Die nachhaltige Pflege von Holzböden - Will Wiles - E-Book
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Die nachhaltige Pflege von Holzböden E-Book

Will Wiles

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Beschreibung

Britischer Humor par excellence: sehr skurril, höchst originell

Oskar ist Komponist moderner Stücke, wie etwa seinen Variationen über Trambahnfahrpläne, und mit einer amerikanischen Kunsthändlerin verheiratet. Er lebt in einer osteuropäischen Hauptstadt mit seinen beiden Katzen, die er nach russischen Komponisten benannt hat. Aber eigentlich geht es in diesem Buch nicht um Oskar, denn der ist gerade in Kalifornien, um sich scheiden zu lassen. Deshalb beauftragt er einen alten Freund aus Studienzeiten, in seiner Abwesenheit auf die exquisit eingerichtete Wohnung aufzupassen, auf dass seine Katzen und besonders der kostbare Holzboden keinen Schaden nehmen. Aber natürlich geht schief, was schiefgehen kann, eine Katastrophe reiht sich an die nächste, und trotzdem geht die Geschichte dann am Ende gut aus.

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Seitenzahl: 361

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Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel »Care of Wooden Floors« im Verlag HarperPress, London.

1. AuflageCopyright © 2012 by Will WilesCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013 bei carl’s books, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbHSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-09030-2www.carlsbooks.de

Für Dan Hemingway (1972–1991)

ERSTER TAG

Viele haben Angst vorm Fliegen, was ich nie verstanden habe. Es ist doch eine interessante Erfahrung, selbst auf den engen Sitzen der Holzklasse, in einer lauten Kabine, auf einem dreistündigen Billigflug ohne Verpflegung. Immerhin ist man in der Luft. Man schwebt DRÜBER. Das ist außergewöhnlich im wahrsten Sinne des Wortes: außerhalb des Gewöhnlichen. Das Gewöhnliche fällt nach unten weg, für Minuten in ein Mosaik aus Grün und Braun und Quecksilber verwandelt, und dann ist man in den Wolken.

Nie war das Leben besser als jetzt, und das nicht allein dank Penizillin, Wasserspülung und Zentralheizung, sondern weil wir nun auf die Wolken hinabblicken können. Wolken bleiben der Verheißung ätherischer Schönheit absolut treu. Als Kind stellte ich mir die Wolken warm und weich vor, weil ich wusste, dass sie aus Wasser waren, also Dampf sein mussten, denn so sahen sie ja aus, und Dampf war warm. Perfekte Logik. Natürlich sind sie nicht warm, doch im klimatisierten Zylinder unseres Billigfliegers erfüllen sie ihre alte Verheißung, weil sie von Sonnenlicht überflutet sind – egal, welches Wetter darunter herrscht, auf der Oberseite der Wolken ist es immer sonnig, garantiert, das ist ihr kleines Wunder.

Die Künstler der Renaissance müssen die Wolken sehr geliebt und ihre natürliche Pracht bewundert haben, und da sie sich von ihrer wahren Glorie abgeschieden fühlten, blieb ihnen nur, sie mit Putten und Seraphim zu bevölkern. Sie verliehen dem wunderbaren Gefühl, über den Wolken zu schweben, derart gekonnt Gestalt, dass man fast erwartet, diese Himmelsbewohner vorzufinden. Aber nein. Man ist allein über einer Landschaft, die sich ständig verändert, ewig einzigartig, ewig neu für den Betrachter, mit wogenden Zirrusfeldern und brodelnden Berggipfeln in endloser Weite. Man fühlt sich als Entdecker eines neu gefundenen Landes.

Doch trotz all dieser Schönheit und Weltabgeschiedenheit bleibt einem das Unvermeidliche nicht erspart – man muss zurück, muss wieder hinab in die Unvollkommenheit.

Landung, Flughafen, Passkontrolle, Gepäckabholung und Taxi verdichten sich in meiner Erinnerung zu einem Keil aus gelblichem Neonlicht, Schweiß und Stress. Es war einer jener grässlichen Momente, da einem auffällt, dass die einzigen Dinge, die einen mit dem verbinden, wer man ist, wo man herkommt und wo man hinfährt, ein kleines purpurfarbenes Büchlein und eine Adresse auf einem Blatt von einem Spiralblock sind. Der Block befindet sich in einer Reisetasche, die hoffentlich irgendwann halbwegs intakt auf dem Laufband zum Vorschein kommen wird. Sie enthält die restlichen Hinweise darauf, wer man ist. Wer ich bin. Die Adresse, falls nicht doch verkehrt notiert – war es 70 oder 17? –, ist die eines Mehrparteienhauses in einer mir vollkommen fremden Stadt, an die dreißig Kilometer von diesem Flughafen entfernt, und der Taxistand ist der Lebensnerv, der mir Unterkunft, Nahrung und Erholung in Aussicht stellt – falls ich nicht übers Ohr gehauen, ausgeraubt oder umgebracht werde, oder irgendeine groteske Kombination aus allen drei. Solche Dinge passieren in fremden Städten, hatte man mich gewarnt, und in der behaglichen Wärme der Abendgesellschaft hatte ich versucht, das Lächeln eines erfahrenen Reisenden aufzusetzen, während die schauerlichsten Geschichten die Runde machten. Ich war alles andere als ein erfahrener Reisender.

Aber es gab keine Pannen, keine der befürchteten Unbilden ereignete sich, der Schlüssel passte, und so stand ich denn auf der Türschwelle von Oskars Wohnung und nahm sie zum ersten Mal in Augenschein.

Vielen Dank für Deine Hilfsbereitschaft; Du bist ein echter Freund. Mir ist nicht wohl dabei, die Wohnung so lange allein zu lassen, auch wegen der Katzen … es wird Dir dort gefallen, es ist eine sehr schöne Wohnung …

Die Wohnung, Hausnummer 17, befand sich im ersten Stock eines sechsstöckigen, bleigrauen modernistischen Wohnblocks aus der Zwischenkriegszeit, nahe der Stadtmitte, in einer mit ähnlich klobigen Bauten vollgepackten Straße, die der Taxifahrer mühelos fand. Und es war tatsächlich eine sehr schöne Wohnung.

An der Uni, erinnerte ich mich, war Oskar der donnernde Ruf guten Geschmacks vorausgeeilt. Die knisternde Spannung, die ihn umgab, war Ausdruck der ständigen Bereitschaft, einen Blitzstrahl zorniger Verdammnis auf alles Billige, Hingepfuschte oder – schlimmste aller Sünden – Vulgäre hinabzuschleudern. Während der Blitz auf sein Zielobjekt niederfuhr, verzog Oskars Oberlippe sich zu einer verächtlichen Grimasse in Form eines großen A für Abscheulich. Anscheinend hatte er diese Ideologie flächendeckend auf sein Zuhause übertragen, wie diese Wohnung zeigte.

Ein breiter Flur erstreckte sich von der Eingangstür zum nach Süden ausgerichteten Wohnzimmer. Der Flur war lichtdurchflutet, mit hellem Dielenboden und eisig weißen Wänden. Zwei dunkle Holztüren, wie Dominosteine auf einem Betttuch, gingen nach rechts ab, die eine in der Mitte, die andere fast am Ende des Flurs. Linker Hand zeigte sich eine vermutlich von Oskar vorgenommene Modernisierungsmaßnahme: eine lange Glaswand trennte die großzügig bemessene Küche vom Flur, an dessen Ende eine Stufe hinab ins Wohnzimmer führte. Der helle Dielenboden erstreckte sich über die ganze Wohnung, und die Glasscheibe, die wohl eine nicht tragende Wand ersetzt hatte, ließ das Tageslicht, das durch die breiten Südfenster fiel, gleichmäßig durch den gesamten Raum strömen.

