Die mit dem Hund tanzt - Maike Maja Nowak - E-Book

Die mit dem Hund tanzt E-Book

Maike Maja Nowak

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Beschreibung

Der Hund als „Türöffner“ zur Seele des Menschen

„Malou hat seine Menschen voll im Griff. Sein Frauchen kann vor Liebe die Augen nicht von ihm lassen ...“ Was Hundeflüsterin Maja Maike Nowak mit Malou, aber auch mit dem ängstlichen Boris und seinem mädchenhaften Frauchen, dem Paar mit dem Jack-Russel und dem Foxterrier, dem überforderten Antonio, Helen und Victor, dem ungleichen Duo Dackel und Oskar und vielen anderen zwei- und vierbeinigen Klienten erlebt hat, erzählt sie hier in ebenso unterhaltsamen wie erhellenden Fallgeschichten. Bei Nowak geht es stets genauso um die Hunde wie die Leute, die sie sich halten, das macht diese tierisch menschlichen Geschichten so einzigartig und fesselnd.

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Seitenzahl: 297

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Autorin Maike Maja Nowak wurde durch ihre 17-jährige Beobachtung der sozialen Gemeinschaft von wilden Hunden und Haushunden zu ihrem Ansatz inspiriert, ohne Dressur zu arbeiten und begründete mit vier Bestsellern eine neue Sicht auf Hunde. Nach ihrem Studium der Hundepsychologie und Verhaltenstherapie 2002, wandte sich bald ab von allen Inhalten der Zwangskonditionierung. Die gelehrten Inhalte unterschieden sich für sie zu stark von den Eindrücken, die sie in ihrem Zusammenleben mit zehn wilden und halbwilden Hunden in dem russischen Dorf Lipowka gemacht hatte. Von 1991 bis 1997 erlebte sie, wie Wanja, der Leithund dieser Gruppe, das zehnköpfige Rudel souverän, kompetent und freundlich durch jede Alltagssituation führte. Vorbei an freilaufenden Hunden, immer im Zusammenschluss, klärend im Verbund untereinander. Ohne Bestechung. Ohne Methode. Er führte auf natürliche Weise. Das reichte.

 

Maike Maja Nowak

Die mit dem Hund tanzt

Tierisch menschliche Geschichten

 

Für Wanja

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen. 1. Auflage

Originalausgabe März 2011

© Wilhelm Goldmann Verlag, München, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur

Umschlagfoto: knut koops photography, Berlin

Redaktion: Manuela Knetsch

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-05553-0V005

www.mosaik-goldmann.de

 

Ein Hund gehört niemandem.

Nur seine Fähigkeit zur Freundschaft

und seine Möglichkeit zu lieben

erlauben ihm

zu verschenken,

was niemandem gehört.

Maike Maja Nowak

Vorwort

Ich bin eine Zeitreisende.

Ich kenne die Zeit vor der Wende und die danach.

Ich machte mich auf Großes gefasst, als der Westen im Osten Platz nahm.

Es blieb bei einer Himmelsrichtung weniger und hundert Joghurtsorten mehr.

Ich musste vom Fortschritt in den Rückschritt reisen, um etwas zu finden, das mich Neues lehrt.

100 Jahre zurück.

In eine Welt der Jahreszeiten.

Der Ernte.

Der Handwerkszeuge.

Der gebeugten Rücken.

Des Abendstolzes.

Mit einem Flugzeug bis Moskau.

Mit einem Zug durch die Nacht in das Städtchen Sassowo.

Mit einem Klapperauto auf holprigen Straßen, die irgendwann enden.

Mit einem Pferdewagen durch den russischen Wald.

Mit einem Schlauchboot über den Fluss.

Mit den eigenen Beinen durch eine Landschaft ohne Fußweg.

Mit den Füßen durch den Sand des Dorfes, Lipowka.

Zu einem großen Holzhaus.

Meinem Zuhause von 1991 bis 1997.

Im ersten Frühjahr kam Wanja.

Er schwamm durch die Schneeschmelze und das Eiswasser der Flüsse.

Ein bunt gescheckter Hund mit klugen Augen.

Ein Jäger, wie die Bauern sagten.

Ein Waldbewohner.

Er blieb bei mir.

In meinem Holzhaus.

Ihm folgten weitere Vorboten für mein Leben.

Die Hunde Alma, Anton, Felix, Laska, Bambino, Husar, Dschiko, Miloj, Baba, Diek und Wasja kamen auf wundersamen Wegen zu mir.

Wurden sie mir geschickt für eine wichtige Lektion?

Waren es seltsame Zufälle?

Ich bin froh, dass ich damals das Angebot einer Bäuerin, mir die Zukunft vorauszusagen, ungläubig ablehnte. So blieb ich weiter Liedermacherin und wusste nichts von meiner Zukunft als Hundetrainerin.

Hätte ich sonst so unbefangen beobachten können, wie Wanja das große Rudel wechselnder Hunde führte? Hätte ich die Gelassenheit besessen, KEINE Schlüsse zu ziehen und das Zusammenleben der Hunde einfach in mich aufzunehmen? Jeder Beruf setzt Ehrgeiz frei.

»Nach welcher Methode gehen Sie mit Hunden um?«, werde ich heute oft gefragt.

»Nach welcher Methode führen Sie Beziehungen?«, frage ich dann zurück.

Sicher drückt sich in der menschlichen Sehnsucht, für alles eine Methode finden zu wollen, ein Urinstinkt nach Effizienz und Kraftersparnis aus. In einigen Lebensbereichen jedoch hält uns das Suchen nach einer Methode davon ab, näher hinzusehen, zu entdecken und uns überraschen zu lassen vom eigenen Instinkt.

