Die Schlange von Sirmione - Isabella Archan - E-Book

Die Schlange von Sirmione E-Book

Isabella Archan

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Beschreibung

Der Gardasee: Lago della morte? Eine Wiener Ermittlerin mit Biss soll eine Auszeit nehmen – und landet bei der italienischen Polizia. Sind Zornnattern giftig? Nein, aber Respekt sollte man ihnen aufgrund ihres temperamentvollen Verhaltens trotzdem entgegenbringen. Edwina Teufel ist eigentlich Chefinspektorin in Wien und durch ihren Biss absolut erfolgreich in der Verbrechensaufklärung. Dieser steht ihr – ebenso wie ihr hitziges Temperament – allerdings häufig im Weg, denn was sie gar nicht leiden kann, sind Gedankenlosigkeit und Nachlässigkeit. Gerechtes und sauberes Arbeiten ist ihr Credo. Und bei Schlampereien, die im schlimmsten Fall den Opfern oder deren Angehörigen schaden, droht der eine oder andere Wutausbruch im Bundeskriminalamt, weshalb Edwina von den Kolleg*innen gern "Zornnatter" genannt wird. Auf den Rat der Polizeitherapeutin hin nimmt sich Edwina schließlich ein Jahr Auszeit am Gardasee und möchte mit ihrem Toni das Dolce Vita genießen. Sabbatical mit Todesfolge Doch die eifrige Wiener Ermittlerin findet, dass es auch zu viel Far Niente gibt, und arbeitet ein paar Stunden in einem Fundbüro, um ihren Arbeitsdrang zu befriedigen. Als im Fundbüro eine Schlange abgegeben wird, ist das idyllische Leben in Bella Italia endgültig vorbei. Der Schlangenfinder wird am nächsten Morgen tot aufgefunden. Schnell spricht sich herum, dass es sich um den bekannten Eistüten-König von Sirmione handelt. Selbstverständlich heuert Edwina nun bei der Polizia an und mischt sich – ohne den Commissario Adriano Alceste immer in ihre Unternehmungen einzuweihen – tatkräftig in die Ermittlungen ein. La vita è bella – oder la vita è pericolosa? Isabella Archan nimmt uns mit an den Lago di Garda, aber sie geht nicht mit uns Pizzaessen und anschließend auf ein Glas Aperol Spritz mit Ausblick auf den See, während die Sonne romantisch in der Ferne untergeht. Nein, sie schleicht mit uns durch die Gassen von Sirmione und schickt uns zu einem Tortellinifestessen und einem Poesiewettbewerb, um eine*n Mörder*in zu finden. Schlagfertig, zielsicher und definitiv nicht auf den Mund gefallen: So mischt Edwina Teufel Sirmione auf!

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Isabella Archan

Die Schlangevon Sirmione

Ein Gardasee-Krimi

 

Das ist die Strafe für deine Sünde,

dass du sie nicht mehr für Sünde hältst.

Dante Alighieri (1265–1321), italienischer Dichter und Philosoph

A tutto c’è rimedio fuorché alla morte.

Gegen alles gibt es ein Mittel, außer gegen den Tod.

Sprichwort

Inhalt

Cover

Titel

Motto

Prolog

I – Furia – Wut

1

2

3

4

5

6

7

II – Paura – Angst

8

9

10

11

12

13

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15

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III – Desiderio – Sehnsucht

17

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19

20

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24

25

26

IV – Passione – Leidenschaft

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30

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V – Odio – Hass

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39

40

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44

VI – Dolore – Trauer

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48

Epilog

Bacio-Eis zum Selbermachen

Danksagung

Die Autorin

Impressum

Prolog

Der Fluchtinstinkt setzte Zehntelsekunden zu spät ein.

Sie hatte lediglich die Erschütterungen wahrgenommen, doch allzu träge reagiert. Der frühe Morgen war kühl, ihre Körpertemperatur noch nicht hoch genug, um ihr ein rechtzeitiges Entkommen zu ermöglichen.

Dass es zwei Metallhaken waren, an denen sie aus ihrem Versteck in die Höhe gehoben wurde, wusste sie nicht. Aber dass es unangenehm und ein wenig schmerzhaft war, sehr wohl. Sie züngelte hektisch. Der Stress nahm in Sekundenbruchteilen zu. Ein Druck, der auf ihre Körpermitte ausgeübt wurde, verstärkte sich. Sie begann sich zu winden, drehte sich hin und her, versuchte, den Verursacher zu orten. Ihr Kopf schnellte nach vorne.

Zubeißen wollte sie, nicht aus Böswilligkeit oder Aggressivität, allein nur, um sich zu verteidigen. Als Drohgebärde zischte sie. Es hörte sich an, als würde die Luft aus einem Schwimmreifen entfliehen. Zwei Scheinangriffe startete sie, ohne ihr Ziel zu kennen. Doch das giftige Sekret, das sie zum Jagen von Mäusen, Fröschen, Blindschleichen und anderen Tieren benötigte, sollte nicht einfach verschwendet werden.

Die Verteidigungsbisse aber gingen ins Leere. Mit ihrer Größe war sie keine Gefahr für diejenigen, die sie aus ihrer morgendlichen Ruhe gerissen hatten. Die gehörten auch nicht in ihr Beuteschema, ganz im Gegenteil. Hier und heute war sie diejenige, die überfallen wurde. Selbst, wenn sie einer logischen Analyse fähig gewesen wäre, wäre der Schock zu groß, um klare Gedankengänge fassen. Nichts hatte sie auf das Ereignis vorbereitet, nichts dergleichen war ihr in ihrem bisherigen Leben je geschehen.

In der Sekunde, als sie das dritte Mal ihr Maul aufriss, legte sich einer der Haken auf ihren Nacken, presste sie auf unbekannten Untergrund. Wieder tat es weh. Kein Gras, keine Erde, keine Steine mehr, sondern ein glattes Material, das sie noch nie an ihrer Schuppenhaut wahrgenommen hatte.

Der Stresspegel nahm zu. Ihre Gegenwehr ebenfalls.

„Sie zickt. Schau, wie sie sich bewegt. Aber sie kann nicht mehr entkommen. Herrlich. Ich fasse gleich ihren Kopf mit der Hand.“

„Pass auf, dass sie dich nicht erwischt. Dio mio!“

„Sei still. Ich muss mich konzentrieren. Schieb ihr das Schnapsglas mit der Folie ins Maul. Die Zähne, siehst du sie? Mach zu.“

„No, no! Mai! Niemals.“

„Das schaffst du. Los.“

Mit den Stimmen konnte sie nichts anfangen, sie hörte keine Schallwellen. Doch mit ihrem empfindlichen Innenohr und einer funktionierenden Hörschnecke registrierte sie die Bodenschwingungen, die die Töne erzeugten. Auch über die ungewohnte Fläche, auf die man sie niedergezwungen hatte, konnte sie die Vibrationen erfassen.

Schließlich wurde sie am Kopf gepackt. Etwas drückte sich gegen ihren Kiefer. Diesmal musste sie ihr Maul weit öffnen, sie hatte keine andere Wahl.

Ihre Sinne begannen sich zu bündeln, ihr ganzes Empfinden bestand nach und nach einzig aus dem Bedürfnis zu fliehen. Es war eine Welle greller Todesangst, die sie überrollte.

Eine Weile geschah nichts. Als wäre ihre ganze Welt erstarrt.