Geschmack und Geld waren in diesem Raum zusammengetroffen. Holz, Stahl und Glas waren die veredelten Substanzen, die aus dieser Verbindung hervorgegangen waren.

Die Eingangstür fiel mit einem satten, Sicherheit verheißenden Wumm ins Schloss, und ich ging den Flur hinunter. Den Mittelpunkt des Wohnzimmers – Wohnareals? – bildeten ein Sofa und zwei Sessel, klobig und kastenförmig aus schwarzem Leder und Chrom, das Design eines toten Schweizer Architekten. An der linken Wand stand ein riesiges Bücherregal, größtenteils mit Büchern gefüllt, aber auch mit einigen ausgesuchten Objekten. Die Küche bestand gänzlich aus Aluminium und Stahl. Wohl alles Importware, nach den heimischen Produkten zu schließen, die ich am Flughafen gesehen hatte. In der Küche gab es einen Tisch mit drei Stühlen. Wie oft lud Oskar Gäste ein? An der Uni war er ein guter, aber nicht unbedingt eifriger Gastgeber gewesen. Er zog Restaurants vor, die wir Stipendiaten uns eigentlich nicht leisten konnten. Die Küche sah mehr nach einem Ausstellungsstück als nach einem Arbeitsraum aus. Alles war makellos sauber und ordentlich. Auf dem Tisch stand ein Krug mit sorgfältig arrangierten Zweigen, ebenso wie auf dem Couchtisch, neben ein paar fächerförmig angeordneten Zeitschriften – New Yorker, Time, Economist (über einen Monat alt), Grammophone. Noch mehr Zweige und eine vier Tage alte International Herald Tribune befanden sich auf einem Tischchen unter dem mittleren der drei Fenster.

In einer Art Besitzergeste stemmte ich die Hände in die Hüften und atmete tief aus, ein Seufzer der Erleichterung, angekommen zu sein, aber auch der Bewunderung. Wie befriedigend, wenn die Wirklichkeit sich so exakt mit den Erwartungen deckt, und wenn ein Mensch so absolut dem Bild entspricht, das man sich von ihm macht! Genau so hatte ich mir Oskars Wohnung vorgestellt – sie war einfach der passende Lebensraum für seine Mentalität, wie ich sie kannte. Oskar, der Vielsprachige. Oskar, der Design und Modernität und teure, extravagante Schlichtheit liebte. Der seidige Holzboden war nicht genagelt, sondern manikürt. Das Einzige, was fehlte, war ein Klavier.

Hätte ich nicht gewusst, dass Oskar Musiker war, hätte man es leicht an den Schwarzweißfotos erkennen können, die hinter rahmenlosem Glas an den Wänden verteilt waren: Oskar am Flügel, Oskar mit Dirigentenstab, ein jüngerer Oskar, der einem älteren Mann, den ich nicht kannte, die Hand schüttelte, Oskar beim Entgegennehmen eines Preises, Oskar … Oskar mit mir. Wir waren zu viert auf dem Bild, kurz vor dem Uni-Abschluss. Dichteres, dunkleres Haar, keine Bäuche. Ein anderes Ich. Ich versuchte mich an die Situation zu erinnern, in der das Foto gemacht worden war. Es gelang mir nicht.

Und … keine Fotos von Oskars Frau. Und kein Klavier. Keine Preisurkunden. Rätselhaft.

Die erste Tür, die ich öffnete – die den Fenstern am nächsten gelegene –, löste einen Teil des Rätsels. Die Wohnung befand sich an der Ecke des Hauses, und das Zimmer, das ich betrat, füllte die Ecke der Wohnung aus. Zwei weitere Südfenster setzten die Reihe aus dem Wohnzimmer fort, und in der rechten Wand gab es ebenfalls eins, wodurch das einströmende Licht, das jeden Winkel und jedes Staubkorn hervorhob – und selbst die Staubkörner wirkten ordentlich und geregelt in ihren Flugbahnen –, die schwarz gelackte Oberfläche des Pianos mit einer zahnpastaweißen Glasur überzog. Also doch ein Klavier, in der hintersten, äußersten Ecke der Wohnung. Noch weiter außen, und es hätte auf dem Bürgersteig an der Straßenkreuzung gestanden. Anders als die Küche besaß dieser Raum eine Aura zweckmäßiger Betätigung. Die eine Wand war bedeckt mit Regalen voller Ordner, Schallplatten, CDs, Kassetten, Notenhefte, gerahmter Urkunden, (weiterer) Fotos, Rezensionen, akademischer Ehrentitel. Ein Leben in Kurzform. Unter dem näheren der beiden Südfenster stand ein Schreibtisch mit Löschblatt-Schreibunterlage im Ledereinschub, Bechern mit Stiften und zwei Papierstößen – der eine unliniert, der andere mit Notenlinien versehen. Neben dem Schreibtisch stand ein Hi-Fi-Turm, der aussah wie das Produkt eines aufgegebenen skandinavischen Raumfahrtprogramms.

Während meines Aufenthalts hier, in dieser Open-end-Episode unfreiwilligen Müßiggangs, wollte ich schreiben. In London hatte ich mich mit einer bleiernen Schreibblockade herumgequält, und das hilflose Umhertigern zwischen den magnolienfarbenen Wänden meiner Claphamer Erdgeschosswohnung hatte jeglichen Ansatz von Inspiration erstickt. Was würde ich ohne diese Wände nicht alles vollbringen? Konnte in den drei bis vier Wochen, die ich hier abzusitzen hatte, womöglich ein ganzes Buch fertig werden? Vielleicht würde der Durchbruch mir erhalten bleiben, wenn ich wieder heimkam. Wenn ich irgendwo schreiben konnte, sagte ich mir, dann hier. Während ich in London im eigenen Saft schmorte, hatte ich mir oft den idealen Schaffensplatz ausgemalt, und immer sah er so aus wie der Raum, in dem ich mich gerade befand. Er schien förmlich imprägniert zu sein von Oskars Talent und Produktivität. Optimal anregend. Kurzgeschichten könnten hier entstehen, Theaterstücke, vielleicht sogar der Anfang eines Romans.

Am linken Rand des Schreibtischs klemmte einer dieser Kurbelbleistiftspitzer, die mich immer an die Schule erinnerten. Direkt darunter stand ein Edelstahlpapierkorb. Ich spähte hinein und wurde mit dem Anblick einiger Bleistiftspäne und eines weggeworfenen Trambahnfahrplans belohnt. Abfall, Müll geradezu, offen sichtbar hinterlassen für jeden Dahergelaufenen. Oskar war offenbar nicht mehr ganz auf der Höhe. Für einen Zwangsneurotiker wie ihn war so etwas schon ein krasser Lapsus.