Auch ich musste offenbar erst einmal Methoden lernen und anwenden, um sie verwerfen zu können. Nach meinem Studium der Hundepsychologie lehrte ich zum Beispiel Leinenführigkeit in meiner Hundeschule, dem Dog-Institut, nach genau den Methoden, die die Studieninhalte bereithielten:

Wenn der Hund zieht: stehen bleiben oder die Richtung wechseln. Diese Methoden, nicht mehr von A nach B zu kommen, waren so frustrierend für Hund und Mensch, dass ich darüber nachzudenken begann, wie mein Leithund, Wanja, diese Situation gelöst hätte. Er hätte einem Hund nicht gesagt, wo er zu laufen hat, sondern, wo er gerade nicht zu laufen hat. Ich begann, den Raum zu weit vor mir einfach zum Tabu zu erklären, und plötzlich liefen die Hunde tatsächlich da, wo ich es wollte. Anfangs knurrte ich noch, wenn ich »Stopp« sagen wollte. Dann ersetzte ich dieses Geräusch mit einem menschlicheren »Scht«. Auch widerstrebte es mir immer mehr, mit Konditionierungen einen Hund zu einer Konditionierungsmaschine zu machen und letztlich seine eigene Sprache nicht zu nutzen. Ich verabschiedete mich immer mehr von menschlichen Lehrinhalten über Hundeerziehungsfragen und widmete mich vollständig der Art, wie Hunde miteinander kommunizieren und sich erziehen. Dies begann ich auf eine menschliche Handhabung zu übertragen.

„Sitz“ und „Platz“ verwende ich bei meinen Hunden nicht – mich interessieren einfach alle Anregungen aus der Hundewelt mehr, als Ideen, die einem Kontrollzwang unterworfen sind. Hunden im sozialen Verbund ist echter Kontakt wichtig und ihre Kommunikation findet über die Wahrnehmung von Energiefeldern, über Präsenz und Körpersprache statt. Wir Menschen erfinden leblose Dressurtechniken, um den Hüte- oder Herdenschutztrieb eines Hundes kontrollieren zu können, obwohl jeder authentische Leithund und jede Hundemama vormachen, wie es ohne geht. Diese Leblosigkeit weist auf unser eigenes Seelenleben hin. Die umfassende Beziehungsfähigkeit unserer Hunde vor der Dressur ist für uns eine Chance, wieder echten Kontakt und Beziehung anzufühlen.

Ich habe erlebt, wie Wanja zehn Hunde mit einem einzigen Laut hinter sich brachte, um Konflikte mit anderen Dorfhunden zu vermeiden. Er besaß keine Methode. Er besaß kein Geheimnis – nur Sanftmut, Souveränität, Fairness und Bestimmtheit, die aus ihm ein Leitwesen machten.

Wanja und 5000 weitere Hunde, mit denen ich inzwischen arbeiten durfte, sind meine Lehrmeister für alles, was ich heute lehre. Nachdem ich mich von der Idee verabschiedet hatte, Menschen könnten mehr über Hunde wissen als ein Hund selbst, begann ich Hunde zu sehen.

Alle zeigten mir wichtige Grenzen, neue Irrtümer, Entdeckungen, Wege, und vor allem brachten sie mir bei, wach zu bleiben und sehend. Sich nicht auf Methoden festzulegen, um nicht blind zu werden gegenüber Wesen jeglicher Art und Situationen, in denen Methoden versagen. So ist dieses Buch auch kein Buch über Hundeerziehungsmethoden, sondern über Beziehungen und die Möglichkeiten, sie zu führen.

Täglich schließen mir Menschen bei meinen Hausbesuchen ihre Tür und mitunter auch ihr Herz auf. Der Schlüssel ist immer ein Hund. Das Problem ist eine fehlende gemeinsame Sprache.

Menschen stammen von Wesen ab, die sich auf die Brust schlagen und laut brüllen, wenn sie Anspruch auf einen Status erheben. Deshalb können wir nur lernen von der souveränen, freundlichen Art der Gattung Hund.

Führung darf leise sein – und neu erlernt.

Viel Spaß dabei wünscht Ihnen

Maike Maja Nowak

Nachtrag 2019

Acht Jahre sind seit dem Erscheinen meines Erstlings vergangen. Je mehr ich mich der ursprünglichen Welt der Hunde aufschloss, umso mehr eröffneten sie mir ihre, aber auch meine eigene innere Welt. Ich wurde mir immer mehr der Tatsache bewusst, dass wir die Echtheit der Tiere nur in genau dem Maße wahrnehmen können, wie wir selbst authentisch sind. Schauen wir durch die Brillengläsern erlernter Glaubenssätze, wiederholen wir automatisch, was andere vor uns lebten oder wiederholten – eine neue Betrachtungsweise entsteht nicht. Die weiteren Jahre widmete ich also nicht nur dem Studium der Hunde, sondern verstärkt auch meiner eigenen Entwicklung und der unserer Gesellschaft insgesamt. Die Hunde begleiteten mich dabei in einer einzigartigen, großzügigen Weise. Sie lebten mir vor, wie es ist, keinen Ergebnissen nachzujagen und sich selbst und andere einfach in Prozessen zu begleiten und zu erkunden. So kümmere ich mich heute zum Beispiel nicht mehr um ein formuliertes Anliegen wie: „Er soll aufhören zu jagen.“– sondern ausschließlich um den Prozess, der dem vorausgeht. Es fühlt sich wunderbar an, den Druck der Ergebnisorientiertheit zu verlassen und das Erstaunen und die erwachte Neugier in den Gesichtern der Menschen zu erleben, die plötzlich die Welt ihres Hundes entdecken und sich dazu in Beziehung setzen können. Alle meine Bücher dokumentieren meine eigene innere Reise und die anderer Menschen – mit Hilfe der Hunde. Ich wünsche Ihnen alles Liebe auf Ihrem eigenen Weg. Maja Nowak

Grüße

Sie ist eine mädchenhafte, hübsche Frau von vielleicht 50 Jahren. Ihre Figur ist grazil, und sie hat samtene, zu einem spanischen Knoten gebundene Haare. Mit mandelförmigen, rätselhaft dunklen Augen blickt sie mich an. Ihre Stimme ist überraschend tief für ihren zarten Körper.