Dann wurde ihr Maul mehrfach gegen einen harten Rand gestupst, wurde unter Zwang geöffnet. Es war ein dumpfes Pochen, hart und konstant, das sie bis in die Knochen spürte. Ihre Giftzähne richteten sich automatisch auf, stachen durch einen Widerstand, der kein lebendes Gewebe war. Tropfen ihres wertvollen Toxins gab sie nun doch ab, ohne sich wehren zu können.

Obwohl sie den Tod als solchen nicht ahnen konnte, war er für sie greifbar nah. Sie gab sich dem Sterben hin. Gab final jeglichen Widerstand auf.

„Es klappt. Ein paar Tropfen noch, dann lass ich sie los. Pass auf und geh zurück.“

„Wir sollten sie töten.“

„Spinnst du? Kommt nicht infrage. Den Tod heben wir uns für später auf.“

Plötzlich war sie frei. Ihre Reaktionsfähigkeit war sofort wieder da. Als sie einen Schatten über ihrem Kopf wahrnahm, schlängelte sie sich voran, schnell und wendig. Ihr Ziel war die Steinritze vor ihr.

Schließlich erreichte sie die dunkle und enge Nische, drückte sich an die hintere Begrenzung.

Eine Weile blieb sie dort, reglos. Wartete, atmete, ließ die Zeit in Wellen vorbeiziehen.

Als sie keine fremden Bodenschwingungen mehr erspüren konnte, verließ sie freiwillig das Versteck, um sich auf dem Stein in der Sonne zu wärmen.

Hier am Gardasee war sie eine unter vielen Kreuzottern, die in höheren Lagen lebten.

I

Furia – Wut

1

Edwina streckte sich und gähnte.

Sie hatte schlecht geschlafen, der schrille Gesang der Grillen hatte sie wach gehalten. „Oberhalb von 23 Grad fangen sie an zu zirpen“, hatte Toni, ihr Lebensgefährte, erklärt. „Dabei sind es ausschließlich die Männchen, die diese Gesänge veranstalten. Natürlich, um sich interessant bei den Damen zu machen. Ich hätte dich auch besungen, wenn ich dich damit bezirzen hätte können.“ Er hatte sie geküsst, sich im Bett zur Seite gedreht und war eingeschlafen. Beneidenswerter Kerl. Auf vielen Ebenen.

Jetzt und hier, im ufficio oggetti smarriti, einem kleinen Fundbüro in der Via Emilia, war es noch erstaunlich ruhig an diesem Samstag, dem ersten Tag im Juni. Wobei klein nur der Empfangs- und Kundenbereich im Souterrain war, in dem Edwina hinter dem Tresen saß und auf Suchende von Verlorenem wartete. Die Bezeichnung mochte Edwina, die Arbeit klang dabei geheimnisvoller, als sie in Wahrheit war.

Nebenan folgte ein größerer Raum mit Regalen und den Fundsachen, nach den letzten Eingangsdaten geordnet. Ein paar Stufen weiter nach unten, schloss sich ein Keller an, in dem sich noch viel mehr Gegenstände türmten. Laut der Betreiberin Rosa Rinaldi war es eine Ansammlung aus längst vergangenen Zeiten. Edwinas Chefin war kein Mensch, der leicht loslassen konnte, wie sie selbst von sich sagte.

Die Luft vor und hinter dem Tresen schmeckte nach Rauch, obwohl das einzige Fenster auf der Seite zur Straße hin offen stand und die leichten Vorhänge sich im Luftzug des warmen Windes bauschten. Edwina fragte sich, ob die alte Rosa hin und wieder heimlich paffte.

Nicht ungefährlich bei all der Menge an Fundgegenständen.

Was die Menschen, fast ausschließlich Touristen, alles verloren, aber auch abgaben, übte in der vierten Woche ihres freiwilligen Ferienjobs noch immer eine Faszination auf sie aus. Erst vor fünf Tagen hatte eine junge Mutter das Kuscheltier ihres Babys auf einer Toilette beim Windelwechseln liegen gelassen. Ein Einhorn mit Glitzerapplikationen. Tatsächlich hatte es jemand ins Fundbüro gebracht.

Wenn Edwina länger allein im Laden war, begann sie manchmal einzelne Gegenstände zu inspizieren und sich Geschichten dazu auszudenken.

Das Springmesser mit dem Holzgriff und dem eingeritzten Totenkopf zum Beispiel eignete sich perfekt für eine spannende Szenerie: Der Besitzer hatte es stets bei sich getragen, selbstbewusst mit dem Gedanken, sich verteidigen zu können gegen Leonardo, seinen Erzfeind. Bis zu dem Tag, an dem er es verloren hatte. Demselben Tag, an dem ihn ein Halbwüchsiger mit einem schlichten Küchenmesser bedroht hatte und er dem Dieb ohne Gegenwehr seine Geldbörse überlassen musste. Vielleicht sogar ein Segen, denn in einem Kampf wäre einer der beiden verletzt worden.

Oder der grüne Filzhut mit den blauen Farbklecksen, der einem Kunstmaler gehören könnte, der kurz vor seinem Durchbruch stand.

Ein Kichern stahl sich auf Edwinas Lippen. Die Fantastereien in ihrem Kopf halfen, die Zeit zu vertreiben.

Obwohl sie keiner zwang, hier Dienst zu tun. Sie war von ihrem eigentlichen Beruf freigestellt, eine Auszeit, die sie dringend brauchte. Zumindest, wenn sie ihrer Ärztin Glauben schenken wollte. Was Edwina nicht tat. Die Therapeutin, Doktor Matschulla – „Nennen Sie mich gerne Claudia!“ –, hatte unrecht. Chefinspektorin Edwina Teufel war völlig entspannt, hier und heute sogar gelangweilt.

Trotzdem hatte Edwina den Ratschlag befolgt, weil der Zusammenbruch keine Bagatelle gewesen war. Toni hatte sie gedrängt, ihn bei seinem nächsten Auftrag als Landschaftsgärtner zu begleiten. „Gardasee, ein halbes Jahr oder länger, Winnie. Sirmione. Dienstwohnung, Dienstwagen. Keine Frau der Welt könnte meine Einladung ablehnen.“

Nun, sie hatte es fast getan. Wenn ihr neben der Ärztin nicht auch der Vorgesetzte bei der Kriminalpolizei in Wien die Pause nahegelegt hätte. Als sie nach dem Gespräch mit ihm wieder in ihr Büro gewechselt war, hatte ein hastig geschriebenes Blatt Papier auf ihrem Schreibtisch gelegen: „Liebe Zornnatter Edwina, erhol dich endlich – Bussi!“ Sogar mit einem Herz versehen. Sie hatte gelacht, wohl wissend, wer ihr die Botschaft hatte zukommen lassen.

Die Zornnatter – Edwina mochte ihren Spitznamen, den sie trug, weil sie, dem Reptil gleich, zubeißen und nicht mehr loslassen konnte, wenn sie ein Fall gepackt hatte. Über die Benennung war sie noch nie in Wut geraten. Die Tatortbilder zu der anderen Sache, wegen der sie zornig und unbeherrscht einen Computer zerlegte, hatte sie im Kopf weit nach hinten geschoben.

„Chefinspektorin Edwina Teufel rastet aus“, die Schlagzeile hatte es sogar in die Presse geschafft. Jemand aus der Landespolizeidirektion in Wien hatte geplaudert.

