Die Midkemia-Saga 4 - Raymond Feist - E-Book

Die Midkemia-Saga 4 E-Book

Raymond Feist

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Beschreibung

Krieg und Intrigen, Ehre und Tod, Liebe und Hass

Murmandamus, der Anführer der dunklen Elfen der Wälder, musste einen hohen Preis für den Sieg von Armengar zahlen. Unzählige seiner Soldaten sind gefallen. Doch sein Heer ist immer noch größer als jede Streitmacht, die sich ihm in den Weg stellt. Beinahe unangefochten erreicht er Sethanon, die Hauptstadt des einst mächtigen Reiches Rillanon. Prinz Arutha bereitet sich darauf vor, dort die letzte verzweifelte Schlacht zu schlagen. Doch Murmandamus hat ein größeres Ziel als die Eroberung eines Reiches – er will seinen finsteren Gott zurück in die Welt der Sterblichen rufen.

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Buch

Murmandamus, der Anführer der dunklen Elfen der Wälder, musste einen hohen Preis für den Sieg von Armengar zahlen. Unzählige seiner Soldaten sind gefallen. Doch sein Heer ist immer noch größer als jede Streitmacht, die sich ihm in den Weg stellt. Beinahe unangefochten erreicht er Sethanon, die Hauptstadt des einst mächtigen Reiches Rillanon. Prinz Arutha bereitet sich darauf vor, dort die letzte verzweifelte Schlacht zu schlagen. Doch Murmandamus hat ein größeres Ziel als die Eroberung eines Reiches – er will seinen finsteren Gott zurück in die Welt der Sterblichen rufen!

Autor

Raymond Feist wurde 1945 in Los Angeles geboren und lebt in San Diego im Süden Kaliforniens. Viele Jahre lang hat er Rollenspiele und Computerspiele entwickelt. Aus dieser Tätigkeit entstand auch die fantastische Welt Midkemia seiner Romane. Die in den 80er Jahren begonnene Saga ist bereits ein Klassiker des Fantasy-Genres, und Feist gilt als einer der wichtigsten Vertreter der Fantasy in der Tradition Tolkiens.

Raymond Feist bei Blanvalet:

Die Midkemia-Saga: 1. Der Lehrling des Magiers, 2. Der verwaiste Thron, 3. Die Gilde des Todes, 4. Dunkel über Sethanon

Weitere Titel in Vorbereitung

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Raymond Feist

Die Midkemia-Saga 4

Dunkel über Sethanon

Deutsch von Dagmar Hartmann

Die Originalausgabe erschien 1986 unter dem Titel

»Riftwar Saga 4: A Darkness at Sethanon« bei Bantam Books, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe

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eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag

keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage

Copyright der Originalausgabe © 1986 by Raymond Feist

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 1986 by Verlagsgruppe

Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Peter Thannisch

Umschlaggestaltung und -illustration:

Isabelle Hirtz, Inkcraft · Karte: © Melanie Korte

HK · Herstellung: kw

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-18447-6V003

www.blanvalet.de

Prolog

Unheilswind

Der Wind kam aus dem Nichts.

Erhoben hatte er sich aus dem Widerhall eines hämmernden Schicksals. Er trug die Hitze eines Schmiedefeuers, das den Krieg anheizte, und damit den versengenden Tod vor sich her, lebte im Herzen eines verlorenen Landes auf, kam von einem fremden Ort, der sich zwischen dem befand, was ist, und dem, was nach Sein strebt. Der Wind wehte aus dem Süden, wo die Schlangen aufrecht gehen und uralte Worte sprechen. Tosend erfüllte er lang vergessene Prophezeiungen und stank nach uraltem Bösen. In wilder Ekstase drehte sich der Wind umher, wirbelte heraus aus der Ödnis, hielt inne, suchte sich eine Richtung und wehte dann nach Norden.

Während die alte Amme nähte, summte sie ein einfaches Lied, ein Lied, das seit Generationen in ihrer Familie von der Mutter zur Tochter weitergegeben worden war. Sie hielt für einen Moment inne und sah von ihrem Nähzeug auf. Ihre beiden Zöglinge lagen mit friedlichen kleinen Gesichtern da und schliefen, träumten ihre kleinen Träume. Gelegentlich zuckten die Fingerchen des einen im Schlaf, oder der andere schmatzte und nuckelte, doch bald fanden die Säuglinge wieder zur Ruhe. Sie waren so hübsche Kinder, und eines Tages würden aus ihnen stattliche Männer werden, dessen war sich die Amme sicher. Als Erwachsene würden sie sich zwar nur noch vage an die Frau erinnern, die in dieser Nacht bei ihnen saß, aber in diesem Moment gehörten sie ihr genauso wie ihrer Mutter, die mit ihrem Gemahl einem festlichen Abendessen vorsaß.

Plötzlich drang durch das Fenster ein seltsamer Wind herein, und trotz seiner Wärme fröstelte die Amme. Der Wind trug den Hauch des Fremden mit sich und sang eine misstönende, böse Melodie, die kaum wahrzunehmen war. Die Amme schauerte und sah zu den Jungen hinüber. Sie wurden unruhig, als wollten sie erwachen und weinen. Die Amme eilte zum Fenster, schloss die Fensterläden und verbannte die seltsame, Unruhe stiftende Nachtluft aus dem Zimmer.

Einen Moment lang schien die Zeit den Atem anzuhalten, und dann, wie mit einem leisen Seufzer, erstarb die Böe, und die Nacht war wieder still. Die Amme zog das Tuch enger um die Schultern, die Säuglinge wälzten sich noch einmal in ihren Wiegen hin und her und fielen wieder in tiefen Schlaf.

In einem anderen Zimmer, ganz in der Nähe, arbeitete ein junger Mann an einer Liste und versuchte angestrengt, seine persönlichen Vorlieben aus dem Spiel zu lassen, während er entschied, wer am nächsten Tag die weniger angenehmen Aufgaben übernehmen sollte. Er hasste diese Arbeit, dessen ungeachtet erledigte er sie dennoch gewissenhaft.

Plötzlich bauschte der Wind die Gardinen auf und drückte sie ins Zimmer. Ohne nachzudenken, war er schon halb auf den Beinen, als ihm sein erprobter sechster Sinn Gefahr signalisierte. Er zögerte einen Moment lang mit klopfendem Herzen und war sich so sicher wie nie zuvor in seinem Leben, dass ihm ein Kampf auf Leben und Tod bevorstand.

Als er niemanden entdecken konnte, entspannte sich der junge Mann langsam wieder. Der Moment war vergangen. Verwirrt schüttelte er den Kopf. In seinem Magen machte sich eine eigenartige Übelkeit breit, und er ging hinüber zum Fenster. Die Minuten verstrichen, während er hinaus in die Nacht schaute, in den Norden, wo, wie er wusste, die hohen Berge lagen, hinter denen ein Feind, ein böser Feind, wartete.

Der junge Mann kniff die Augen zusammen und starrte in die Dunkelheit, als könnte er so die Gefahren entdecken, die dort draußen lauerten. Dann, als die letzte Anspannung von ihm abgefallen war, kehrte er wieder zu seiner Aufgabe zurück.

In den verbliebenen Stunden der Nacht trat er immer wieder ans Fenster und sah hinaus.

Draußen in der Stadt bummelte eine Gruppe von Nachtschwärmern durch die Straßen und suchte nach der nächsten Schenke und weiteren fröhlichen Zechkumpanen. Der Wind wehte ihnen entgegen, und sie blieben stehen und sahen sich an. Ein erfahrener Soldat ging zunächst weiter, blieb dann jedoch ebenfalls stehen und dachte nach. Offenbar hatte er plötzlich das Interesse am Feiern verloren, denn er wünschte seinen Zechkumpanen eine gute Nacht und kehrte ins Schloss zurück, wo er seit fast einem Jahr zu Gast war.

Der Wind fuhr hinaus aufs Meer, wo ein Schiff nach einer langen Patrouillenfahrt eilig seinen Heimathafen ansteuerte. Der Kapitän, ein hochgewachsener alter Mann mit einer langen Narbe, die sich auf der einen Gesichtshälfte von der Stirn durch das weiße Auge bis zum Kinn zog, hielt inne, als er von der frischen Brise erfasst wurde.

Er wollte schon den Befehl erteilen, die Segel einzuholen, als es ihn mit einem Mal seltsam fröstelte. Der Kapitän sah hinüber zu seinem Ersten Maat, einem pockennarbigen Mann, der schon seit Jahren zu seiner Mannschaft gehörte. Sie blickten sich an – dann war der Wind vorbeigezogen.

Der Kapitän verharrte noch. Schließlich aber schickte er Männer in die Takelage, und nach einem weiteren Augenblick, in dem alles still geblieben war, ließ er zusätzliche Laternen anzünden, die die plötzlich bedrückende Dunkelheit erhellen sollten.

Weiter im Norden blies der Wind durch die Straßen einer Stadt und trieb kleine Staubwirbel auf, die wie ein ausgelassener Hofnarr über das Straßenpflaster tanzten. In dieser Stadt lebten Männer aus einer anderen Welt neben solchen, die hier geboren waren. In der Garnisonsmesse der Soldaten rang einer der Männer aus der anderen Welt gerade mit einem, der nur eine Meile vom Kampfplatz entfernt aufgewachsen war. Rund um die beiden herum wurden währenddessen von den Zuschauern eifrig Wetten abgeschlossen. Jeder Mann hatte den anderen bereits einmal auf den Rücken gelegt, und beim nächsten Mal würde der Sieger feststehen.

