glücklich, wieder bei ihr zu sein.

Sie löste sich aus seinen Armen, hielt jedoch seine Hand fest. »So lange warst du fort«, murmelte sie. »Ihr wolltet doch bloß einen Monat wegbleiben, dann kam ein zweiter hinzu, ein dritter und weitere. Über ein halbes Jahr warst du fort. Ich konnte einfach nicht zum Hafen kommen, denn ich wusste, ich hätte die Tränen nicht zurückhalten können, sobald ich dich gesehen hätte.« Auch jetzt noch glänzten ihre Wangen feucht. Sie lächelte und wischte die Tränen fort.

Arutha drückte ihre Hand. »Lyam fand immer mehr Edle, die er glaubte, besuchen zu müssen. Staatsgeschäfte«, sagte er mit trockenem Humor.

Von dem Tag an, da er Anita kennengelernt hatte, war er unfähig, seine Gefühle für sie in Worte zu kleiden. Er hatte sich von Anfang an stark zu ihr hingezogen gefühlt und nach ihrer Flucht aus Krondor ständig gegen seine Gefühle angekämpft, da er sie trotz allem noch für ein Kind hielt. Dennoch, ihr Einfluss war auf ihn immer beruhigend gewesen. Sie hatte seine Stimmungen wie niemand sonst erkannt, hatte verstanden, seine Sorgenfalten zu glätten, seinen Ärger zu dämpfen und ihn aus seinen überflüssigen Grübeleien zu reißen. Und er hatte ihre sanfte Art lieben gelernt.

Sie hatten von ihren Gefühlen nie gesprochen, selbst nicht am Vorabend seines Aufbruchs mit Lyam. Auch damals waren sie durch diesen Garten geschritten und hatten bis tief in die Nacht hinein miteinander geredet. Obwohl sie über nichts von wirklicher Bedeutung gesprochen hatten, war Arutha, als er sie verließ, überzeugt gewesen, dass sie zu einer wortlosen Übereinstimmung gekommen waren. Doch dann hatte der leichte und manchmal förmliche Ton ihrer Briefe Zweifel in ihm geweckt. Er hatte befürchtet, ihre unausgesprochenen Gefühle missverstanden zu haben. Doch nun, während er sie so ansah, wusste er, dass er sich nicht getäuscht hatte. Übergangslos gestand er nun: »Ich konnte an fast nichts anderes mehr denken als an dich, seit wir hier Abschied nahmen.«

Wieder glänzten Tränen in ihren Augen. »Und ich dachte nur an dich.«

»Ich liebe dich, Anita. Ich möchte dich immer um mich haben. Willst du mich heiraten?«

Sie drückte seine Hand, als sie »Ja« flüsterte, dann umarmte sie ihn wieder. Arutha wurde vor lauter Glück schier schwindelig. Ganz fest hielt er sie und flüsterte: »Du bist mein Ein und Alles.«

Reglos standen sie eine ganze Weile so da, der hochgewachsene, fast hagere Prinz und die zierliche Prinzessin, die ihm kaum bis zum Kinn reichte. Sie flüsterten zärtliche Worte, und nichts schien von Bedeutung zu sein als die Anwesenheit des anderen. Erst ein verlegenes Räuspern riss sie aus ihrer Versunkenheit. Sie drehten sich um und sahen einen Leibgardisten am Garteneingang stehen. »Seine Majestät naht, Eure Hoheit«, meldete er. »Er wird in wenigen Minuten den Audienzsaal betreten.«

»Wir werden uns sogleich dorthin begeben«, versicherte ihm Arutha. Er nahm Anita an der Hand und ging mit ihr an dem Gardisten vorbei, der ihnen folgte. Hätten Anita und Arutha über die Schulter geblickt, hätten sie bemerkt, wie der erfahrene Palastwächter sich schwertat, ein breites Grinsen zu unterdrücken.