Das Geschehen hatte sie in „Edwinas Wutbuch“ schriftlich festgehalten und damit noch einmal Revue passieren lassen. Ebenfalls ein Ratschlag, oder mehr eine Anweisung von der gestrengen Doktor Claudia. Vorne war das Notizbuch rot, auf der Rückseite mit einer blauen Folie beklebt. Vom Groll zur Entspannung, sollte das wohl bedeuten. Edwina schwankte zwischen: es echt blöd bis ein bisserl hilfreich zu finden. Lieber hätte sie es mit erfundenen Storys gefüllt.

Der nächste Eintrag ließ ohnehin auf sich warten, Edwinas Wutbuch hatte einen Stammplatz in der Umhängetasche und wurde seitdem nie mehr hervorgeholt. Dabei gab es noch genügend Episoden, die sie aufschreiben und analysieren sollte, mit all den Emotionen, die hochkommen mochten.

Das Glöckchen an der Eingangstür riss sie aus ihren Gedanken.

Jedes Mal, wenn der helle Ton erklang und einen Kunden ankündigte, musste Edwina an Weihnachten denken. Selbst heute, an einem 1. Juni, an dem sich die Temperaturen bereits hochsommerlich anfühlten. Mittags, wenn Rosa kam und sich Edwina ins Wochenende verabschiedete, würde der erste Weg sie an den Strand von Santa Maria di Lugana führen. Einmal im Lago schwimmen, bevor sie in ihr ebenfalls auf Zeit gemietetes Zuhause in San Martino della Battaglia marschierte. Sich in der Wohnung auf die Terrasse zu setzen und die schweren Beine hochzulegen, würde ein Genuss sein. Dazu, nicht vergessen, sich auf dem Heimweg ein Eis zu gönnen. Un gelato, diesmal einmal mehr die Kreation bacio, was Kuss bedeutete und Edwina an eine Praline erinnerte. Es war eine Mischung aus Schokolade und Haselnuss. Weich, cremig und jedes Mal ein Hochgenuss.

Der Kunde räusperte sich.

Er war an der offenen Tür stehen geblieben. Ein überdimensional großer Schattenriss zwischen dem Sonnenschein auf der Via Emilia und dem dunkleren Innenraum des Fundbüros.

Seine Gesichtszüge konnte Edwina nicht erkennen. Der Umstand verursachte ihr eine leichte Gänsehaut, auch wenn sie in den Jahrzehnten ihrer Arbeit als Polizistin unvergleichbar schlimmere Begegnungen erlebt hatte. Doch es lag an dem Gegenstand in seiner linken Hand. Er hielt etwas fest, das auch eine Waffe sein könnte.

Sie schüttelte innerlich den Kopf. So ein Quatsch. Wer würde ein kleines Fundbüro in einer ruhigen Wohnstraße überfallen?

„Buongiorno!“, begrüßte sie den Neuankömmling und setzte ein halbes Lächeln auf. „Wunderschön heute, finden Sie nicht?“

Der Kunde machte die zwei Schritte die Treppe nach unten. Die Tür fiel ins Schloss, das Glöckchen kündigte die kommenden Weihnachtsfreuden zu Natale an. Edwinas Anspannung verlor sich im Lüftchen und segelte aus dem Fenster.

Weitere vier Schritte und der Mann stand ihr gegenüber an der Theke. Er war groß, aber auch hager. Als hätte er über einen längeren Zeitraum gefastet, waren seine Wangen eingefallen. Sein Haar war von grauen Strähnen durchzogen, es war ungekämmt und stand in alle Richtungen ab.

Sein Blick tastete Edwina ab. „Ist Rosa nicht da?“

Die Stimme klang, als hätte er lange nicht geredet. Ein Krächzen im Ton, ein Räuspern am Ende der Frage.

„Rosa hat sich einen freien Samstag gegönnt. Ich vertrete sie. Edwina Teufel, zu Ihren Diensten. Verlorenes wiederzufinden, ist meine Passion, denn ich werde nicht bezahlt.“

Jedes Mal, wenn sie sich mit diesem Spruch, den sie sich bereits am ersten Tag ausgedacht hatte, vorstellte, musste sie ein Lachen unterdrücken.

Die Idee, dass sich Edwina neben der Ruhe, die ihr rasch zu viel geworden war, tatkräftig beschäftigen sollte, war eine von Tonis besten gewesen. Er war die meisten Tage mit seinem Auftrag ausgelastet, die Bepflanzung im gesamten Hotelkomplex Astoria innen und außen am Rivoltella-Strand zu erneuern. Der Bereich der Vegetationstechnik, der Entwicklung und Realisation eines harmonischen Vegetationskonzepts, war sein Element. Deshalb konnte er sich nur peripher um seine Liebste, seine Winnie, kümmern. Nach dem Hotel stand ein zu begrünender Freizeitpark auf seiner beruflichen To-do-Liste. Dabei würde seine Zeit noch intensiver von Pflanzen und seiner Leidenschaft für sie eingenommen werden.

„Allora! Was also haben Sie verloren, Signore?“, setzte Edwina nach.

Sie schaffte es nicht, das R im Gaumen sinnlich zu rollen, wenn sie italienisch parlierte. Es hörte sich nach einer erlernten Fremdsprache an. Das stimmte zwar exakt, aber Edwina wäre nur zu gerne mit einer Einheimischen verwechselt worden.

Wozu redete sie eigentlich auch mit Toni zu Hause meistens in dessen Heimatsprache? Der gebürtige Römer seinerseits liebte es zu „wienern“, wie er es nannte. Sollte jemand sich bei ihnen einschleichen und das Paar belauschen, hätte derjenige eine Mordsgaudi dabei gehabt.

„Worum geht es? Heraus mit der Sprache, Signore. Sia coraggioso!“

Das Erste, was der Mann ihr reichte, war eine Schachtel. Genau die hatte Edwina vorhin als Waffe angesehen. Lächerlich, schimpfte sie sich beim Anblick der Box, in die, von der Größe her, ein paar Kinderschuhe gepasst hätten. An allen vier Seiten waren Löcher zu erkennen, die wie mit einem Stift oder einer Schere ausgestochen wirkten. Um Schachtel und Deckel war ein Gummiband gewickelt.

„Mein Poem.“ Der Mann räusperte sich. „Das hier gegen mein Poem. Es ist tödlich, müssen Sie wissen, Signora. Ich habe es vor Jahrhunderten abgegeben. Rosa hat mir versichert, dass ich es wiederhaben kann, wenn es keiner will.“

Sie musste sich verhört haben. Der Kunde hatte sicher nicht „tödlich“ gesagt. Auch die Zeitangabe verwirrte sie.

„Ich verstehe nicht. Jahrhunderte, sagen Sie? Ein Scherz.“

„Mein tödliches Poem, Signora. Es ging verloren, muss aber gefunden werden. Ich habe gewartet, nichts ist geschehen. Heute bestehe ich darauf, dass Sie es mir aushändigen. Ich brauche es. Los! Suchen Sie es. Sofort! Oder holen Sie Rosa. Ich will Rosa sprechen. Das wollte ich schon damals. Wegen der Wahrheit.“

Ein Kunde mit einem Sonnenstich. Oder einer, der zu viel getrunken hatte, selbst, wenn er nicht nach Alkohol roch. Edwina seufzte.