»Gut, dass Sie kommen, jetzt bin ich aber froh. Mein Boris macht mir wirklich Sorgen. Ich hoffe, Sie können ihm helfen.« Ihr Tonfall ist warm und aufgeräumt.

Boris, ein Italienisches Windspiel, bellt schüchtern unter einem Tisch hervor.

Meine Augen nehmen die Wohnungseinrichtung wahr. Sie wirkt seltsam »verstreut«. Es scheint alles vorhanden, aber nichts bildet eine vertraute Gemeinschaft. Ein Sofa steht allein an einer Wand, ein Sessel duckt sich in eine Ecke. Ein Tisch hält Abstand von einem Fenster. Die zu ihm passenden Stühle sind im Nachbarraum verteilt. Alle Wände leuchten jungfräulich weiß. Ein junger Mann lehnt lässig in einem Türrahmen. Er bildet die einzige Dekoration.

Er nickt, als mein Blick ihn trifft.

Die Frau kommt gerade von einer Reise zurück und berichtet von der langen Fahrt im Stau.

»Das ist Peter«, stellt sie den dekorativen Jüngling vor. »Er ist gefahren. Ich habe keinen Führerschein.« Sie schmückt diesen Satz mit einem koketten Lächeln, welches andeuten könnte, dass andere Dinge ihr wichtiger scheinen, als einen Führerschein zu besitzen.

»Mein Borischen regt sich schrecklich auf, wenn wir andere Hunde treffen. Er bellt wie verrückt, und ich kann ihn kaum halten. Ich kann in keinem Café sitzen, ohne dass er sich über jeden vorbeilaufenden Hund aufregt. Das muss aufhören«, sagt sie und streicht Boris zärtlich über den Kopf. »Außerdem hört er leider gar nicht.« Es liegt Gleichmut in ihrer Stimme, der das Bedauernde der Worte nicht teilt.

Ich möchte sein Verhalten mit eigenen Augen sehen, und wir gehen zusammen auf die Straße. Ein uralter Artgenosse schlurft auf der anderen Seite der breiten Kastanienallee neben seinem ebenso betagten Herrchen.

Boris klemmt seinen für die Rasse ohnehin typisch eingeklemmten Schwanz noch enger an den Bauch, zittert und legt die Ohren ängstlich an. Dann bellt er nicht nur in die Richtung des weit entfernten Hundes, sondern vorsichtshalber in jede Richtung, so als könnten überall und jederzeit Hunde wie Pilze aus dem Boden schießen. Die Leute bleiben verwundert stehen, weil sie keinen Anlass für die Kampfansage erkennen können.

Die Frau hält mit aller Kraft den Hund an der zum Zerreißen gespannten Leine. »Borischen, so was macht man doch nicht, du Dummerchen. Da gucken doch alle.«

Boris, durch den lobenden Tonfall angespornt, legt noch einen Zahn zu und beißt um sich.

Wir flüchten in den großen begrünten Innenhof des Wohnhauses. Ehe ich etwas sagen kann, leint die Frau den Hund ab. Boris verschwindet sofort in einen Busch. Danach sieht man ihn pfeilartig von links nach rechts schießen und wieder verschwinden. Er würdigt uns keines Blickes. Uns könnte ein Marsmensch entführen oder der Erdboden verschlingen – er würde es nicht zur Kenntnis nehmen.

»Rufen Sie ihn bitte einmal«, sage ich zu der Frau.

Sie blickt mich erstaunt an und erwidert mit ihrer tiefen, wohl modulierten Stimme sehr kokett: »Aber er kommt doch nicht.«

»Könnten Sie ihn dann mal holen?«, frage ich und spanne damit kurz entschlossen den jungen Mann ein, der gerade gelangweilt gähnt. Auch er blickt mich erstaunt an, wenn auch aus anderen Gründen. Widerwillig rappelt er sich hoch und geht betont langsam auf die Suche nach Boris. Tatsächlich kommt er nach einer Weile mit ihm zurück.

»Dann möchte ich Ihnen jetzt die ersten Grundlagen meiner Führung zeigen«, sage ich und spüre sofort, wie unangemessen dieser förmliche Satz bei dieser Frau wirkt. Er zerstäubt an ihrem verträumten Blick wie die Samen einer Pusteblume.

»Boris wird an einem Platz meiner Wahl bleiben, und ich werde stattdessen umherlaufen«, fahre ich fort und erhöhe die Spannung.

Der junge Mann sieht mich interessiert an.

Der Mund der Frau öffnet sich leicht.

Ich befestige eine Leine an Boris, bringe ihn zu einer Decke mitten auf der Wiese, mache eine winzige, aber energische Bewegung mit dem Kopf, die seine Bewegung einschränken soll, und gehe wieder.

Boris blickt mich erstaunt an, denkt nach und setzt eine Pfote von der Decke. Ich warne ihn mit einem Geräusch und blockiere, indem ich einen Schritt auf ihn zugehe, den Raum, den er sich nehmen will. Er nimmt die Pfote wieder auf die Decke, schüttelt sich, lässt sich fallen und rollt sich zusammen.