Arutha drückte schnell noch einmal Anitas Hand, dann stellte er sich neben der Flügeltür auf, als Lyam den großen Thronsaal betrat. Während der König zum Thron schritt, verneigten sich die Höflinge tief, und der Hofzeremonienmeister stampfte mit dem Metallende seines Zeremonienstabes auf den Marmorboden. Ein Herold rief: »Höret! Höret! Es sei euch kundgetan, dass Lyam, der Erste dieses Namens und durch die Gnade der Götter rechtmäßiger Herrscher, zurückgekehrt ist und wieder seinen Thron eingenommen hat. Lang lebe der König!«

»Lang lebe der König!«, kam die Antwort im Chor.

Als er sich niedergelassen hatte, die einfache Krone auf dem Haupt und den Purpurumhang um die Schultern gelegt, sagte Lyam: »Wir sind glücklich, zu Hause zu sein.«

Erneut stampfte der Zeremonienmeister auf den Boden, und der Herold rief Aruthas Namen. Arutha betrat den Saal, dicht gefolgt von Carline und Anita und hinter ihnen Martin, genau nach den Vorschriften des Protokolls. Jeder wurde der Reihe nach angekündigt. Als alle ihren Platz neben Lyam eingenommen hatten, winkte der König Arutha zu sich.

Arutha trat neben ihn. »Hast du sie gefragt?«, erkundigte sich Lyam.

Mit verschmitztem Lächeln entgegnete Arutha. »Was soll ich sie gefragt haben?«

Lyam grinste. »Ob sie dich heiraten will, tu nicht so! Und natürlich hast du sie gefragt, und sie hat Ja gesagt, das erkenne ich an deiner Miene«, flüsterte er. »Kehr schon an deinen Platz zurück, dann werde ich die Verlobung verkünden.«

Arutha begab sich wieder an Anitas Seite, und Lyam winkte Lord Caldric zu sich. »Wir sind müde, mein Lord Kanzler. Wir würden uns freuen, wenn Wir uns kurz fassen könnten.«

»Es gibt nur zwei Angelegenheiten, mit denen, wie ich glaube, Eure Majestät sich heute befassen sollten. Alles andere kann warten.« Lyam bedeutete Caldric fortzufahren. »Das Erste: Wir haben Berichte von den Grenzbaronen und von Herzog Vandros von Yabon erhalten über ungewöhnliche Regsamkeit der Trolle im westlichen Bereich.«

Bei diesen Worten horchte Arutha auf und wandte die Aufmerksamkeit von Anita. Der westliche Bereich unterstand ihm. Lyam bedeutete ihn und Martin zu sich.

»Was ist mit Crydee, mein Lord?«, erkundigte sich Martin.

»Von der Fernen Küste haben wir nichts gehört, Euer Gnaden. Bisher erhielten wir lediglich Meldungen aus dem Gebiet zwischen Hohenburg im Osten und dem Himmelssee im Westen, dass Truppen der Trolle nordwärts ziehen und hin und wieder Dörfer überfallen.«

»Nordwärts?« Martin blickte Arutha fragend an.

Arutha bat ums Wort: »Ich bitte um Eurer Majestät Erlaubnis.« Und als Lyam nickte: »Martin, glaubst du, dass sich die Trolle der Bruderschaft des Düsteren Pfades anschließen wollen?«

Martin überlegte. »Ich würde eine solche Möglichkeit nicht ausschließen. Die Trolle dienen den Moredhel schon lange. Allerdings habe ich eigentlich eher erwartet, dass die Düsteren Brüder wieder südwärts, zu ihrem Zuhause in den Bergen der Grauen Türme, ziehen würden.« Die finsteren Vettern der Elben waren durch die Tsurani-Invasion im Spaltkrieg von den Grauen Türmen nordwärts getrieben worden. Martin wandte sich an Caldric: »Mein Lord, habt Ihr Meldungen über die Düstere Bruderschaft?«

Caldric schüttelte den Kopf. »Sie wurden lediglich entlang dem Vorgebirge der Zähne der Welt gesichtet, aber das ist eigentlich nicht weiter ungewöhnlich. Die Lords vom Wächter des Nordens, dem Eisernen Pass und von Hohenburg schickten die üblichen Berichte, was die Bruderschaft betrifft, nichts weiter.«

