Die Mystik in Goethes Faust - Dr. Franz Hartmann - E-Book

Die Mystik in Goethes Faust E-Book

Dr. Franz Hartmann

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Beschreibung

Goethes "Faust" ist die dramatische Darstellung eines ewigen Vorganges, der sich beständig in der Welt als großem Ganzen wie auch im einzelnen Menschen vollzieht. In allen Formen ringt der Geist Gottes nach Offenbarung, die Formen aber widerstehen. In Ewigkeit scheint das Licht in das Dunkel; doch das Dunkel vermag das Licht nicht zu begreifen, weil es ihm entgegengesetzt ist und weil nur das Gleiche sein Gleiches erkennen kann. Ob wir Faust, Mephistopheles, Gretchen als historische Personen oder als Symbole allgemein wirkender Kräfte betrachten, bleibt sich am Ende gleich; denn jeder Mensch ist nichts anderes als eine Personifizierung einer Summe von allgemeinen in der großen Natur wirkenden Kräften und ein äußerliches sichtbares Symbol von Eigenschaften, die an sich selbst unsichtbar sind.

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Die Mystik in Goethes Faust

Eine Betrachtung

 

 

 

Dr. Franz Hartmann

 

 

* * *

 

 

Verlag Heliakon

 

©2022 Verlag Heliakon

Umschlaggestaltung: Verlag Heliakon

Titelbild: Très Riches Heures du Duc de Berry (Brüder von Limburg)

 

Vertrieb: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

 

www.verlag-heliakon.de

[email protected]

 

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verfassers unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

 

 

 

 

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Titelseite

Gedichte

Einleitung

I. Faust

II. Der Tragödie

Übersicht

Akt I

Kaiserliche Pfalz

Akt II – Homunculus

Klassische Walpurgisnacht

Akt III – Helena

Akt IV

Raufebold, Habebald, Haltefest

Akt V

 

 

 

Das Unzulängliche,

hier wird's Ereignis;

Das Unbeschreibliche;

hier ist's getan …

Chorus Mysticus

 

So wirkt mit Macht der edle Mann

Jahrhunderte auf seines Gleichen:

Denn was ein guter Mensch erreichen kann,

ist nicht im engen Raum des Lebens zu erreichen

Drum lebt er auch nach seinem Tode fort,

und ist so wirksam, als er lebte;

die gute Tat, das schöne Wort,

er strebt unsterblich, wie er sterblich strebte.

So lebst auch du durch ungemessene Zeit;

Genieße der Unsterblichkeit.

Goethe.

 

 

 

 

 

Einleitung

„Ein jeder sieht, was er im Herzen trägt.“

Goethe

 

„Ich will das steinerne Herz aus eurem Fleische

wegnehmen, und euch ein neues Herz und einen

neuen Geist geben“

Hes. XI. 19

 

Der uns zunächst stehende Lehrer in der wahren Esoterischen Schule ist des Menschen eigenes Höheres Ich: die (geistige) Individualität, das Ego, die in jeder Verkörperung die vorübergehende Erscheinung der Persönlichkeit überschattet und beeinflusst. In diesem geistigen Menschen ist das Ergebnis der Erfahrungen aus früheren Daseinsformen angesammelt.1 Jeder Mensch weiß im Geist weit mehr, als ihm persönlich bekannt ist. Sein eigenes wahres Ich (Ego) ist die Schatzkammer seines Unbewussten und die Quelle seiner Intuition. Der esoterische Unterricht besteht darin, dass der Mensch sich seinem wahren Selbst nähert und dessen Licht empfängt. Dadurch gelangt nach und nach das, was der Geist des Menschen (d. h. der göttliche Lichtstrahl in ihm) weiß, zum intellektuellen Verständnisse seiner Persönlichkeit.

In der Jugend, solange der Mensch noch nicht ein durch Sinnlichkeit und Sophisterei verdorbenes Gemüt hat, steht er dem Reinen und Idealen näher und ist für dessen Einflüsse leichter empfänglich, als wenn er sich mitten im Dunst der Leidenschaften und der Nebel der intellektuellen Spekulation befindet. In reiferem Alter kommen dann diese Ideale leichter wieder zum Vorscheine.

»Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten,

die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt

Versuch’ ich wohl, euch diesmal festzuhalten?

Fühl’ ich mein Herz noch jenem Wahn geneigt?

Ihr drängt euch zu! Nun gut, so mögt ihr walten,

wie ihr aus Dunst und Nebel um mich steigt.«

Was Goethe hier als einen „Wahn“ bezeichnet, ist nicht als Irrwahn aufzufassen. Der Irrwahn tritt erst dann ein, wenn die Ideale aus dem jugendlichen Herzen durch die rohe Gewalt des Spottes, der Zweifelsucht und des Unverstandes herausgerissen und durch eine verkehrte Erziehung vertrieben werden. In günstigen Fällen tritt dann vielleicht im Alter wieder geistige Klarheit ein, sodass der Geist das höchste Ideale als das einzig Reale erkennt. Dieses höchste Ideale ist keines Menschen persönliches Eigentum; man kann es nicht besitzen, sondern sich nur durch die Überwindung des Eigendünkels und der Habsucht dazu aufschwingen und in ihm aufgeben.

»Was ich besitze, sehʼ ich wie im Weiten,

und was verschwand, wird mir zu Wirklichkeiten.«

Dieses Aufgehen des Einzelnen im Ganzen — und die dadurch bewirkte Verwirklichung des allgemeinen Ideales durch den Einzelnen, — das ist die Lehre und der Schluss, die wir aus Goethes „Faust“ zu ziehen haben. Es ist die gleiche Lehre, die allen Religionssystemen zugrunde liegt, der Kernpunkt und auch das Endziel einer jeden wahren Religion. In diesem Sinne betrachtet, ist Goethes „Faust“ ein tief religiöses, ja ein theosophisches Buch. Wir dürfen mit Sicherheit annehmen, dass Goethe seinen »Faust« verstanden hat ( — denn sonst hätte er ihn nicht geschrieben —), können aber auch dem Kritiker versichern, dass wir uns nicht anmaßen, zu beurteilen, welchen Sinn Goethe in seine Dichtung hineingelegt habe. Es kümmert uns nicht, was er hineingelegt hat, sondern wir suchen nur das, was darinnen ist. Um das alles aber zu beschreiben, dazu würde wohl ein Menschenleben nicht ausreichen.

Wenn einmal im Leben des Menschen das Licht der Erkenntnis aufgegangen ist, so möchte er das, was er in dieser Beleuchtung gesehen hat, der ganzen Welt mitteilen, weil es ihn selbst mit Jubel erfüllt. Aber wie soll er das machen? Wie kann er der großen Menge das erklären, wofür die große Menge kein Verständnis hat, weil sie selbst keine Klarheit besitzt? Dabei ist diese Menge viel größer, als man zu glauben geneigt ist; denn unter tausend Menschen, die sich „für das Esoterische interessieren“‚ sind vielleicht nur fünf, denen es ernst ist, die „Die Wahrheit“ nicht nur deshalb kennenlernen wollen, um sich die Zeit zu vertreiben oder ihre Neugierde zu befriedigen. Da geht es ihm wie dem Theaterdirektor im „Faust“:

»Ich wünschte sehr, der Menge zu behagen,

besonders, weil sie lebt und leben lässt.«

Die Menge wäre auch ein viel dankbareres Publikum, als die Kreise der Gelehrten und Sachverständigen, unter denen der Eigendünkel und hochmütige Nichtswisserei ihr Hauptquartier aufgeschlagen haben und im Gewand der „wissenschaftlichen Autorität“ Parade machen; denn wie könnte man die belehren, die schon alles selbst besser zu wissen meinen? Lehrt doch die Bibel, dass die verborgene Weisheit Gottes (Theosophia)1 nicht für die „Fürsten dieser Welt“ sei, und der bekannte Mystiker Bischof Tauler sagt: »Wer das Höchste zu sehen begehrt, der muss ein hocherhabener Stern sein, alle irdischen und vergänglichen Dinge meiden und erleuchtet sein vom Heiligen Geiste; denn sonst kann er nicht zur Anschauung und Betrachtung himmlischer Dinge gelangen.«

Dass es aber über dem Reiche der intellektuellen Forschung noch ein Höheres Reich der Anschauung gibt, in dem allein die Selbsterkenntnis der Wahrheit zu finden ist, das können die am allerwenigsten begreifen, die gänzlich vom Nebel der Spekulation umgeben sind.