Ein weiteres Training ist nicht möglich. Boris hat sich schlafen gelegt. Die Reise hat auch ihn offenbar sehr angestrengt.

Der Mund der Frau ist jetzt weit geöffnet. Der junge Mann lehnt sich nach vorn, um das Ganze besser sehen zu können.

»Aber Sie haben doch gar nichts gemacht«, sagt die Frau ratlos.

»Doch, doch«, entgegne ich und weise auf den Hund, »in seiner Sprache schon.«

»Und warum bleibt er da jetzt liegen und schläft?« Ich höre die Stimme des jungen Mannes zum ersten Mal.

»Weil ich jetzt seinen Job übernommen habe und er sich auf mich verlässt, hoffe ich.«

Ich weise die beiden jedoch darauf hin, dass Boris nicht nur ein sehr leichtführiger, sondern offenbar auch ein gerade sehr müder Hund ist. »Das klappt nicht mit jedem Hund so schnell«, enttarne ich die Blitzkur.

Die Frau und ich verabreden uns auf dem Gelände des Dog-Instituts, um mit meiner Hündin Frieda zu trainieren. Ich möchte der Frau zeigen, wie man Boris von seinen Scheinangriffen abbringen kann.

»Wo finde ich das Gelände denn?«, fragt die Frau plötzlich ganz kindlich.

»Kommen Sie mit den Öffentlichen?«, frage ich zurück.

»Vielleicht«, antwortet sie.

»Von der S-Bahn-Station Wollankstraße sind es noch 300 Meter. Sie könnten mal im Internet schauen.«

»Oh, das Zubehör dazu liegt bei mir noch herum und muss erst angeschlossen werden. Gut, dass Sie mich erinnern. Da muss ich mal den Günther anrufen oder den Thomas«, sagt sie mehr zu sich selbst.

»Sie können auch einfach auf einen S-Bahn-Plan oder einen Stadtplan schauen«, schlage ich vor.

Sie blickt mich unschlüssig an. »Kein Problem, ich finde da jemanden, der mir so was besorgt. Mich könnte auch jemand mit dem Auto fahren. Das ist kein Problem.«

Sie kommt mit einem Auto vorgefahren, das ein älterer Mann lenkt. Ihre hübsche, figurbetonte Jacke ist sehr dünn und der Herbstmorgen kühl.

Der Mann fährt winkend wieder ab.

Boris zieht eifrig schnüffelnd seine Bahnen über das Gelände und ignoriert völlig, dass die Frau am anderen Ende der Leine hängt. Als sie sich 200 Meter entfernt haben, rufe ich: »Sie könnten dann hierher zum Training kommen.«

»Aber Sie sehen doch, dass der Hund in die andere Richtung zieht«, ruft sie ehrlich verzweifelt zurück. Sie wirkt dabei ebenso hilflos wie anmutig. Ich kann Männer gut verstehen, in denen bei ihrem Anblick der Ritter erwacht.

»Einfach hierherkommen. Der Hund folgt dann schon«, rufe ich pragmatisch. »Ja, ja, genauso«, feuere ich sie an, weil ihr Gang noch sehr zögerlich ist.

Bei mir angekommen, biete ich ihr einen Klappstuhl an. Ich möchte ihr heute zeigen, dass es nicht Boris ist, der sich ändern muss.

Davon weiß sie noch nichts.

Sie soll sitzen, während ich es ihr klar mache.

Ich nehme Boris an die Leine und laufe mit ihm über das Gelände. Ich zeige ihm mit einem zielstrebigen, ruhigen Gang, dass ich alles im Griff habe und genau weiß, was zu tun ist. Er hält sich sofort neben mir, er bleibt weder stehen noch schnüffelt er.

Wenn er zu mir hochschaut, lächle ich oder brumme: »Guter Hund, prima.« Wir sind ein tolles Team, und natürlich klappt das nicht immer auf Anhieb so wie mit ihm. Das ist wie bei uns Menschen. Wenn die Chemie stimmt, geht alles sofort wunderbar.

Die Frau schaut dem Geschehen zu. Ihre Augenlider bleiben dabei apart auf »Halbjalousie«. Ab und zu überprüft sie den Sitz ihrer Jacke. Sie reibt sich frierend die Hände, lehnt aber das Angebot einer Decke nach einem entsetzten Blick auf deren Muster ab.

Ich zeige Boris, dass er an einem Platz fünf Meter gegenüber von meinem Auto bleiben soll, indem ich meinen Körper leicht nach vorn neige und den Raum vor ihm blockiere.

Boris setzt sich.

Als ich die Autotür öffne und meine Hündin Frieda herausspringt, geht sein Kopf nach vorn. »Ssst«, warne ich und blicke streng in seine Richtung. Angsthasen brauchen Führung und Selbstbewusstsein. Erstere kann ich Boris geben, Zweiteres bekommt er mit jeder neuen Situation, die er fortan besteht.

Ich gehe mit Frieda umher.

Boris stürzt nach vorn. Ich nehme ihm den unerlaubten Raum sofort wieder ab und dränge ihn mit meinem Körper zurück zur Decke. Frieda bedeute ich, zu warten.

Sie lässt sich auf die Wiese fallen und blickt mich blinzelnd an. »Ist das auch wieder ein Hund, der sehr krank ist?«, scheint ihr Blick zu fragen.

Boris bellt hysterisch. Ich rufe energisch »Hee!« und stupse ihn mit zwei Fingern warnend in die Seite.

Er hört auf zu bellen.

Ich nehme ihn an der Leine und laufe mit ihm erneut über das Gelände. Er schaut sich ab und zu nach Frieda um, und ich korrigiere ihn jedes Mal mit einem Warngeräusch. Er soll lernen, andere Hunde zu ignorieren.