»Arutha, Wir überlassen es dir und Martin, diese Berichte zu studieren und zu entscheiden, was im Westen getan werden muss.« Lyam wandte sich wieder an Caldric. »Was sonst, mein Lord?«

»Eine Botschaft der Kaiserin von Groß-Kesh, Eure Majestät.«

»Und was hat Kesh den Inseln zu sagen?«

»Die Kaiserin hat ihren Botschafter, einen gewissen Abdur Rachman Memo Hazara-Khan, zu den Inseln entsandt, um darüber zu verhandeln, wie sich etwaige noch bestehende Unstimmigkeiten zwischen den beiden Reichen beheben lassen.«

»Das ist eine erfreuliche Neuigkeit, mein Lord«, entgegnete Lyam. »Zu lange Zeit schon haben die Schwierigkeiten mit dem Tal der Träume verhindert, dass sich Groß-Kesh und das Reich der Inseln in anderen Dingen einigten. Es wäre von großem Vorteil für unsere beiden Völker, wenn die Sache zu einem guten Ende für beide Parteien gebracht würde.« Lyam erhob sich. »Doch teilt Seiner Exzellenz mit, er möge Uns in Krondor aufsuchen, da wir dort eine Vermählung feiern werden. Meine Herren und Damen des Hofes, mit großer Freude darf ich heute die Verlobung Unseres Bruders Arutha mit Prinzessin Anita bekannt geben.«

Der König wandte sich den beiden zu, nahm sie bei der Hand und führte sie den Anwesenden vor, die erfreut Beifall klatschten.

Carline, die neben ihren Brüdern stand, warf Laurie einen finsteren Blick zu, während sie Anita einen Kuss auf die Wange drückte. In den Jubel im Thronsaal hinein erklärte Lyam: »Damit ist die Tagesordnung beendet.«

Krondor

Die Stadt schlief.

Vom Bitteren Meer hatte sich eine undurchdringliche Nebeldecke über Krondor geschoben und verbarg alles unter dichtem Grauweiß. Die Hauptstadt des westlichen Landesteils ruhte nie völlig, doch dieser schier alles verhüllende Dunst dämpfte die üblichen nächtlichen Geräusche und raubte die Sicht von jenen, die sich um diese Stunde noch im Freien aufhielten. Die ganze Stadt wirkte stiller, ruhiger als sonst, als stünde sie im Frieden mit sich selbst.

Für einen bestimmten Bewohner der Stadt war dieser Zustand geradezu ideal. Der Nebel hatte jede Straße in einen schmalen, dunklen Tunnel verwandelt und jeden Häuserblock in eine abgeschiedene Insel. Die schier endlose Düsternis wurde nur hier und dort von Straßenlaternen durchbrochen. Sie waren Inseln der Wärme und beruhigender Helligkeit für Vorübergehende, ehe sie wieder in die feuchtkalte und dunkle Nacht eintauchen mussten. Doch zwischen diesen tröstlichen Häfen fand jener, der die Dunkelheit für seine Arbeit brauchte, zusätzlichen Schutz, da die Laute, die er verursachen mochte, vom Nebel gedämpft wurden. Jimmy die Hand ging seinen Geschäften nach.

Obgleich erst fünfzehn, zählte Jimmy doch bereits zu den begabtesten Angehörigen der Spötter, der Gilde der Diebe. Jimmy war fast sein ganzes, wahrlich noch nicht langes Leben ein Dieb: der Straßenjunge, der damit angefangen hatte, flink Obst von den Karren der Straßenhändler zu stibitzen, hatte sich zum vollwertigen Mitglied der Spötter hochgearbeitet. Jimmy hatte seinen Vater nie gekannt, und seine Mutter, ein Freudenmädchen im Armenviertel, war von einem betrunkenen Seemann erschlagen worden. Seither war der Junge ein Spötter, und sein Aufstieg in der Gilde war überraschend schnell vonstattengegangen. Doch das Erstaunlichste an Jimmys Vorwärtskommen war nicht sein Alter, denn bei den Spöttern war man der Ansicht, dass ein Junge, sobald er zu stehlen bereit war, auch auf die Menschheit losgelassen werden sollte. Ein schlechter Dieb war bald ein toter Dieb, doch solange dabei kein anderer Spötter in Gefahr geriet, galt der Tod eines ungeschickten Diebes nicht als großer Verlust. Nein, die erstaunlichste Tatsache bei Jimmys schnellem Aufstieg war die, dass er wirklich fast so gut war, wie er sich einbildete.