Plötzlich erhob sich der Wind, und die beiden Kontrahenten blieben voreinander stehen und sahen sich um. Staub wehte den Umstehenden in die Augen, und einige der erfahrenen Veteranen mussten einen Schauer unterdrücken.

Schweigend verließen die Kämpfer den Ring, und diejenigen, die gewettet hatten, holten sich ohne Widerspruch ihre Einsätze zurück.

Still kehrten die Männer in ihre Quartiere zurück. Der bitterkalte Wind hatte die ausgelassene Stimmung hinweggeweht.

Der Wind setzte seinen Weg nach Norden fort, bis in einen Wald, in dem kleine affenähnliche Wesen freundlich und schüchtern in den Ästen hockten. Sie drängten sich aneinander, denn nur in der gegenseitigen Nähe der Körper wurde es so warm, wie sie es mochten.

Unter ihnen, auf dem Boden des Waldes, saß ein Mann in meditativer Haltung. Er kauerte im Schneidersitz, seine Handgelenke ruhten auf den Knien, und Daumen und Zeigefinger bildeten einen Kreis, der das Rad des Lebens symbolisierte, dem alle Lebewesen unterworfen sind.

Als ihn der dunkle Wind berührte, schlug er die Augen auf und sah das Wesen an, das ihm gegenübersaß. Es war ein alter Elb – seine Betagtheit ließ sich lediglich an den schwachen Altersmerkmalen seiner Art erkennen –, der den Menschen einen Moment lang betrachtete und die unausgesprochene Frage vom Gesicht des anderen ablas. Er nickte kaum merklich.

Der Mensch hob die beiden Waffen an seiner Seite auf. Er schob sowohl das lange als auch das kurze Schwert in die Schärpe, die ihm als Gürtel diente, und verabschiedete sich wortlos mit einer Geste. Dann ging er los, verschwand zwischen den Bäumen des Waldes und begann seine Reise zum Meer.

Dort würde er einen anderen Mann suchen, der den Titel Elbenfreund trug. Und dort würde er sich auch auf die letzte Schlacht vorbereiten, die bald ihren Anfang nehmen würde.

Das Laub raschelte über seinem Kopf, während sich der Krieger auf seinen Weg zum Meer machte.

In einem anderen Wald rauschte ebenfalls das Laub, allerdings eher aus Mitgefühl für diejenigen, die der vorbeistreichende Unheilswind beunruhigte. In einer riesigen Sternenwolke zog ein heißer Planet seine Bahn um eine grüngelbe Sonne. Auf dieser Welt gab es einen Zwillingswald von jenem, in dem der Krieger gerade aufgebrochen war. Tief in diesem zweiten Wald saßen Lebewesen im Kreis und wurden von zeitlosem Wissen eingehüllt. Sie wirkten einen Zauber. Um sie herum bildete ein warmes, sanftes Glühen eine Sphäre, und jedes der Wesen saß auf der nackten Erde, doch ihre überaus bunten Roben blieben vom Schmutz des Bodens unberührt. Alle hatten die Augen geschlossen und sahen dennoch, was sie sehen mussten.

Einer, so uralt, dass sich die anderen nicht an seine Anfänge erinnern konnten, saß über dem Kreis. Er schwebte durch die Kraft des Zaubers, den alle gemeinsam wirkten, in der Luft. Das weiße Haar hing ihm bis auf die Schultern und wurde nur von einem einfachen kupfernen Stirnreif gehalten, dessen einzige Verzierung in einem Jadestein auf der Stirn bestand. Er hatte die Hände in die Höhe gehoben und die Handflächen nach vorn gerichtet.

Seine Augen fixierten einen Menschen in schwarzer Robe, der ihm gegenüber schwebte. Dieser andere wurde von geheimnisvollen Energieströmen getragen, die ein Gitter um ihn herum bildeten. Er schickte sein Bewusstsein an den Linien des Gitters entlang und meisterte die fremde Magie.

Der in der schwarzen Robe saß da wie ein Spiegelbild des anderen, hatte ebenfalls die Handflächen nach außen gerichtet, doch seine Augen waren geschlossen. Er lernte. Nur mit dem Geist berührte er das Gebilde dieses alten Elbenzaubers, und er fühlte die miteinander verwobenen Kräfte jedes einzelnen Lebewesens im Wald, die vorsichtig aufgenommen und ausgerichtet, doch niemals gezwungen wurden, um die Bedürfnisse dieser Gemeinschaft zu erfüllen. So benutzten die Magier ihre Kräfte: Behutsam, doch beständig, spannen sie die Fasern dieser ewig natürlichen Energien zu einem Faden, den sie für ihre Zwecke verwenden konnten.

Der in der schwarzen Robe berührte die Magie mit seinem Geist und erfuhr sie. Er erfuhr, wie seine Kräfte über jedes Ausmaß hinauswuchsen, das ein einfacher Mensch hätte begreifen können, wie sie im Vergleich zu dem, was er einst für die Grenzen seiner Begabung gehalten hatte, gottgleich wurden. Im vergangenen Jahr hatte er vieles gemeistert, trotzdem wusste er, dass er noch vieles lernen musste.

Immerhin gab ihm dieser Unterricht die Mittel an die Hand, andere Quellen des Wissens zu entdecken, jene Geheimnisse zu ergründen, die nur die größten Meister kannten: wie man allein durch Willensstärke zwischen den Welten wandelte, wie man sich in der Zeit bewegte und wie man sogar dem Tod ein Schnippchen schlagen konnte. All diese Geheimnisse konnte er aufdecken, und er würde eines Tages auch die Mittel finden, mit denen man diese Geheimnisse beherrschte. Wenn ihm genug Zeit gelassen würde. Zeit war das Entscheidende.

Das Laub der Bäume raschelte wie ein Echo des fernen Unheilswindes. Der Mann in Schwarz richtete seine dunklen Augen auf das uralte Wesen, das vor ihm schwebte, und beide zogen sich aus dem Gitter zurück. Nur in Gedanken sagte der Mann in Schwarz: So bald, Acaila?

Der andere lächelte, und die blassen blauen Augen strahlten ein helles Licht aus, ein Licht, das den Mann in Schwarz entsetzt hatte, als er es zum ersten Mal gesehen hatte. Nun wusste er, dass dieses Licht von einer tiefen Kraft herrührte, einer Kraft, die über alles hinausging, was er jemals bei einem Sterblichen wahrgenommen hatte. Doch es war eine andere Kraft, keine beeindruckende Macht, sondern eine wohltuende, heilende Kraft des Lebens, der Liebe und der Heiterkeit. Dieses Wesen lebte in wahrer Einheit mit allem, was es umgab. Wenn man in diese Augen sah, wurde man zu einem Ganzen, und das Lächeln des Wesens spendete einen kaum fassbaren Trost.

Dennoch waren die beiden beunruhigt, während sie langsam zu Boden sanken. Es war ein ganzes Jahr. Es hätte uns allen geholfen, wenn wir mehr Zeit gehabt hätten. Aber leider vergeht die Zeit, wie sie will, und es mag sein, dass du bereit bist. Dann fügte er – in einer Art, von welcher der Mann in der schwarzen Robe gelernt hatte, dass es Humor sein sollte – laut hinzu: »Aber bereit oder nicht, es ist an der Zeit.«

Die anderen erhoben sich, und in der Stille eines Moments fühlte der in der schwarzen Robe, wie sich die anderen in seinem Bewusstsein vereinigten und ihm ein letztes Lebewohl sagten. Sie sandten ihn dorthin zurück, wo ein Krieg tobte, ein Krieg, in dem er eine entscheidende Rolle spielen sollte. Aber jetzt, als sie ihn zurückschickten, besaß er weit mehr als das, womit er gekommen war.

Er spürte die letzte Berührung und sagte: »Ich danke Euch. Ich werde an einen Ort zurückkehren, von dem aus ich schnell nach Hause reisen kann.« Ohne weitere Worte schloss er die Augen und verschwand.

Die Wesen im Kreis schwiegen einen Augenblick, dann ging jeder wieder an die Aufgabe, die ihn oder sie erwartete. Das Laub in den Ästen blieb noch eine Weile ruhelos, und der Widerhall des fernen Unheilswindes ließ nur langsam nach.

Der Unheilswind fegte weiter, bis er die Bergkuppe oberhalb eines fernen Tals erreichte, hinter der sich eine Gruppe Männer in gebückter Haltung versteckt hielt. Kurz warfen sie einen Blick nach Süden, als könnten sie so die Ursache dieses seltsamen, beunruhigenden Windes ergründen, dann beobachteten sie wieder die Ebene unter sich.

Die beiden, die dem Grat am nächsten waren, hatten einen langen, scharfen Ritt hinter sich, den der Bericht einer Patrouille notwendig gemacht hatte. Auf der Ebene vor ihnen sammelte sich unter dem Banner des Bösen eine Armee. Der Anführer der Patrouille, ein ergrauender großer Mann mit einer schwarzen Klappe über seinem rechten Auge, duckte sich hinter dem Bergkamm. »Es ist so schlimm, wie wir befürchtet haben«, sagte er mit gedämpfter Stimme.

