Die Midkemia-Saga 2 - Raymond Feist - E-Book

Die Midkemia-Saga 2 E-Book

Raymond Feist

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Beschreibung

Krieg und Intrigen, Ehre und Tod, Liebe und Hass.

Der ehemalige Magierlehrling Pug ist als Kriegsgefangener zu der gefährlichen Arbeit in den Sümpfen Tsuranis verdammt. Doch da erkennt einer der überaus mächtigen Magier Tsuranis Pugs wahres Talent und übernimmt dessen Ausbildung. Pug ist ihm dankbar, und je mehr er über die Kultur der Tsurani lernt, desto mehr schätzt er sie. Ihm wird sogar erlaubt, die Frau, die er liebt, zu heiraten. Aber tief in seinem Herzen hat Pug nie vergessen, dass er aus Rillanon stammt – und dass die Tsurani seine Feinde sind!

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Buch

Der ehemalige Magierlehrling Pug ist als Kriegsgefangener zu der gefährlichen Arbeit in den Sümpfen Tsuranis verdammt. Doch da erkennt einer der überaus mächtigen Magier Tsuranis Pugs wahres Talent und übernimmt dessen Ausbildung. Pug ist ihm dankbar, und je mehr er über die Kultur der Tsurani lernt, desto mehr schätzt er sie. Ihm wird sogar erlaubt, die Frau, die er liebt, zu heiraten. Aber tief in seinem Herzen hat Pug nie vergessen, dass er aus Rillanon stammt – und dass die Tsurani seine Feinde sind!

Autor

Raymond Feist wurde 1945 in Los Angeles geboren und lebt in San Diego im Süden Kaliforniens. Viele Jahre lang hat er Rollenspiele und Computerspiele entwickelt. Aus dieser Tätigkeit entstand auch die fantastische Welt Midkemia seiner Romane. Die in den 80er Jahren begonnene Saga ist bereits ein Klassiker des Fantasy-Genres, und Feist gilt als einer der wichtigsten Vertreter der Fantasy in der Tradition Tolkiens.

Raymond Feist bei Blanvalet:

Die Midkemia-Saga: 1. Der Lehrling des Magiers, 2. Der verwaiste Thron, 3. Die Gilde des Todes

Weitere Titel in Vorbereitung

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Raymond Feist

Die Midkemia-Saga 2

Der verwaiste Thron

Deutsch von Dagmar Hartmann

Die Originalausgabe erschien 1982 unter dem Titel »The Riftwar Saga 2: Magician Master« bei Bantam Books, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält

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keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage

Copyright der Originalausgabe © 1982 by Raymond Feist

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 1984 by Verlagsgruppe

Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Peter Thannisch

Umschlaggestaltung und -illustration: © Isabelle Hirtz, Inkcraft,

in Zusammenarbeit mit Max Meinzold und Melanie Korte

Karte: © Melanie Korte

HK · Herstellung: kw

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-18563-3V001

www.blanvalet.de

Der Sklave

Der sterbende Sklave lag schreiend am Boden.

Der Tag war erbarmungslos heiß. Die anderen Sklaven gingen ihrer Arbeit nach und ignorierten die Laute, so gut es ging. Ein Leben war im Arbeitslager wertlos. Es war nicht ratsam, über das Schicksal zu grübeln, das so vielen bevorstand. Der sterbende Mann war von einem Relli gebissen worden, einer schlangengleichen Kreatur, die in den Sümpfen hauste. Ihr Gift wirkte langsam und verursachte starke Schmerzen. Abgesehen von Zauberei gab es dagegen kein Heilmittel.

Plötzlich wurde es ganz still. Pug schaute hinüber und sah, wie ein Tsurani-Soldat sein Schwert abwischte. Eine Hand legte sich auf Pugs Schulter, und Laurie flüsterte ihm ins Ohr: »Sieht aus, als habe Toffstons Geschrei unseren ehrwürdigen Aufseher gestört.«

Pug wand sich ein Seil fest um die Taille. »Wenigstens ist er schnell gestorben.« Er wandte sich dem großen, blonden Sänger aus der Stadt Tyr-Sog im Königreich zu und sagte: »Pass gut auf. Das Seil hier ist alt und könnte faulig sein.« Nach diesen Worten kletterte Pug den Stamm des Ngaggi-Baumes hinauf. Die Ngaggi waren tannenähnliche Gewächse, die in den Sümpfen wuchsen und von den Tsuranis geschlagen wurden, weil sie das Holz und das Harz benötigten. Da sie nur wenige Metalle besaßen, hatten die Tsuranis nach Ersatz gesucht und auch gefunden. Das Holz dieser Bäume wurde wie Papier bearbeitet und anschließend getrocknet, bis es eine unglaubliche Härte erreichte. Es diente dann zur Herstellung von Hunderten von Dingen. Die Harze wurden verwendet, um Holz zu leimen und Felle haltbar zu machen. Aus den richtig behandelten Häuten konnte man einen Lederanzug herstellen oder eine Rüstung, so fest wie ein Kettenhemd aus Midkemia. Und die Waffen aus dem laminierten Holz konnten sich durchaus mit dem Stahl aus Midkemia messen.

Vier Jahre im Sumpf hatten Pugs Körper gestählt. Seine sehnigen Muskeln traten hervor, während er den Baum hochkletterte. Seine Haut war von der unbarmherzigen Sonne in der Heimat der Tsuranis dunkelbraun geworden. Ein Sklavenbart bedeckte sein Gesicht.

Pug erreichte die ersten großen Zweige und schaute zu seinem Freund hinunter. Laurie stand knietief im trüben Wasser und schlug abwesend nach den Insekten, die sie bei der Arbeit plagten. Pug mochte Laurie. Der Troubadour hatte hier eigentlich nichts verloren. Andererseits hätte er auch nicht mit einer Patrouille in der Hoffnung ausziehen müssen, Tsurani-Soldaten zu erspähen. Er hatte später erklärt, er hätte Stoffe für Balladen gesucht, die ihn im ganzen Königreich hätten berühmt machen sollen. Doch inzwischen hatte er mehr zu sehen bekommen, als er zu hoffen wagte. Die Patrouille war in einen Haupttrupp der Tsuranis geraten, und Laurie war gefangen genommen worden. Mehr als vier Monate war es mittlerweile her, dass er in dieses Lager gekommen war, und er und Pug waren schnell Freunde geworden.

Pug kletterte weiter hinauf. Mit einem Auge spähte er immer nach den gefährlichen Baumbewohnern von Kelewan. Als er die Stelle erreichte, die ihm am besten zum Kappen geeignet erschien, erstarrte er. Aus dem Augenwinkel hatte er eine Bewegung bemerkt. Er entspannte sich aber sogleich wieder, als er erkannte, dass es sich bloß um einen Nadler handelte. Der Schutz dieses Wesens bestand in seiner Ähnlichkeit mit einem Klumpen Ngaggi-Nadeln. Es huschte vor dem Menschenwesen davon und setzte mit einem kurzen Sprung zum Nachbarbaum hinüber. Pug schaute sich noch einmal um und fing dann an, seine Seile zu befestigen. Seine Aufgabe war es, die Spitzen der riesigen Bäume abzusägen, damit es für die Arbeiter am Boden weniger gefährlich war, wenn die Bäume fielen.

Pug hieb mehrmals in die Rinde. Dann fühlte er, wie die Kante seiner Holzaxt in das weichere Mark darunter eindrang. Ein schwach beißender Geruch stieg in seine aufmerksam schnüffelnde Nase. Er fluchte und rief dann zu Laurie hinunter: »Der hier ist verfault. Sag es dem Aufseher.«

Er wartete und schaute dabei über die Spitzen der Bäume hinweg. Überall flogen merkwürdige Insekten und vogelähnliche Wesen umher. In den vier Jahren, die er bereits als Sklave in dieser Welt lebte, hatte er sich noch immer nicht an diese Lebewesen gewöhnt. Sie unterschieden sich nicht sehr von denen in Midkemia. Aber es waren diese Ähnlichkeiten – genauso wie die Unterschiede –, die ihn immer wieder daran erinnerten, dass er hier nicht daheim war. Bienen sollten schwarz-gelb gestreift und nicht leuchtend rot sein. Die Schwingen von Adlern sollten nicht gelbe Streifen haben und das Gefieder von Habichten nicht purpurfarben sein. Diese Wesen hier waren keine Bienen, Adler oder Habichte, aber die Ähnlichkeit war verblüffend. Pug fand es leichter, die völlig fremd erscheinenden Wesen von Kelewan zu akzeptieren. Die sechsbeinigen Needra, die gezähmten Lasttiere, sahen aus wie eine Art Rind mit zwei zusätzlichen Stummelbeinen. Die Cho-Ja hingegen waren insektenähnliche Wesen, die den Tsuranis dienten und ihre Sprache beherrschten. An diese hatte er sich inzwischen gewöhnt. Aber jedes Mal, wenn er aus dem Augenwinkel eine Kreatur erblickte und sich umdrehte, in der Erwartung, etwas aus Midkemia zu entdecken, und es dann doch nicht der Fall war, packte ihn die Verzweiflung.