Mit katzenhafter Unauffälligkeit bewegte sich Jimmy in der Kammer. Nur das Schnarchen des ahnungslosen Ehepaars war in der nächtlichen Stille zu hören. Nur der schwache Schein einer Straßenlaterne, der durch das offene Fenster fiel, spendete ein wenig Licht. Jimmy sah sich um. Alle seine Sinne unterstützten die Augen bei der Suche. Eine plötzliche Veränderung der kaum vernehmbaren Geräusche seiner Schritte auf den Bodenbrettern verriet dem jungen Einbrecher, dass er gefunden hatte, was er suchte. Mit lautlosen Handgriffen öffnete er das doppelte Bodenstück, und seine Finger steckten auch schon im Versteck, das Trig, der Tuchwalker, für so sicher gehalten hatte.

Trig schnaufte schwer und wälzte sich herum, was ein rasselndes Schnarchen seines Weibes zur Folge hatte. Jimmy erstarrte und wagte kaum zu atmen, bis die beiden wieder gleichmäßig schnauften. Dann erst holte er einen schweren Beutel aus dem Bodenkästchen. Er steckte ihn unter seinen Kittel, und zwar so, dass er durch den Gürtel festgehalten wurde. Dann setzte er das Stück Bodenbrett geräuschlos wieder ein und kehrte zum Fenster zurück. Wenn er Glück hatte, würde der Verlust erst in ein paar Tagen bemerkt werden.

Er stieg durchs Fenster, drehte sich um und griff nach der Dachrinne, an der er sich hochzog. Er legte sich so aufs Dach, dass sein Oberkörper über den Rand hing. Ein sanfter Stoß genügte, um die Fensterläden zu schließen. Dann rüttelte er vorsichtig an Haken und Schnur, bis der innere Riegel einrastete. Schnell zog er die Schnur zurück und lachte insgeheim über die Verblüffung des Walkers, wenn er sich den Kopf darüber zerbrach – was er bestimmt tun würde –, wie sein Gold hatte verschwinden können. Einen Augenblick blieb Jimmy noch reglos auf dem Dach liegen und lauschte auf mögliche Geräusche, die auf ein Erwachen der beiden in der Kammer hindeuten mochten. Als nichts zu hören war, entspannte er sich.

Er stand auf und machte sich auf den Weg über die Straße der Einbrecher, wie man in gewissen Kreisen die Dächer nannte. Er sprang von Trigs Haus zum Dach des anschließenden, wo er sich auf den Dachziegeln niederließ, um seine Beute zu begutachten. Der Beutelinhalt war Beweis für die Sparsamkeit des Walkers. Er musste wohl immer eine schöne Summe seiner Einnahmen zur Seite gelegt haben. Jimmy würde sich dafür monatelang ein gutes Leben leisten können, wenn er nicht alles verspielte.

Ein kaum wahrnehmbares Geräusch veranlasste Jimmy, sich flach auf dem Dach auszustrecken. Ein zweiter Laut war zu hören, ein leichtes Scharren auf den Ziegeln auf der anderen Seite einer Gaube, etwa in der Mitte des Dachs, auf dem er lag. Der Junge verfluchte sein Pech und strich durch sein nebelfeuchtes braunes Lockenhaar. Denn dass ein anderer sich auf dem Dach befand, konnte ihn nur in Schwierigkeiten bringen. Jimmy arbeitete nämlich ohne Erlaubnis des Nachtmeisters der Spötter, eine Angewohnheit, die ihm die paar Male, da er dabei erwischt worden war, Rügen und Prügel eingebracht hatte. Doch wenn er jetzt etwa auch noch die Arbeit eines anderen Spötters in Gefahr brachte, musste er mit mehr als bloß ein paar harten Worten und ein paar nicht ganz so harten Fausthieben rechnen. Jimmy wurde von den anderen in der Gilde als Erwachsener behandelt, und er hatte sich diese Stellung durch Geschicklichkeit und Klugheit schwer verdient. Dafür erwartete man von ihm jedoch, dass er Verantwortung zeigte, ohne Rücksicht auf sein Alter. Indem er das Leben eines anderen Spötters in Gefahr brachte, konnte er sein eigenes leicht verwirken.