Der andere Mann, nicht ganz so groß, dafür stämmiger, kratzte sich am grauen Bart, während er sich neben seinen Gefährten hockte. »Nein, es ist noch schlimmer«, flüsterte er. »Nach der Zahl der Lagerfeuer braut sich dort unten ein höllischer Sturm zusammen.«

Der Mann mit der Augenklappe saß eine Weile schweigend da. »Nun ja, irgendwie haben wir ein Jahr gewonnen. Ich hatte ihren Angriff schon letzten Sommer erwartet. Glücklicherweise haben wir uns gut vorbereitet, denn jetzt werden sie mit Sicherheit kommen.« Gebückt hastete er dorthin zurück, wo ein großer blonder Mann sein Pferd hielt. »Wollt Ihr noch bleiben?«

Der zweite Mann antwortete: »Ja, ich glaube, ich werde sie noch eine Zeitlang beobachten. Wenn ich zähle, wie viele ankommen und in welchen Abständen, kann ich vielleicht schätzen, wie viele er insgesamt bringen wird.«

Der Führer stieg auf. Der blonde Mann sagte: »Was soll’s schon? Wenn er kommt, bringt er alles mit, was er hat.«

»Ich mag nur einfach keine Überraschungen.«

»Wie lange?«, fragte der erste Mann.

»Zwei, höchstens drei Tage, dann wird die Gegend hier zu bevölkert sein.«

»Sie werden auch jetzt sicherlich schon Patrouillen ausgeschickt haben. Höchstens zwei Tage.« Und mit einem verbissenen Lächeln fügte er hinzu: »Ihr seid zwar nicht gerade die allerbeste Gesellschaft, aber nach zwei Jahren habe ich mich doch sehr an Euch gewöhnt. Seid vorsichtig.«

Über das Gesicht des zweiten Mannes huschte ein breites Grinsen. »Das beruht auf Gegenseitigkeit. Ihr habt ihnen in den letzten beiden Jahren reichlich zugesetzt, und sie möchten Euch zu gern in ihre Finger bekommen. Euer Kopf würde auf einer Lanze vor den Stadttoren enden.«

»So weit wird es nicht kommen.« Das offene Lächeln des blonden Mannes stand im Gegensatz zu seiner Stimme, die jene Entschlossenheit verkündete, welche die anderen beiden nur zu gut kannten.

»Achtet nur darauf, dass es nicht dazu kommt. Und nun macht Euch auf.«

Die Kompanie ritt davon, nur einer der Reiter blieb zurück, um den stämmigen Mann bei seiner Erkundung zu begleiten. Nachdem er die Szene vor sich eine ganze Weile beobachtet hatte, murmelte der Stämmige leise: »Was hat er jetzt wieder vor, dieser Bastard eines mutterlosen Hurenbocks? Was haben wir diesen Sommer zu erwarten, Murmandamus?«

Festtag

Jimmy rannte durch die Halle.

In den letzten paar Monaten war er ordentlich gewachsen. Am nächsten Mittsommertag würde man ihn für sechzehn Jahre alt erklären, obwohl niemand sein genaues Alter kannte. Sechzehn erschien ziemlich wahrscheinlich, ebenso gut konnte er jedoch auch schon siebzehn oder achtzehn sein. Er war schon immer ein athletischer Typ gewesen, doch seit er an den Hof gekommen war, hatten seine Schultern noch an Breite zugelegt, und er war einen Kopf größer geworden. Jetzt sah er mehr wie ein Mann als wie ein Knabe aus.

Aber einige Dinge änderten sich nie, und dazu gehörte Jimmys Verantwortungsgefühl. Bei wichtigen Aufgaben konnte man sich stets auf ihn verlassen, seine Missachtung der einfachen Angelegenheiten jedoch drohte den Hof des Prinzen von Krondor ein ums andere Mal ins Chaos zu stürzen. Die Regeln besagten, dass er als Erster Junker des fürstlichen Hofes als Erster bei Versammlungen anwesend sein sollte, doch gewöhnlich kam er eher als Letzter. Pünktlichkeit war eine jener Eigenschaften, die er sich nicht angewöhnen konnte. Entweder erschien er zu spät oder zu früh, jedenfalls nie zur verlangten Zeit.

Junker Locklear stand an der Tür zu dem kleinen Saal, in dem sich die Junker gewöhnlich versammelten, und winkte Jimmy aufgeregt zu, er solle sich beeilen. Von allen Junkern hatte allein Locklear mit dem Junker des Prinzen Freundschaft geschlossen, seit Jimmy mit Arutha von der Suche nach Silberdorn zurückgekehrt war. Auch wenn Jimmy Locklear zuerst – und ganz zutreffend – noch als halbes Kind eingeschätzt hatte, hatte es ihn doch überrascht und ihm gleichzeitig gefallen, wie sehr der jüngste Spross des Barons von Endland seine Sorglosigkeit mochte. Egal, wie riskant ein Vorhaben, das Jimmy ausgeheckt hatte, sein mochte, Locklear machte für gewöhnlich mit. Wenn es wieder einmal Ärger gegeben hatte, weil Jimmy sein Spiel mit der Geduld der Hofbeamten zu weit getrieben hatte, nahm Locklear seine Strafe bereitwillig an und sah sie als gerechte Bezahlung dafür, dass sie erwischt worden waren.

Jimmy sauste in das Zimmer und kam auf dem glatten Marmorboden rutschend zum Stehen. Zwei Dutzend Junker in ihrer grün-braunen Kleidung bildeten in dem Saal zwei ordentliche Reihen. Er sah sich um. Alle waren bereits da. Gerade in dem Moment, als der Zeremonienmeister Brian deLacy eintrat, nahm er den für ihn vorgesehenen Platz ein.

Als Jimmy in den Rang eines Ersten Junkers erhoben worden war, hatte er ausschließlich an das Privileg dieser Stellung und nicht an die damit verbundene Verantwortung gedacht. Doch er war rasch eines Besseren belehrt worden. Als Mitglied des Hofes, wenn auch nur von untergeordnetem Rang, hatte er, wenn er wieder einmal seine Pflichten vernachlässigt hatte, schnell Bekanntschaft mit der wichtigsten Grundregel der Bürokraten aller Völker und Epochen gemacht: Die Vorgesetzten interessierten sich nie für Entschuldigungen, sondern nur für Ergebnisse. Jimmy musste also auch für die Fehler einstehen, die die anderen Junker machten. Und insofern war es kein besonders gutes Jahr für Jimmy gewesen.

In seiner rauschenden rot-schwarzen Amtstracht durchquerte der hochgewachsene, ehrwürdige Zeremonienmeister gemessenen Schrittes den Saal und blieb hinter Jimmy stehen, der nach dem Haushofmeister sein nächster Untergebener war, allerdings ebenso sehr sein größtes Problem. An jeder Seite begleitete ihn ein purpur-gelb uniformierter Page des Hofes, Söhne von Nichtadeligen, die zu Palastdienern herangezogen wurden. Die Junker hingegen würden einst zu den Herrschenden im Westlichen Königreich zählen. Meister deLacy pochte abwesend mit der Eisenspitze seines Zeremonienstabes auf den Boden und sagte: »Ihr habt es mal wieder gerade vor mir geschafft, nicht wahr, Junker James?«

Jimmy zuckte nicht mit der Wimper, obwohl die Jungen hinter ihm unterdrückt lachten, und sagte: »Alle Junker sind anwesend, Meister deLacy. Nur Junker Jerome ist in seinem Quartier und lässt sich wegen einer Verletzung entschuldigen.«

DeLacy nahm die Nachricht resigniert auf: »Ja, ich habe von Eurer gestrigen kleinen Meinungsverschiedenheit auf dem Spielfeld gehört. Ich meine, wir sollten uns über dieses Thema nicht weiter ausbreiten. Ihr habt ständig irgendwelche Schwierigkeiten mit Jerome. Ich habe schon wieder eine Beschwerde von seinem Vater bekommen. Ich überlege ernsthaft, ob ich in Zukunft diese Beschwerden nicht immer einfach gleich an Euch weiterleite.«

Jimmy versuchte, möglichst unschuldig auszusehen, was ihm allerdings nicht gelang.

»So, bevor ich nun zu den Aufgaben des heutigen Tages komme, fühle ich mich verpflichtet, Euch noch einmal eins in aller Deutlichkeit zu sagen«, fuhr Meister deLacy fort. »Es wird von Euch erwartet, dass Ihr Euch zu jeder Zeit wie junge Gentlemen benehmt. Aus diesem Grunde fühle ich mich ebenfalls verpflichtet, Euch ganz dringend davon abzuraten, Euch mit einem jüngst aufgekommenen Laster abzugeben. Wie ich gehört habe, wird nämlich bei den Fassballspielen am Sechstag auf die Ergebnisse gewettet. Habe ich mich verständlich ausgedrückt?« Eigentlich war die Frage an alle versammelten Junker gerichtet, doch deLacys Hand landete auf Jimmys Schulter. »Von heute an gibt es keine Wetten mehr, es sei denn, es handelt sich um ehrwürdige Angelegenheiten wie zum Beispiel Pferderennen. Lasst Euch nichts zuschulden kommen, das ist ein Befehl.«

Die Junker stimmten murrend zu. Jimmy nickte scheinheilig und war insgeheim erleichtert, weil er seinen Einsatz für das Spiel am Nachmittag bereits gemacht hatte. Unter dem Personal und dem niedrigen Adel war das Interesse an diesem Spiel sehr groß gewesen, und Jimmy hatte nur unter größter Mühe seine Wette loswerden können. Wenn Meister deLacy erfuhr, dass er längst gewettet hatte, würde der Teufel los sein. Dennoch fand Jimmy sein Verhalten keineswegs ehrenrührig, schließlich hatte deLacy nichts über bereits abgeschlossene Wetten gesagt.