Lauries Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. »Der Aufseher kommt.«

Pug fluchte. Wenn sich der Aufseher schmutzig machen musste, weil er durchs Wasser watete, würde er verdammt schlechter Laune sein – und das konnte Schläge bedeuten oder eine Reduzierung der ohnehin schon kläglichen Essensrationen. Er würde schon wütend sein, weil es eine Verzögerung im Schlagen gab.

Eine Familie von Wühltieren, biberähnlichen sechsbeinigen Kreaturen, hatte es sich in den Wurzeln der großen Bäume gemütlich gemacht. Sie knabberten die zarten Wurzeln an, und die Folge davon war, dass die Bäume krank wurden und starben. Das süße, weiche Holz wurde erst sauer, dann wässrig, und nach einer Weile brach der Baum von innen heraus zusammen. Man hatte schon in mehreren Gängen der Wühltiere Gift ausgelegt, aber der Schaden war bereits angerichtet.

Eine raue Stimme, die lautstark fluchte, während ihr Besitzer durch den Sumpf stapfte, verkündete die Ankunft von Aufseher Nogamu. Er war selbst ein Sklave, hatte aber den höchsten Rang inne, den ein Unfreier erlangen konnte. Und wenngleich er nicht hoffen durfte, jemals in die Freiheit entlassen zu werden, so hatte er doch viele Privilegien und konnte Soldaten oder freie Männer herumkommandieren, die seinem Befehl unterstellt waren.

Ein junger Soldat ging hinter ihm her. Seine Miene zeigte nachsichtige Belustigung. Er war wie ein freier Tsurani glatt rasiert, und als er zu Pug emporschaute, konnte der Sklave ihn genauer betrachten. Er hatte hohe Wangenknochen und nahezu schwarze Augen wie die meisten Tsuranis. Er entdeckte Pug, und er schien leicht zu nicken. Was das Blau seiner Rüstung zu bedeuten hatte, wusste Pug nicht. Aber bei der merkwürdigen militärischen Organisation der Tsuranis war das nicht verwunderlich. Jede Familie, Domäne, Kreisstadt, Stadt und Provinz schien ihre eigene Armee zu haben. Es war Pug unbegreiflich, wie sie innerhalb des Kaiserreichs alle zueinander standen.

Der Aufseher stand am Fuß des Baumes. Seine kurze Robe hielt er über dem Wasser hoch. Er brummte wie der Bär, dem er auch äußerlich ähnelte, und rief zu Pug hinauf: »Was höre ich da von einem weiteren verfaulten Baum?«

Pug sprach die Sprache der Tsuranis besser als jeder andere Midkemianer im Lager, denn er war mit Ausnahme von ein paar alten Tsurani-Sklaven länger hier als alle anderen. Er rief hinab: »Er riecht faulig. Wir sollten einen anderen wählen und diesen stehen lassen, Sklavenmeister.«

Der Aufseher schüttelte die Faust. »Ihr seid alle bloß zu faul. Mit dem Baum ist alles in Ordnung. Du willst nur nicht arbeiten. Jetzt schlag ihn!«

Pug seufzte. Es hatte keinen Sinn, mit dem Bären zu streiten, wie alle Midkemianer Nogamu nannten. Offenbar hatte irgendetwas seinen Zorn erregt, und die Sklaven würden dafür büßen müssen.

Pug fing an, den oberen Teil abzuhacken, und bald darauf fiel er zu Boden. Der faulige Geruch war stark, und hastig löste Pug seine Seile. Gerade, als er das letzte Stück um seine Taille wickelte, hörte er direkt vor sich ein splitterndes Geräusch.

»Er fällt!«, rief er den Sklaven zu, die unten im Wasser standen. Sofort hasteten sie alle davon. Der Ruf »Er fällt!« wurde niemals ignoriert.

Nun, da die Spitze fehlte, teilte sich der Stamm des Baumes genau in der Mitte. Auch wenn es nicht üblich war, so konnte ein Baum doch unter seinem eigenen Gewicht zusammenbrechen, hatte das Mark seine Kraft verloren. Jedes kleinste Löchlein in der Rinde konnte das auslösen. Die Äste zerrten dann die Hälften auseinander. Wäre Pug noch an den Stamm gebunden gewesen, hätten ihn die Seile in zwei Teile geschnitten, ehe sie gerissen wären.

Pug schätzte die Richtung des Falls. Dann, als die Hälfte, auf der er stand, sich neigte, stieß er sich davon ab. Er kam flach, mit dem Rücken zuerst, auf dem Wasser auf, womit er versuchte, seinen Sturz zu lindern. Dem Schlag auf dem Wasser folgte fast unmittelbar der Aufprall auf dem Boden. Aber dieser bestand größtenteils aus Schlamm, und so kam Pug kaum zu Schaden. Als er aufschlug, wurde ihm jedoch die Luft in der Lunge gepresst. Für einen Augenblick verlor er das Bewusstsein. Im nächsten Moment aber setzte er sich auf und saugte wieder Luft in sich hinein.

Plötzlich traf ihn ein schweres Gewicht, und sein Kopf wurde wieder unter Wasser gedrückt. Er wollte sich bewegen und stellte fest, dass ein großer Ast auf seinem Leib lag. Er konnte kaum sein Gesicht aus dem Wasser heben, um Luft zu holen. Er atmete unbeherrscht, Wasser schoss ihm in die Luftröhre, er fing an zu husten. Er keuchte und spuckte, versuchte sich zu beruhigen, spürte aber, wie die Panik in ihm hochstieg. Verzweifelt stemmte er sich gegen das Gewicht, das auf ihm lag, aber es rührte sich nicht.

Abrupt befand sich sein Kopf über Wasser. »Spuck, Pug!«, rief Laurie. »Sieh zu, dass du den Schlamm aus deiner Lunge bekommst, sonst erwischt dich das Lungenfieber.«

Pug hustete und spie. Jetzt, da Laurie seinen Kopf hielt, konnte er atmen.

»Nehmt diesen Ast!«, rief Laurie. »Ich ziehe ihn darunter hervor!«

Mehrere Sklaven planschten herbei. Ihre Körper waren schweißbedeckt. Sie streckten die Arme unter Wasser und griffen nach dem Ast. Keuchend gelang es ihnen, ihn ein wenig anzuheben, aber Laurie konnte Pug dennoch nicht herausziehen.

»Holt Äxte!«, rief er. »Wir müssen den Ast vom Baum schlagen!«

Gerade brachten andere Sklaven Äxte herbei, als Nogamu rief: »Nein! Lasst ihn! Dafür haben wir keine Zeit! Es sind Bäume zu fällen!«

Laurie kreischte fast: »Wir können ihn nicht einfach so liegen lassen! Er wird ertrinken!«

Der Aufseher kam herbei und schlug Laurie mit seiner Peitsche quer übers Gesicht. Eine tiefe Wunde klaffte in der Wange des Sängers auf, aber er ließ den Kopf seines Freundes nicht los. »Zurück an die Arbeit, Sklave! Du wirst heute Abend ausgepeitscht, weil du so mit mir gesprochen hast! Es gibt noch andere, die klettern können! Und jetzt lass ihn los!« Wieder hieb er zu.

Laurie zuckte zusammen, aber er hielt Pugs Kopf weiterhin über Wasser.

Nogamu hob seine Peitsche zu einem dritten Schlag, aber eine Stimme hinter seinem Rücken gebot ihm Einhalt. »Holt den Sklaven unter dem Ast hervor!«

Laurie sah, dass der Sprecher der junge Soldat war, der den Sklavenmeister begleitet hatte. Der Aufseher wirbelte herum. Er war es nicht gewohnt, dass man seinen Befehlen nicht Folge leistete. Als er jedoch sah, wer mit ihm gesprochen hatte, schluckte er die harsche Erwiderung, die ihm auf der Zunge gelegen hatte, hinunter. Stattdessen verneigte er sich und erklärte: »Der Wunsch meines Herrn ist mir Befehl.«

Er bedeutete den Sklaven mit den Äxten, Pug zu befreien, und bald darauf konnte dieser unter dem Ast hervorgezogen werden. Laurie schleppte ihn zu der Stelle, wo der junge Soldat stand. Pug hustete das Wasser aus seiner Lunge und keuchte: »Ich danke dem Herrn für mein Leben.«

Der Mann antwortete nicht. Als sich jedoch der Aufseher näherte, wandte er sich an diesen. »Der Sklave hatte recht, nicht du. Der Baum war verfault. Es ziemt sich nicht, ihn für dein falsches Urteil und deine schlechte Laune zu bestrafen. Ich sollte dich auspeitschen lassen, aber die Zeit ist zu kostbar. Die Arbeit geht ohnehin nur langsam voran, und dies missfällt meinem Vater.«

Nogamu neigte den Kopf. »Ich habe viel an Gesicht verloren. Gewährt Ihr mir die Erlaubnis, meinem Leben ein Ende zu setzen?«

»Nein. Das wäre zu viel der Ehre. Kehr an die Arbeit zurück.«

Das Gesicht des Aufsehers lief vor Scham und Wut rot an. Er hob die Peitsche, deutete auf Laurie und Pug. »Ihr zwei da! Zurück an die Arbeit!«

Laurie stand auf. Pug versuchte es ebenfalls. Seine Knie waren weich, dennoch gelang es ihm, sich in die Höhe zu kämpfen.