Die andere Möglichkeit konnte sich als nicht weniger folgenschwer erweisen. Wenn ein freier Einbrecher in der Stadt ohne die Erlaubnis der Spötter arbeitete, war es Jimmys Pflicht herauszufinden, wer das war, und ihn zu melden. Dadurch würde Jimmys eigenes Vergehen gegen die Bestimmungen der Gilde für nicht ganz so schlimm erachtet werden, vor allem dann nicht, wenn er die üblichen zwei Drittel seiner Beute ablieferte.

Er kletterte über den First und schlich auf der anderen Dachseite entlang, bis er sich dem Ursprung des Geräusches gegenüber befand. Nun musste er sich den freien Einbrecher nur genau ansehen und ihn melden. Falls der Mann nicht bekannt war, würde der Nachtmeister seine Beschreibung weitergeben, und früher oder später würden ihn ein paar kräftige Gildenhüter aufspüren und ihm beibringen, wie sich ein diebischer Besucher in der Stadt gegenüber der Gilde zu benehmen hatte.

Jimmy lugte vorsichtig über den First. Er sah nichts. Erst als er sich vorsichtig umschaute, bemerkte er eine Bewegung aus den Augenwinkeln und wandte den Kopf in diese Richtung. Doch noch immer konnte er nichts Verdächtiges ausmachen. Jimmy machte sich bereit zu warten. Hier war etwas, was seine Neugier reizte.

Diese immer wache Neugier war eine von Jimmys Schwächen, wenn es um seine Arbeit ging – Neugier und dann und wann der Ärger darüber, dass er seine Beute mit der Gilde teilen musste. Er war ungebildet, aber klug. Darum wusste er eins ganz sicher: Ein Geräusch kam nicht aus leerer Luft – außer natürlich, wenn Magie im Spiel war.

Jimmy grübelte über das, was er nicht sehen konnte. Entweder kroch ein unsichtbares Gespenst über die Dachziegel, was zwar möglich, aber doch unwahrscheinlich war. Oder etwas durchaus Stoffliches verbarg sich im Schatten auf der anderen Seite der Gaube.

Jimmy schlich auf der anderen Dachseite entlang, bis er die Höhe der Gaube erreicht hatte. Wieder lugte er vorsichtig über den First. Er spähte in die Dunkelheit, und als er ein neuerliches schwaches Scharren hörte, wurde er auch mit dem Schatten einer Bewegung belohnt. Jemand befand sich im tiefen Dunkel und trug einen nicht weniger dunklen Umhang. Jimmy konnte ihn nur ausmachen, wenn er sich bewegte. Der junge Dieb schlich hinter dem First noch ein Stück weiter, um einen besseren Blickwinkel zu erlangen. Als er unmittelbar hinter dem anderen Schleicher war, spähte er erneut über den First. Der Fremde bewegte sich leicht, denn er rückte den Umhang über den Schultern zurecht. Die Härchen auf Jimmys Nacken stellten sich auf. Der Mann vor ihm war völlig in Schwarz gekleidet und trug eine schwere Armbrust. Das war kein Einbrecher, sondern ein Nachtgreifer!

Jimmy rührte keinen Muskel mehr. Über ein Mitglied der Gilde des Todes zu stolpern erhöhte nicht gerade die Aussicht, es selbst auf ein hohes Alter zu bringen. Doch da bestand der Befehl für alle Spötter, dass jegliche Neuigkeit über die Bruderschaft der Assassinen sofort gemeldet werden musste. Und dieser Befehl kam vom »Aufrechten Mann« selbst, dem Allerobersten der Gilde der Diebe. Jimmy beschloss abzuwarten und sich auf seine Geschicklichkeit zu verlassen, sollte er entdeckt werden. Ihm mochten zwar die nahezu legendären Eigenschaften der Nachtgreifer fehlen, doch verfügte er dafür über das unerschütterliche Selbstvertrauen eines Fünfzehnjährigen, der zum jüngsten Meisterdieb in der Geschichte der Spötter aufgestiegen war. Falls er entdeckt wurde, würde es nicht seine erste Flucht über die Straße der Einbrecher sein.