„Bitte, Signore, ganz ruhig. Rosa ist nicht hier. Und ein Gedicht, das töten könnte, haben wir in den letzten Wochen, seit ich hier arbeite, nicht hereinbekommen. Möchten Sie einen Schluck Wasser? Geht es Ihnen nicht gut?“ Sie hielt nun eine Karaffe hoch, die unter dem Tresen auf der Ablage neben dem Teller mit den Biscotti stand. Gerne hätte sie genau jetzt eines gegessen. „Ein kühles und erfrischendes Glas Wasser. Danach fühlen Sie sich besser und können mir genauer beschreiben, was Sie verloren haben.“

„Das Poem. Mein Poem. Meine Zeilen, meine Abbilder!“ Er wurde leiser, was die Situation für Edwina angespannter werden ließ. Laute Personen, die pöbelten oder auch aggressiv brüllten, waren oft Angsthasen, die man mit einem beherzten Gegenschrei mundtot machen konnte. Die Leisen, die Zischenden, konnten gefährlich werden. Edwina schaltete ihre Sinne in Alarmbereitschaft.

Sich zur Wehr zu setzen, war ebenfalls eine Option, sollte der Mann körperlich übergriffig werden. Auch wenn Edwina die fünfzig seit vier Jahren überschritten hatte und in ihren Wechseljahren mit den Pfunden kämpfte, lag doch eine Polizeiausbildung hinter ihr. Einen Kerl in den Schwitzkasten zu nehmen, würde ihr zwar niemand zutrauen, aber es wäre nicht die erste Situation, bei der sie schneller und effektiver reagierte als erwartet.

Zum Glück kam es nicht so weit. Statt weiterhin über sein Poem mit Todesfolge zu reden, begann er zu weinen. „Mein winziges Gedicht. Ich weiß, dass es hier sein muss.“

Die Tränen, die über seine Wangen liefen, ließen ihn allerdings weitaus befremdlicher erscheinen. Edwina musste an einen alten Zauberer denken, der verwirrt durch die Welten irrte auf der Suche nach verlorenen magischen Sprüchen. Gleich würde sie den Notruf wählen und den Mann versorgen lassen.

Sie stellte Karaffe und Box ab, hob stattdessen die Klappe hoch, die Kunden- und Arbeitsbereich trennte.

Direkt vor dem Hünen zu stehen, erforderte, dass Edwina ihren Kopf in den Nacken legte. Nun roch sie ihn auch. Verdorrtes Obst kam ihr in den Sinn, Lebensmittel, die zu lange in der Sonne gestanden hatten.

„Es ist alles gut, Signore. Trinken Sie Wasser. Ich rufe jemanden an, der Sie abholt. Gibt es eine Nummer, die Sie mir geben möchten, oder soll ich einen Arzt verständigen?“

„Sind Sie aus Tirol?“ Die Gegenfrage kam überraschend. „Meine Uroma stammt aus Terfens. So schön, aber zu wenig Eis, das man kosten könnte.“

Edwina versuchte seufzend einen neuen Anlauf. „Wie kann ich Ihnen helfen, Signore?“

„Nur mein kleines Poem. Und meine Einzigen. Ich wiederhole, meine Abbilder. Die suche ich. Die Zeit ist gekommen.“

Eine neue Information. Er suchte möglicherweise nach Freunden, Menschen, die ihm zugewandt waren. „Kennen Sie deren Nummer? Wir bitten jemanden, herzukommen. Währenddessen schaue ich hinten nach, ob in letzter Zeit ein Gedicht abgegeben wurde. Ja?“

Der Mann hob die Hand an die Nase, Rotz tropfte über seine Finger. Edwina griff erneut unter die Theke, um nach einem Taschentuch zu angeln.

In der Sekunde begann sich die Schachtel des Kunden zu bewegen. Mit einem Ruck nach vorne, dann, nach einem kurzen Stillstand, seitlich. Immer weiter Richtung Rand. Automatisch legte Edwina eine Hand darauf.

Die Luftlöcher. Sie hätte es sofort erkennen müssen. In der Box war ein lebendes Tier.

In rascher Abfolge löste Edwina den Gummi und hob den Deckel an.

Die Schlange war zu schwach, um die Flucht zu ergreifen. Sie hob ihren schuppigen Kopf, sie züngelte und stieß ein leises Fauchen aus.

Ein anderer als Chefinspektorin Edwina Teufel in ihrer Auszeit am Gardasee wäre zusammengezuckt, hätte die Schachtel mit einem Aufschrei fallen lassen oder wäre davongerannt. Doch Edwina liebte nicht nur die kuscheligen Geschöpfe, die sich mit treuen Augen in die Herzen der Menschen einschlichen, über die allerliebste Videos in den sozialen Medien verbreitet und rührende Geschichten in Dokus erzählt wurden. Nein, sie konnte sich auch für die schuppigen, die achtbeinigen und schlängelnden Lebewesen erwärmen. Jedes Geschöpf hatte ein Recht auf anständige Behandlung.

Gelb-grün waren die Schuppen des Reptils, die Länge geschätzt ein Meter. Eine Zornnatter, wie sie hier am Gardasee zu finden waren. Ungiftig und sichtlich in schlechtem Zustand.

Jeder, der Chefinspektorin Teufel kannte, hätte gewusst, was nun folgte.

Edwina öffnete den Mund.

Sie holte tief Luft und hielt sie an, während sie den Kopf der Schlange sanft nach unten drückte. Nicht glatt und geschmeidig fühlte sich die Haut an, sondern rissig. Eine Verletzung an der Seite schillerte rot. Edwina setzte den Deckel wieder drauf.

Dann erlaubte sie ihrem Zorn aufzuwallen. Ein Feuer, das keine Rücksicht auf den verwirrten Mann nahm. Keine seiner Tränen konnte ihre flammende Wut aufhalten.

Edwina ratterte los in einer Mischung, die Italienisch und Wienerisch auf eine unnachahmliche Weise verband. „Sag einmal, haben s’ dir ins Hirn geschissen, Deppata? Pazzo! Cazzone! Cretino! Was hast du mit dem armen Tier gemacht?“

2

„Was ist passiert?“

Rosa sah aus, als wäre sie eben von einem Friseurbesuch fortgerissen worden. Eine Seite ihrer grauen Haare war gelockt, die andere unordentlich und struppig. Ihr Blick drückte Skepsis aus, sie schien die ersten Informationen, die Edwina ihr übers Handy durchgegeben hatte, nicht glauben zu wollen.

Nach Edwinas Wutanfall hatte der seltsame Mann sich umgedreht und war unter dem Klingeln des Glöckchens in den Tag hinaus verschwunden. Ohne die Schachtel mit der Natter. Edwina hatte ihre Chefin Rosa angerufen, dann nach einem Tierarzt in der Nähe im Internet gesucht.

Noch während sie googelte, war Rosa mit ihrem Enkelsohn Bruno aufgetaucht. Bruno Rinaldi, der, soviel Edwina wusste, als Fahrradkurier jobbte und im Herbst ein Studium beginnen wollte, war seiner Großmutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Bloß, dass sein Haar noch tiefschwarz und seine Haut fast faltenfrei war. Doch Gesichtsform, Augen, Kinn und Nase hätten Nonna und Nipote austauschen können.