Meister deLacy überflog den Arbeitsplan, den Jimmy in der Nacht zuvor vorbereitet hatte. Welchen Anlass zur Beschwerde ihm der Erste Junker auch immer bieten mochte, seine Arbeit erledigte er stets tadellos. Egal, welche Aufgabe der Junge auch übernahm, er erfüllte sie zur vollsten Zufriedenheit; viel schwieriger war es, ihn überhaupt an die Arbeit zu bekommen. Nachdem er die Pflichten für den Morgen verteilt hatte, befahl deLacy: »Fünfzehn Minuten, bevor die zweite Stunde des Nachmittags beginnt, versammelt Ihr Euch alle auf der Treppe vor dem Palast. Denn zur zweiten Stunde des Nachmittags wird der Prinz mit seinem Gefolge zur Präsentation ankommen. Sobald die Zeremonie beendet ist, seid Ihr für den Rest des Tages von der Arbeit befreit. Diejenigen, deren Familien hier leben, können diese also besuchen. Zwei von Euch werden allerdings noch gebraucht, damit sie der Familie des Prinzen und den Gästen zu Diensten sein können. Für diese Aufgabe habe ich die Junker Locklear und James ausgewählt. Ihr beide werdet Euch sofort bei Graf Volney melden und Euch zu seiner Verfügung halten. Das ist alles.«

Jimmy stand wie erstarrt da, und eine ganze Weile brachte er vor Ärger keinen Ton heraus. DeLacy ging hinaus, und die anderen Junker verließen den Saal. Locklear schlenderte hinüber zu Jimmy und meinte schulterzuckend: »Nun ja, wir haben nicht gerade das Glück gepachtet, was? Die anderen werden alle losziehen und irgendwo etwas essen und trinken und« – er warf Jimmy einen Seitenblick zu und grinste – »Mädchen küssen. Und wir müssen hier bei Ihrer Hoheit bleiben.«

»Ich bring ihn um«, sagte Jimmy voller Wut.

Locklear schüttelte den Kopf. »Jerome?«

»Wen sonst?« Jimmy setzte sich in Bewegung und winkte seinem Freund, er solle ihm folgen. »Er hat deLacy die Sache mit den Wetten erzählt. Damit wollte er sich bestimmt für das blaue Auge bedanken, das ich ihm gestern verpasst habe.«

Locklear seufzte niedergeschlagen. »Wir haben keine Chance gegen Thom und Jason und die anderen Lehrjungen, wenn wir beide heute Nachmittag nicht spielen können.« Locklear und Jimmy waren die beiden besten Spieler in der Mannschaft der Junker. Locklear war fast genauso flink wie Jimmy und ihm nur im Fechten unterlegen. Was jedoch das Ballspielen anging, waren die beiden gemeinsam unschlagbar, und wenn sie nicht mitspielen konnten, war eins klar: Die Lehrjungen würden gewinnen. »Wie viel hast du eingesetzt?«

»Alles«, erwiderte Jimmy, und Locklear zuckte zusammen. Seit Monaten hatten die Junker ihr ganzes Gold und Silber für dieses eine Spiel gespart. »Nun, wie hätte ich ahnen können, dass uns deLacy diese Sache aufhalst? Außerdem hätten wir unseren Einsatz fünf zu zwei wieder herausbekommen. Nicht schlecht bei den ganzen Verlusten in letzter Zeit.« Monatelang hatten die Junker absichtlich verloren, damit sie bei diesem Spiel alles zu einer hohen Quote setzen konnten. »Vielleicht sind wir doch nicht völlig aus dem Rennen«, dachte er laut. »Ich werde mir schon noch etwas einfallen lassen.«

Locklear wechselte das Thema. »Heute warst du ja mal wieder besonders spät dran. Was ist dir denn diesmal dazwischengekommen?«

Jimmy grinste, und der verärgerte Zug um seinen Mund verschwand. »Ich hab mich mit Marianna unterhalten.« Dann verzog sich sein Gesicht wieder zu einer düsteren Miene. »Sie wollte sich heute nach dem Spiel mit mir treffen, aber jetzt werden wir beide beim Prinz und bei der Prinzessin bleiben müssen.« Seit dem letzten Sommer war Jimmy nicht nur ein ganzes Stück gewachsen, er hatte plötzlich auch sein Interesse an Mädchen entdeckt. Mit einem Mal suchte er ihre Gegenwart und wollte unbedingt von ihnen gemocht werden. Was seine Erfahrung und sein Wissen in diesen Dingen betraf, war er den anderen Junkern Jahre voraus. Der frühere Dieb hatte sich bereits seit einigen Monaten immer wieder an die Dienstmädchen herangemacht. Marianna war der jüngste Schwarm, den der schlaue, witzige und gutgebaute junge Junker erobern wollte.

Weil er so lockiges braunes Haar, ein so gewinnendes Lächeln und so funkelnde dunkle Augen hatte, sahen die Eltern der Dienstmädchen im Palast in ihm eine ständige Gefahr für die Unschuld ihrer Töchter.

Locklear gab wie gewöhnlich vor, ihn würde das alles nicht interessieren. Allerdings war dieses Gehabe nicht mehr so glaubhaft wie früher, seit er nämlich selbst immer öfter im Mittelpunkt des Interesses der Mädchen stand. Fast jede Woche schien er ein wenig zu wachsen, und jetzt war er schon beinahe so groß wie Jimmy. Dass er bei den jüngeren Mädchen im Palast beliebt war, wunderte niemanden: Sein Haar war mit blonden Strähnen durchzogen, seine Augen strahlten in einem Blau, das an Kornblumen erinnerte, seine Wimpern waren so lang wie die einer Frau, und mit einem strahlenden Lächeln auf den Lippen begegnete er jedem freundlich und zuvorkommend. Er hatte sich nur deshalb noch nicht richtig mit dem anderen Geschlecht angefreundet, weil er zu Hause nur Brüder gehabt hatte. Aber da er jetzt so viel Zeit mit Jimmy verbrachte, würde er wohl früher oder später zu der Überzeugung gelangen, dass an Mädchen doch etwas mehr dran war, als er sich in Endland hatte vorstellen können.

»Also«, meinte Locklear und beschleunigte seinen Schritt, »sollte deLacy tatsächlich keinen Weg finden, dich aus den Diensten Seiner Hoheit zu entlassen, und sollte Jerome tatsächlich keine Straßenjungen anstiften, dich zu verprügeln, dann wird dir bestimmt irgendein eifersüchtiger Küchenjunge oder ein wütender Vater den Scheitel mit einer Keule nachziehen. Nur wird keiner von denen mehr eine Gelegenheit dazu kriegen, wenn wir zu spät in der Kanzlei erscheinen – denn dann wird Graf Volney unsere Köpfe höchstpersönlich auf Lanzen spießen lassen.«

Er lachte, stieß Jimmy den Ellbogen in die Rippen und rannte los. Jimmy lief einen Schritt hinter ihm durch die langen Gänge des Palastes. Ein alter Diener sah vom Staubwischen auf, und seine Blicke folgten den vorbeirennenden Jungen. Einen Moment lang spürte er noch einmal den Zauber der Jugend. Doch schließlich holte ihn die Wirklichkeit wieder ein – diese Zeit war vergangen, und niedergeschlagen wandte er sich wieder seiner Arbeit zu.

Die Menschen jubelten, als die Herolde endlich die Stufen des Palastes hinuntermarschierten. Zum einen, weil der Prinz, den sie respektierten und als unparteiisch und gerecht ansahen, jetzt zu ihnen sprechen würde. Zum anderen jubelten sie, weil sie nun die von ihnen geliebte Prinzessin zu Gesicht bekommen würden. Sie galt als Symbol des Fortbestands der alten Linie, als Nahtstelle zwischen der Vergangenheit und der Zukunft. Am meisten jubelten sie allerdings, weil sie zu den ausgewählten Nichtadeligen gehörten, die aus der Speisekammer und dem Weinkeller des Prinzen bewirtet werden sollten.

Das Fest der Präsentation fand stets dreißig Tage nach der Geburt eines Mitglieds der königlichen Familie statt. Wie es zu diesem Fest gekommen war, daran konnte sich niemand mehr erinnern, doch im Allgemeinen wurde angenommen, dass die alten Herrscher des Stadtstaates Rillanon einst dazu verpflichtet gewesen waren, dem Volk – egal, welchen Standes – die Gesundheit des Thronfolgers zu demonstrieren. Jedenfalls war dieses Fest für die Leute ein willkommener Feiertag, als hätte man ihnen ein zusätzliches Mittsommerfest gewährt.

Die sich eines Vergehens schuldig gemacht hatten, wurden begnadigt, Ehrenhändel wurden als geschlichtet betrachtet, und Duelle waren während der Feierlichkeiten sowie eine Woche und einen Tag danach verboten; alle Schulden, die sich seit der letzten Präsentation angesammelt hatten – und die von Prinzessin Anita lag bereits neunzehn Jahre zurück –, wurden erlassen, und während des Nachmittags und des Abends spielte der Stand keine Rolle, einfache Bürger wie Adlige saßen gemeinsam an einer großen Tafel.

Als Jimmy seinen Platz hinter den Herolden einnahm, wurde ihm schmerzlich bewusst, dass irgendwer immer arbeiten musste. Irgendwer musste das Essen zubereiten, das an diesem Tag aufgetragen werden würde, und irgendwer musste in der Nacht wieder aufräumen und saubermachen. Er selbst musste sich eben für Arutha und Anita zur Verfügung halten, für den Fall, dass sie irgendwelche Wünsche hatten. Der Verantwortung seiner Stellung, dachte er seufzend, konnte man sich einfach nicht entziehen, egal, wo man sich auch verstecken mochte.