»Diese beiden sind für den Rest des Tages von der Arbeit entbunden«, erklärte der junge Herr. »Dieser da«, damit wies er auf Pug, »wäre heute nur noch von geringem Nutzen. Und der andere muss die Wunde versorgen lassen, die du ihm zugefügt hast, sonst wird sie sich entzünden.« Er wandte sich an einen Wächter. »Bring sie ins Lager zurück und sorge dafür, dass sie alles bekommen, was sie brauchen.«

Pug war ihm dankbar, nicht so sehr seinetwegen, sondern mehr wegen Laurie. Nach einer kurzen Rast hätte er selbst an die Arbeit zurückkehren können. Aber hier im Morast kam eine offene Wunde einem Todesurteil gleich. In der Hitze dieser schmutzigen Umgebung kam es schnell zu Infektionen, und es gab kaum eine Möglichkeit, die irgendwie zu behandeln.

Sie folgten dem Wachtposten. Pug warf noch einen Blick zurück zu dem Sklavenmeister, der ihnen hinterherstarrte. Nackter Hass sprach aus seinem Blick.

Die Dielenbretter knarrten. Sofort war Pug hellwach. Der Argwohn, den er sich als Sklave angeeignet hatte, warnte ihn, dass dieses Geräusch in der Stille der Nacht nicht in die Hütte gehörte.

In der Dämmerung konnte er Schritte hören, die sich näherten. Sie verharrten am Fußende seiner Schlafstatt. Er vernahm, wie Laurie auf dem Sack neben ihm scharf Luft holte. Offenbar war auch der Sänger erwacht. Wahrscheinlich hatte der Eindringling die Hälfte der Schlafenden geweckt. Der Fremde zögerte, und Pug wartete, unsicher und angespannt. Dann hörte er ein Grunzen, und sofort rollte sich Pug von seiner Matte. Etwas schoss herab, und Pug spürte, wie sich mit einem dumpfen Aufprall ein Dolch in die Strohmatte bohrte, dort, wo vor einem Augenblick noch seine Brust gewesen war. Und plötzlich barst der Raum vor Aktivität. Sklaven schrien. Man konnte hören, wie sie zur Tür rannten.

Pug fühlte Hände, die in der Dunkelheit nach ihm griffen. Im nächsten Moment breitete sich ein scharfer Schmerz in seiner Brust aus. Blindlings tastete er nach seinem Angreifer und rang mit ihm um die Klinge. Noch ein Schnitt. Diesmal erwischte es seine rechte Handfläche. Auf einmal rührte sich der Angreifer nicht mehr. Erst da erkannte Pug, dass jemand auf dem Attentäter hockte.

Soldaten mit Laternen eilten in die Hütte. Pug erkannte Laurie, der über der reglosen Gestalt Nogamus lag. Der Mann atmete noch – aber wohl nicht mehr lange, denn sein eigener Dolch steckte in seiner Brust.

Der junge Soldat, der Pug am Tage vor dem Tod durch Ertrinken gerettet hatte, trat ein, und die anderen machten ihm Platz. Hoch aufgerichtet blieb er vor den dreien am Boden stehen und fragte: »Ist er tot?«

Der Aufseher öffnete die Augen und flüsterte mit schwacher Stimme: »Ich lebe … Herr. Aber … ich sterbe … durch die Klinge.« Ein schwaches, aber trotziges Lächeln trat auf sein schweißnasses Gesicht.

Die Miene des jungen Soldaten verriet keinerlei Regung, aber in seinen Augen funkelte es. »Das glaube ich nicht.« Er wandte sich an zwei der Soldaten in der Hütte. »Bringt ihn hinaus, sofort, und hängt ihn auf. Sein Clan wird nicht für ihn singen. Lasst seinen Körper hängen, für die Insekten. Es soll den anderen eine Warnung sein, dass man meinen Befehlen nicht zuwiderhandelt. Geht nun.«

Das Gesicht des sterbenden Mannes wurde bleich. Seine Lippen bebten. »Nein, Herr … Ich flehe Euch an. Lasst mich … durch die Klinge sterben. Nur wenige Minuten noch.« Blutiger Schaum trat ihm auf die Lippen.

Zwei kräftige Soldaten bückten sich zu Nogamu hinunter, und ohne sich um seine Schmerzen zu kümmern, schleiften sie ihn hinaus. Man konnte hören, wie er die ganze Zeit über heulte. Es war erstaunlich, wie viel Kraft noch in seiner Stimme lag. Es war fast, als hätte die Angst vor der Schlinge Reserven wachgerufen, die tief in ihm geruht hatten.

Wie erstarrt standen sie alle, bis sein Heulen in einem erstickten Aufschrei endete. Dann wandte sich der junge Offizier an Pug und Laurie. Pug saß am Boden, und Blut strömte aus einem langen, aber nicht tiefen Schnitt über seiner Brust. Mit einer Hand umklammerte er seine verletzte andere Hand. Hier war der Schnitt sehr tief, und er konnte die Finger nicht bewegen.

»Stütz deinen verwundeten Freund«, befahl der junge Soldat Laurie.

Dieser half Pug auf die Beine. Dann folgten sie dem Offizier aus der Sklavenhütte hinaus. Er führte sie durch das Lager zu seinem eigenen Quartier und befahl ihnen einzutreten. Dann wies er einen Posten an, den Arzt des Lagers zu holen. Bis der Mann eintraf, ließ er sie schweigend stehen. Der Arzt war ein alter Tsurani. Er war in die Robe eines ihrer Götter gekleidet. Welcher von ihnen es war, hätten die Männer aus Midkemia nicht zu sagen vermocht. Er untersuchte Pugs Wunden und erklärte die auf der Brust für oberflächlich. Mit der Hand jedoch sah es anders aus, wie er erklärte.

»Der Schnitt ist tief, und die Muskeln und Sehnen sind durchtrennt. Die Wunde wird heilen, die Hand wird aber nicht mehr so beweglich sein, und er wird auch nicht mehr richtig zupacken können. Höchstwahrscheinlich wird er nur noch leichte Arbeit verrichten können.«

Der Soldat nickte. Sein Gesicht zeigte einen merkwürdigen Ausdruck, eine Mischung aus Abscheu und Ungeduld. »Gut. Verbindet die Wunden, und dann lasst uns allein.«

Der Arzt schickte sich an, die Stellen zu säubern. Er vernähte die Wunde in der Hand mit ein paar Stichen. Dann verband er sie und wies Pug an, sie sauber zu halten, bevor er schließlich ging. Pug ignorierte die Schmerzen und griff dafür auf eine alte Geistesübung zurück.

Nachdem der Arzt gegangen war, musterte der Soldat die beiden Sklaven vor sich. »Das Gesetz verlangt, dass ich euch hänge, weil ihr den Sklavenmeister getötet habt.«

Sie antworteten nichts. Sie würden schweigen, bis man ihnen zu reden befahl.

»Aber da ich den Sklavenmeister hängen ließ, wart nicht ihr es, die ihn umgebracht haben. Ich kann euch nur dafür bestrafen lassen, dass ihr ihn verletzt habt.« Er machte eine Pause. »Betrachtet euch als bestraft.«

Dann winkte er mit der Hand. »Geht nun, aber kehrt bei Tagesanbruch hierher zurück. Wir werden beschließen müssen, was mit euch geschehen soll.«

Sie gingen von einem Glücksgefühl erfüllt davon. Unter gewöhnlichen Umständen hätten sie gleich neben dem ehemaligen Sklavenmeister hängen müssen. Als sie den Platz überquerten, meinte Laurie: »Möchte wissen, was das zu bedeuten hat.«

»Ich habe zu große Schmerzen, um mich das zu fragen. Ich bin einfach schon dankbar, dass wir den morgigen Tag noch erleben dürfen.«

Laurie sagte nichts mehr, bis sie die Sklavenhütte erreichten. Dann aber meinte er: »Ich glaube, der junge Herr hat etwas mit uns vor.«

»Was auch immer, ich habe es schon lange aufgegeben, unsere Herren zu verstehen. Deshalb bin ich auch so lange am Leben geblieben, Laurie. Ich tue einfach, was man mir aufträgt, sage nichts und erdulde alles.« Pug wies auf den Baum, an dem man im blassen Mondlicht die Gestalt des ehemaligen Aufsehers hängen sehen konnte. In dieser Nacht leuchtete nur der kleine Mond. »Es ist viel zu leicht, so zu enden.«

Laurie nickte. »Vielleicht hast du recht. Ich denke immer noch an Flucht.«

Pug lachte. Es war ein kurzes, bitteres Lachen. »Wohin denn, Sänger? Wohin könntest du laufen? Auf den Spalt und zehntausend Tsuranis zu?«

Laurie sagte nichts. Sie kehrten zu ihren Schlafplätzen zurück.