Er lief auf Edwina zu und umarmte sie. „Sie sehen blass aus, Signora Teufel. Soll ich die Polizei verständigen?“

„Zuerst die Geschichte bitte!“ Rosa zog ihn an der Schulter zurück. „Dann entscheiden wir.“

Edwina merkte erst jetzt, wie angespannt sie immer noch war. Sie hob die Karaffe mit Wasser hoch, die sie auch dem Hünen angeboten hatte, und trank daraus. Sich ein Glas hinter der Theke zu holen, wäre mit ihren weichen Knien ein zu weiter Weg gewesen.

Nach einem weiteren Schluck fühlte sie sich bereit, die Begegnung zu schildern.

Am Ende hatte sie die Schachtel mit der Schlange zwischen ihren Händen. „Wo ist der nächste Tierarzt? Das hier hat Priorität.“

„Ich übernehme“, bot sich Bruno an. Während Edwinas Schilderung hatte er sich die Haare gerauft, die nun kreuz und quer standen. Sein Dreitagebart ließ ihn älter erscheinen, aber Edwina wusste, dass er gerade einmal zwanzig war. Nonna Rosa hatte ihn nach dem frühen Tod der Mutter großgezogen. Er war ihr ganzer Stolz, wie es so schön hieß, und in dem Fall stimmte es zu hundert Prozent. „Geben Sie mir das Tier. Ich nehme mein Moped, dann geht es schneller. Ein Stück nach dem Kreisverkehr ist eine Praxis. Ich kenne die Ärztin. Sie wohnt über den Behandlungsräumen.“

„Grazie, Bruno.“ Rosa nickte ihrem Enkel zu und blickte ihm hinterher, als er mit der Schlangenbox verschwand. „Er regelt das. Bruno ist gleich tierlieb wie du, Edwina.“

„Was für ein Irrer vorhin.“ Edwina hatte inzwischen die halbe Karaffe leer getrunken. Trotzdem fühlte sich ihre Kehle trocken an. „Aber du hättest mich hören sollen. Ich habe geschimpft, nein gewütet. Das erste Mal, dass ich ausgerastet bin, seit ich hier am Gardasee wohne. Wahrscheinlich hättest du über mich gelacht. Mein Kopf wird rot wie eine Tomate, wenn mich die Wut übermannt. Ehrlich, Rosa, als ich das arme Tier gesehen habe, ging es mit mir durch. Ein tödliches Poem hat der gesucht, so ein Schwachsinn. Was soll das denn sein?“

Rosa setzte sich auf einen der zwei Stühle vor dem Tresen. Öfter kamen mehrere Kunden gleichzeitig und beschwerten sich, dass sie warten mussten. Konnten sie sitzen, waren sie geduldiger.

„Ich weiß, wer der Mann war, Edwina.“ Rosa ächzte. „Es tut mir leid, dass du eine Konfrontation mit ihm hattest.“

„Wie? Du kennst ihn?“

„Wie du ihn beschreibst, habe ich ihn noch nie erlebt, ehrlich gesagt. Aber kennen werden ihn die meisten in Sirmione. Es ist Giovanni di Levia, der re dei ghiaccioli.“

„Der Eis-am-Stiel-König?“ Edwina stieß ein schrilles Lachen aus. „Du machst dich lustig über mich, um mich aufzuheitern, stimmt’s?“

Rosa runzelte die Stirn und zog die Mundwinkel nach unten. Ihre tiefen Falten waren wie Täler auf einer Landkarte. Edwina schätzte die Chefin auf Mitte siebzig, hatte sich aber bisher nie zu fragen getraut. Allein, dass sie immer noch fast jeden Tag im Fundbüro arbeitete, war bemerkenswert. Ob sie es aus finanziellen Gründen tat oder über das Rentenalter hinaus beschäftigt sein wollte, auch darüber hatten sich Edwina und Rosa nie ausgetauscht. Rosa Rinaldi redete nicht viel über sich. Selbst bei der Einarbeitung hatte sie Edwina nur das Nötigste über den Job erklärt. Klatsch und Tratsch gab es mit ihr fast überhaupt nicht.

„Lustig über dich? Das tue ich nicht, Edwina. Warum sollte ich?“ Rosa hob die Hände nach oben. „Giovanni di Levia, der Eistüten-König, sagt man auch zu ihm. Ihm gehören drei Viertel aller Eisdielen in der Stadt. Nicht nur das: Er ist der Eigner einer Hotelkette. Das Astoria, in dem dein Toni arbeitet, gehört dazu. An der Villa di Levia, in der er wohnt, müsstest du schon vorbeigelaufen sein.“

Den Namen di Levia hatte Toni nie erwähnt. Auch das Gebäude war Edwina nicht aufgefallen. Sie schüttelte ungläubig den Kopf. „Aber der Mann war nicht ganz richtig im Kopf. Dazu unangenehm. Dieses Gerede, und dann die arme Schlange.“

„Giovanni di Levia ist kein sympathischer Mensch. War er nie.“

„Was denkst du, was er tatsächlich gesucht hat? Da muss etwas anderes dahinterstecken. Mehr als ein paar Verse, meine ich.“

„Bei dir kommt dein Beruf durch, nicht wahr?“ Rosa wechselte zu einem Lächeln und steckte damit Edwina an.

„Natürlich hast du recht. Die Neugierde lässt sich nicht so leicht abstellen. Ich hoffe, es ist okay, wenn ich frage. Bitte erzähl mir ein bisschen mehr über ihn.“

„Von Jahr zu Jahr geht es bergab mit ihm. Nach seiner letzten Scheidung hat er sich zu einem seltsamen Alten entwickelt. In ein Heim würde er nie gehen, Angestellte vergrault er. Wir werden sehen, wie lange das noch gutgeht.“

„Wie viele Scheidungen hat er hinter sich?“

„Dreimal war er verheiratet.“

„Hui! Ein fleißiger Mann.“

„Du sagst es. Immer dramatisch getrennt. Immer in der Klatschpresse aufgetaucht. Seine letzte Frau, Greta Galli, schreibt angeblich ein Buch über diese Zeit. So was mag ich nicht. Nenn mich altmodisch, aber intime Angelegenheiten sollte man unter sich regeln.“ Erneut warf sie die Arme nach oben, als würde sie mit der Geste das Vorkommnis abschließen können.

„Warum die Gedichte und die Schlange?“

„Ach, Edwina. Er dichtet eben gerne.“

„Das erklärt nicht sein Verhalten.“

„Sagen wir so. Er hält sich für einen Poeten. Jedes Jahr gibt es am Lago einen Poesie-Wettbewerb und jedes Jahr nimmt er daran teil. Letztes Jahr hat er gewonnen, wobei es heißt, er hätte die Jury bestochen.“

„Ein Betrugsdelikt? Hat er sich strafbar gemacht?“

„Edwina, es ist bloß ein Gerücht.“ Rosa erhob sich langsam, ein nächstes Ächzen folgte. „Schließen wir das Ufficio und schauen wir, was Bruno für die Schlange erreicht hat.“

„Gut, aber lass uns auf dem Weg weiter überlegen. In meinem Kopf rattert es bereits.“

Rosa schloss das Fenster, hängte das Chiuso-Schild an die Eingangstür. Kaum im Freien, ging sie mit Tempo voran, dass Edwina Mühe hatte, nachzukommen.

„Noch etwas Lustiges, Rosa. In meiner Kollegenschaft in Wien trage ich den Spitznamen Zornnatter. Willst du wissen, wieso?“

„No, Edwina. Wir haben genug geredet. Mein Kiefer schmerzt. Andiamo.“

3

Da es weder Mann noch Frau noch Tier ist, kann Edwina das Unheimliche nur als Es bezeichnen.