Locklear summte leise vor sich hin, während sich die Herolde weiter in Aufstellung brachten. Ihnen folgten die Mitglieder von Aruthas Leibwache. Und als Gardan, der Feldmarschall von Krondor, und Graf Volney, der Kanzler, eintrafen, war dies das Zeichen für den bevorstehenden Beginn der Zeremonie.

Der grauhaarige Soldat mit der vergnügten Miene nickte dem wohlbeleibten Kanzler zu, dann pochte Zeremonienmeister deLacy mit seinem Stab auf den Boden: Trompetenstöße erschollen, und Trommelwirbel rasselten. Der Zeremonienmeister stieß ein zweites Mal auf den Boden, und ein Herold verkündete: »Höret! Höret! Seine Hoheit Arutha conDoin, Prinz von Krondor, Herrscher des Westlichen Königreiches, Erbe des Throns von Rillanon.« Die Menge jubelte, jedoch eher der Form halber als aus wahrer Begeisterung. Arutha war einer jener Männer, dem das gemeine Volk tiefen Respekt, aber wenig Zuneigung entgegenbrachte.

Ein hochgewachsener, schlanker Mann mit dunklen Haaren trat heraus. Seine Kleidung war aus hellbraunen, fein gewobenen Stoffen gefertigt, und über den Schultern hing der rote Mantel seines Amtes. Er blieb stehen und kniff die braunen Augen ein wenig zusammen, während der Herold die Prinzessin ankündigte. Als die zarte rothaarige Prinzessin von Krondor neben ihren Gemahl trat und ihn mit ihren freundlichen Augen anstrahlte, rang dieser sich ein Lächeln ab. Die Menge brach in aufrichtigen Jubel aus. Da kam ihre geliebte Anita, die Tochter von Aruthas Vorgänger Erland.

Während die eigentliche Zeremonie schnell vorüber sein würde, nahm die Vorstellung der Adligen einige Zeit in Anspruch. Die wichtigsten Gäste und Adligen des Palastes mussten der Öffentlichkeit angekündet werden. Das erste Paar wurde aufgerufen. »Ihre Hoheiten, der Herzog und die Herzogin von Salador.«

Ein stattlicher Mann bot seinen Arm einer dunkelhaarigen Dame an. Laurie, der früher als fahrender Sänger durch die Lande gezogen und jetzt Herzog von Salador und Gemahl von Prinzessin Carline war, führte seine schöne Ehefrau zur Seite ihres Bruders. Sie waren bereits vor einer Woche in Krondor eingetroffen und hatten ihre Neffen besucht, und sie würden noch für eine weitere Woche in der Stadt verweilen.

Der Herold leierte die Namen der Angehörigen des Adels herunter und schließlich die der ausländischen Würdenträger, unter denen sich auch der keshianische Gesandte befand. Fürst Hazara-Khan erschien mit nur vier Leibwächtern und verzichtete damit auf den sonst üblichen keshianischen Prunk. Der Gesandte war in der Art der Wüstenmenschen von Jal-Pur gekleidet: Ein Tuch verhüllte seinen Kopf und ließ nur die Augen frei, dazu trug er einen langen indigofarbenen Mantel über einem weißen Jagdrock und einer weißen Hose, die in schwarzen, wadenhohen Stiefeln endete. Die Leibwachen waren von Kopf bis Fuß in Schwarz gehüllt.

Dann trat deLacy nach vorn und verkündete: »Möge sich nun das Volk nähern!« Einige hundert Männer und Frauen verschiedensten Standes, vom ärmsten Bettler bis hin zum reichsten Bürgerlichen, versammelten sich am Fuß der Treppe zum Haupthaus.

Arutha sprach die vorgeschriebenen Worte des Zeremoniells der Präsentation. »Heute, am dreihundertzehnten Tag des zweiten Jahres der Herrschaft unseres Königs Lyam des Ersten, präsentiere ich hiermit unsere Söhne.«

DeLacy stieß mit seinem Zeremonienstab auf den Boden, und der Herold rief aus: »Ihre Königlichen Hoheiten, die Prinzen Borric und Erland!«

Die Menge brach in fast tosende Begeisterung aus. Hochrufe und Jubel empfingen die Zwillinge, die vor einem Monat geboren worden waren und nun zum ersten Mal der Öffentlichkeit vorgestellt wurden. Die Amme, die man für die beiden Jungen ausgesucht hatte, kam nach vorn und reichte einen ihrer Schützlinge der Mutter und den anderen dem Vater. Während Arutha Borric hielt, der nach seinem Großvater väterlicherseits benannt worden war, hatte Anita Erland auf den Armen, der den Namen des Vaters seiner Mutter trug. Die Säuglinge ließen die Zeremonie mit Fassung über sich ergehen, nur Erland wurde ein wenig unruhig.

Die Menge hingegen jubelte noch, nachdem Arutha und Anita ihre Söhne längst wieder der Fürsorge der Amme übergeben hatten. Arutha schenkte den Menschen, die sich am Fuße der Treppe versammelt hatten, ein dünnes Lächeln. »Meine Söhne sind gesund und kräftig, und sie sind ohne Gebrechen zur Welt gekommen. Sie sind des Herrschens fähig. Nehmt ihr sie als Söhne des Fürstenhauses an?« Die Menge brüllte ihre Zustimmung. Daraufhin strahlte auch Anita. »Unseren Dank, mein gutes Volk. Und bis zum Festessen wünsche ich euch allen einen angenehmen Tag.«

Die Zeremonie war beendet. Jimmy eilte an die Seite von Arutha, so wie es seine Pflicht vorsah, während Locklear seinen Platz neben Anita einnahm. Locklear war formell eigentlich noch ein Anwärter auf das Junkeramt, doch er wurde so oft zum Dienst bei der Prinzessin eingeteilt, dass er fast schon als ihr persönlicher Junker galt. Jimmy hatte den Verdacht, deLacy wollte Locklear und ihn selbst in seiner Nähe behalten, damit er sie beide leichter überwachen konnte.

Der Prinz warf Jimmy ein abwesendes Lächeln zu, derweil er beobachtete, wie sich seine Frau und seine Schwester um die Zwillinge kümmerten. Der keshianische Gesandte hatte das Tuch abgenommen, mit dem er auf traditionelle Weise das Gesicht verhüllt hatte, und lächelte bei dem Anblick der glücklichen Familie. Seine vier Leibwächter blieben dicht in seiner Nähe.

»Eure Hoheit sind dreimal gesegnet«, setzte der Keshianer an. »Gesunde Kinder sind ein Geschenk der Götter. Und es sind Söhne. Und dann auch noch gleich zwei.«

Arutha genoss es, wie stolz seine Frau strahlte, während sie ihre Söhne auf den Armen der Amme betrachtete. »Ich danke Euch, Fürst Hazara-Khan. Es ist eine unerwartete Freude, Euch in diesem Jahr bei uns zu sehen.«

»Das Wetter in Durbin ist dieses Jahr wirklich abscheulich«, meinte der Angesprochene abwesend, während er dem kleinen Borric eine Grimasse schnitt. Plötzlich erinnerte er sich daran, wo er sich befand, und fuhr etwas formeller fort: »Und außerdem, Eure Hoheit, müssen wir noch eine paar kleine Details besprechen, was die neue Grenze hier im Westen betrifft.«

Arutha lachte. »Bei Euch, mein lieber Abdur, werden aus kleinen Detailfragen gewöhnlich große Angelegenheiten. Die Aussicht, Euch wieder einmal am Verhandlungstisch gegenübersitzen zu müssen, bereitet mir keine besondere Freude. Trotzdem werde ich natürlich jeden Vorschlag, den Ihr macht, an Seine Majestät weiterleiten.«

Der Keshianer verbeugte sich und sagte: »Ich werde abwarten, was Eure Hoheit zu tun geruht.«

Arutha schien auf einmal die Leibwächter zu bemerken. »Ich stelle fest, dass Eure Söhne und Fürst Daoud-Khan nicht anwesend sind.«

»Sie führen meine Geschäfte in Jal-Pur, um die ich mich sonst kümmern müsste.«

»Und diese hier?«, fragte Arutha und deutete auf die vier Leibwächter. Sie waren vollständig in Schwarz gekleidet, bis hin zu den Scheiden ihrer Krummschwerter, und obwohl ihre Kleidung jener der Wüstenmenschen ähnelte, unterschied sie sich doch von allem, was Arutha je an Keshianern gesehen hatte.

»Sie sind Ismalis, Hoheit. Sie dienen nur meinem persönlichen Schutz, mehr nicht.«

Arutha zog es vor, darauf nichts zu entgegnen.

Das Gedränge um die beiden Kinder löste sich langsam auf. Die Ismalis waren als Leibwächter berühmt, sie stellten den besten Schutz dar, den man im Kaiserreich Groß-Kesh bekommen konnte, doch Gerüchten zufolge wurden sie auch zu gefährlichen Spionen ausgebildet und gelegentlich sogar zu Assassinen. Ihre Fähigkeiten waren schon beinahe legendär. Weil sie überall unbemerkt auftauchen und verschwinden konnten, standen sie fast in dem Ruf, zu den Geistern zu gehören.

Arutha gefiel der Gedanke nicht, diese Männer, die kaum davor zurückschreckten, als gedungene Mörder zu arbeiten, in seinem Haus zu beherbergen. Doch Abdur hatte Anspruch auf ein eigenes Gefolge, und Arutha hielt es für äußerst unwahrscheinlich, dass der keshianische Gesandte jemanden nach Krondor brachte, der Gefahr für das Königreich bedeutete. Außer ihm selbst jedenfalls.