Wie auf Stichwort, siehe Fahrplan, rumpelte eine Trambahn unten durch die Straße. Hatte Oskar nicht ein Stück geschrieben, das Variationen über Trambahnfahrpläne hieß? Erfreut über mein gutes Gedächtnis schlenderte, ich zum Flügel und klappte den Deckel hoch. Dabei flatterte ein Zettel heraus und segelte in eleganter Kurve zu Boden. Ich hob ihn auf und las, was Oskar in seiner spitzen, pingeligen Handschrift vermerkt hatte:

Bitte NICHT mit dem Piano spielen.

Das würde mir nicht schwerfallen, da ich nicht Klavier spielen konnte. Vorsichtig, respektvoll ließ ich die Fingerspitzen über die Tasten gleiten. Die weißen hatten einen leichten Nikotingilb, die schwarzen waren einfach schwarz. Braunschwarz? Blauschwarz? Nein. Schwarzschwarz? Ich klimperte die beiden hohen Töne, die Musikbanausen immer klimpern, wenn sie sich bemüßigt fühlen, Klaviertasten anzuschlagen.

Aktenordner, alle mit Oskars spitziger Schrift markiert – Solo #2, Comp 00-02, Halle Aug 01, Div 04. Jeder war vollgestopft … nein, gestopft natürlich nicht. Jeder war mit sorgsam gebündelten Zeitungsausschnitten, Faltblättern, Notenblättern, Kontoauszügen, Reiseunterlagen und Hotelrechnungen bestückt, in etwa so, wie man ein formelles Blumenbukett arrangieren würde. Oskar, der Gewissenhafte. Oskar, der durchorganisierte Musiker.

Fotos, Oskar mit Leuten, die ich nicht kannte, in Frack und Fliege.

Mein Gepäck, fiel mir ein, war immer noch an der Wohnungstür, und auspacken musste ich auch noch. Die Tür, die ich noch nicht geöffnet hatte, musste ins Schlafzimmer führen. Sie aufzubringen, geriet zu einer fast akrobatischen Aktion, die Reisetasche in der linken und die Laptoptasche an zwei Fingern der rechten Hand, um mit den übrigen zwei und dem Daumen den Knauf zu drehen.

Krallen auf dem Boden näher kommen zu hören und ein Tier, das springt, hat etwas Atavistisches. Es aktiviert etwas auf der tiefsten Ebene des Reptiliengehirns, lässt die Sicherheitsriegel aufspringen, löst einen Reflex aus, der aufs Überleben programmiert ist und noch immer einsatzbereit, obwohl er so gut wie nie gebraucht wird. Ohne Sinn und Zweck sandte es seine Botschaft an eine wehrlose Drüse aus wie ein Kneipenrowdy seine Bestellung – ’ne Halbe Adrenalin, und zwar ein bisschen plötzlich, du alte Vettel. Unwillkürlich spannte ich mich abwehrbereit an, als zwei pelzige Pfeile zwischen meinen Beinen hindurch in Richtung Wohnzimmer schossen. Verspätet und beschämend manifestierte sich meine steinzeitliche Urangst als leichter Schweißausbruch.

Ah, dachte ich, die Katzen. Oskar hatte Katzen erwähnt, und hier waren sie, beziehungsweise da, wo auch immer sie gerade hin waren. Angst vor Katzen! Na ja, eigentlich mehr Überraschung, einfach bloß ein Schreck. Und außerdem, dachte ich, an ein deutlich neuzeitlicheres Gehirnareal appellierend, es hat mich ja keiner vor den Katzen erschrecken sehen.

Alles klar.

Bei ihnen einschmeicheln konnte ich mich später noch. Erst einmal ging ich ins Schlafzimmer und setzte meine Taschen neben dem weißleinenen Doppelbett ab. Hier gab es weniger zu sehen, eigentlich nur das Bett, einen Korbsessel und einen großen Schrank. Auf dem Sessel lag ein wollweißes Kissen, das dem Raum, der ansonsten so kühl modernistisch wie der Rest der Wohnung war, wohl etwas Heimeliges geben sollte. Der Sessel hatte eine Aura von trauriger Unbenutztheit, von Bedauern darüber, zum Sitzen geschaffen, doch meist der Würdelosigkeit ausgeliefert zu sein, nur als Kleiderablage zu dienen.

Möbel sind so. Mit Behagen benutzt, so wie sie gedacht waren, absorbieren sie diese Erfahrung und geben sie wieder an den Raum ab, doch wenn sie, nur für den Effekt gekauft, in einer Ecke vor sich hin kümmern, strahlen sie nichts als Melancholie aus. Möbel in Museen (NICHT AUF DIESEN SESSEL SETZEN) haben etwas ähnlich Trostloses wie die unbesuchten Insassen von Altersheimen. Die ungestimmten Geigen und verstaubten Bücher, die manchen Vorstadtkneipen etwas Stimmungsvolles verleihen sollen, fühlen sich in ihrer zweckentfremdeten Rolle ungefähr so wohl wie eingesperrte Pumas im Zoo. Die großartige Küche, die selten oder nie für opulente Gastmahle genutzt wird, erstarrt in lebloser Kälte. Genau wie die Küche hier, dachte ich.

Im Schlafzimmer gab es noch einen weiteren Hinweis auf diese merkwürdige Psychologie der materiellen Güter: rechts und links vom Bett standen zwei Nachttische, und während der in der Nähe des Fensters eine Lampe, drei Bücher, einen Notizblock und eine Steinstatuette aufwies, war der andere leer bis auf eine identische Lampe. Also war klar, auf welcher Seite Oskar schlief und welche bis vor Kurzem noch die von seiner Frau gewesen war.

Diese Überlegungen waren kein Anzeichen von wachsendem Trübsinn, ganz im Gegenteil. Mein Lächeln wurde immer breiter. Ich hatte Oskars Einladung angenommen und war hier in diese Stadt gekommen, um Inspiration zum Schreiben zu finden, und ich war hocherfreut – geradezu begeistert –, dass ich mich nach so kurzer Zeit in ungewohnter Umgebung schon viel kreativer fühlte und mir Einsichten regelrecht zuflogen. Diese Euphorie wurde durch meine nächste Entdeckung noch verstärkt. Die Schlafzimmerwand bot eigentlich Platz für drei Fenster, aber es gab nur zwei, denn anstelle des mittleren ging eine Fenstertür auf einen schmalen Balkon hinaus. Sie war leicht zu öffnen und ließ einen Schwall von stickiger Stadtluft und Lärm ein. Ich trat hinaus.

Unten bebte das Straßenpflaster geradezu vor Verkehr. Wieder rumpelte eine Tram vorbei und schrillte sich durch einen Wust von verbeulten und altersschwachen Autos unvertrauter Marken: Ladas und Dacias und Oltcits. Die wenigen Passanten waren auf den prächtigen breiten Bürgersteigen mit schnellen, huschenden Schritten unterwegs zu fremden, unbekannten Zielen. Gegenüber lag ein weiterer, barock ausladender Wohnblock, so grau, dass er wie aus gepresster Asche errichtet schien. Überhaupt waren alle vier Straßen, die von der Kreuzung vor dem Haus abgingen, von klobigen grauen Vorkriegsbauten gesäumt, abgesehen von ein paar Mietskasernen im städtebaulichen Einheitslook der Neuzeit, die wohl ein halbes Jahrhundert alte Bombenkrater ausfüllten oder Teil einer verfehlten Modernisierungsinitiative der Sechzigerjahre waren. Wäsche hing auf Leinen zwischen den Balkonen, Topfpflanzen bildeten Farbflecke auf Fensterbrettern und Brüstungen, Tapeten in vier Dutzend verschiedenen Stilarten waren durch die Fenster zu erspähen. Diese exotische Heimeligkeit war eine wahre Wohltat nach dem Kältehauch von Oskars gutem Geschmack und klaren Linien.