Und Es ist hinter ihr her.

Edwina rennt. Sie reißt die Knie hoch wie bei einem 100-Meter-Sprint bei den Olympischen Spielen. Ihre Oberschenkel brennen und in ihrem Bauch breitet sich eine ansteigende Hitze aus. Sie rennt und brennt.

Sie ist in einem Traum, einem Albtraum. Edwina weiß das, aber die Erkenntnis nützt ihr nichts. Sie kommt nicht voran, egal, wie sie sich auch anstrengen mag, wie heiß es in ihr auch wird. Die Außenwelt, die aus einem Wald rechter Hand und einer Wüste linker Hand besteht, fließt erschreckend träge an ihr vorbei.

Es holt auf. Es wird Edwina gleich am Nacken packen, ihr ins Genick springen und sie zu Boden reißen. Dann ist sie hilflos ausgeliefert.

Sie kann sich Ihm nur stellen, es ist die einzig verbleibende Option.

Also stoppt sie – seltsamerweise gleitet die Landschaft weiter und ihr wird übel von der unnatürlichen Bewegung.

Eine Drehung und sie wird dem Ding, das sie verfolgt, in die Augen schauen.

Doch hinter ihr steigen nur Seifenblasen auf. Eine besonders große schillert in allen Farben und ist undurchsichtig. Dort sitzt der Feind, Es. Sie greift danach, aber die Seifenblase ist glitschig und lässt sich nicht fassen.

Edwina packt die Wut. Nicht im Genick, sondern in der Brust. Die Wut ist kalt. Edwina brennt immer noch und friert, sie verglüht und zittert. Edwina ist klein, allein und kann nichts tun.

Da zerspringt die riesige Seifenblase und heraus steigt –

Edwina riss den Kopf nach oben.

Sie konnte den Speichelfaden an ihrem Mundwinkel sehen und spüren, wie er sich auf ihr Kinn legte. Mit einem Handgriff wischte sie ihn weg. Ihr Sonnenhut fiel ihr vom Kopf. Sie hob ihn auf, schüttelte den Sand aus und fächelte sich Luft zu.

Um sie herum herrschten Lärm und Trubel. Ein typischer Samstagnachmittag an der Spiaggia. Sonnenanbeter, Volleyballspielerinnen, Sandburgenbauende erfreuten sich lautstark. Ein Wunder, dass sie bei dem Geräuschpegel so tief und fest eingenickt war, aber die Aufregung vom Vormittag hatte sie Kraft gekostet.

Erst einmal musste sie sich orientieren.

Sie saß auf ihrem Handtuch am Strand von Rivoltella. Ihre Zehen waren unter dem körnigen Sand vergraben, nur das Lila ihres rechten großen Zehennagels blitzte hervor.

Seit sie und Toni hier am Gardasee gelandet waren, trug Edwina Nagellack. Alle Nägel glänzten in ihrer momentanen Lieblingsfarbe. Sie mochte den Anblick ihrer Zehen in den Sandalen und liebte es, die Finger rasch zu bewegen und die Farbtupfer springen zu sehen. Nebenbei kam sie sich auch ein wenig elegant vor. Mehr wie eine Dame als eine Chefinspektorin in Auszeit. Deshalb war auch eine ihrer Haarsträhnen lila. Ton in Ton – Edwina, eine Urlauberin, die versuchte, sich zu stylen.

Ansonsten reichten seit Wochen luftige Kleider oder eine Short und ein T-Shirt. Der Badeanzug darunter war obligatorisch. Der Mai hatte, nach einem verregneten April, seinem Beinamen Wonnemonat alle Ehre gemacht. Dabei hatten die Sommermonate gerade erst begonnen.

Vor ihr breitete sich das blaue Wasser des Sees aus. Die Wellen, mit weißen Schaumkronen versehen, klatschten gegen vereinzelte Steine auf dem Sand. Die Weitsicht war getrübt von einem Schleier, obwohl Edwina meinte, in der Ferne am westlichen Ufer das Naturschutzgebiet um die Festung an der Rocca di Manerba zu erkennen. Dort am Felsen vor dem aufgestellten Gipfelkreuz bei der Ruine hatte sie mit Toni gestanden und die fulminante Aussicht auf den gesamten Gardasee genossen. Eine herrliche Wanderung. Bei 216 Höhenmetern von einem Aufstieg zu sprechen, war etwas übertrieben, dennoch war ihnen beiden die Anstrengung anzumerken gewesen.

„Wir werden alt, Winnie“, hatte Toni gescherzt und dabei den Nagel auf den Kopf getroffen. Dass er immerhin sechs Jahre jünger als Edwina war, merkte man nicht an seinem schütteren Haarwuchs, aber an seiner immer noch beneidenswert faltenfreien Stirn, wie Edwina fand.

Das Museum dort hatten sie besucht und waren vom Gipfel an der Küste entlang zum Hafen von Manerba gelaufen. Die Zitronenlimonade und die Pizza Funghi e Mozzarella danach schmeckte sie heute noch auf ihrem Gaumen.

Das bisher letzte Ausflugsziel von ihnen. Seine Arbeit in den Grünanlagen rund um den Hotelkomplex Astoria, der sich fußläufig vom Strand entfernt erstreckte, nahm Toni derart in Anspruch, dass er morgens das Haus verließ und meist erst in den späten Abendstunden zurückkam. Edwina musste sich allein vergnügen und langweilte sich mehr und mehr. Ausflüge solo mochte sie nicht besonders. Der Aushilfsjob im Fundbüro war deshalb eine prickelnde Abwechslung.

Wenn nicht ein pazzo wie heute Edwina aufwühlte.

Als sie Rosa hinaus in die Sonne und Hitze gefolgt war, hatte sie noch schnell ihre große Umhängetasche geschnappt, in der das Wutbuch ebenso sein Zuhause hatte wie ihre Badesachen. Zu jeder Tageszeit konnte man einen Sprung in den See machen. Aber heute war es ein dringendes Bedürfnis gewesen.

Sie rieb sich die Augen, legte die Handflächen auf ihr Gesicht und dachte über den Traum nach.

Er war die Folge der Begegnung am Vormittag, war sich Edwina bewusst. Wenigstens war der Kerl rasch verschwunden, als Edwina zu schimpfen begonnen hatte. Zum Glück ging es der Schlange gut, sie war versorgt und würde vorerst bei der Tierärztin bleiben. Rosa und Bruno hatten sich vorhin am Handy gemeldet, sich noch einmal nach Edwinas Befinden erkundigt. Oma und Enkel waren wirklich zwei gute Seelen, die gemeinsam durch dick und dünn gingen.

Edwinas Schultern brannten. Erst jetzt erinnerte sie sich, dass sie sich nach dem Schwimmen hatte eincremen wollen. Doch bevor sie in den See sprang, hatte die Erschöpfung sie zu dem Nickerchen gezwungen. Mit hängendem Kopf, schlafend und schnarchend, hatte sie sich einen Sonnenbrand eingefangen. Zu Hause würde sie die Stelle kühlen. Wenigstens trug sie ihren Sonnenhut, sonst hätte es einen Sonnenstich geben können. Abgesehen davon aber war die Lust auf ein Eis inzwischen größer als das Bedürfnis, baden zu gehen. Über den Traum wollte Edwina keine Sekunde weiter nachdenken.

Sie zog sich das Kleid über, schlüpfte in ihre Sneaker und stopfte das Handtuch in die Umhängetasche.