»Wir müssen uns einmal über das letzte Ersuchen von Queg über die Landrechte in den Häfen des Königreichs unterhalten«, meinte Fürst Hazara-Khan.

Arutha verbarg seine Verwunderung nicht. Er blickte seinen Gesprächspartner verwirrt an. »Ich nehme an, Ihr habt bei Eurer Ankunft von einem Fischer oder von einem Seemann im Hafen etwas darüber gehört.«

»Hoheit, Kesh hat an vielen Orten Freunde«, antwortete der Gesandte und lächelte süßlich.

»Nun, es wird uns sicherlich nicht weiterbringen, wenn ich mich jetzt über die Geheimpolizei des Kaiserreichs Kesh auslasse, denn wie wir beide wissen …« Hazara-Khan fiel ein und sprach unisono mit Arutha: »… eine solche Geheimpolizei gibt es nicht.«

Abdur Rachman Memo Hazara-Khan verbeugte sich und sagte: »Mit freundlicher Erlaubnis Eurer Hoheit?«

Arutha deutete ebenfalls eine Verbeugung an, als der Keshianer sich verabschiedete, und wandte sich an Jimmy. »Was? Ihr beiden Halunken habt heute Dienst?«

Jimmy zuckte mit den Schultern – schließlich war das nicht seine Idee gewesen. Arutha sah hinüber zu seiner Gemahlin, welche gerade die Amme aufforderte, die Zwillinge zurück ins Kinderzimmer zu bringen. »Nun, irgendetwas müsst ihr beiden ja angestellt haben, wenn ihr deLacys Missfallen erregt habt. Andererseits, niemand kann euch zumuten, dass ihr ein Leben ganz ohne Vergnügungen führt. Ich habe gehört, heute am späten Nachmittag soll ein besonders gutes Fassballspiel stattfinden.«

Jimmy tat vollkommen überrascht, Locklears Gesicht hellte sich hingegen deutlich auf. »Ich glaube schon«, erwiderte Jimmy unverbindlich.

Die Gesellschaft des Prinzen machte sich ins Innere des Palastes auf, und Arutha bedeutete den beiden Jungen, ihm zu folgen, und sagte: »Nun, dann wollen wir mal hineingehen und sehen, was da so los ist, nicht wahr?«

Jimmy zwinkerte Locklear zu, dann fuhr Arutha fort: »Und außerdem werden eure Felle die Arbeit eines Gerbers nicht mehr lohnen, falls ihr die Wette verliert und die anderen Junker sich euch vornehmen.«

Jimmy sagte zunächst nichts, während sie den großen Saal betraten. Die Adligen wurden vor den gemeinen Bürgern zum Festessen in dem Hof eingelassen.

»Dieser Mann«, flüsterte Jimmy schließlich Locklear zu, »hat die irritierende Fähigkeit, immer über alles Bescheid zu wissen, was um ihn herum vorgeht.«

Die Feierlichkeiten waren in vollem Gange, und die Adligen vermischten sich mit den Gästen aus dem gemeinen Volk, die man in den Hof eingelassen hatte. Lange Tische bogen sich unter der Last der Speisen und Getränke, und für viele der Anwesenden würde dies das üppigste Mahl des Jahres werden.

Während sich die Umgangsformen allgemein zunehmend lockerten, verhielten sich die einfachen Leute Arutha und seiner Begleitung gegenüber weiterhin respektvoll, deuteten Verbeugungen an und benutzten die offizielle Anrede. Jimmy und Locklear blieben in der Nähe, für den Fall, dass nach ihnen verlangt wurde.

Carline und Laurie folgten Arutha und Anita Arm in Arm. Seit ihrer Hochzeit waren der neue Herzog und die neue Herzogin von Salador ein wenig ruhiger geworden, verglichen mit ihrer stürmischen Romanze am Königshof. Anita wandte sich an ihre Schwägerin und sagte: »Ich freue mich, dass du noch so lange bleiben konntest. Krondor ist ein reiner Männerhaushalt. Und jetzt habe ich auch noch zwei Jungen bekommen …«

»Da wird es noch schlimmer werden«, prophezeite Carline. »Ich weiß, was du meinst, schließlich bin ich zwischen meinem Vater und meinen beiden Brüdern groß geworden.«

Arutha warf Laurie einen Blick über die Schulter zu und meinte: »Sie wurde ohne Ende von uns verwöhnt.«

Laurie wollte loslachen, überlegte es sich jedoch anders, als seine Frau verärgert die Augen zusammenkniff. Anita sagte: »Nächstes Mal macht ihr jedenfalls eine Tochter.«

»Damit wir wenigstens sie ohne Ende verwöhnen können«, erwiderte Laurie.

»Und wann wird es bei euch endlich so weit sein?«, fragte Anita.

Arutha nahm einen Krug Bier vom Tisch und füllte sowohl seinen eigenen als auch Lauries Becher. Ein Diener eilte herbei und bot den Damen Wein an. »Nun, wenn es eben so weit ist«, antwortete Carline. »Es liegt jedenfalls nicht daran, dass wir es nicht versuchen würden.«

Anita unterdrückte hinter vorgehaltener Hand ein Kichern, derweil sich Arutha und Laurie empörte Blicke zuwarfen. Carline sah von einem zum anderen und sagte: »Ihr beiden wollt mir doch wohl nicht erzählen, ihr würdet rot werden.« An Anita gewandt sagte sie: »Männer!«

»In Lyams letztem Schreiben stand, dass Königin Magda womöglich auch ein Kind unter dem Herzen trägt. Ich nehme an, im nächsten Bündel mit Depeschen von ihm wird er uns Genaueres mitteilen.«

»Der arme Lyam«, bedauerte Carline den König. »Er hatte immer so viel für Frauen übrig, und jetzt musste er aus politischen Gründen heiraten. Wenigstens kann man die Dame vorzeigen, wenn sie auch ein bisschen langweilig ist. Und er scheint glücklich mit ihr zu sein.«

»Die Königin ist überhaupt nicht langweilig«, sagte Arutha zu Carline, »aber verglichen mit dir bringt einen selbst eine Flotte queganischer Kaperschiffe zum Gähnen.« Laurie sagte nichts, doch sein Blick sprach Bände. »Ich hoffe nur, dass sie einen Sohn bekommen.«

Anita lächelte. »Arutha hätte seinen Gefallen daran, wenn jemand anderes Prinz von Krondor würde.«

Carline blickte ihren Bruder wissend an. »Trotzdem wirst du dich nicht aus den Staatsgeschäften zurückziehen können. Da Caldric tot ist, wird Lyam dir und Martin noch mehr Aufgaben übertragen als vorher.« Fürst Caldric von Rillanon war kurz nach der Heirat des Königs mit Prinzessin Magda von Roldem gestorben, und seitdem war das Amt des Herzogs von Rillanon und des Königlichen Kanzlers, des Ersten Ratgebers des Königs, noch nicht wieder besetzt worden.

Arutha zuckte mit den Schultern und probierte von den Speisen auf seinem Teller. »Ich glaube, es gibt genügend Bewerber für Caldries.«

»Aber genau das ist das Problem«, meinte Laurie. »Zu viele Adlige wollen sich mit dem Amt einen Vorteil gegenüber ihren Nachbarn verschaffen. Im Osten hat es in letzter Zeit drei größere Grenzstreitigkeiten zwischen den Baronen gegeben – nichts, weswegen Lyam seine Truppen hätte ausschicken müssen, doch ausreichend, dass östlich von Malacs Kreuz alle nervös geworden sind. Aus diesem Grund gibt es auch in Bas-Tyra noch keinen neuen Herzog. Dieses Herzogtum ist zu mächtig, als dass es einfach irgendjemandem überlassen werden könnte. Wenn du nicht vorsichtig bist, lautet dein Titel, falls Magda einem Jungen das Leben schenkt, bald Herzog von Krondor und Bas-Tyra.«

Carline mischte sich ein. »Genug. Heute wird gefeiert. Ich möchte jetzt nichts mehr über Politik hören.«

Anita nahm Aruthas Arm. »Komm. Wir haben gut gegessen, hier ist ein Fest im Gange, und die Kinder schlafen auch schon. Abgesehen davon«, fügte sie hinzu und lachte, »müssen wir uns morgen sowieso noch genügend Gedanken darüber machen, wie wir dieses Fest bezahlen. Und schließlich kommt nächsten Monat schon wieder das Banapisfest auf uns zu. Deshalb sollten wir den heutigen Tag genießen.«

Jimmy gelang es, sich neben den Prinzen zu drängen. »Wären Eure Hoheit vielleicht daran interessiert, sich einen Wettbewerb anzusehen?« Locklear und er sahen sich besorgt an. Das Spiel hatte bereits ohne sie begonnen.

Anita warf ihrem Gemahl einen fragenden Blick zu, und Arutha erklärte: »Ich habe Jimmy versprochen, dass wir uns das Fassballspiel ansehen, bei dem er heute eigentlich mitspielen sollte.«

»Das wäre womöglich interessanter als dauernd die Jongleure und Mimen«, stimmte Laurie zu.