Wieder versetzte ich mich im Geiste zurück zwischen meine vier Wände in Clapham. Wände, die von Stuhllehnen verschrammt und von Händen und Hinterköpfen angeschmuddelt waren. Teppiche, auf denen beschwipste Partygäste großzügig Brandlöcher und Rotweinflecken hinterlassen hatten. Eine ganze Landkarte der Makel und Abnutzungsspuren von namenlosen Missetätern. Die langsame, unaufhaltsame Versiffung durch Dutzende und Aberdutzende von Händen. Und war mir das aufgefallen? Nein. All die Kratzer bildeten nach und nach die Patina meines Lebens. Ich hatte einen Waffenstillstand mit der Entropie geschlossen, mich einfach damit abgefunden. Ich ließ es geschehen. Es war eine Mietwohnung – Eigentümer waren auf ein bestimmtes Maß an Herunterwohnen eingestellt, und das konnte ich locker erfüllen.

Aber wie sah Oskar das? Ihm gehörte die Wohnung, seit Jahren schon, und so picobello, wie er sie hielt …

Eigentlich wusste ich ganz genau, wie Oskars Einstellung dazu war. Er hatte nicht aufgegeben. Er würde diese Kleinigkeiten nicht übersehen. Er hatte sich der Entropie entgegengestemmt und ihr seine Bedingungen aufgezwungen.

Plötzlich empfand ich das alberne Bedürfnis, meine Anwesenheit vom Balkon aus bekannt zu geben, zu verkünden, dass ich angekommen sei und dass ich dableiben würde.

Natürlich hatte Oskar eine überaus sorgfältige Liste von Anweisungen auf dem Esstisch hinterlassen. Oskar war kein Chaot. Oskar war durchorganisiert. Unordnung war nicht sein Ding. An der Uni hatten wir uns immer über ihn lustig gemacht.

Frage: Was nimmt Oskar mit ins Grab?

Antwort: Einen Untersetzer.

Ha, ha. Das war eine Anspielung auf Oskars Angewohnheit – die wir Kommilitonen nur verulken konnten –, stets mit einem Untersetzer zur Stelle zu sein, wenn irgendwer ein frisch eingeschenktes Glas auf dem Tisch abstellen wollte. Das Verrückte daran war, dass das Mobiliar Eigentum des Colleges und ohnehin schon schwer gezeichnet war durch jahrzehntelangen Gebrauch wenig rücksichtsvoller Ableger der intellektuellen Blüte der Nation. Genauso verfuhr er sogar mit Bierdeckeln in Kneipen.

In der Wohnung war es totenstill, und die Katzen – schwarzweiß alle beide – putzten sich auf dem Sofa. Ich brauchte ein paar anregende Klänge, bevor ich mich Oskars Anweisungen widmen konnte, also ging ich zurück ins Arbeitszimmer, um mir eine CD auszusuchen.

An Auswahl herrschte jedenfalls kein Mangel: die Anzahl der CDs belief sich sicher auf eine vierstellige Ziffer. Wie zu erwarten, bestand die Mehrzahl davon aus klassischer Musik, mit deren Codes ich nicht sehr vertraut war – all die K sowiesos und Deutschverzeichnisse waren böhmische Dörfer für mich –, und so stöberte ich nach etwas Neuerem, das mir vielleicht etwas sagte. In einer verschämten Ecke des Musikregals fand ich schließlich Oskars halbes Dutzend Popmusikplatten: David Bowie, Simon and Garfunkel, Queen, The Kinks und die »Best of« von Velvet Underground, die ich herauszog und einlegte. »Sunday Morning« in Lou Reeds wehmütigen Rausamttönen erfüllte die fremde Wohnung in der fernen Stadt, und auch mich, mit Gelassenheit.

Vier DIN-A4-Seiten, eng beschrieben in Oskars spinnenbeiniger Klaue, an eine Weinflasche gelehnt. Ich las:

Mein alter Freund,

danke noch mal für Deine Hilfe in dieser für mich leider so schwierigen Zeit. Die Wohnung ist nicht groß, und viel verlange ich nicht von Dir, es geht mehr um das Gefühl, jemand, dem ich vertraue, vor Ort zu wissen und keine Einbrüche oder Brände befürchten zu müssen. Ich hoffe, Du bist Dir bewusst, dass ich Dir diesen Gefallen jederzeit gerne erwidern würde.

Lass mich zunächst auf meine Freunde, die Katzen, zu sprechen kommen. Sie heißen Schossy und Strawy. Sie sind in erster Linie auf ihr Eigenleben fixiert und flitzen oft hektisch durch die Gegend, aber sie sind sehr lieb und lassen sich gern hochnehmen und streicheln. Bitte tu das, es tut allen gut, meine ich! Natürlich müssen sie auch gefüttert werden, und man muss sich um ihre Hygiene kümmern. Futterdosen, Schälchen, Katzenstreu und Katzenklo sind in der Kammer neben der Küche, wo sich auch die Waschmaschine befindet. Sie brauchen eine halbe Dose am Morgen und die andere Hälfte am Abend, mit etwas von ihrem Trockenfutter bestreut, die Tüte steht bei den Katzendosen im Schrank. Bitte säubere das Katzenklo täglich; es gibt extra ein Schäufelchen für diese nicht sehr angenehme Arbeit! Außerdem muss die Katzenstreu jede Woche gewechselt werden.

Wenn Du ins Bett gehst, lass sie bitte zur Wohnungstür raus, und am Morgen wirst Du sie dann mit Frühstückshunger wiederfinden! Sie dürfen aufs Bett, ABER KEINESFALLS AUFS SOFA und auch nicht auf die Sessel im Wohnzimmer.

Mist. Ich sah hinüber zum Sofa. Die Katzen flackten dort noch immer hochzufrieden und genossen die verbotenen Freuden. Kein guter Einstand. Nun ja, aber hieß es nicht, sie seien »auf ihr Eigenleben fixiert«? Ich unterbrach meine Lektüre, um sie aus der verbotenen Zone zu vertreiben, und sah zu, wie sie sich unwillig in Richtung Schlafzimmer trollten, bevor ich weiterlas.

Bitte sieh zu, dass die Fenster und die Tür verriegelt sind, wenn Du die Wohnung verlässt und wenn Du zu Bett gehst. Ich habe Dir die Nummern des Klempners und anderer Handwerker notiert …

Ich fing an, die Zeilen zu überspringen. Notrufnummern, Ersatzschlüssel, nahe gelegene Apotheken, Supermärkte usw. Ein paar Details bezüglich der Stadt.

Während Du hier bist, nimm doch die Gelegenheit wahr, Dir etwas in der Philharmonie anzuhören. Das Orchester ist hervorragend, und das sage ich nicht nur, weil ich was damit zu tun habe! Die Sommerspielzeit hat gerade begonnen, und wenn ich sie schon selber nicht erleben kann, würde es mich freuen, mir vorzustellen, dass wenigstens Du etwas davon hast.