Der junge Offizier saß auf einem Stapel Kissen. Es war so Sitte bei den Tsuranis. Er schickte den Aufpasser weg, der Pug und Laurie begleitet hatte, und bedeutete den beiden Sklaven, sich zu setzen. Zögernd gehorchten sie, denn für gewöhnlich war es einem Sklaven nicht gestattet, in Gegenwart eines Meisters zu sitzen.

»Ich bin Hokanu von den Shinzawai. Meinem Vater gehört dieses Lager hier«, begann der Tsurani ohne Einleitung. »Er ist höchst unzufrieden mit der Ausbeute in diesem Jahr. Er hat mich geschickt, damit ich nachsehe, was getan werden kann. Jetzt habe ich keinen Aufseher, der die Arbeit überwacht, weil dich ein dummer Mann für seine eigene Dummheit verantwortlich machte. Was soll ich tun?« Sie antworteten nicht, denn sie wussten nicht, ob die Frage nur rein rhetorisch war. »Wie lange seid ihr schon hier?«

Pug und Laurie sprachen nacheinander. Er dachte darüber nach und sagte dann: »Du«, er wies auf Laurie, »bist nichts Besonderes. Abgesehen davon, dass du unsere Sprache besser sprichst als die meisten von euch Barbaren. Aber du«, er wies auf Pug, »du bist länger am Leben geblieben als die meisten deiner halsstarrigen Landsleute, und auch du sprichst unsere Sprache gut. Man könnte dich sogar für einen Bauern aus einer der fernen Provinzen halten.«

Sie saßen ganz still. Worauf wollte Hokanu hinaus? Entsetzt erkannte Pug, dass er wahrscheinlich ein, zwei Jahre älter war als dieser junge Herr hier. Der Tsurani war sehr jung, um solche Macht zu haben. Die Sitten und Gebräuche der Tsuranis waren außerordentlich seltsam. In Crydee würde er noch immer ein Lehrling sein oder – wenn er dem Adel angehörte – weiterhin in der Kunst der Staatspolitik unterwiesen werden.

»Wie kommt es, dass du unsere Sprache so gut sprichst?«, wollte Hokanu von Pug wissen.

»Herr, ich war unter den ersten Gefangenen. Wir waren nur sieben unter unzähligen Tsurani-Sklaven. Wir haben gelernt zu überleben. Nach einiger Zeit war ich der Einzige, der noch übrig war. Die anderen starben am Fieber oder an eiternden Wunden, manche wurden auch von den Wachen getötet. Es gab niemanden, mit dem ich in meiner eigenen Sprache hätte reden können. Mehr als ein Jahr lang kam kein Landsmann von mir in dieses Lager.«

Der Offizier nickte. Dann wandte er sich an Laurie: »Und du?«

»Herr, ich bin Sänger, ein Troubadour in meiner Heimat. Es ist Sitte bei uns, dass wir viel reisen, und wir müssen viele Sprachen lernen. Außerdem habe ich ein gutes Ohr für Musik. In eurer Sprache kommt es auf den Ton an. Gewisse gleiche Worte haben eine andere Bedeutung, wenn sie mit einem anderen Tonfall ausgesprochen werden. Im Süden unseres Königreiches gibt es mehrere solcher Sprachen. Ich lerne schnell.«

Ein Schimmern trat in die Augen des Soldaten. »Es ist gut, diese Dinge zu wissen.« Er versank tief in Gedanken. Nach einer Weile nickte er vor sich hin. »Viele Überlegungen sind nötig, um das Glück eines Mannes zu schmieden, Sklaven.« Er lächelte und sah plötzlich mehr wie ein Junge aus als wie ein Mann. »Dieses Lager ist eine Schande, ein einziges Durcheinander. Ich werde meinem Vater, dem Herrn der Shinzawai, Bericht erstatten. Ich denke, ich weiß jetzt, wo die Probleme liegen.« Er zeigte auf Pug. »Ich möchte gern wissen, was du dazu denkst. Du bist länger hier als irgendjemand sonst.«

Pug riss sich zusammen. Es war lange her, dass jemand ihn um seine Meinung gebeten hatte. »Herr, der erste Aufseher, der hier war, als ich gefangen genommen wurde, war ein schlauer Mann. Er wusste, dass Männer, auch Sklaven, nicht arbeiten können, wenn sie vor Hunger ganz schwach sind. Damals hatten wir mehr zu essen, und wenn wir verletzt waren, ließ er uns Zeit, um gesund zu werden. Nogamu war ein übellauniger Mann, der jeden Rückschlag als eine persönliche Beleidigung ansah. Ruinierten Wühltiere einen Hain, dann war das die Schuld der Sklaven. Starb einer von ihnen, dann sah er darin eine Verschwörung und einen Anschlag auf sein Ansehen als Aufseher über die Arbeitskräfte. Jede auftretende Schwierigkeit wurde mit einer weiteren Kürzung unserer Essensrationen bestraft oder mit längerer Arbeitszeit. Hatten wir aber einmal Glück, dann sah er das als seinen eigenen Verdienst an.«

»Das habe ich fast vermutet. Nogamu war zu seiner Zeit ein sehr wichtiger Mann. Er war der Hadonra, also der Verwalter der Domäne seines Vaters. Seine Familie wurde der Verschwörung gegen das Kaiserreich für schuldig befunden. Sein eigener Clan hat sie alle als Sklaven verkauft – diejenigen, die nicht gehängt wurden. Er war niemals ein guter Sklave. Es wurde angenommen, dass es seinen Fähigkeiten entgegenkommen würde, wenn man ihm die Verantwortung für dieses Lager übertragen würde. Aber das erwies sich als falsch.« Er fixierte die beiden. »Gibt es unter den Sklaven einen guten Mann, der fähig wäre, hier die Leitung zu übernehmen?«

Laurie senkte den Kopf, ehe er sagte: »Herr, Pug hier …«

»Das glaube ich nicht. Ich habe andere Pläne mit euch beiden.«

Pug war überrascht und fragte sich, was er damit meinte. »Vielleicht Chogana, Herr. Er war Bauer, bis seine Ernte schlecht war und er als Sklave verkauft wurde, um die Steuern zahlen zu können. Er hat einen klugen Kopf.«

Der Soldat klatschte einmal in die Hände. Augenblicklich erschien eine Wache im Raum. »Holt den Sklaven Chogana.«

Der Posten salutierte und ging. »Es ist gut, dass er Tsurani ist«, bemerkte Hokanu. »Ihr Barbaren kennt eure Stellung nicht. Ich hasse den Gedanken, was geschehen könnte, wenn ich einem von euch die Verantwortung übertragen würde. Wahrscheinlich müssten dann meine Soldaten die Bäume fällen, und die Sklaven würden Wache halten.«

Einen Augenblick herrschte Stille. Dann lachte Laurie auf. Es war ein volles, tiefes Lachen. Hokanu lächelte. Pug beobachtete ihn genau. Der junge Mann, in dessen Händen ihrer beider Leben lag, bemühte sich sehr, ihr Vertrauen zu gewinnen. Bei Laurie schien es ihm gelungen zu sein, aber Pug war auf der Hut. Dies hier war nicht Midkemia, wo der Krieg Adlige wie einfache Bürger zu Waffenbrüdern machte, die ohne Rücksicht auf Rang und Herkunft Essen und Leid miteinander teilten. Eines hatte er schon gleich zu Anfang über die Tsuranis gelernt: Sie vergaßen niemals, wer und was sie waren. Was immer jetzt in dieser Hütte geschah, es war der Wunsch Hokanus.

Der schien Pugs Blick auf sich zu fühlen, denn er sah ihn an. Ihre Blicke trafen sich kurz, ehe Pug wegschaute, wie es sich für einen Sklaven geziemte. Dennoch meinte er, der Blick Hokanus hätte gesagt: Du glaubst nicht, dass ich ein Freund bin. Sei’s drum, solange du nur deiner Rolle gerecht wirst.