»Das kommt doch nur daher, weil du dein Leben lang Jongleure und Mimen um dich gehabt hast«, meinte Carline. »Als ich noch ein Mädchen war, musste ich an jedem Sechstag dasitzen und den Jungen zusehen, wie sie sich gegenseitig halbtot geprügelt haben, und zu allem Überfluss musste ich vor den Jungen auch noch so tun, als würden sie mich nicht im Geringsten interessieren. Also, ich würde die Jongleure und Mimen vorziehen.«

»Warum geht ihr beiden nicht mit den Jungen auf den Platz?«, schlug Anita vor. »Heute ist doch sowieso alles nicht so förmlich, nicht wahr? Und wir können uns später im großen Saal treffen, wenn die große Abendvorstellung beginnt.«

Laurie und Arutha stimmten zu und folgten den Jungen durch die Menschenmenge. Sie verließen den großen Innenhof und gingen durch eine Reihe von Gängen, welche die Nebengebäude mit dem eigentlichen Palast verbanden. In der Nähe der Ställe lag ein großer Aufmarschplatz, wo sonst die Palastwache gedrillt wurde. Hier hatte sich eine jubelnde Menge versammelt. Arutha, Laurie, Jimmy und Locklear drängelten sich zur ersten Reihe durch. Einige Leute wollten sich zunächst beschweren, verstummten jedoch, als sie den Prinzen erkannten.

Hinter den Junkern, die nicht spielten, wurde ihnen Platz gemacht. Arutha winkte Gardan zu, der auf der anderen Seite des Spielfeldes inmitten eines Trupps dienstfreier Soldaten stand. Laurie beobachtete das Spiel einen Moment lang und meinte dann: »Es ist doch um einiges organisierter, als ich es in Erinnerung hatte.«

»Das hat deLacy eingeführt«, erläuterte Arutha. »Er hat ein Regelwerk für das Spiel verfasst, nachdem er sich bei mir dauernd darüber beschwerte, wie viele Jungen stets schwere Blessuren hatten und nicht arbeiten konnten.« Er zeigte auf jemanden am Spielfeldrand. »Siehst du den Kerl mit der Sanduhr? Das Spiel dauert eine Stunde. Und von jeder Mannschaft dürfen immer nur ein Dutzend Jungen zur selben Zeit auf dem Feld sein, und sie dürfen nur zwischen diesen Kreidelinien auf dem Boden spielen. Jimmy, was gibt es noch für Regeln?«

Jimmy war bereits dabei, seinen Gürtel und seinen Dolch abzulegen. »Der Ball darf nicht mit den Händen angefasst werden. Wenn es einen Punkt gibt, bekommt die andere Mannschaft den Ball und muss von der Mittellinie weiterspielen. Kein Beißen, kein Festhalten des Gegners, keine Waffen.«

»Keine Waffen?«, meinte Laurie. »Scheint ja richtig zahm geworden zu sein.«

Locklear hatte inzwischen seine Jacke und seinen Gürtel abgelegt und stieß einen der anderen Junker an. »Wie steht es?«

Der Angesprochene ließ das Spiel nicht aus den Augen.

Ein Stalljunge trieb den Ball gerade mit den Füßen vor sich her, wurde jedoch durch einen von Jimmys Mannschaftskameraden zu Fall gebracht. Der Ball landete bei einem Bäckerjungen, der ihn hart in eines der beiden Fässer schoss, von denen jeweils eins an jedem Ende des Spielfeldes aufgestellt war. Der Junker stöhnte. »Damit steht es vier zu zwei. Und wir haben nicht mal mehr eine Viertelstunde.«

Jimmy und Locklear sahen Arutha an, und der nickte. Sie sausten aufs Spielfeld, wo sie zwei schmutzstarrende und blutende Junker ablösten.

Jimmy nahm den Ball einem der beiden Schiedsrichter – eine weitere Neuerung von deLacy – ab und schoss ihn in Richtung Mittellinie. Locklear, der sich dort bereits aufgestellt hatte, spielte ihm den Ball sofort wieder zu, zur großen Überraschung einiger Lehrjungen, die sich gerade auf ihn stürzen wollten. Schnell wie der Blitz kämpfte sich Jimmy an ihnen vorbei, duckte sich unter einem Ellbogenschlag und schoss. Der Ball sprang von der Kante des Fasses zurück, doch Locklear hatte sich aus dem Rudel befreit und schoss den Abpraller ins Fass. Die Junker und eine große Anzahl niedriger Adliger machten Freudensprünge. Die Lehrjungen hatten nur noch einen Punkt Vorsprung.

Auf dem Spielfeld kam es zu einer Rauferei, doch die Schiedsrichter gingen sofort dazwischen. Da niemand ernsthaft zu Schaden gekommen war, lief das Spiel weiter. Die Lehrjungen brachten den Ball auf die Seite der Junker; Locklear und Jimmy blieben vorn. Einer der größeren Junker startete eine hinterhältige Attacke und schubste einen der Küchenjungen gegen den Jungen mit dem Ball. Jimmy machte einen Satz, holte sich den Ball und schoss ihn Locklear zu. Der kleinere Junker zirkelte einen Steilpass zu einem anderen Junker, der ihn sofort zurückspielte, weil einige Lehrjungen auf ihn zuliefen. Ein großer Stalljunge bedrängte Locklear.

Er senkte einfach den Kopf und schob Locklear inklusive Ball über die Auslinie. Dann ging wieder eine Rangelei los.

Nachdem die Schiedsrichter die Kampfhähne getrennt hatten, halfen sie Locklear auf die Beine. Der Junge war zu benommen und konnte nicht mehr weiterspielen, also nahm ein anderer Junker seinen Platz ein. Da beide Spieler über die Spielfeldgrenze geraten waren, gaben die Schiedsrichter den Ball frei und warfen ihn in die Mitte des Feldes. Beide Seiten wollten den Ball erobern, und Ellbogen, Knie und Fäuste sausten durch die Luft.

»Ja«, kommentierte Laurie, »das ist Fassball, wie es sein soll.«

Plötzlich hatte sich ein Stalljunge freigelaufen, und zwischen ihm und dem Fass der Junker war kein Verteidiger mehr. Jimmy rannte ihm hinterher, und da er keine Chance sah, ihm den Ball abzunehmen, warf er sich auf den Jungen und wandte die gleiche Technik an, die auch Locklear gestoppt hatte. Wieder wurde der Ball freigegeben, und in der Mitte des Feldes kam es zu einem Gerangel.

Dann hatte sich ein Junker namens Paul den Ball geschnappt und raste mit unerwarteter Geschicklichkeit auf das Fass der Lehrjungen zu. Zwei große Bäckerjungen schnitten ihm den Weg ab, doch er schaffte es, den Ball abzuspielen – Sekunden, bevor er flachgelegt wurde. Der Ball kam zu Junker Friedric, der ihn zu Jimmy weiterspielte. Jimmy erwartete einen weiteren Angriff des Gegners und war überrascht, als die Verteidiger sich zurückzogen. Das war eindeutig eine neue Taktik, die gegen die blitzschnellen Pässe gerichtet war, welche Jimmy und Locklear in das Spiel eingeführt hatten.

Die Junker an der Seitenlinie feuerten die Spieler an.

Einer schrie: »Ihr habt nur noch ein paar Minuten.«

Jimmy winkte Junker Friedric zu sich heran, schrie ihm eine kurze Anweisung zu, und dann ging es los. Jimmy drehte sich nach rechts und gab den Ball an Friedric ab, der damit ins Mittelfeld wechselte. Jimmy lief rechts an ihm vorbei nach vorn, bekam einen genauen Pass von Friedric, wich einem heranrutschenden Verteidiger aus und versenkte den Ball im Fass.

Die Menge schrie vor Begeisterung. Bei diesem Spiel gab es eine weitere Neuerung, diesmal nicht von deLacy: Taktik und Geschicklichkeit. Bisher war es nur ein grobes Hin und Her gewesen, doch nun kam es auch darauf an, den Ball so genau wie möglich zu spielen.

Dann brach die nächste Keilerei los. Die Schiedsrichter liefen hinzu und wollten die Spieler auseinanderschieben, doch die Lehrjungen waren nicht zur Räson zu bringen. Das Klingeln in Locklears Kopf hatte aufgehört, und er sagte zu Laurie und Arutha: »Sie versuchen, Zeit rauszuschinden, weil sie wissen, dass wir noch ein Fass machen, wenn wir noch einmal an den Ball kommen.«

Endlich war die Ordnung wiederhergestellt. Locklear hatte sich inzwischen genug erholt, um aufs Spielfeld zurückzukehren, und er wurde gegen einen Junker ausgewechselt, der sich bei der Rauferei verletzt hatte. Jimmy winkte seine Junker zurück und flüsterte Locklear noch einige Anweisungen zu, während die Lehrjungen langsam mit dem Ball nach vorne kamen. Sie versuchten das gleiche Doppelpassspiel, das Jimmy, Friedric und Locklear ihnen eben vorgeführt hatten, aber sie waren nicht geschickt genug. Zweimal wäre der Ball beinahe ins Aus gegangen, und sie konnten ihn gerade noch erwischen. Dann griffen Jimmy und Locklear an. Locklear tat, als wollte er sich den Spieler mit dem Ball vornehmen, und dem blieb nichts anderes übrig, als abzuspielen. Dann rannte Locklear nach vorn zum Fass. Jimmy ging von hinten ran, während die anderen wie eine Mauer standen. Jimmy fing den schlecht gezielten Pass ab und schoss ihn zu Locklear. Der nahm den Ball an und machte sich in Richtung Fass auf. Einer der Verteidiger versuchte, ihn zu stoppen, doch er konnte den flinken Junker nicht erreichen. Da holte der Lehrjunge etwas aus seinem Hemd und warf es nach Locklear.