Ach ja, und schließlich noch das vielleicht Wichtigste, da die Katzen auf sich selbst aufpassen können und Dir schon zu verstehen geben werden, wenn sie etwas brauchen: BITTEGIBACHTAUFDENBODEN. Er ist aus französischer Eiche und hat mich eine Stange Geld gekostet, als ich ihn anstelle der alten Dielen habe legen lassen, und er muss wie das wertvollste Möbelstück in der Wohnung behandelt werden, abgesehen vom Piano natürlich.

Stell keine Getränke ohne Untersetzer darauf ab.

Putz Dir immer die Füße ab, wenn Du die Wohnung betrittst, und zieh die Schuhe aus, sobald Du drin bist.

Wenn Du irgendwas verschüttest, musst Du es SOFORT wegwischen!!! Damit der Boden keine Flecken bekommt. Bitte sei SEHRVORSICHTIG. Sollte aber doch ein Missgeschick (!) passieren, dann gibt es ein Buch auf dem Architekturregal, das Dir helfen könnte. RUFMICHAN, falls irgendwas passiert.

Die Putzfrau kommt zweimal die Woche (Du brauchst sie nicht zu bezahlen, es ist ein hauseigener Service, also keine Sorge).

Ich weiß nicht, wie lange ich in Los Angeles sein werde, keiner sagt mir was, vielleicht weiß es auch keiner. Aber ich glaube, in etwa drei Wochen werde ich zurück sein, oder weniger, wenn alles gut geht. Ich rufe Dich ab und zu an und lasse Dich wissen, wie es vorangeht.

Noch einmal vielen Dank. Der Wein ist für Dich. Bis bald, hoffentlich,

Dein alter Freund

OSKAR

Ich starrte noch eine Weile auf den Brief, nachdem ich ihn durchgelesen hatte, um zu sehen, ob sich irgendeine tiefere Bedeutung herauskristallisieren lassen würde. War eine Mitteilung von solcher Länge und Detailliertheit normal? Normal für Oskar, nahm ich an. Wie sehr es ihm zuwider sein musste, sich von seiner Wohnung zu trennen, und sei’s auch nur vorübergehend! »Jemand, dem ich vertraue«, hatte er geschrieben. Wirklich? Wohl doch nicht so vertrauenswürdig, dass ich nicht auf Schritt und Tritt durch Merkzettel gegängelt werden musste. Alles so sauber, so ordentlich. Ich dachte an die Bleistiftspäne im Papierkorb. Oskars Ordnungswahn trat durch geringfügige »Ausrutscher« wie diesen nur noch deutlicher zutage. Allerdings verfügte er auch über die Hilfe einer Putzfrau. Aber wie gründlich putzte die? London war voll von osteuropäischen Frauen, die Jobs als Reinigungskräfte suchten, doch ich hatte keine Ahnung, ob sie etwas taugten. Hatten wir es mit ihrem A-Team oder ihrem B-Team zu tun? Machten sich nur die besten und begabtesten Putzfrauen nach Westen auf? Oder nur solche, die in ihrem eigenen Land kein glückliches Händchen mit dem Staubwedel hatten?

Das Bücherregal, das die eine Wand des Zimmers einnahm, zog meinen Blick auf sich. Bücherregale sind teuflisch schwer sauber zu halten – der Staub sammelt sich überraschend schnell auf der Oberkante der Bücher an, und es ist mühsam und langweilig, diese Flächen gründlich zu reinigen. Ich schlenderte hinüber, um mir die Bücher genauer anzusehen. Außerdem suchte ich einen Stadtführer, der mir helfen würde, mich zurechtzufinden, wenigstens etwas besser als das rudimentäre Exemplar, das ich dabei hatte. Ich bezweifelte allerdings, einen zu finden, denn bei mir in London hatte ich auch nichts dergleichen zu bieten. Na, einen Versuch war es wert.

Wie der Rest der Wohnung waren auch Oskars Bücher überaus sorgfältig geordnet: erstens nach Kategorie, zweitens der Größe nach. Und sie waren in vier Sprachen präsent, Deutsch, Französisch, Englisch und Oskars Muttersprache. Pflastersteingroße, teure Hochglanzbände über Kunst, Fotografie und »Designklassiker« – vieles darunter von der eher unverdaulichen Sorte, Konstruktivisten, Vortizisten, Futuristen. Diane Arbus und Nan Goldin und eine Explosion von Wärme und Licht in den Bänden über Warhol und Lichtenstein, die Art von Kunst, die mich nicht so einschüchterte. Auch die Architektur war zuhauf vertreten, natürlich in erster Linie wieder die moderne: Le Corbusier und Mies van der Rohe, Richard Neutra und Herzog & de Meuron. Der Neutra wie der Lichtenstein brachten einen Hauch von Kalifornien in das Sortiment. Hatte Oskars Frau irgendeinen Einfluss auf den Inhalt der Bücherregale? Wohl kaum.

Das Vermischen der Bücherregale ist in einer Beziehung ein ultimativer, ja tollkühner Vertrauensbeweis, und Oskar war noch nicht mal in der Lage, auf demselben Kontinent wie seine Frau zu leben, ganz zu schweigen davon, seine Bibliothek mit der ihren zusammenzuschmeißen. Allein der Gedanke, stellte ich mir vor, würde ihn schmerzlich das Gesicht verziehen lassen. Doch sie schien nicht mal ein einziges Regalbrett für sich zu haben. Keins der Bücher, die sie vermutlich lesen würde, Auktionskataloge und juristische Journale, dicke Bestseller für diese endlosen Flüge um die Welt, Westküsten-Selbstoptimierungsratgeber, meterweise Managerbibeln von selbst ernannten »Gurus«, die Einblicke in die Geheimnisse der Businesswelt zum Besten gaben, oder die Bekenntnisse stinkreicher Psychopathen, die Aussprüche erfolgreicher Geschäftsleute und Spekulanten – nichts davon war hier zu sehen. Ihre Interessen hatten in Oskars geistiger Welt keinen Brückenkopf errichtet. Wer konnte es ihr verdenken, dass sie gegangen war?

Auch der Rest des Regals bot keine Überraschungen – lauter Bücher, die typisch für Oskar waren, etliche Romane und historische Werke, mehr oder minder die Klassiker des zwanzigsten Jahrhunderts: Koestler, Camus, Salinger, Solschenizyn, Kulturgeschichte, Bücher über den Zweiten Weltkrieg, die Nazis und die Sowjetunion, Schindlers Liste, neuere Politik mit Schwerpunkt Amerika, Russland, Deutschland, Werke über Musik, Biografien von Komponisten und Musikern. Nirgends ein Staubkorn, also wieder ein Punkt für Oskar. Aber schon begann der Staub, sich überall um mich her niederzulassen.

Ein Buch erregte meine Aufmerksamkeit – ein dicker Band über Oskars Orchester, die Philharmoniker, auf Deutsch. Es war offenbar anlässlich eines kürzlich gefeierten Jubiläums herausgegeben worden – 150 Jahre von diesem oder jenem. Ich schlug es auf, um nach Oskars Namen in der Inhaltsangabe zu suchen, und fand ein Faltblatt darin vor – ein Programm der laufenden Konzertsaison. Ich musste über diese Eitelkeit grinsen – ein Blatt mit dem eigenen Foto als Lesezeichen zu verwenden. Auf dem Bild stand Oskar neben einem anderen Mann, größer als er, mit schütterem, flachsfarbenem Haar und kugelrundem Kopf. Beide trugen die formelle Abendgarderobe, von der die klassische Musik durchseucht ist, und Oskars Begleiter hielt eine Geige in der Hand. Ein gutes Foto – ein warmes Lächeln von Oskar, was schon einen gewissen Seltenheitswert hatte. Oskar wandte die gleichen Regeln auf die Mimik wie auf die Inneneinrichtung an: weniger ist mehr. Ein Lächeln war eine überflüssige Extravaganz, ein Strahlen ein barocker Exzess.