Besonders, wenn sie schläfrig in die Herbstsonne blinzeln.

Wir nähern uns Frieda laufend, bis wir sie erreichen und ich beim Laufen ihre Leine aufnehmen kann.

Boris will hinter mir zu Frieda durchbrechen. Ich halte ihm kommentarlos mein angewinkeltes Bein vor die Nase.

Langsam respektiert er die neue Regel, dass dieser Hund hier zu ignorieren ist, und beruhigt sich.

Wir können zu dritt über das Gelände laufen.

Die Frau lächelt. »Toll macht ihr das. Heißt das jetzt, dass Boris geheilt ist?«, fragt sie.

Ich lache. »Nein, es liegen noch viele Hunde vor Ihnen. Dieses Verhalten von Boris ist bereits erlernt, und er muss es erst wieder verlernen. Ich wollte Ihnen nur zeigen, wie schnell er dazu in der Lage ist, wenn man ihm Sicherheit gibt und Regeln.«

»Ich kann das aber nicht«, sagt die Frau erschrocken.

»Wenn ich ganz offen bin, glaube ich auch, dass es zu früh ist.«

Sie schaut mich überrascht an. »Zu früh für was?«, fragt sie unsicher.

»Für Sie«, antworte ich freundlich. »Ich kenne Sie ja erst seit Kurzem, und korrigieren Sie mich, wenn ich mich irre, aber ich habe bisher den Eindruck gewonnen, dass Sie noch keine Verantwortung übernehmen möchten und sich sicherer fühlen, wenn es andere tun. Sie müssten jedoch sofort Verantwortung für Boris und viele Lebenssituationen übernehmen, damit ich mit Ihnen arbeiten kann.«

»Woher wissen Sie das nach so kurzer Zeit? Das stimmt«, sagt sie und blickt mich offen an.

Ich bin überrascht, dass sie sofort weiß, was ich meine.

»Vielleicht kann Boris eine Chance sein, sich an Neues zu wagen?«, antworte ich mit einer Gegenfrage.

»Ich würde mich wirklich von Herzen freuen, wenn Sie sich dazu entschließen, und ich bin dann zu allem bereit.«

Sie schüttelt ungläubig den Kopf. »Dass Sie das so schnell gemerkt haben. Ja, ich denke darüber nach und melde mich.«

Dieser Vereinbarung folgt kein weiterer Kommentar.

»Könnten Sie mich bitte mit zurücknehmen?«, fragt sie ängstlich, als sie sieht, dass ich aufbrechen will.

Sie wirkt wie ein verlorenes Kind im Dschungel der Großstadt.

Natürlich nehme ich sie mit, und ich rechne nach unserer Verabschiedung nicht wirklich damit, sie wiederzusehen. Sie ist mir auf seltsame Weise ans Herz gewachsen. Rührung ist wohl das beste Wort für mein Gefühl.

Tatsächlich meldet sie sich jedoch auf ihre eigene Weise.

Ein Mann ruft mich an und sagt: »Die Besitzerin von Boris in meiner Straße hat Sie mir wärmstens empfohlen. Kann ich eine Einzelstunde haben?« Kurz darauf bucht eine Frau einen Kurs bei mir und erzählt: »Also, ich treffe immer eine Frau mit einem Windspiel, und die hat gesagt, ich muss unbedingt bei Ihnen trainieren.«

Inzwischen sind Monate vergangen, und ich hatte sicherlich an die 30 neue Kunden durch die Empfehlung dieser Frau.

Ich grüße sie hiermit herzlich zurück.

Ich warte noch immer auf SIE.

Das Paar

Der Mann fällt mir schon im Kurs auf.

Er hat die Anmutung eines schmächtigen Jungen in der Hülle eines 40-Jährigen. Sein Kinn doppelt sich, obwohl es an sich nicht dick ist, und nimmt seinem Gesicht jede markante Männlichkeit. Ein Mundwinkel ist dauerhaft zu einem ironischen Ausdruck nach unten gezogen. Die Augen blicken misstrauisch und mit leichter Verachtung in die Welt.

Seine Frau ist eine dünne Blondine, die ängstlich um ihn herumhuscht und versucht, ihm alles recht zu machen. Sie arbeitet unermüdlich als Entschärferin der Bomben, die ihr Mann in seine Sätze legt, wenn er mit ihr oder anderen spricht.

»Das ist doch Blödsinn«, sagt er zum Beispiel während einer Übung mit seinem Hund, die er wie alles Übrige verweigert.

»Aber schau mal, es klappt doch. Probier es doch einmal aus, sie meinen es doch nur gut hier«, fleht seine Frau und macht die Übung selbst.

Sie sind mit einem Jack-Russell-Terrier, der einmal bei Hundeausstellungen glänzen soll, in der Welpengruppe. Das Gesicht der Frau glüht beim Ausspruch dieser Hoffnung.

Ein Jahr später erhalte ich von der Frau einen Anruf, dass sich der Jack Russell inzwischen mit ihrem älteren Foxterrier beißt und sie nicht mehr weiß, was sie machen soll.

Ich fahre zum Hausbesuch und finde zwei Hunde vor, die eigentlich nichts gegeneinander haben, sondern nur gegen die Rollen, in die sie täglich gedrängt werden.

Die Frau ist äußerst verletzt, dass ihr Mann den Jack Russell vorzieht und den Foxterrier ablehnt. Da sie bei diesem ersten Hausbesuch allein ist, kann sie offen sprechen. Sie schaut mich mit riesigen blauen Kulleraugen an und hat viele gute Fragen.

Da sie davon ausgeht, dass Hunde gleichberechtigt behandelt werden müssen, verschlimmert sie die Situation bezüglich der Bevorzugung des Jack Russells durch ihren Mann dadurch, dass sie selbst verstärkt den Foxterrier beachtet.