Zur Überraschung der Zuschauer fiel Locklear einfach lang hin. Der Ball ging über die Auslinie. Jimmy lief zu seinem Freund, dann stürmte er los und hinter dem anderen Jungen her, der sich gerade den Ball holte. Jimmy tat nicht einmal so, als würde er noch spielen, sondern schlug ihm einfach ins Gesicht, sodass der andere nach hinten umkippte. Und wieder prügelten die Spieler aufeinander ein, doch diesmal mischten noch etliche Lehrjungen und Junker vom Spielfeldrand mit.

Arutha wandte sich an Laurie und sagte: »Das könnte böse enden. Glaubst du, wir sollten etwas unternehmen?«

Laurie sah, wie die Prügelei immer schlimmer wurde. »Wenn du morgen noch ein paar Junker brauchst, ja.«

Arutha gab Gardan ein Zeichen, und der winkte einige Soldaten aufs Spielfeld. Die erfahrenen Kämpfer stellten rasch wieder Ruhe und Ordnung her. Arutha kam aufs Feld und kniete sich neben Jimmy, der Locklears Kopf im Schoß hielt. »Dieser Hundesohn hat ihm ein Hufeisen an den Hinterkopf geworfen. Locklear ist bewusstlos.«

Arutha betrachtete den am Boden liegenden Junker, dann sagte er zu Gardan: »Tragt ihn in sein Quartier und lasst ihn vom Wundarzt untersuchen.« Er wandte sich an den Jungen mit der Sanduhr. »Das Spiel ist zu Ende.« Jimmy wollte zuerst protestieren, überlegte es sich dann jedoch anders.

Der Junge mit der Sanduhr verkündete das Ergebnis: »Es steht vier gegen vier. Niemand hat gewonnen.«

Jimmy seufzte. »Wenigstens hat auch niemand verloren.«

Zwei Wachen hoben Locklear auf und trugen ihn vom Feld.

»Es ist immer noch ein ziemlich raues Spiel«, meinte Arutha zu Laurie.

Der frühere Sänger nickte. »DeLacy muss sich wohl noch ein paar Regeln ausdenken, damit sie sich nicht die Köpfe einschlagen.«

Jimmy ging dorthin zurück, wo er seine Jacke und seinen Gürtel abgelegt hatte. Die Menschenansammlung löste sich auf. Arutha und Laurie kamen Jimmy hinterher. »Irgendwann werden wir es noch einmal versuchen«, meinte der Junge.

»Das könnte wirklich interessant werden«, sagte Arutha. »Doch jetzt, da sie euren Trick mit den Pässen kennen, werden sie sich darauf vorbereiten.«

»Dann müssen wir uns eben etwas Neues ausdenken.«

»Gut, ich glaube, es würde sich lohnen, einen Tag festzulegen. Sagen wir, in einer oder in zwei Wochen.« Arutha legte Jimmy die Hand auf die Schulter. »Ich muss mir doch einmal diese Regeln von deLacy ansehen. Laurie hat recht, wenn ihr weiterhin in so einem Durcheinander das Feld rauf- und runterrennt, dürft ihr nicht mehr mit Hufeisen werfen.«

Jimmy schien plötzlich das Interesse an dem Spiel verloren zu haben. Er hatte irgendetwas in der Menge entdeckt. »Seht ihr den Kerl dort hinten? Den in der blauen Jacke und der grauen Mütze?«

Der Prinz blickte in die Richtung, in die Jimmy gezeigt hatte. »Nein.«

»Er ist genau in dem Moment untergetaucht, in dem ihr geguckt habt. Aber ich kenne ihn. Ich würde ihm lieber folgen.«

Etwas in Jimmys Stimme verriet Arutha, dass sich der Junge nicht einfach abermals seinen Pflichten entziehen wollte. »Tu das. Aber bleib nicht zu lange fort. Laurie und ich werden inzwischen in den großen Saal zurückkehren.«

Jimmy lief davon, dorthin, wo er den Kerl zum letzten Mal gesehen hatte. Er blieb stehen und sah sich um, dann entdeckte er die vertraute Gestalt an einer schmalen Treppe, die zu einem Seiteneingang führte. Der Mann lehnte im Schatten an der Wand und aß etwas von einem Teller. Er blickte kaum auf, als Jimmy näher kam. »Da bist du ja – Jimmy die Hand.«

»Nein, nicht mehr Jimmy die Hand. Jetzt bin ich Junker James von Krondor, Alvarny der Flinke.«

Der alte Dieb lachte leise in sich hinein. »Nein, flink bin auch ich nicht mehr. Obwohl ich in meinen jungen Tagen durchaus schnell war.« Er senkte die Stimme, sodass niemand von den Umstehenden hören konnte, was er sagte. »Mein Herr hat mir eine Nachricht für deinen Herrn mitgegeben.«

Da musste etwas im Gange sein, dachte Jimmy, denn Alvarny der Flinke war der Tagesmeister der Spötter, der Gilde der Diebe. Er war kein gewöhnlicher Laufbursche, sondern einer der engsten Vertrauten des Aufrechten Mannes.

»Also, mein Herr sagt, die Raubvögel, von denen man annahm, sie hätten die Stadt verlassen, sind aus dem Norden zurückgekehrt.«

Jimmy lief ein Schauder über den Rücken. »Die, die bei Nacht jagen?«

Der alte Dieb nickte und stopfte sich eine Pastete in den Mund, schloss für einen Moment die Augen und grunzte genüsslich. Dann richtete sich sein bohrender Blick wieder auf Jimmy. »Hat mir leidgetan, als ich mit ansehen musste, wie du uns verlässt, Jimmy die Hand. Du hattest den Eid abgelegt. Hättest bei den Spöttern etwas werden können, es sei denn, einer wäre gekommen und hätte dir die Gurgel durchgeschnitten. Doch das Wasser fließt immer den Fluss runter, wie man so sagt. Und jetzt zu der Nachricht. Der junge Tyburn Reems wurde in der Bucht treibend gefunden. Es gibt dort Stellen, wo die Schmuggler ihre Waren an Land bringen, und an einer dieser Stellen stinkt’s, und da sie von den Spöttern nicht mehr benutzt wird, verstecken sich dort allerhand schräger Vögel. Nun gut, das war’s dann.« Und ohne ein weiteres Wort schlenderte der frühere Meisterdieb Alvarny der Flinke davon und verschwand zwischen den Feiernden.

Jimmy zögerte nicht. Er rannte dorthin, wo vor einigen Augenblicken noch Arutha gestanden hatte, und als er ihn an der Stelle nicht mehr fand, machte er sich auf zum großen Saal. Wegen der vielen Leute kam er nicht besonders schnell voran. Die Masse fremder Menschen machte ihn mit einem Mal nervös. In den Monaten, seit Arutha und er aus Moraelin zurückgekehrt waren, von wo sie Silberdorn für die kranke Anita geholt hatten, hatte sie das angenehme tägliche Leben im Palast gewissermaßen eingelullt. Jetzt vermutete der Junge in jeder Hand den Dolch eines Meuchelmörders, in jedem Weinbecher Gift und hinter jeder Ecke einen Bogenschützen.

Er kämpfte sich eiligst durch die Feiernden.

Jimmy wieselte durch das Getümmel der Edlen und weniger hochgestellten Gäste in den großen Saal. In der Nähe des Podiums plauderten einige Leute. Laurie und Carline sprachen mit dem keshianischen Gesandten, während Arutha gerade die Stufen zu seinem Thron hinaufstieg. In der Mitte des Saals unterhielt eine Gruppe Akrobaten das Volk, und Jimmy musste über den freien Platz laufen, den die begeisterten Bürger für sie gemacht hatten. Er schob sich weiter durch die Menge. Die tiefen Schatten in den Nischen riefen düstere Erinnerungen in ihm wach, und das trieb ihn noch mehr an.

Jimmy schlüpfte an Laurie vorbei und erreichte endlich Arutha, der sich auf seinem Thron niedergelassen hatte. Anita war nirgends zu sehen. Jimmy betrachtete ihren leeren Thron und legte fragend den Kopf schief. Arutha erklärte ihm: »Sie ist gegangen, um nach den Kindern zu sehen. Warum?«

Jimmy beugte sich zu Arutha vor. »Mein früherer Meister hat mir eine Nachricht zukommen lassen. In Krondor lassen sich wieder Nachtgreifer sehen.«

Aruthas Gesicht verfinsterte sich. »Ist das eine Vermutung oder eine Tatsache?«

»Erstens hätte der Aufrechte Mann nicht denjenigen geschickt, den er geschickt hat, wenn die Angelegenheit nicht von äußerster Wichtigkeit wäre und entschlossenes Handeln verlangen würde. Immerhin hat er einen seiner hochrangigsten Spötter den Blicken der Öffentlichkeit ausgesetzt. Zweitens gibt … gab es da einen jungen Spieler namens Tyburn Reems, den man oft in der Stadt gesehen hat. Er hatte von den Spöttern besondere Freiheiten erhalten. Und er hatte Rechte, die sonst nur wenige Männer bekommen, die nicht zur Gilde gehören. Jetzt weiß ich, warum. Der Mann war ein persönlicher Spion meines früheren Meisters. Reems ist tot. Ich schätze, dass der Aufrechte Mann von einer möglichen Rückkehr der Nachtgreifer Wind bekommen und Reems losgeschickt hat, ihren Unterschlupf ausfindig zu machen. Wieder einmal verstecken sie sich mitten in der Stadt. Wo, weiß der Aufrechte Mann nicht, doch er vermutet sie in der Nähe des alten Labyrinths der Schmuggler.«