Auf dem Konzertprogramm stand etwas in Oskars Handschrift:

Vielleicht nützlich?

Wieso sollte er das auf ein Programm seines eigenen Orchesters schreiben? Niemand kannte die Konzerttermine besser als er. Oder war das Programm für mich gedacht? Dann war es aber doch seltsam, es in diesem Buch zu verbergen – es sei denn, er wusste, dass ich hineinschauen würde, was eher unwahrscheinlich war. Oder vielleicht dachte er, wenn ich hineinschaute, wäre ich an dem Orchester interessiert und daher auch für ein Konzert empfänglich? Oskars Foto lächelte mich an, mit leisem Spott, wie mir jetzt schien. Vielleicht war das Faltblatt für jemand anders gedacht gewesen (die Ehefrau?), oder aber Oskar hatte die Angewohnheit, sich selbst Notizen zu hinterlassen.

Ich nahm das Programm heraus, klappte das Buch zu und stellte es ins Regal zurück. Seltsam, seltsam. Im Faltblatt waren drei Konzerte angekreuzt, die Daten jeweils unterstrichen. Die Saison, sah ich, hatte vor drei Wochen begonnen, doch die speziell markierten Konzerte fanden alle in den nächsten zwei Wochen statt, als wären sie für mich als Anregungen gedacht, mich kulturell zu betätigen, während ich hier in der Stadt war, oder als legte Oskar besonderen Wert darauf, dass ich mir diese Konzerte anhörte, aus irgendwelchen musikalischen Gründen, die ich nicht nachvollziehen konnte. Der nächste Orchesterabend fand in zwei Tagen statt.

Ganz plötzlich wurde mir die Seltsamkeit dieser ganzen Situation bewusst. Hier, in Oskars Wohnung, war sein ganzes Leben angesammelt, seine gesammelten Werke sozusagen. Und Oskars gesammelte Werke, die mich umgaben, spiegelten nicht nur seine Persönlichkeit, seinen ordnungsliebenden, taxonomischen Geist, sie spiegelten auch die Rillen und Kerben in dieser Geisteslandschaft, die weggeworfenen Tramfahrkarten, die schiefen Ebenen, die Faltenwürfe.

Zugleich mit diesem etwas unheimlichen Gefühl von Allwissenheit überkam mich ein Bedürfnis nach Häuslichkeit, einer kleinen Verneigung vor den Herdgöttern. Ich wollte mir eine Tasse Kaffee machen, um die Küche auszuprobieren. Außerdem wusste ich ja nicht, wann die Katzen zuletzt gefüttert worden waren. Oskar hatte sich wahrscheinlich darum gekümmert, bevor er heute Morgen aufgebrochen war – zumindest hatte er sie hereingelassen –, aber sie waren sicher wieder hungrig, und sie zu füttern, würde mich auf jeden Fall gut dastehen lassen. Aha, würden sie denken, dieser Typ weiß mit dem Dosenöffner umzugehen.

Aber zuerst mal Kaffee. Der Mensch hier bedurfte der Stärkung, bevor die Tiere dran waren. Ein Blick in die Schränke würde außerdem Klarheit darüber schaffen, ob es irgendetwas Verlockendes zum Abendessen gab. Natürlich bestand die schaurige Möglichkeit, dass Oskar nur Kaffeebohnen vorrätig hatte, die man mahlen müsste und filtern und all solch lästigen Humbug. So etwas sähe ihm ähnlich, und auf der Arbeitsfläche thronte eine verchromte Espressomaschine, die mich herausfordernd anblitzte. Die Schraubgriffe der Kaffeepulverbehälter deuteten mit anklagendem Finger auf mich.

Der Ergonomie der Küche gemäß probierte ich es mit der Schranktür direkt über dem trügerisch schimmernden Ungetüm. Der Erfolg – ein würziger Duft von getrockneten Bohnen und Blättern, vakuumverpacktes, schockgefrostetes, von Kennern der Materie für gut befundenes, konzernimportiertes Koffein für die verschiedensten Zubereitungsarten – ließ nicht auf sich warten, aber zugleich mit diesem erleichternden Aroma wurde auch ein Zettel aufgewirbelt und segelte hinab auf die Arbeitsfläche.

In Oskars penibler schwarzer Handschrift stand da:

Bediene Dich nach Bedarf bei Tee und Kaffee, aber ersetze bitte das Verbrauchte.

Eine Weile starrte ich verdattert auf den Zettel, nur ein kleiner, aus einem Block geschnittener Streifen Papier. Vielleicht war die Botschaft rücksichtsvoll gemeint, doch irgendwie war sie auch überflüssig. Fürchtete er etwa, ich würde die Wohnung sämtlicher Zutaten für ein Heißgetränk berauben, sodass er bei seiner Heimkehr Durst und Mangel leiden müsste? Wieso hielt er eine weitere Zettelnotiz für angebracht? Das Konzertprogramm lag noch auf dem Tisch, neben Oskars Anweisungen, die mir wirklich ausführlich genug erschienen. Nun ja, es war seine Wohnung, und er hatte nun mal seine ganz eigene Art, mit dem Leben klarzukommen. Das Gefühl, dass er bis vor Kurzem noch in der Wohnung anwesend war, hing als statische Spannung in der Luft. Er war eben ein Mensch mit sehr klaren Ansichten darüber, was sich in seinen vier Wänden abspielen sollte. Da war er immer schon eigen gewesen.

Vielleicht war es nur passend für einen Komponisten, dass er Dinge notierte. Schon an der Uni hatte Oskar unsere gemeinsame Treppe stets mit Zetteln übersät, Anweisungen, Verbote, Absichtserklärungen, Erinnerungen, Aufforderungen und Zurechtweisungen. In der ersten Woche des ersten Semesters tauchte eine kleine Notiz an der Rückseite der Tür unserer gemeinsamen Toilette auf: Bitte benutzt das Raumspray. O. Auf dem Spülkasten stand eine nagelneue Sprühdose: Kiefernduft. Keine der anderen Toiletten hatte Raumspray, aber diese war halt diejenige, die Oskar mitbenutzte. Er hatte die Dose selbst angeschafft. Da der Zettel an der Rückseite der Klotür hing, hatte ich unzählige Male die Gelegenheit, ihn in aller Ruhe zu studieren. Das O war hypnotisch – ein perfekter Kreis, ohne sichtbaren Anfang oder Ende.