Beide Hunde befinden sich also ständig in diesem Spannungsfeld zwischen dem Paar.

Ich erkläre ihr an mehreren Beispielen, warum es unter Hunden keine Gleichberechtigung gibt. Wenn ein Leithund gerade durch Kontaktliegen oder Spiel einem anderen Hund Zuneigung schenkt, heißt das nicht, dass er es automatisch mit jedem Hund tun wird, der danach zu ihm kommt. Er entscheidet, mit wem er gerade Nähe möchte. Die Klarheit seiner Entscheidung äußert sich in einer ruhigen Ausstrahlung beziehungsweise Energie. Das schlechte Gewissen eines Menschen äußert sich in einer negativen Energie, die der Hund nicht als schlechtes Gewissen identifiziert, sondern eben als negative Energie, die immer im Zusammenhang mit dem anderen Hund auftritt. Folglich geht er davon aus, dass mit diesem anderen Hund etwas nicht in Ordnung ist und er diszipliniert werden muss.

Stellen Sie sich vor, Ihr Chef lobt gerade Ihre Arbeit in einem Einzelgespräch. Ein Kollege kommt herein. Da er auch gelobt werden will, setzt er sich zwischen Sie und Ihren Chef auf den Schreibtisch. Ihr Chef wendet sich sofort diesem Kollegen zu, lobt ihn und vergisst Sie. Käme dies mehrfach am Tag vor, würden Sie diesen Kollegen sicher nicht mehr mögen. Aber auch Ihr Chef würde Ihnen unberechenbar, manipulierbar und nicht mehr vertrauenswürdig erscheinen. Sie würden eventuell damit beginnen, genau wie Ihr Kollege Aufmerksamkeit einzufordern, indem Sie sich einfach vor die anderen drängen. Kurz darauf wäre das Gerangel unter den Mitarbeitern in vollem Gange.

Eine ähnliche Situation herrscht bei dem Foxterrier und dem Jack Russell. So gehen sie häufig aufeinander los, wenn einer von ihnen gestreichelt wird und der andere dazukommt, um sich dazwischenzuschieben.

Ich möchte der Frau zeigen, wie sie sich in Zukunft verhalten könnte.

Ich rufe den Foxterrier und streichle ihn. Sofort schießt der Jack Russell heran, um sich seinen Platz zu erobern. Ich schiebe ihn weg, ohne ihn überhaupt anzusehen, und streichle weiter den Foxterrier. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie verdutzt der Jack Russell ist und dass er noch einen Anlauf wagt. Ich schaue ihn streng an, mache ein Warngeräusch, und er geht daraufhin sofort in sein Körbchen und legt sich hin.

Mit dem Foxterrier veranstalte ich ein großes Trara, streichle ihn, lobe ihn und spiele mit ihm, um der Frau zu zeigen, wie entspannt der Jack Russell bleibt, wenn er nichts mehr zu entscheiden hat.

Danach gehe ich in eine andere Ecke des Raumes und rufe den Jack Russell. Dieser kommt unterwürfig, mit langsamen Bewegungen und kleinen Schwanzwedlern auf mich zu und leckt mir begeistert das Kinn.

Der Foxterrier nähert sich ebenfalls, um das Spiel fortzusetzen. Ich schaue ihn warnend an, er bleibt stehen und legt den Kopf schief. Kurze Zeit später legt er sich hin und beobachtet mich und den Jack Russell.

Die Frau staunt, weil die zwei Hunde, wie sie sagt, im Normalfall schon längst aufeinander losgegangen wären. Ich bitte sie, genau dasselbe wie ich zu tun, damit sie sieht, dass es bei ihr, solange sie die Entscheidungen trifft, genauso verläuft.

»Aber wenn ich einmal nicht dabei bin, und die beiden beißen sich?«, fragt die Frau, ungläubig staunend über das schnelle Ergebnis.

»Wenn Sie die Hunde richtig behandeln, haben sie keinen Grund mehr, sich zu beißen. Keiner von ihnen ist dominant oder aggressiv. Es ist eigentlich eher ein Wunder, dass Sie es geschafft haben, sie zum Beißen zu bringen«, sage ich.

Ich möchte sehen, welcher der beiden Hunde am stärksten kontrolliert. Mit einer Bewegungseinschränkung (Erklärung siehe »Kleine Hundekunde«) zeige ich beiden, dass sie in der Küche bleiben sollen, und verlasse mit der Frau den Raum. Der Jack Russell legt sich hin und rührt sich nicht, der Foxterrier kommt fünfmal hinterhergetappt, bevor er in der Küche sitzen bleibt. Er hechelt stark und erlebt offenbar einen Kontrollverlust.

Man sieht dem Jack Russell an, wie wenig Wert er darauf legt, Entscheidungen zu treffen, genau wie man dem Foxterrier anmerkt, dass er sich für alles verantwortlich fühlt und gerade für den Schutz der Frau sorgen möchte, die sich seinem Blickfeld entzieht.

»Wir brauchen unbedingt noch einen Termin mit Ihrem Mann«, sage ich. »Ich muss ihm selbst erklären, was es für einen Schaden anrichtet, wenn er dem Jack Russell durch übertriebene Zuwendung und Bevorzugung einen Status vorspielt, den er nicht hat. Wichtig wäre jedoch auch, dass Sie aufhören, den Foxterrier in eine Beschützerrolle zu drängen, die ihn überfordert. Ihre Kompensationsversuche versteht er ja nicht als solche.«

Wir verabreden einen Termin, an dem auch ihr Mann da ist, und ich bitte sie, ihren Ehrgeiz bis dahin nicht wieder darin zu sehen, ihren Mann von meinen Überlegungen überzeugen zu wollen. Das würde ich gern selbst tun. Da ich seinen Spott kenne, habe ich die Befürchtung, dass er alles, was ich bei seiner Frau gerade an Verständnis für die Situation habe aufbauen können, sogleich wieder einreißt.