„Da begegne ich dem Eistüten-König vom Gardasee und statt leckerem Eis bringt er mir eine arme Schlange vorbei, ha! Ein Poem? Ein tödliches Poem! Was für ein seltsamer Samstag“, flüsterte Edwina in einem Selbstgespräch. „Der soll mir noch einmal in die Quere kommen.“

4

„Sag jetzt bitte nichts. Hör nur zu: Ich habe es schon getan. In einem wilden Traum, in einem grandiosen Gedankenspiel. Mit all meinen Sinnen konnte ich fühlen, wie es war. Es war wunderbar. Verstehst du?

Tu, il mio sangue, tu, la mia vita. Mein Blut, mein Leben, ich habe es getan. Gestern Nacht und die Nacht davor. Immer und immer wieder. So leicht wie in meinen Gedanken wird es auch in der Realität sein. Das ist die Wahrheit. Ich weiß es. Glaube mir also.

Und du hattest unrecht, was das Töten angeht, denn danach wird es keine Schuld geben. Es wird nicht für dich, nicht für die Welt, nicht einmal um der Gerechtigkeit willen geschehen, sondern für die Stille.

Wenn das Klopfen des Herzens endet, wenn nach dem Einatmen kein Ausatmen mehr folgt, wird das Schweigen in uns und um uns absolut sein. Leben und Tod vereint. Die Zeit selbst wird ihre Stimme verlieren. Kein Rascheln, kein Plätschern, kein Säuseln mehr. Das Drängende wird verstummen. Du und ich, wir fallen in eine Tiefe, die alles und jedes jenseits des Lärms zurücklässt.

Genauso sind auch meine Träume, meine Gedankenspiele. Danach hält diese Grabesruhe an, bleibt und macht mich selig. Glückliche Stunden lang schwebe ich in einer Kugel der absoluten Lautlosigkeit.

Deshalb träume ich stetig weiter, imaginiere ich, wie wunderbar es laufen wird. Wie ich es vollstrecke, wie ich mich auf diesen neu erschaffenen Leichnam, diesen Kadaver einer besiegten Bestie setze und in die erstorbenen Augen sehe. Da wird nichts mehr sein, da gibt es nichts, da geschieht nichts – ich schwöre es dir. Keine Seele, die den Körper verlassen wird. Nichts. Was sie uns predigen über das Aufsteigen nach dem Sterben, ist nicht wahr.

Widersprich nicht. Vertrau mir einfach.

Wir sind in diese Welt geworfen, zum Guten oder Schlechten. Es spielt am Ende keine Rolle, weil nach diesem Ende nichts mehr da ist, das in einen Himmel aufsteigen könnte. Nichts. Also erzähl mir auch nichts von einer Sünde, rede nicht von einem Gott, der über uns urteilen würde.

Es fühlt sich richtig an, das allein zählt. So machbar, so gut. Ich kann es kaum erwarten.

Ich sehne mich nach genau dieser Stille, die Sehnsucht nagt und kratzt. Was gut ist. Was so bleiben kann. Ich weiß, dass du mich erst verstehen wirst, wenn du es selbst erlebst.

Ja, ich habe gebetet. Gleich nach dem Aufwachen, direkt nach den tödlichen Gedanken. Gebetet, dass der Himmel über mir und die Nacht in mir ihre Schwärze behalten. Sie sind es, die mir Kraft und Möglichkeit geben werden. Die Zeichen, die wir suchen, verdichten sich. Erinnere dich an all unser Reden. Wenn der Hass zu groß wird und die Wut zu gewaltig, muss der Weg der Befreiung ein dunkler sein.

Ich bin nun in Dunkelheit gehüllt, in Schwärze geborgen. Meine Hände zittern nicht, mein Herz schlägt gleichmäßig seit der dunklen Träumerei. Keine Scham, keine Reue, kein Gewissen war und ist da – nur der Wunsch, dass die Lautlosigkeit danach wiederkehrt.

Nicht! Sag nichts, bitte. Widersprich nicht, bejahe nicht. Ich erfahre und erspüre alles aus deinem Schweigen. Töten ist wie Nachhausekommen, deshalb zögere nicht. So leicht, so weich, so leise. Den Lärm alles Lebenden können wir hinter uns lassen. Neu bin ich. Anders wirst auch du sein. Ciao – tu, il mio sangue, tu, la mia vita. Mein Blut, mein Leben! Es ist so weit.“

5

„Wie? Er ist tot?“ Edwina verschluckte sich an ihrer Brioche und musste erst mal heftig husten. „Der Eistüten-König ist tot?“

Beatrice und Toni wandten sich ihr synchron zu.

„Edwina, du kennst ihn? Woher denn?“ Beatrice Schurt, die geschwätzige Nachbarin im Erdgeschoß und zugleich Vermieterin des Appartements im ersten Stock, schüttelte verwundert den Kopf. Ihre langen Ohrringe wippten dazu. Die roten Glitzersteine waren perfekt auf ihre rot gefärbten Haare abgestimmt. Dazu der rote Hosenanzug. Sie hätte gut in einen Film gepasst, fand Edwina.

Beatrice war heute Morgen an der Tür gestanden, als Edwina und Toni noch in ihren Pyjamas gewesen waren. Edwina hätte die Vermieterin am liebsten abgewiesen, aber Toni, gastfreundlich, wie er stets war, hatte sie auf einen Espresso hereingebeten. Nun saßen sie auf der Terrasse im morgendlichen Sonnenschein, der überhaupt nicht zu dem Thema passte.

„Ich habe keine Ahnung, worüber ihr redet. Wer ist gestorben?“ Toni war erst gegen zehn Uhr abends von der Arbeit im Astoria nach Hause gekommen. Edwina war zu müde gewesen, um ihm von dem tödlichen Poem und der armen Natter zu erzählen.

Beatrice und Toni redeten jetzt durcheinander. Edwina konnte nichts Zusammenhängendes verstehen und unterbrach die beiden. „Einer nach dem anderen, bitte. Ich erkläre euch alles. Aber zuerst zu dir, Beatrice, ist das wahr? Dieser sogenannte Eistüten-König ist tot?“

„Warum sollte ich es erzählen, wenn es nicht stimmt?“ Sie machte große Augen, als würde sie sich sonst nie um Gerüchte kümmern oder Geschichten weitergeben. „Tot ist der Mann.“

„Ich fasse es nicht.“ Edwina schüttelte den Kopf. „Gestern war er im Fundbüro. Ein unangenehmer Kunde, ein richtiger Ungustl, wie man in Wien so schön sagt. Ein sehr merkwürdiges Zusammentreffen.“

„Tatsächlich?“ Beatrice stand vom Tisch auf und bewegte sich in Richtung Küchenzeile. Sie hatte augenscheinlich vor, ihren Besuch zu verlängern. „Viel weiß ich noch nicht, aber dass er seit gestern Nachmittag mausetot ist, steht fest.“

Mausetot. Giovanni di Levia hatte am gestrigen Samstag nicht im Geringsten einer Maus ähnlich gesehen. Eher einem Gecko. Edwina stellte sich vor, dass Beatrice die Schachtel mit der Schlange geöffnet hätte und kreischend davongerannt wäre. Es belustigte sie trotz der Neuigkeiten.

Die Nachbarin war schnell wieder zurück am Frühstückstisch, mit einem Apfel in der Hand. Toni rollte mit den Augen, was nur Edwina sehen konnte. Fast hätte sie laut gelacht.