Und das war erst der Anfang der Zettellawine. Meistens ging es darum, etwas NICHT zu tun. Bitte macht NICHT so viel Lärm nach ein Uhr morgens. Bitte lasst das Geschirr NICHT in der Spüle stehen. Auf unserer Etage teilten acht Leute sich eine Küche. Sie war der Anlass und Schauplatz endloser Streitigkeiten. Oskar war bei Weitem nicht der einzige Wohngenosse, der ständig etwas zu monieren hatte, und er tat es ausnahmslos auf die höflichste und maßvollste Weise. Doch seine kurz angebundene, frostige Art, die Förmlichkeit seiner Notizen und die pathologische Ordentlichkeit seines Zimmers trieben die Leute in die Defensive. Die anderen lieferten sich kreischende Szenen, die nach einer Stunde schon wieder vergessen waren. Sie warfen sich die wüstesten Beschimpfungen an den Kopf und gingen abends zusammen einen trinken. Oskar rastete nie aus, brüllte nie los. Er war oft ärgerlich, aber sein Zorn war so kontrolliert, moduliert und systematisch wie die Musik, die er später mal schreiben sollte. Natürlich brach er auch nie in überbordende Herzlichkeit oder haltloses Lachen aus. Richtig betrunken, also voll daneben, habe ich ihn nur dreimal erlebt.

Frage: Was trinkt Oskar am liebsten?

Antwort: Naturreinen Wodka.

Naturrein. Haha. Er mochte den Wodka eiskalt, direkt aus dem Tiefkühlfach – der hohe Alkoholgehalt bewirkt, dass er nicht gefriert. Die Flasche, die er für sich und seine Gäste kaufte, von der besten Marke, die er im Spirituosenladen kriegen konnte, verstaute er notgedrungen im Eisfach unseres gemeinsamen Kühlschranks. Für einen Studenten war das eine teure Anschaffung, und die Flasche nahm das gesamte Fach ein, das durch eine dicke Permafrostschicht auf Briefkastengröße geschrumpft war. Die Freundin eines unserer Nachbarn sah nicht ein, dass Wodka eisgekühlt sein muss, und verbannte die Flasche in die Kühlschranktür, als sie eine halbe Packung Schokoeis unterzubringen suchte.

Aus ihrem kleinen, unbeachteten Nest gerissen und den Blicken eines Halbdutzend durstiger Studenten ausgesetzt, kann man sich vorstellen, wie es der Flasche erging. Ein Großteil des Inhalts verschwand innerhalb von drei Nächten. Oskar entdeckte diesen Tatbestand in der vierten, als er jemanden zu Gast hatte. Er war stocksauer, und nachdem er die Eisfrevlerin (»nicht mal jemand aus unserem Stockwerk!«) ausgekundschaftet hatte, wanderte die Flasche wieder zurück an ihren rechtmäßigen Platz – mit einem Zettel, auf dem stand: Bitte NICHT aus dem Eisfach nehmen.

Diese Auseinandersetzung setzte bei den anderen etwas Koboldhaftes frei. Sie machten es sich zur Mission, den Wodka herauszuholen, ein wenig davon zu trinken und die Flasche an einem ungewöhnlichen Ort zu bunkern. Das war der Moment, in dem Oskar und ich Freunde wurden. Er rekrutierte mich für die Aufgabe, die Flasche suchen zu helfen. Für die anderen war ich ein Niemand – nicht unbeliebt, einfach uninteressant, eine Figur am Rande. Dieser marginale Status war in Oskars Augen von Vorteil, denn dadurch wusste er, dass ich nicht zu den Verschwörern gehörte, und konnte mich auf seine Seite ziehen.

Wir suchten also gemeinsam. Das erste Mal fanden wir die Flasche im Toilettenspülkasten. Das zweite Mal wurde sie, an einer Neonröhre befestigt, im Treppenhaus entdeckt. Das dritte Mal konnten wir sie wochenlang nicht finden. Wir hatten sie schon für verloren gegeben, als Oskar sie doch noch fand. Jemand hatte sie an der Unterseite seines Schreibtischs festgeklebt. Die nervtötende Wiederholung des Diebstahls schien Oskar nicht zu verdrießen – er reagierte sogar von Mal zu Mal gelassener. Ein paar Tage nachdem die Flasche zum vierten Mal in den Kühlschrank zurückgelegt worden war, klopfte Oskar an meine Tür und meldete ruhig, dass sie schon wieder fehlte. Sonst blickte er bei diesen Gelegenheiten verärgert und enttäuscht drein – offenbar glaubte er, die beklagenswerte Mentalität unserer Mitbewohner durch seine kleinen Merkzettel und kühle Gleichmütigkeit verändern zu können, aber da war er auf dem Holzweg, wie ich ihm oft genug zu verstehen gab – doch an jenem Tag grinste er zufrieden vor sich hin. Ich fragte ihn, ob ich ihm wieder suchen helfen sollte.

»Nein«, sagte er. »Es ist fast nur Urin.«

Er hielt eine Einkaufstüte hoch: darin befand sich eine nagelneue Flasche Absolut, mit einem Beutel Supermarkteis. An jenem Abend sah ich ihn zum ersten Mal betrunken.

Nur jemand wie Oskar konnte sicher sein, absolut klaren Urin zu produzieren.

Naturreinen Urin.

Unter den verschiedenen Kaffeespezialitäten und Teesorten gab es auch ein vertrautes Schraubdeckelglas: Maxwell House. Der Wasserkessel brodelte. Milch war in der Kühlschranktür, brauner Zucker in einem Schüsselchen auf dem Tisch. Henkelbecher standen auf dem Regalbrett über den Getränkezubereitungsutensilien. Ein Geist von Effizienz beherrschte die Küche. Alles erinnerte an die sparsame Präzision von Oskars Kompositionen. Man konnte sich leicht vorstellen, wie dieses Hightechlabor seiner kalifornischen Ehefrau auf die Nerven ging, die von Haus aus wohl mehr daran gewöhnt war, Küchen als Aufwärmstationen für endlose Portionen von Fertiggerichten zu betrachten. Mochte man auch noch so lange auf all dieses Edelstahl starren, nie würde es der Blutorangen-, Bluttransfusionsglut der kalifornischen Sonnenaufgänge gleichkommen. Der Himmel von Europa ist älter als der von Amerika; die Wolken Europas haben dort ihren Ursprung, und bis sie hier ankommen, sind sie müde und abgekämpft von der Reise.

Kochendes Wasser über Granulat, ein Schuss Milch, dann vertiefte ich mich in das Resultat. Blasse Wolken lebten und starben in unbekanntem Rhythmus unter der Oberfläche, Stürme pulsierten, wuchsen und schrumpften in der Atmosphäre eines Gasriesen, Aufwärtsströmungen und plötzliche Strudel gerannen zu einem komplexen Muster. Ein Löffel löschte das ganze System.

Während der dampfende Becher abkühlte, machte ich mich auf die Suche nach dem Katzenfutter. Auch diesmal dauerte es nicht lange, die Katzendosen waren in der Speisekammer, zusammen mit einem martialischen Aufgebot an haltbaren Vorräten in Dosen- und Tütenform.

Auf dem Boden neben den zwei Wassernäpfen und zwei pieksauberen Schälchen stand eine sechzehn Dosen fassende Palette gewürfelter tierischer Überreste in geheimnisvoller Soße, mit an einer Ecke aufgerissener Folie und vierzehn noch übrigen Dosen. Neben dem unverständlichen Slawisch auf dem Etikett (das wahrscheinlich die Begriffe wie »saftig«, »für kräftige Zahnsubstanz« und »mindestens soundsoviel Prozent Fleisch« enthielt) wies jede Dose das Bild einer Katze auf, deren Augen wie ausgestopft glänzten und deren Zunge, in der Illustration festgefroren, für immer und ewig die gleiche Ecke des lächelnden Mauls abschleckte. Die Katze als hirntoter Verbraucher, unisono mit dreizehn Klonen, die Zungen nach rechts gereckt, die Augen in ewiger Vorfreude auf eine Zukunft voll täglicher Zuteilungen dieses köstlichen Futters gerichtet. Daneben lag ein Sack Miniaturkekse, die dieser Pampe ein bisschen Substanz verleihen sollten. Und – wie auch anders – ein Zettel, den ich vorher übersehen hatte, sorgsam in einem der pieksauberen Schälchen gefaltet. Schneeweißes Papier auf schneeweißem Porzellan.