Vivekananda sagt: »Ein Stück Holz denkt nicht, weil es nicht denken kann; Gott denkt nicht, weil Er es nicht mehr nötig hat«. Das Denken ist nur ein Mittel, um zur Erkenntnis zu gelangen. Wo das objektive Betrachten und Denken aufhört, da fängt die Selbsterkenntnis an.

Aber die große Menge, die weit entfernt ist‚ das Denken überstiegen zu haben, hat noch nicht einmal selbst zu denken gelernt.

»Und seht nur hin, für wen ihr schreibt!

Wenn diesen Langeweile treibt,

kommt jener satt vom übertischten Mahle,

und was das Allerschlimmste bleibt,

gar mancher kommt vom Lesen der Journale.

Man eilt zerstreut zu uns wie zu den Maskenfesten,

und Neugier nur beflügelt jeden Schritt.

Die Damen geben sich und ihren Putz zum Besten,

und spielen ohne Gage mit.«

Und alles das geschieht nicht nur auf den Brettern, die die Welt bedeuten, sondern in der ganzen Welt, unter allen Ständen und Klassen, in religiösen sowohl als wissenschaftlichen Dingen, unter Exoterikern und Pseudo-Esoterikern, am allermeisten aber in jenen Gesellschaften, in denen sich die größten Fanatiker befinden. Welchem Vernünftigen könnte wohl am Lob oder Tadel einer solchen Zuhörerschaft etwas gelegen sein?

»Was macht ein volles Haus auch froh?

Beseht die Gönner in der Nähe!

Halb sind sie kalt, halb sind sie roh.

Der nach dem Schauspiel‚ hofft ein Kartenspiel,

der eine wilde Nacht an einer Dirne Busen.

Was plagt ihr armen Toren viel

zu solchem Zweck die holden Musen? …

Sucht nur die Menschen zu verwirren;

sie zu befriedigen, ist schwer.«

In der Tat drängt sich die Frage auf, ob das Verwirren nicht das beste Mittel sei, die Menge zum eigenen Nachdenken zu bewegen, sie aus dem Todesschlafe des Nichtdenkens und Unverstandes aufzurütteln und durch Anregung des Denkens zur Klarheit zu bringen. Es gibt wohl nichts in der Welt, das mehr Unheil angerichtet hat, als das Missverstehen der Religion und keine Scheußlichkeit, die nicht schon in ihrem Namen verübt worden ist. Hätte das Licht der Religion niemals in die Welt geschienen, so wäre es verhältnismäßig ruhig in der Welt geblieben; aber es wäre die Ruhe des Grabes und der Verdummung gewesen. Gäbe es kein Übel auf der Welt, so gäbe es auch keine Weisheit und nichts Gutes, weil das Gute nur durch die Überwindung des Bösen zu erfahren ist. Da sich die Menschheit selbst alle Übel, unter denen sie leidet, durch ihre verkehrte Auffassung Der Wahrheit geschaffen hat, so muss sie auch (als Ganzes und jeder Einzelne in ihr) durch eigenes Denken und Handeln zur Überwindung der Dummheit und der Leidenschaften gelangen. Der Teufel ist somit gewissermaßen das Mittel zur Erlösung der Welt; denn ohne die Überwindung des Bösen kann niemand zu jener Klarheit gelangen, die nur aus der Überwindung des Bösen entspringt. Ein „Faust“ ohne „Mephistopheles“ würde sein Lebenslang eine Schlafmütze bleiben. Wäre jeder mit dem Dunkel zufrieden, so gäbe es auch kein Streben nach Licht.