»Es ist wichtig, dass zumindest einer von Ihnen sich jetzt erst einmal richtig verhält, damit es keine Missverständnisse unter den Hunden mehr gibt.«

Sie schaut mich fassungslos an. »Aber ich MUSS meinem Mann doch erklären, was richtig ist. Er wehrt ja immer alles ab.«

»Eben deshalb würde ich nichts erklären.«

Ich verschweige, dass ich auch vermute, dass er seinen Spott und sein Misstrauen gar nicht loswerden möchte. Wenn man einem Handwerker, der bisher alles mit einem Hammer erledigte, dieses Werkzeug zum Schraubeneindrehen plötzlich wegnimmt, wird er auch nicht gleich zum Schraubenzieher greifen, sondern empört seinen Hammer zurückhaben wollen.

Mir fällt dazu eine Geschichte ein, die sich in dem abgelegenen russischen Dörfchen abspielte, in dem ich nach der Wende mehrere Jahre lebte. Auch dort gab es ein Paar mit dieser Struktur – wenn auch mit völlig anderen Problemen.

Der alte Kolja war Alkoholiker. Abgesehen von der körperlichen Sucht war der Alkohol ein Werkzeug, das ihm in allen Lebenslagen half: bevor er sensen musste, nachdem er gesenst hatte, bevor er die Kühe hütete, während er die Kühe hütete, nachdem er die Kühe gehütet hatte, vor dem Einschlafen, nach dem Aufwachen, wenn seine Frau Nura mit ihm schimpfte, wenn es zu heiß war oder zu kalt.

Nura nun kämpfte seit 50 Jahren einen vergeblichen Kampf gegen die Trunksucht ihres Mannes. Nichts konnte sie davon abbringen zu glauben, dass ihre Argumente, Strafen und Drohungen ihn eines Tages verändern würden. Sie hielt ihm abends zu Hause lange Vorträge, um ihn von der Schädlichkeit des Trinkens zu überzeugen. Man hörte sie bis auf die Straße. Nur Kolja hatte bereits gelernt wegzuhören.

Sie verfolgte ihn oft durch das Dorf und drückte sich an die Wände der Holzhäuser, eine Geheimagentin mit Kopftuch, Schürze und Stock, um ihn dabei zu erwischen, wie er bei einer Babuschka Selbstgebrannten kaufte.

Dann erblindete Nura an grauem Star, was ihre Nachstellungen unmöglich machte und eine wochenlang währende Volltrunkenheit von Kolja zur Folge hatte. Daraufhin erfand sie eine neue Strategie. Sie schnappte sich seinen hinteren Jackenzipfel und folgte ihm, so angedockt, auf Schritt und Tritt. Der gutmütige Kolja ließ sich auch das gefallen, und irgendwann hatte er gelernt, ihre Anwesenheit genauso zu ignorieren wie ihre täglichen Vorträge. Einmal kaufte er eine Flasche Samagon, während Nura an seiner Jacke hing, einfach weil er vergessen hatte, dass sie da war. Sie war daraufhin so erbost, dass sie eine lose Zaunlatte vom Zaun um das Grundstück der Samagonverkäuferin riss und ihn nach Hause prügelte. Kolja hielt dabei die Flasche, die Nura nicht sehen konnte, noch immer in der linken Hand und versuchte – schnell laufend –, das Ausweichen vor der Zaunlatte und einige unbemerkte Schlucke aus der Flasche miteinander zu vereinbaren.

Ich denke, Sie können keinem Menschen etwas wegnehmen, das dieser nicht hergeben möchte. Sie können nur Grenzen setzen.

Nach dem Hausbesuch erhalte ich eine E-Mail der Frau. Sie schreibt mir, wie lange sie sich schon eine berufliche Veränderung wünscht und wie gerne auch sie mit Hunden arbeiten würde. Sie sitze als Verkäuferin an der Kasse eines Supermarkts und traue sich nicht, etwas anderes zu machen. Ermutigt durch meinen Berufswechsel im Jahr 2000, über den sie auf meiner Website las, erkundigt sie sich nun nach Möglichkeiten.

Als ich zum zweiten Hausbesuch eintreffe, hat sich der Mann bereits in Pose gesetzt. Die Beine weit gespreizt, das Becken nach vorn geschoben, sitzt er auf einem Küchenstuhl. Die Arme sind vor der Brust verschränkt, der Spott in den Augen ist überdeutlich.

Ich beschreibe ihm das Ergebnis der letzten Stunde.

»Das hat mir meine Frau schon gesagt«, meint er abschätzig.

Ich bitte ihn, dasselbe zu tun, was seine Frau beim letzten Mal getan hat. Er steht betont langsam auf und ruft den Jack Russell. Der springt auf ihn zu, an ihm hoch und schnappt ihn respektlos in den Hemdärmel. Der Mann streichelt ihn.

»Sie haben ihn gerade dafür gestreichelt, dass er respektlos zu Ihnen war«, sage ich.

Der Mann schnauft, und wenn Verachtung schäumen würde, so käme sie ihm jetzt sicher aus der Nase.

»Respektlos. Dass ich nicht lache. Das macht er nur, weil er mit mir spielen will.«

Ich schweige, um die Übung erst einmal zu Ende zu bringen.

»Sehen Sie, der andere Hund bleibt liegen. Bei mir beißen sie sich also nicht!«, sagt der Mann und deutet auf den Foxterrier, der keine Anstalten macht, ebenfalls beachtet werden zu wollen.