Hokanu machte eine winkende Handbewegung und sagte: »Kehrt in eure Hütte zurück. Ruht euch gut aus, denn wir werden nach dem Nachmittagsmahl unsere Reise antreten.«

Sie erhoben und verbeugten sich, ehe sie rückwärts die Hütte verließen. Auf dem Wag zur Unterkunft der Sklaven schwieg Pug, aber Laurie schwatzte munter drauflos. »Ich frage mich, wohin wir reisen?« Als er keine Antwort erhielt, fügte er hinzu: »Auf jeden Fall muss es dort besser sein als hier.«

Pug fragte sich, ob es das wohl wirklich sein würde.

Jemand schüttelte Pug an der Schulter, und er wachte auf. Er hatte in der Morgenhitze gedöst und die zusätzliche Ruhepause genutzt, ehe er und Laurie nach dem Nachmittagsmahl mit dem jungen Adligen aufbrechen sollten.

Chogana, der ehemalige Bauer, den Pug empfohlen hatte, zeigte auf Laurie, der fest schlief, und bedeutete Pug, leise zu sein.

Pug folgte dem alten Sklaven aus der Hütte. Im Schatten des Gebäudes ließen sie sich nieder. Langsam, wie es seine Art war, sagte Chogana: »Mein Herr Hokanu hat mir erzählt, dass du dafür gesorgt hast, dass ich zum Sklavenmeister dieses Lagers ausgewählt wurde.« Sein braunes, verwittertes Gesicht strahlte Würde aus, als er den Kopf neigte. »Ich stehe in deiner Schuld.«

Pug erwiderte seine Verbeugung, die im Lager recht ungewöhnlich war. »Du wirst dich so verhalten, wie ein Aufseher es tun sollte. Du wirst gut für unsere Brüder sorgen.«

Choganas altes Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. Dabei zeigte er Zähne, die vom jahrelangen Kauen von Tateen-Nüssen braune Flecken bekommen hatten. Diese Nüsse, die man überall im Sumpf finden konnte, hatten eine leicht betäubende Wirkung. Darunter litt die Arbeitskraft nicht, aber es erschien alles weniger hart.

Pug hatte diese Gewohnheit der Tsuranis nicht übernommen, genau wie die meisten anderen Midkemianer. Diejenigen, die es taten, schienen ihren eigenen Willen vollends aufgegeben zu haben.

Chogana starrte auf das Lager. Im grellen Licht der Sonne kniff er die Augen zu zwei schmalen Schlitzen zusammen. Das Lager war jetzt leer, abgesehen von der Leibwache des jungen Herrn und den Gehilfen des Kochs. Aus der Ferne drang der Lärm der arbeitenden Männer herüber.

»Als ich noch ein Junge war, auf dem Hof meines Vaters in Szetac«, begann Chogana, »entdeckte man eines Tages, dass ich ein Talent hatte. Ich wurde begutachtet, überprüft und als unvollständig angesehen.« Diese letzte Bemerkung verstand Pug nicht, aber er wollte den alten Mann nicht unterbrechen. »Also wurde ich Bauer, wie mein Vater. Aber mein Talent war da. Manchmal sehe ich Dinge, Pug, Dinge in den Menschen. Als ich älter wurde, verbreitete sich die Kunde über mein Talent. Leute, vornehmlich arme Leute, kamen und baten um meinen Rat. Als junger Mann war ich arrogant und habe viel dafür verlangt, dass ich ihnen sagte, was ich sah. Als ich älter wurde, wurde ich bescheiden und habe genommen, was man mir angeboten hat. Aber immer noch sagte ich, was ich sah. Und immer waren die Leute böse, wenn sie mich verließen. Weißt du, warum?«, fragte er und kicherte. Pug schüttelte den Kopf. »Weil sie nicht gekommen waren, um die Wahrheit zu hören, sondern das, was sie hören wollten.«

Pug fiel in Choganas Lachen ein. Der fuhr fort: »Also habe ich behauptet, das Talent hätte mich verlassen, und nach einer Weile hörten die Leute auch auf, meinen Hof aufzusuchen. Aber es hat mich niemals wirklich verlassen, Pug, und ich kann immer noch Dinge sehen, manchmal. In dir habe ich etwas entdeckt, und ich will es dir sagen, ehe du für alle Zeiten gehst. Ich werde in diesem Lager sterben, aber du hast ein anderes Schicksal vor dir. Willst du es hören?« Pug bejahte, und Chogana sagte: »In dir befindet sich eine Kraft. Sie ist in dir gefangen. Was es ist, was es bedeutet, das weiß ich nicht zu sagen.«

Da Pug die merkwürdige Einstellung der Tsuranis Magiern gegenüber kannte, stieg bei diesen Worten die Panik in ihm auf. Für die meisten hier im Lager war er einfach irgendein Sklave, für einige wenige auch ein ehemaliger Junker. Niemand wusste von seiner ehemaligen Berufung.

Chogana fuhr mit geschlossenen Augen fort. »Ich habe von dir geträumt, Pug. Ich sah dich auf einem Turm stehen, einem schrecklichen Feind gegenüber.« Er öffnete die Augen. »Ich weiß nicht, was der Traum bedeutet, aber eines musst du wissen: Ehe du diesen Turm besteigst, um deinem Feind gegenüberzutreten, musst du dein Wallum finden. Es ist der geheime Mittelpunkt deines Seins, der Ort des vollkommenen Friedens in dir selbst. Wenn du erst einmal dort ruhst, bist du vor allem sicher. Dein Fleisch mag leiden, sogar sterben, aber innerhalb deines Wallums wirst du alles in Frieden ertragen. Suche mit allen Mitteln danach, Pug, denn nur wenige Männer finden ihr Wallum.« Chogana stand auf. »Ihr werdet bald abreisen. Komm, wir müssen Laurie wecken.«

Als sie zum Eingang der Hütte gingen, sagte Pug: »Ich danke dir, Chogana. Aber eines möchte ich doch wissen. Du hast von einem Feind dort oben auf dem Turm gesprochen. Kannst du ihn beschreiben?«

Chogana lachte und nickte heftig. »Aber ja, ich habe ihn gesehen.« Er kicherte, während er die Stufen zur Hütte erklomm. »Er ist der, den du unter allen Menschen am meisten zu fürchten hast.« Aus schmalen Augen musterte er Pug. »Er war du.«

Pug und Laurie saßen auf den Stufen zum Tempel. Sechs Wachtposten der Tsuranis befanden sich in ihrer Nähe. Während der ganzen Reise hatten sich die Wachen ziemlich gesittet verhalten. Die Reise war ermüdend, um nicht zu sagen schwierig gewesen. Da es keine Pferde gab und auch nichts, was sie hätte ersetzen können, war jeder Tsurani, der nicht in einem Needra-Karren fuhr, auf Schusters Rappen angewiesen. Die Vornehmen wurden von keuchenden, schwitzenden Sklaven auf Sänften die weiten Boulevards hinauf- und hinuntergetragen.

Pug und Laurie hatten die kurzen, einfachen grauen Röcke der Sklaven erhalten. Ihr Lendenschurz, im Sumpf durchaus angebracht, galt als zu unschicklich, um sich damit zwischen Tsurani-Bürgern zu bewegen. Pug schloss daraus, dass die Tsuranis Wert auf Sittsamkeit legten, wenn auch nicht so sehr wie im Königreich.

Sie waren die Küstenstraße heraufgekommen und an dem großen Wasser entlanggegangen, das man die Schlachtenbucht nannte. Sie war größer als alles, was man in Midkemia eine Bucht nannte, denn nicht einmal von den hohen Klippen aus konnte man das jenseitige Ufer ausmachen. Nachdem sie ein paar Tage lang unterwegs gewesen waren, hatten sie bebautes Acker- und Weideland erreicht. Bald darauf konnte Pug sehen, wie das jenseitige Ufer immer näher kam. Noch ein paar Tage auf der Straße, und sie waren bei der Stadt Jamar angelangt.

Pug und Laurie beobachteten den vorbeiziehenden Verkehr, während Hokanu im Tempel sein Opfer darbrachte. Die Tsuranis schienen ganz wild auf Farben zu sein. Selbst der niedrigste Arbeiter trug hier in ein leuchtend buntes, kurzes Gewand. Die Reichen dagegen hüllten sich in auffallende, kunstvoll bedruckte Stoffe. Nur Sklaven mussten sich einfach kleiden.

Überall in der Stadt drängten sich die Menschen: Bauern, Händler, Reisende. Unzählige Needras trotteten vorüber. Sie zogen hoch beladene Wagen. Allein die Anzahl von Menschen überwältigte Pug und Laurie. Ihnen erschienen die Tsuranis wie Ameisen, die selbst in dieser ungewöhnlichen Hitze umherhasteten, als würde morgen die Welt untergehen und man müsse noch schnell ein wichtiges Geschäft erledigen. Viele, die vorüberkamen, blieben stehen, um die Midkemianer anzustarren, die ihnen wie gigantische Barbaren erschienen. Sie selbst waren im Durchschnitt etwa fünfeinhalb Fuß groß, und selbst Pug galt hier als riesig, denn er maß fast sechs Fuß, nachdem er jetzt ausgewachsen war. Ihrerseits wiederum nannten die Midkemianer die Tsurani »Knirpse«.