ANWEISUNGENZUMKATZENFÜTTERN, las ich.

Eine halbe Dose in jedes Schälchen am Morgen und das Gleiche am frühen Abend. Jedes Mal mit einer Handvoll von ihrem Crunchy Mix, und achte bitte darauf, dass sie immer frisches Wasser in ihrer Wasserschüssel haben. Stell das Tablett für S. & S. zu ihren Mahlzeiten in die Küche, und wenn sie fertig sind, spül die Schälchen und stell das Tablett zurück in die Speisekammer.

O.

So weit, so gut. Die allgemeine Anweisungsliste hatte keine Einzelheiten zum Thema Katzenfüttern enthalten, und offensichtlich war diese Tätigkeit wichtiger als das Tee- oder Kaffeemachen, weshalb sie auch mit einem ganzen Blatt Papier gewürdigt wurde. Oskar war der aufmerksamste abwesende Gastgeber, den man sich vorstellen konnte, selbst noch von der anderen Seite der Erdkugel aus. Der Dirigent, der Komponist von knappen, straffen Klavierstücken, der Herrscher über ein minimalistisches, durchgestyltes Ambiente hätte sicher nichts dem Zufall überlassen. Meine Verbindung mit seiner Wohnung, seiner Welt, musste mit weit mehr Sorgfalt organisiert worden sein als seine Verbindung mit einer marlboroblonden Kunstmarktmieze von der geschichtslosen Westküste der USA.

Ich befreite eine der Katzenfutterdosen aus der schrumpligen Plastikfolie und stellte sie aufs Tablett, das ich in die Küche trug und auf dem Boden absetzte.

Das war wohl der akustische Reiz, die Pawlow’sche Essensglocke – das gedämpfte Geräusch des auf dem matt schimmernden Holzboden abgesetzten Tabletts. Prompt, noch ehe ich mich wieder aufgerichtet hatte, ertönten zwei dumpfe Plopps aus dem Schlafzimmer, gefolgt von dem unverkennbaren Schlittern, Klicken und Kratzen von Krallen auf glattem Holz. Ich wandte mich um und sah etwas, das ich mir nie hätte träumen lassen: Bei ihrer wilden Jagd durch den Flur, der das Schlafzimmer mit der Küche verband, legten die Katzen ein solches Tempo vor, dass sie in der Kurve die Bodenhaftung verloren und schräg über die weiße Wand flitzten wie ein an Drähten schwebender Jackie Chan in einem billigen Kung-Fu-Film, getragen von den unsichtbaren Händen der Beschleunigung und der Zentrifugalkraft. Am Ende der Wand angelangt, liefen sie einfach weiter, scheinbar ohne ein Joule an Energie einzubüßen, um dann mitten in der Küche zum Stehen zu kommen, gut drei Meter vor ihrem Tablett. Aber sie hielten nicht an – geschmeidig rutschten sie weiter auf ihrer Bahn entlang, bis sie, vom Holzboden abgebremst, haarscharf vor ihrer erhofften Mahlzeit landeten, Kreise drehten und Klagelaute von sich gaben.

Mir blieb der Mund offen stehen vor Staunen über diese athletische Darbietung. Während Schossy und Strawy sich miauend und katzbuckelnd an meinen Beinen rieben, kämpfte ich gegen den Drang, das eben Erlebte noch einmal zu inszenieren, sie zurück ins Schlafzimmer zu befördern und das Tablett zurück in die Speisekammer, um das Phänomen zu wiederholen, aber das konnte ja nicht gut gehen. Schmetterlingsflügel können nicht im Rückwärtsgang flattern, Wolken werden nie mehr dieselbe Form annehmen. Vielleicht würden sie morgen noch mal das Gleiche tun, doch es würde nie mehr den gleichen Effekt haben wie eben. Es war vollbracht. Der Moment war vorbei und konnte nicht zurückgeholt werden.

Noch halb im Adrenalinschock hievte ich den Sack mit Trockenfutter aus der Speisekammer, holte eine Gabel aus der (einzig dafür infrage kommenden) Schublade, kratzte die klumpigen braunen Leckerbissen in die Schälchen und streute die Knusperbröckchen darüber. Die Katzen machten sich schon darüber her, während die Dekorationen noch hinzugefügt wurden.

Die eben bestaunte Luftnummer noch vor Augen, sah ich mir den Schauplatz einmal näher an. Der Boden schimmerte in goldener Perfektion – er war offensichtlich die Voraussetzung für diese Akrobatik. Einem spontanen Impuls folgend, ging ich zur Wohnungstür und zog die Schuhe aus. Unter den Fußsohlen waren nur die winzigsten Unebenheiten der Maserung zu spüren, der Boden fühlte sich praktisch reibungslos an.

Irgendeine übereifrige Unterabteilung meines Gehirns musste die Entscheidung getroffen haben, ohne dass sie die angemessenen Prüfverfahren durchlaufen hatte, bevor die Aktion im Gange war. Ich duckte mich in Startposition, versuchte kurz, die komplexen Bewegungsabläufe zu kalkulieren und katapultierte mich den Korridor hinab. Nach viereinhalb Anlaufschritten in maximaler Beschleunigung bremste ich abrupt, die strumpfsockenen Füße flach auf dem Holz, und schlitterte zur hinteren Wand.

Zwanzig bis dreißig Minuten später war der Schmerz in meinem linken Knie und großen Zeh – nicht zuletzt dank einer wortreichen Schimpfkanonade – von mörderisch zu nur mehr nervtötend abgeflaut.

Bis ich mich von meinem Sturz erholt und meine Taschen ausgepackt hatte, war es Abend geworden. Das Licht war noch nicht aus dem Himmel geschwunden, doch die Sonne stand tief. Ich machte mir ein Brot mit Käse und Salami aus dem Kühlschrank, öffnete die Weinflasche, die Oskar mir hingestellt hatte, und aß auf dem Sofa vor den BBC-News 24. Der monotone Dauerrhythmus globaler Nachrichten ist ein seltsamer Trostspender, aber so war die Wohnung wenigstens mit britischen Klängen und vertrauten Namen gefüllt. Die Wiederholung von Meldungen und Schlagzeilen wirkte eher betäubend als alarmierend, und bald versank ich in ein gemütliches Nickerchen.

Ich weiß nicht, wie lange ich auf dem Sofa geschlafen hatte, aber als ich aufwachte, war es draußen dunkel und der Raum vom orangenen Schummerlicht der Straßenlaternen erfüllt. Reisen und fremde Orte können ganz schön kräftezehrend sein; ich fühlte mich vollkommen geplättet. Eine der Katzen stand neben mir auf dem Sofa und sah mich fragend an.

»Miau?«, machte sie und legte den Kopf schief.