Stattdessen begann sie mit ihrer Schilderung. Die gruseligen Einzelheiten versuchte sie außen vor zu lassen, nur die Schlange erwähnte sie kurz. Beatrice würde sonst Stille Post spielen und am Ende eine noch monströsere Geschichte in die Welt setzen. Abgesehen davon, Edwinas Liebsten gruselte es vor Schlangen im Allgemeinen. Deshalb war sie auch nach wenigen Sätzen wieder am Ende. „Das war’s schon.“

„Klingt eher banal. Ich habe mir mehr erwartet.“ Beatrice wirkte sichtlich enttäuscht. „Schlangen hatten wir auch schon öfter im Garten. Ich schicke dir eine Nummer vom hiesigen Schlangenabholservice, oder wie man den nennt. Du kannst dort Tag und Nacht anrufen und sie kommen.“

„Danke, Beatrice. Ich hoffe allerdings, dass ich sie nicht brauchen werde.“

„Aber, Edwina“, die Nachbarin legte eine Hand ans Herz, „was für eine schicksalhafte Begegnung.“

„Schicksal? In welchem Sinn?“

„Na, in dem Sinn, dass du Giovanni di Levia am Vormittag vor seinem Ableben triffst. Unter solchen Umständen. Wahnsinn, oder? Er ist übrigens in seiner Villa gestürzt. Angeblich. Hat sich den Schädel dabei verletzt. Sofort tot. Tragisch. Aber nicht verwunderlich. Er war verrückt. Un pazzo! Was übrigens nicht nur an seinem Alter liegt.“ Mit erhobenem Zeigefinger, als wollte sie eine Belehrung aussprechen, ratterte sie weiter. „Der Mann hatte Geld wie Heu, aber nichts in seiner Villa je renovieren lassen. Dass eine neue Küche eingebaut wurde, haben wir seiner Exfrau zu verdanken. Als ich dort einmal zum Essen eingeladen war, hat sie mir ihr Leid geklagt. Keine drei Monate später ist sie ausgezogen. Er allein zurückgeblieben. Wieder einmal. Wundert mich nicht. Giovanni gehörte zu den Männern, die man sich angelt, weil man sich ein Luxusleben erhofft. Stattdessen hat man seine Allüren zu ertragen. Arme Greta. Nebenbei, ich habe sehr gut gegessen. Sie hatten eine Köchin.“

Gerne hätte Edwina zu einigen Punkten in Beatrices Rede Stellung bezogen, aber die Tatsache, dass der alte Mann so kurz nach ihrer Begegnung das Zeitliche gesegnet hatte, interessierte sie vor allem anderen. Ungeachtet dessen sollte sich Beatrice Rosa zum Vorbild nehmen, was das Tratschen anging.

Andererseits bekam Edwina dadurch mehr Informationen. „Ist es denn sicher, dass es ein Unfall war? Wann genau ist es passiert?“

„Dio mio, du stellst Fragen.“ Beatrice biss in den Apfel. „Mein Mann hat es mir erzählt. Ihm wiederum unser Weinbauer. Knut war heute früh schon bei ihm, um unseren Vorrat an Bardolino aufzufüllen. Soll ich ihn hochbitten?“

Knut Schurt war ein Unternehmer aus Köln, der sich mit seiner Angetrauten den Gardasee als Zweitwohnsitz ausgesucht hatte. Beatrice stammte wie Toni ursprünglich aus Rom, was den Ausschlag für das Vermieten der leer stehenden Wohnung gegeben hatte, die Schurts hätten es finanziell nicht nötig gehabt. Die Bleibe, die Tonis Arbeitgeber, der Hoteldirektor Max Grob, ihm zur Verfügung gestellt hätte, wäre wesentlich kleiner und in einem Haus an der Straße gewesen. Hier gab es drei Zimmer, eine Terrasse mit herrlichem Ausblick und Ruhe. Außer natürlich Beatrice plapperte.

„Nein! Lass es.“ Edwina lehnte strenger ab als beabsichtigt. Beatrices Gatte war zwar nicht so gesprächig wie sie, hatte aber besseres Sitzfleisch. Der Sonntag sollte endlich einmal Toni und Edwina gehören. Eigentlich.

„Wahrscheinlich hat mein Knut ohnehin nur über Vino sinniert.“

„Weißt du denn, Beatrice, wer ihn gefunden hat, wenn er allein dort wohnte?“

Toni lachte laut auf. „Beatrice, gleich wirst du verhört. Die Chefinspektorin Teufel kann es nicht lassen.“

„Ich dachte, sie ist mit dir hier, weil sie sich eine Auszeit genommen hat.“

„Eigentlich schon, aber wenn es einen Toten gibt, wird es spannend.“

„Ist ja auch verständlich. Immerhin war sie eine Koryphäe.“

„Sie sitzt zwischen euch, Herrschaften!“ Edwina wedelte mit einer Hand.

Wieder lachte Toni und erhob sich. „Ich brauche noch einen Kaffee. Du auch, Winnie?“

„Die beste Idee.“ Edwina blinzelte ihm zu. „Danke, mein Schatz.“

Beatrice stand ebenfalls auf, zog Edwina aber zum Geländer hin.

Die Landschaft, die sich hier ausbreitete, leuchtete in sämtlichen Grüntönen. Blühende Gärten und viele hohe Bäume. Eingebettet die Wohnhäuser und Ferienunterkünfte. Grasflächen wechselten sich mit Feldern und Wäldchen ab. Noch hatte der Sommer nicht Einzug gehalten, die Vegetation strotzte vor Saft. Dazu eine weite Aussicht bis an den See. Wenn sie sich weit nach vorne lehnte und den Kopf nach hinten drehte, konnte Edwina den letzten oberen Abschnitt vom Turm von San Martino della Battaglia ausmachen. Mit seinen geschwungenen Bögen rundum und der italienischen Flagge, die sich im Wind bewegte, war er ein Blickfang, für den sie sich gerne streckte und verdrehte. Es beruhigte sie, die Erhabenheit des Bauwerks zu bewundern. Unbezahlbar der Blick. Edwina wunderte sich nicht zum ersten Mal, dass das Ehepaar Schurt unten im Parterre lebte und nicht längst nach oben gezogen war.

Ihre sogenannte Auszeit hatte schon am ersten Tag der Ankunft von Edwina Teufel und Antonio Russo begonnen.

Eine milde Märzsonne hatte geschienen, als die Chefinspektorin aus Wien und ihr Lebensabschnittsgefährte, seines Zeichens Landschaftsgärtner und eine treibende Kraft hinter Edwinas Pause von der Verbrechensbekämpfung, die Tür zum Appartamento in der Via Colli Storici im oberen Stock aufgesperrt hatten.

Eine schnelle und perfekte Entscheidung war es gewesen. Neben der schönen Wohnmöglichkeit gab es eine Bushaltestelle fast vor der Haustür. Aber man konnte Sirmione und seine Strände und Sehenswürdigkeiten ebenso in einer Dreiviertelstunde zu Fuß erreichen.

Sich zu bewegen, hatte ihr auch die Ärztin geraten. „Marschieren Sie sich Ihren Zorn von der Leber“, hatte Doktor Claudia betont. „Bewegung und Schreiben, mal das eine, dann das andere. Bald sind Sie wieder die Alte. Oder besser eine fast neue Ermittlerin.“