Pug und Laurie schauten sich um. Sie befanden sich im Zentrum der Stadt, wo die großen Tempel standen. Zehn Pyramiden von unterschiedlicher Größe, aber alle kunstvoll bearbeitet, erhoben sich inmitten einer Reihe von Parkanlagen. Von der Stelle aus, wo sie saßen, konnten die jungen Männer drei dieser Parkanlagen überblicken. Jede war terrassenförmig, mit Miniaturflüssen, und es gab sogar winzige Wasserfälle. Auf dem grasbewachsenen Boden wuchsen ebenso Zwergbäume wie große Schattenbäume. Umherziehende Musikanten spielten auf Flöten und sonderbaren Saiteninstrumenten eine fremdartige Musik, um diejenigen zu unterhalten, die im Park rasteten oder spazieren gingen.

Als Hokanu zurückkehrte, machten sie sich wieder auf den Weg. Sie wanderten durch die Stadt. Noch immer musterte Pug die Menschen, denen sie begegneten. Das Gedränge war unglaublich, und Pug fragte sich, wie die Tsuranis das auf die Dauer ertragen konnten. Wie Bauern, die zum ersten Mal im Leben in eine Stadt kommen, sperrten Pug und Laurie Mund und Augen auf, während sie die Wunder Jamars bestaunten. Selbst der scheinbar so weltgewandte Troubadour stieß bei dem einen oder anderen Anblick einen Ausruf der Überraschung aus. Die Wachen machten sich bald über das offensichtliche Entzücken dieser Barbaren über die gewöhnlichsten Dinge lustig.

Jedes Gebäude, an dem sie vorüberkamen, war aus Holz und einem durchsichtigen Material errichtet, das wie Stoff wirkte und doch fest war. Einige, wie zum Beispiel die Tempel, waren auch aus Stein erbaut. Am meisten fiel jedoch auf, dass alles weiß gestrichen war, von der einfachen Hütte eines Arbeiters bis hin zum Tempel. Nur die Stützbalken und Türrahmen waren dunkelbraun abgesetzt. Zudem war jede offene Fläche mit farbenprächtigen Bildern bemalt. Tiere, Landschaften und Kampfszenen waren dabei in der Überzahl.

Im Norden des Tempelbezirks, jenseits eines Parks und an einem breiten Boulevard gelegen, stand ein einzelnes Gebäude. Große Rasenflächen, von Hecken umrahmt, sonderten es ab. Zwei Männer, deren Rüstung und Helm denen ihrer eigenen Wachen glich, standen an der Tür. Sie salutierten, als Hokanu sich ihnen näherte.

Die anderen Soldaten marschierten ohne ein Wort um das Haus herum und ließen die Sklaven bei dem jungen Offizier zurück. Er machte ein Zeichen, und einer der Wachtposten schob die große, mit Stoff bespannte Tür beiseite. Sie betraten einen offenen Korridor mit Türen zu beiden Seiten. Hokanu führte sie zu einem rückwärtigen Eingang, den ein Haussklave für sie öffnete.

Pug und Laurie erkannten, dass das Haus wie ein großer Platz angeordnet war. In der Mitte befand sich ein von allen Seiten aus erreichbarer großer Garten. Neben einem Teich saß ein älterer Mann, der eine schlichte, aber kostbar aussehende dunkelblaue Robe trug. Er betrachtete gerade eine Schriftrolle, schaute jedoch auf, als die drei eintraten, und erhob sich, um Hokanu zu begrüßen.

Der junge Mann nahm seinen Helm ab und stand still. Pug und Laurie blieben ein Stück hinter ihm zurück. Sie sagten nichts. Der Mann nickte, und Hokanu näherte sich ihm. Sie umarmten einander, dann sagte der ältere Mann: »Mein Sohn, es tut gut, dich wiederzusehen. Wie sieht es im Lager aus?«

Hokanu erstattete ihm Bericht, kurz, knapp, aber genau. Er ließ nichts von Wichtigkeit aus. Dann erzählte er, was er unternommen hatte, um die Lage zu verbessern. »Der neue Aufseher wird also dafür sorgen, dass die Sklaven genug zu essen bekommen und sich auch ausruhen können. Dadurch sollte die Produktion bald wieder anwachsen.«

Sein Vater nickte. »Ich denke, du hast weise gehandelt, mein Sohn. In einigen Monaten werden wir erneut jemanden hinschicken müssen, um die Fortschritte zu überprüfen, aber es kann kaum schlechter werden, als es war. Der Kriegsherr verlangt höhere Produktion, und wir sind bei ihm schon fast in Ungnade gefallen.«

Erst danach schien er die Sklaven zu bemerken. »Was ist mit denen?«, fragte er bloß und wies auf Laurie und Pug.

»Sie sind ungewöhnlich. Ich dachte an unser Gespräch am Abend, ehe mein Bruder nach Norden zog. Sie könnten sich als wertvoll erweisen.«

»Hast du zu irgendjemandem davon gesprochen?« Seine grauen Augen blickten scharf. Obwohl er viel kleiner war, erinnerte er Pug doch an Herzog Borric.

»Nein, Vater. Aber diejenigen, die in jener Nacht …«

Mit einer Handbewegung brachte ihn der Herr des Hauses zum Schweigen. »Heb dir das für später auf. Vertrau einer Stadt keine Geheimnisse an. Informiere Septiem. Wir schließen dieses Haus und begeben uns morgen auf unsere Güter.«

Hokanu verbeugte sich leicht. Dann wandte er sich zum Gehen. »Hokanu.« Die Stimme seines Vaters hielt ihn zurück. »Du hast recht getan.«

Der Stolz stand dem jungen Mann deutlich ins Gesicht geschrieben, als er den Garten verließ.

Der Herr des Hauses setzte sich wieder auf eine Bank aus Stein, dicht neben einem kleinen Brunnen, und betrachtete die beiden Sklaven. »Wie heißt ihr?«

»Pug, Herr.«

»Laurie, Herr.«

»Durch diese Tür dort«, befahl der Tsurani und zeigte nach links, »kommt ihr zur Küche. Mein Hadonra hat den Namen Septiem. Er wird für euch sorgen. Geht nun.«

Sie verneigten sich und verließen den Garten. Als sie durchs Haus gingen, rannte Pug fast ein junges Mädchen um, das um eine Ecke bog. Sie trug Sklavenkleidung und schleppte ein großes Bündel Wäsche, die nun den Korridor entlangflog.

»Oh!«, rief sie. »Ich habe sie gerade erst gewaschen! Jetzt muss ich die ganze Arbeit noch einmal machen.«

Pug bückte sich schnell, um ihr beim Aufheben zu helfen. Für eine Tsurani war sie groß, fast so wie Pug. Ihr braunes Haar hatte sie zurückgebunden, und lange, dunkle Wimpern umrahmten ihre großen, braunen Augen. Pug starrte sie in offener Bewunderung an. Sie zögerte unter seinem scharfen Blick. Dann hob sie schnell den Rest der Wäsche auf und hastete davon. Unter dem kurzen Sklavengewand ragten lange, braune Beine hervor.

Laurie schlug Pug auf die Schulter. »Ha! Ich hab dir doch gesagt, dass alles besser werden würde!«

Sie verließen das Gebäude und näherten sich dem Kochhaus. Der Duft der heißen Speisen ließ ihnen das Wasser im Mund zusammenlaufen. »Ich glaube, du hast Eindruck auf dieses Mädchen gemacht, Pug.«

Pug hatte nicht viel Erfahrung mit Frauen. Er fühlte, wie seine Ohren bei Lauries Worten glühten. Im Sklavenlager war viel über Frauen geredet worden, und mehr als alles andere hatte gerade das ihm den Eindruck vermittelt, noch ein Junge zu sein. Er drehte sich um, um festzustellen, ob sich Laurie über ihn lustig machte. Aber der blonde Sänger schaute an ihm vorbei. Er folgte Lauries Blick und konnte gerade noch sehen, wie ein schüchtern lächelndes Mädchen hastig den Kopf vom Fenster zurückzog und im Haus verschwand.

Am nächsten Tag war das ganze Haus der Shinzawai-Familie in Aufruhr. Sklaven und Bedienstete eilten hierhin und dorthin, um alles für die Reise in den Norden vorzubereiten. Pug und Laurie blieben sich selbst überlassen, denn niemand im Haus hatte Zeit, ihnen irgendwelche Aufgaben zuzuweisen. So hockten sie im Schatten eines großen, Weide-ähnlichen Baumes und genossen das neuartige Gefühl von freier Zeit, während sie den anderen zusahen.