Aber auch onhne das Licht selbst gäbe es keine Erlösung. Der Wahlspruch der Familie Rohan lautet: »Durch Nacht zum Licht!« (Per aspera ad astra). Wohl muss sich der Mensch durch eigene Kraft aus der Nacht zum Licht erheben lernen; aber diese Kraft ist das ihm verliehene Licht. Er könnte mit seiner selbst verfertigten Laterne Jahrtausende im Dunkel suchen und würde doch nicht das Licht der Sonne finden; wo aber die Sonne ist, da bedarf es keiner Laterne. So können wir nur durch die Kraft des Lichtes, das uns durch die Gnade Gottes verliehen ist, aus der Nacht der Nichterkenntnis zum wahren Lichte der wahren Lichte der Gotteserkenntnis gelangen. (Das ist die esoterische Bedeutung jenes Wahlspruches.)

Wohl kein Mensch kann einem anderen etwas Esoterisches begreiflich machen, wenn nicht jeder von beiden das Esoterische schon in sich selber hat. Etwas, das man äußerlich lehrt oder nur äußerlich erfasst, ist nicht esoterisch, sondern exoterisch. Könnte man die heiligen Geheimnisse der göttlichen Natur dem geistlosen und unheiligen und unerleuchteten Verstande derer beibringen, die nur in ihrem Gehirne leben, deren Herz aber versteinert ist, so müsste diese Wissenschaft selbst, gleich dem modernen Rationalismus, geistlos sein. Doch in jedem Menschen ruht ein Funke des göttlichen Lichtes, den der Mensch zu seiner Erleuchtung bedarf und den er als ein Geburtstagsgeschenk von der Hand seines Schöpfers, seiner dauernden Individualität, erhalten hat. In jedem Menschen kann dieser Funke erweckt werden, wenn der Mensch die nötige Reife erlangt hat. Dadurch, dass wir in uns selbst das Wahre finden, entdecken wir es auch in anderen Dingen; und finden wir es in anderen Dingen, so entdecken wir es schließlich auch in uns selbst. So wächst eins aus dem anderen; die Erkenntnis Gottes, des Menschen und der Natur bedingen sich gegenseitig, und aus dieser Wechselwirkung wächst der Baum der Selbsterkenntnis hervor, der Gott, Mensch und Welt umfasst.

»In bunten Bildern wenig Klarheit,

viel Irrtum und ein wenig Wahrheit;

so wird der beste Trank gebraut,

der alle Welt erquickt und auferbaut.«

In allen Dingen ist Wahrheit enthalten, aber sie ist nicht jedermann offenbar. Dichtung ist nur für den ein Betrug, der die Form nicht vom Inhalte unterscheiden kann. Die ganze Welt wäre ein großer Betrug, wenn sie in Wirklichkeit das wäre, was sie zu sein scheint; so aber ist die Welt eine Offenbarung Der Wahrheit, und wir betrügen uns selbst, wenn wir sie nicht erkennen und sie für etwas anderes halten, als was sie in Wirklichkeit ist. Von Jesus von Nazareth bis auf H. P. B. und viele andere worden alle Erleuchteten, die das Licht zu verbreiten suchten, von denen, die sich selbst betrogen, weil sie sie missverstanden, für Betrüger gehalten. Gott hat uns die Welt, Goethe seinen „Faust“ vor Augen gestellt, damit jeder selbst soviel Erkenntnis daraus schöpfe, als er erfassen kann. Jedoch kann jeder nur das erfassen, was seinem innersten Wesen entspricht.

»Ein jeder sieht, was er im Herzen trägt.«

Auch die große Menge ist noch nicht empfindungslos geworden.

»Sie ehren noch den Schwung, erfreuen sich am Schein.