Die Zeit verging. Jimmy wartete mit einer Geduld, die ungewöhnlich für einen Jungen seines Alters war. Ein Einbrecher, der sich nicht stundenlang ruhig verhalten konnte, wenn es nötig war, blieb nicht lange am Leben. Hin und wieder hörte und sah Jimmy den Mann, wenn er sich bewegte. Seine bisherige Ehrfurcht vor den legendären Nachtgreifern schwand zusehends, denn dieser Bursche bewies wenig Geschick im Stillhalten. Jimmy dagegen hatte längst gelernt, die Muskeln unmerklich zu spannen und zu entspannen, um zu verhindern, dass sie steif wurden oder sich gar verkrampften. Nun ja, dachte er, Geschichten wie die über die Nachtgreifer werden gern überbewertet, und für die Arbeit dieser Männer war es nur von Vorteil, wenn man Furcht vor ihnen hatte.

Plötzlich bewegte sich der Meuchelmörder wieder. Er ließ den Umhang völlig von den Schultern rutschen, als er die Armbrust hob. Jimmy hörte sich nähernden Hufschlag. Reiter trabten unten vorüber, und der Nachtgreifer ließ die Waffe wieder sinken. Offenbar hatte sein Opfer sich nicht unter diesen Reitern befunden.

Jimmy hob sich auf den Ellbogen über den First, um den Mann vielleicht besser erkennen zu können, nachdem er nun den Umhang nicht mehr trug. Der Assassine drehte sich leicht, um den Umhang aufzuheben, und wandte dadurch Jimmy das Gesicht zu. Der junge Dieb zog die Beine an, um sofort losspringen zu können, sollte sich das als nötig erweisen, und studierte den Mann. Leider konnte er kaum mehr erkennen, als dass er dunkles Haar und ziemlich helle Haut hatte.

Und dann schien der Meuchler den Jungen geradewegs anzublicken!

Jimmy pochte das Blut in den Ohren, und er fragte sich, wieso der Bursche das nicht hörte, denn er wandte sich wieder ab, um weiter auf sein Opfer zu warten. Jimmy zog sich lautlos hinter den First zurück. Er atmete langsam und tief und kämpfte gegen das plötzliche verrückte Bedürfnis an, laut zu lachen. Als er sich beruhigt hatte, wagte er wieder einen Blick.

Immer noch wartete der Meuchelmörder. Also fasste sich auch Jimmy in Geduld. Er wunderte sich über die Waffe des Nachtgreifers. Die schwere Armbrust war unhandlich für einen Schützen und bei weitem nicht so genau wie ein Bogen. Andererseits allerdings brauchte man weniger Übung in ihrem Umgang, denn ein mit ihr abgeschossener Bolzen traf, was auch immer, mit ungeheurer Wucht, und so war eine durch ihn verursachte Wunde meistens tödlich, während es bei einer Pfeilwunde häufig noch Hilfe geben mochte, wenn nicht gerade das Herz getroffen worden war. Jimmy hatte einmal einen stählernen Harnisch in einer Schenke ausgestellt gesehen. Die dicke Brustplatte wies ein Loch von der Größe einer Faust auf. Es war durch den Bolzen einer schweren Armbrust hervorgerufen worden. Der Harnisch war nicht wegen der Größe des Loches zur Schau gestellt worden, die bei dieser Waffe nicht ungewöhnlich war, sondern weil sein Träger wie durch ein Wunder überlebt hatte. Trotzdem hatte die Waffe ihre Nachteile. Abgesehen davon, dass ihre Genauigkeit über eine Entfernung von mehr als etwa zehn Metern zweifelhaft war, ließ sich mit ihr auch nicht sehr weit schießen.

ENDE DER LESEPROBE