»Diese Leute sind verrückt, Pug. Bei uns wird nicht einmal für ganze Karawanen so viel vorbereitet. Sieht aus, als wollten sie alles mitnehmen.«

»Wollen sie vielleicht auch. Diese Leute überraschen mich schon längst nicht mehr.« Pug stand auf und lehnte sich an den Stamm. »Ich habe schon viele Dinge gesehen, die jeglicher Logik entbehren.«

»Stimmt schon. Aber wenn man so viele verschiedene Lande gesehen hat wie ich, dann lernt man eines: Je verschiedener die Dinge aussehen, desto ähnlicher sind sie sich.«

»Was meinst du damit?«

Laurie stand ebenfalls auf und lehnte sich an die andere Seite des Baums. Leise erklärte er: »Ich bin nicht sicher, aber irgendetwas geht hier vor. Und wir sollen dabei auch eine nicht unwichtige Rolle spielen, da kannst du ganz sicher sein. Wenn wir schlau sind, können wir daraus vielleicht einen Vorteil für uns ziehen. Vergiss das niemals. Wenn ein Mann etwas von dir will, dann kannst du immer handeln, ganz gleich, wie unterschiedlich ihr in euren Stellung sonst auch sein mögt.«

»Natürlich. Gib ihm, was er will, und dafür lässt er dich am Leben.«

»Du bist zu jung, um so zynisch zu sein«, entgegnete Laurie, aber in seinen Augen funkelte Fröhlichkeit. »Ich will dir was sagen. Du überlässt diese Haltung alten Reisenden wie mir, und dafür sorge ich dafür, dass dir keine Gelegenheit entgeht.«

Pug grunzte. »Was für eine Gelegenheit?«

»Nun, zum Beispiel diese.« Laurie zeigte auf einen Punkt hinter Pug. »Dieses kleine Ding, das du gestern fast über den Haufen gerannt hättest, scheint Schwierigkeiten mit den schweren Kisten zu haben.« Pug drehte sich um und entdeckte die Waschmagd. Sie kämpfte mit ein paar großen Kisten, die in den Wagen verladen werden sollten. »Ich denke, sie würde sich über ein wenig Hilfe freuen.«

Pugs Verwirrung spiegelte sich auf seinem Gesicht. »Was …?«

Laurie stieß ihm sanft in die Rippen. »Los, Alter. Ein bisschen Hilfe jetzt, und später … wer weiß!«

Pug stolperte davon. »Später?«

»Himmel!«, stöhnte Laurie und versetzte Pug einen spielerischen Tritt.

Der Humor des Troubadours war ansteckend, und Pug lächelte, als er sich dem Mädchen näherte. Sie versuchte gerade, eine große Holzkiste auf eine andere zu hieven. Pug nahm sie ihr ab. »Lass nur. Das kann ich machen.«

Unsicher trat sie zurück. »Sie ist nicht schwer. Bloß zu hoch für mich.« Sie sah überall hin, nur nicht zu Pug.

Pug hob die Kiste mit Leichtigkeit auf die anderen. Dabei nahm er kaum Rücksicht auf seine verwundete Hand. »Das hätten wir«, sagte er, als wäre es ganz nebensächlich.

Das Mädchen strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Du bist ein Barbar, nicht wahr?«, fragte sie zögernd.

Pug zuckte zusammen. »Ihr nennt uns so. Ich denke, dass ich genauso zivilisiert bin wie jeder andere hier auch.«

Sie errötete. »Ich wollte dich nicht beleidigen. Auch mein Volk nennt man Barbaren. Jeder, der nicht Tsurani ist, wird so genannt. Ich wollte nur sagen, dass du aus einer anderen Welt stammst.«

Pug nickte. »Wie heißt du?«

»Katala«, erwiderte sie zögernd und fragte dann hastig: »Und du?«

»Pug.«

Sie lächelte. »Das ist ein merkwürdiger Name. Pug.« Der Klang schien ihr zu gefallen.

In diesem Augenblick bog Septiem, der Hadonra, ein alter, aber noch immer aufrechter Mann mit der Haltung eines pensionierten Generals, ums Haus. »Ihr beiden da!«, bellte er. »Es gibt Arbeit genug! Steht hier nicht herum!«

Katala lief ins Haus zurück. Pug blieb zögernd vor dem gelb gekleideten Verwalter stehen. »Du! Wie heißt du?«

»Pug, mein Herr.«

»Wie ich sehe, hat man dir und deinem blonden Riesenfreund nichts zu arbeiten gegeben. Das werde ich ändern. Ruf ihn herbei.«

Pug seufzte. So viel zu ihrer freien Zeit. Er winkte Laurie herbei, und man trug ihnen auf, Wagen zu beladen.

Der Landsitz

In den letzten drei Wochen war es kälter geworden.

Doch noch immer deutete alles auf die Hitze des Sommers hin. Der Winter, wenn man ihn überhaupt so nennen konnte, dauerte in diesem Land nicht länger als knappe sechs Wochen und brachte nur kurze, kalte Regen aus dem Norden. Die Bäume behielten den Großteil ihrer blaugrünen Blätter, und nichts zeigte an, dass der Herbst verstrichen war. In den vier Jahren, die Pug in Tsuranuanni gelebt hatte, konnte er keines der vertrauten Anzeichen für die verschiedenen Jahreszeiten bemerken: keine Vogelwanderungen, keinen Frost am Morgen, keinen Regen, der gefror, keinen Schnee, auch nicht das Knospen wilder Blumen. Dieses Land schien sich immer im ewigen Sommer zu befinden.

Die Shinzawai-Karawane näherte sich den Grenzen des Familienbesitzes im Norden. Pug und Laurie hatten unterwegs nur wenig zu tun gehabt. Nur ab und zu erhielten sie kleine Aufgaben: Sie mussten die Kochtöpfe reinigen, den Kot der Needras fortschaffen und Vorräte auf- und abladen. Jetzt fuhren sie hinten auf einem Wagen mit. Ihre Beine baumelten über den Rand. Laurie biss genüsslich in eine reife Jomach-Frucht. Er spuckte die Kerne aus und fragte: »Was macht deine Hand?«

Pug musterte seine Rechte und untersuchte die rote Narbe, die über die ganze Handfläche verlief. »Immer noch steif. Ich glaube, besser wird sie nicht mehr.«

Laurie warf einen Blick darauf. »Glaube kaum, dass du je wieder ein Schwert halten wirst.« Er grinste.

Pug lachte. »Du wohl auch nicht. Jedenfalls glaube ich nicht, dass sie für dich einen Platz bei der Kaiserlichen Garde finden werden.«

Laurie spuckte erneut einen Schwall Kerne aus. Sie prasselten auf die Nase der Needra, die den Wagen hinter ihnen zog. Das sechsbeinige Tier schnaubte, während der Fahrer wütend mit seinem Stock fuchtelte.

»Merk dir eines, mein lieber Freund«, erklärte Laurie in hochmütigem Ton. »Wir Troubadoure werden oft von Männern bedrängt, die wenig vornehm sind, von Räubern und Halsabschneidern zum Beispiel, die es auf unser schwer verdientes Geld abgesehen haben. Da bleibt man nicht lange im Geschäft. Wenn du verstehst, was ich meine.«

Pug lächelte. Er wusste, dass ein Troubadour in jeder Stadt fast als Heiliger galt. Wurde ihm ein Leid zugefügt oder wurde er ausgeraubt, dann verbreitete sich die Kunde darüber blitzschnell, und kein anderer Troubadour suchte diese Stadt jemals auf. Aber unterwegs auf der Straße, da war das etwas anderes. Er zweifelte nicht an Lauries Fähigkeit, sich selbst zu verteidigen. Dennoch wollte er nicht, dass der Sänger in diesem hochmütigen Ton mit ihm sprach.

Gerade setzte er zu einer Erwiderung an, als Rufe von der Spitze des Zuges ihn schweigen ließen. Soldaten eilten vorwärts, und Laurie wandte sich an seinen kleineren Kameraden. »Was, meinst du, hat das zu bedeuten?«

Ohne auf eine Antwort zu warten, sprang er vom Wagen und eilte hinter den Soldaten her. Pug folgte ihm. Als sie die Spitze der Karawane erreichten und hinter der Sänfte des Herrn der Shinzawai verharrten, konnten sie Gestalten auf der Straße sehen, die auf sie zuhielten. Laurie packte Pug am Ärmel. »Reiter!«

Pug wagte seinen Augen nicht zu trauen. Tatsächlich schien es so, als näherten sich ihnen Reiter auf der Straße vom Herrenhaus der Shinzawai. Als sie näher kamen, konnte er erkennen, dass es sich jedoch nur um einen Mann zu Pferde und drei Cho-jas handelte, die alle dunkelblau gefärbt waren.