»Wir können die Situation umdrehen. Das ist interessanter. Sie streicheln den Foxterrier und schicken den Jack Russell weg«, sage ich ruhig.

Der Mann macht eine wegwerfende Handbewegung, die sagen könnte: Nichts leichter als das.

Er sagt »Sitz« zu dem Jack Russell und ruft den Foxterrier. Dieser blickt den Mann erschrocken an und bleibt, wo er ist. Der Jack Russell stürmt nach vorn und springt an dem Mann hoch.

»Nein, du jetzt nicht«, ruft der Mann dem Jack Russell zu, der sich daraufhin in seiner Forderung nach Aufmerksamkeit bestätigt fühlt und sein Bellen verstärkt.

Der Foxterrier duckt den Kopf ab und rührt sich nicht vom Fleck. »Na komm doch«, sagt der Mann irritiert und verliert sofort seine aufgesetzte Selbstsicherheit. Der Foxterrier schaut weg. Es ist deutlich zu sehen, dass er unsicher ist und Angst hat.

Ich teile dem Mann diese Beobachtung mit.

»Quatsch. Der hat doch keine Angst vor mir. Das ist nur, weil meine Frau dabei ist. Die verwöhnt den doch«, begehrt er auf.

»Das stimmt nicht. Er hat auch sonst oft Angst vor dir«, entfährt es der Frau, die sofort rot wird, erschrocken über ihre eigene Courage.

Der Mann ist nun restlos verstimmt und setzt sich wieder hin.

»Aber Schatz, schau doch, er hat doch auch Angst, wenn er mit dir allein Gassi gehen soll. Er will ja nie mit. Wir wollen doch daran etwas ändern«, fleht sie.

Ihr Mann zeigt deutlich seine Haltung dazu, indem er die Arme vor der Brust verschränkt.

Der Frau ist die Situation peinlich, und sie bittet darum, dass ich mir die Hunde einmal draußen anschaue, weil der Jack Russell wie verrückt an der Leine zieht.

»Der geht ja nie an der Leine«, sagt der Mann.

»Eben«, antwortet die Frau, »weil er an der Leine nicht gut läuft. Aber wenn wir zu Hundeausstellungen wollen, muss er das.«

»Bei mir wird er laufen«, behauptet der Mann.

Kaum hat er den Jack Russell draußen angeleint, springt der wie ein Jojo neben dem Mann auf und ab und beißt in den Griff der Leine und in den Jackenärmel des Mannes.

»Er will immer spielen«, sagt der Mann.

»Das hat mit Spiel nichts zu tun. Er verbittet sich, dass Sie ihn in seiner Bewegungsfreiheit behindern, weil er führt und nicht Sie«, erwidere ich.

Ich biete an zu zeigen, wie man den Hund führen könnte.

Der Mann gibt mir achselzuckend die Leine.

Der Jack Russell will gewohnheitsmäßig nach vorn springen, und ich schiebe ihn zackig, mit einer leichten Bewegung vor der Brust, nach hinten. Er blickt mich verdutzt an und geht noch einmal nach vorn. Dieses Mal drehe ich mich zu ihm ein, blockiere sehr entschieden den Raum vor uns und gehe dann sofort ruhig weiter. Das war’s. Der Hund bleibt hinter mir. (Eine Sache, die wir in den Führungskursen meiner Hundeschule jedem Hund-Mensch-Team beibringen.)

Die Frau äußert ihr Erstaunen: »Nun schau doch mal. Das ist ja ein Ding, jetzt läuft der plötzlich an lockerer Leine.«

»Na ja, die macht das mit den Hunden ja auch den ganzen Tag, deshalb klappt das. Wenn wir das machen, klappt es nicht«, ergänzt der Mann.

»Dann könnten Sie es doch jetzt einfach üben. Anders habe ich es auch nicht gelernt«, entgegne ich.

Der Mann nimmt lustlos die Leine. Sofort schießt der Hund an ihm hoch, zur Seite und nach vorn. Der Mann verfolgt ihn und versucht, von hinten auf ihn einzuwirken.

»He, nicht ziehen. Warte. Bleib. Hierher. Sehen Sie, das klappt nicht, habe ich ja gesagt. Kann ja auch nicht klappen. Wir haben das ja noch nie gemacht, wie soll der Hund das denn jetzt begreifen? Das geht auch nie, wenn meine Frau dabei ist. Sie muss das in erster Linie können, bei mir klappt das sonst …«

Dabei ruckt er wie von Sinnen an der Leine, und der Hund bekommt einen Kehlkopfkrampf.

Ich atme tief durch, schaue den Mann an und sage: »Das, was Sie gerade üben, müssen Sie noch nicht können. Dazu ist die Übung ja da. Bleiben Sie doch einfach ruhig, konzentrieren Sie sich einmal nur darauf, was Sie gerade machen. Der Hund will nach vorn, Sie schränken seine Bewegung ein, fertig. Machen Sie es doch einmal so, wie ich es Ihnen vorschlage, und wenn es dann nicht klappt, können Sie immer noch sagen, dass mein Vorschlag nichts taugt.«

»Ich habe gelesen, dass man an der Leine rucken soll«, erwidert der Mann.

»Das kann ich mir gut vorstellen«, antworte ich. »Das steht tatsächlich in sehr vielen Büchern. Nun rucken Sie ja aber schon eine Weile, und da stellt sich die Frage, ob es irgendetwas an dem Verhalten Ihres Hundes geändert hat.«

Die Frau schüttelt den Kopf, der Mann schweigt beleidigt.

»Darf ich das einmal an Ihnen selbst demonstrieren?«, frage ich. Der Mann hebt unentschieden die Schultern.