Wer fertig ist, dem ist nichts recht zu machen,

ein Werdender wird immer dankbar sein.«

Alle Darstellungen und Belehrungen sind nichts weiter als Hilfsmittel zur Selbsterkenntnis. Die beste Schule, zur Selbsterkenntnis zu kommen, ist das Leben mit seinen Erfahrungen. Der Mensch lernt in dieser Schule umso schneller, je weniger er in seine Meinungen verbohrt ist und je weniger er an seinen Irrtümern haftet. Wer sich einbildet, schon ein Gewordenen zu sein, der steht still; er wird im Fegefeuer dieses materiellen Lebens verharren und immer wieder zu ihm zurückkehren müssen, bis er die Irrtümer loslässt, an denen er festhält, und in die Freiheit tritt, aus der ihn niemand ohne seinen Willen befreien kann. Um aber die Irrtümer loszulassen, an denen wir hängen, dazu müssen wir erst erkennen, dass es Irrtümer sind, und das geschieht durch die aus diesen Irrtümern entspringenden Leiden, die sowohl den Einzelnen als die Gesamtheit betreffen. Die wahre Freiheit tritt aber erst dann ein, wenn der Mensch heraustritt aus der Beschränktheit, die ihm sein Eigendünkel auferlegt, und sich als Ganzes im Ganzen und als eins mit dem Ganzen erkennt. Das ist das alte Wahre‚ das seit Jahrtausenden der Menschheit gepredigt wird, das aber immer noch nur wenigen begreiflich ist und das uns auch Goethe in seinem „Faust“ anschaulich gemacht hat.

Goethes „Faust“ ist die dramatische Darstellung eines ewigen Vorganges, der sich beständig in der Welt als großem Ganzen wie auch im einzelnen Menschen vollzieht. In allen Formen ringt der Geist Gottes nach Offenbarung, die Formen aber widerstehen. In Ewigkeit scheint das Licht in das Dunkel; doch das Dunkel vermag das Licht nicht zu begreifen, weil es ihm entgegengesetzt ist und weil nur das Gleiche sein Gleiches erkennen kann. Ob wir Faust, Mephistopheles, Gretchen als historische Personen oder als Symbole allgemein wirkender Kräfte betrachten, bleibt sich am Ende gleich; denn jeder Mensch ist nichts anderes als eine Personifizierung einer Summe von allgemeinen in der großen Natur wirkenden Kräften und ein äußerliches sichtbares Symbol von Eigenschaften, die an sich selbst unsichtbar sind. Jedes Geschöpf ist gleichsam ein Brennpunkt, in dem sich in der ganzen Natur wirkende Lichtstrahlen vorübergehend gesammelt haben und von dem sie wieder ausströmen. In unvernünftigen Wesen wirken diese Kräfte ohne Vernunft, in denkenden unter der Leitung der Vernunft, in erleuchteten in bewusster Übereinstimmung mit dem, Gesetze des Geistes in der Natur. Im Menschen selbst ist alles enthalten: Gott und Natur, Himmel, Erde und Hölle. Die wahre Selbsterkenntnis des Menschen umfasst folglich alles, was im ganzen Weltall enthalten ist. Der Mensch ist seinem Ursprung nach ein himmlisches Wesen, das einen erdgeborenen tierischen Körper bewohnt. Somit beginnt die Tragödie „Faust“ füglich im Himmel, und Gott, der Herr, wird als Person eingeführt, obgleich Er keine Person, sondern das eine, ewige, unteilbare und allgegenwärtige Wesen aller Dinge, die Seele der Seelen ist; denn ohne eine solche bildliche Darstellung wäre überhaupt keine Darstellung möglich.

Gott ist der Herr im Weltall und in jedem Geschöpfe, weil Sein Wille alles bewegt. Er ist auch der Herr durch Seine Gerechtigkeit. Was sich Ihm widersetzt, geht am Ende zugrunde. Mephistopheles ist das Produkt des Egoismus; der Eigendünkel, der sich Gott gleichstellen will, und der Eigensinn, der aus der Nichterkenntnis „Der Wahrheit“ entspringt, die mit dem Irrtume verbunden ist. Demnach sind auch alle Menschen, die sich selbst klug dünken und keinen Glauben im Herzen tragen, vom Teufel besessen, und Mephistopheles, die Zweifelsucht, begleitet sie durchs Leben. Zu seinem Schutz hat der Mensch die Vernunft. Die Vernunft aber ist nicht das Himmelslicht der Gottesweisheit, sondern nur sein Abglanz. Ohne sie würde der Mensch vielleicht, glücklicher sein, aber keine Weisheit erlangen.

»Ein wenig besser würd' er leben,

hätt’st du ihm nicht den Schein des Himmelslichts gegeben;

er nennt’s Vernunft und braucht's allein,

um tierischer als jedes Tier zu sein.«