Der Reiter, ein junger braunhaariger Tsurani, größer als die meisten von ihnen, stieg ab. Seine Bewegungen waren ungelenk. »Die werden niemals eine militärische Bedrohung darstellen, wenn sie nicht besser reiten lernen«, bemerkte Laurie. »Sieh nur, er hat weder Sattel noch Zaumzeug. Nur ein paar Lederriemen, mit denen er das Pferd lenkt. Und das arme Tier sieht aus, als wäre es seit mindestens einem Monat nicht mehr anständig versorgt worden.«

Der Vorhang der Sänfte wurde beiseitegezogen, als sich der Reiter näherte. Die Sklaven setzten die Sänfte ab, und der Herr der Shinzawai stieg aus. Hokanu war an die Seite seines Vaters getreten und umarmte den Reiter zur Begrüßung. Dann drückte der junge Mann den Herrn der Shinzawai an sich. Pug und Laurie konnten hören, wie er sagte: »Vater! Es ist schön, dich zu treffen!«

Der Herr der Shinzawai entgegnete: »Kasumi! Es ist eine Freude für mich, meinen erstgeborenen Sohn zu sehen. Wann bist du zurückgekehrt?«

»Vor weniger als einer Woche. Ich wäre nach Jamar gekommen, hörte aber, dass Ihr nach hierher aufgebrochen seid. Also habe ich gewartet.«

»Ich bin froh. Wer ist da bei dir?« Der Gebieter der Shinzawai deutete auf die Gestalten.

»Dies«, sagte sein Sohn und zeigte auf den Vordersten, »ist Befehlshaber X’calak. Er ist soeben vom Kampf gegen die Kurzen unter den Bergen von Midkemia zurückgekehrt.«

Das Wesen trat vor und hob die rechte Hand zum Gruß, eine sehr menschliche Geste. Dann erklärte es mit hoher, piepsiger Stimme: »Heil, Kamatsu, Gebieter der Shinzawai. Ehre sei mit deinem Hause.«

Der Herr der Shinzawai verbeugte sich leicht aus der Hüfte heraus. »Seid gegrüßt, X’calak. Ehre deinem Schwarm. Die Cho-jas sind uns immer willkommene Gäste.«

Das Wesen trat zurück. Der Herr wandte sich um und starrte das Pferd an. »Was ist das, worauf du sitzt, mein Sohn?«

»Ein Pferd, Vater. Eine Kreatur, auf der die Barbaren in die Schlacht reiten. Ich habe dir schon früher davon erzählt. Es ist wahrhaftig ein wunderbares Wesen. Auf seinem Rücken bin ich schneller als der schnellste Cho-ja-Läufer.«

»Wie bleibst du oben?«

Sein älterer Sohn lachte. »Nur mit großen Schwierigkeiten, leider. Die Barbaren haben da Tricks, die ich erst noch lernen muss.«

Hokanu lächelte. »Vielleicht können wir für Unterricht sorgen.«

Kasumi schlug ihm spielerisch auf den Rücken. »Ich habe mehrere Barbaren gefragt. Aber dummerweise waren sie alle tot.«

»Ich habe hier zwei, die es nicht sind.«

Kasumi schaute an seinem Bruder vorbei und entdeckte Laurie, der einen ganzen Kopf größer war als alle anderen Sklaven, die sich hier versammelt hatten. »Das sehe ich. Nun, wir werden ihn fragen. Vater, mit deiner Erlaubnis werde ich jetzt zum Haus zurückreiten und alles für dein Kommen vorbereiten lassen.«

Kamatsu umarmte seinen Sohn erneut und willigte ein. Kasumi stieg wieder auf und ritt nach einem kurzem Winken davon.

Hastig kehrten Pug und Laurie wieder auf ihre Plätze auf dem Wagen zurück. »Hast du schon mal solche Wesen gesehen?«, erkundigte sich Laurie.

Pug nickte. »Ja. Die Tsurani nennen sie Cho-jas. Sie leben wie die Ameisen in großen Haufen. Die Tsurani-Sklaven, mit denen ich im Lager gesprochen habe, haben mir erzählt, dass sie dem Kaiserreich treu ergeben sind, aber ich meine mich erinnern zu können, dass irgendjemand mir erklärt hat, dass jeder Schwarm seine eigene Königin hat.«

Laurie spähte nach vorn am Wagen vorbei. Er musste sich dazu mit einer Hand festhalten. »Ich möchte keinem zu Fuß begegnen. Schau nur, wie die rennen.«

Pug sagte nichts. Die Bemerkung des ältesten Shinzawai-Sohns über die Kurzen unter den Bergen hatte alte Erinnerungen in ihm wachgerufen. Wenn Tomas noch lebt, dachte er, dann ist er jetzt ein Mann. Wenn er noch lebt.

Das Herrenhaus der Shinzawai war riesig. Mit Ausnahme von Tempeln und Palästen war es das größte einzelne Gebäude, das Pug je gesehen hatte. Es stand oben auf einem Hügel, und von dort aus hatte man einen meilenweiten Blick über die Landschaft, die es umgab. Das Haus war eckig wie das in Jamar, aber es war einige Male so groß. Das Stadthaus hätte leicht im zentralen Garten dieses Gebäudes Platz gefunden. Dahinter lagen die Nebengebäude, das Kochhaus und die Sklavenunterkünfte.

Pug verrenkte sich den Hals, um sich den Garten anzusehen, denn sie gingen hastig hindurch, und er hatte nur wenig Zeit, um alles in sich aufzunehmen. Der Hadonra Septiem schalt ihn. »Trödle nicht.«

Pug beschleunigte seinen Schritt und holte Laurie ein. Aber selbst auf den ersten kurzen Blick war der Garten eindrucksvoll. Mehrere Schattenbäume standen neben drei Tümpeln, welche wiederum inmitten von Miniaturbäumen und blühenden Pflanzen lagen. Es gab Steinbänke, auf denen man ausruhen konnte, und überall führten Kieswege entlang. Um diesen kleinen Park herum erhob sich das Haus. Es war drei Stockwerke hoch. Die beiden oberen hatten Balkone, und mehrere Treppen führten hinauf. Man konnte Bedienstete sehen, die auf den oberen Ebenen entlangeilten. Doch im Garten schien außer ihnen niemand zu sein.

Sie erreichten eine Schiebetür, und Septiem wandte sich zu ihnen um. Streng erklärte er: »Ihr beiden Barbaren werdet euch vor den Herren dieses Hauses benehmen. Oder, bei den Göttern, ich werde jeden einzelnen Zentimeter Haut auf eurem Rücken mit der Peitsche bearbeiten. Jetzt seht zu, dass ihr alles tut, was ich euch gesagt habe, oder ihr werdet euch noch wünschen, Meister Hokanu hätte euch in den Sümpfen zurückgelassen, um dort zu verfaulen.«

Er schob die Tür zurück und kündigte die Sklaven an. Sie erhielten den Befehl einzutreten, und Septiem drängte sie hinein. Sie befanden sich in einem hell erleuchteten Raum. An den Wänden hingen Wandteppiche, Gemälde und Schnitzereien, alles sehr fein gearbeitet, kunstvoll und zart. Gemäß der Sitte der Tsuranis war der Boden mit einer dicken Lage aus Pelzen und Kissen bedeckt. Auf einem großen Polster thronte Kamatsu, der Herr der Shinzawai. Ihm gegenüber saßen seine beiden Söhne. Alle trugen die kurzen Roben aus kostbarem Stoff, die sie immer anhatten, wenn sie nicht arbeiteten. Pug und Laurie blieben mit gesenktem Blick stehen, bis man sich an sie wandte.

Hokanu sprach als Erster. »Der blonde Riese wird Loh-’re gerufen, und der normalgroße heißt Puug.«

Laurie öffnete schon den Mund, aber Pug brachte ihn mit einem kurzen Stoß in die Rippen zum Schweigen.

Dem älteren Sohn entging dies jedoch nicht, und er fragte: »Wolltest du etwas sagen?«

Laurie blickte auf, schlug dann jedoch schnell wieder die Augen nieder. Die Anweisungen waren klar gewesen: Nicht reden, ehe es befohlen wurde. Laurie war sich nicht sicher, ob die Frage ein Befehl war.

Der Herr des Hauses forderte ihn auf: »Sprich.«

Laurie schaute Kasumi an. »Ich bin Laurie, Herr, nicht Lori. Und mein Freund heißt Pug, nicht Puug.«

Hokanu wirkte beleidigt darüber, dass man ihn verbessert hatte. Der ältere Bruder aber nickte und wiederholte die Namen so lange, bis er sie korrekt aussprach. Dann sagte er: »Seid ihr schon einmal auf Pferden geritten?« Beide Sklaven nickten. »Gut. Dann könnt ihr mir zeigen, wie man es am besten macht.«

Pugs Blick schweifte umher, so gut es ihm mit gesenktem Kopf gelang. Aber etwas stach ihm ins Auge. Gleich neben dem Herrn der Shinzawai stand ein Spielbrett, und darauf waren Figuren, die ihm bekannt vorkamen. Kamatsu bemerkte seinen Blick.