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Die ultimative Gebrauchsanweisung für Nachrichtenjunkies Die Medien sind allgegenwärtig. Überall präsentieren uns Bildschirme eine neue Gegenwart, fordern ständig unsere Aufmerksamkeit. Sind wir einmal außer Sichtweite, zücken wir das Smartphone, damit uns nichts entgeht. Aber diese Nachrichtenflut laugt uns aus, am Ende wissen wir alles und nichts und haben jede Orientierung verloren. Mit einem Buch, das Augen öffnet und Konfrontationen auslöst, zeigt uns Alain de Botton anhand von 25 alltäglichen Nachrichten, wie diese unseren Kopf besetzen - und was wir dagegen tun können.
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Seitenzahl: 204
Veröffentlichungsjahr: 2015
Alain de Botton
Eine Gebrauchsanweisung
Die Nachrichten sind überall – ständig versuchen wir den Überblick zu behalten, aber kontrollieren sie nicht längst uns? CNN, FAZ, New York Times, Spiegel und Zeit haben in der heutigen Gesellschaft eine beinahe unangreifbare Stellung, die wir selten in Frage stellen. Nach seiner Untersuchung über die Religionen greift sich Alain de Botton in seinem neuen Buch 25 Nachrichtenmeldungen heraus – von einem Flugzeugabsturz zu einem Mordfall, von einem Celebrity-Interview zu einer politischen Skandalgeschichte – und unterwirft sie einer kritischen Überprüfung.
Alain de Botton hat eine Gebrauchsanweisung für die Nachrichten in einer nachrichtenversessenen Welt geschrieben. Damit wir aus den Nachrichten größeren Nutzen ziehen, versucht er eine Dosis Unaufgeregtheit, Gelassenheit und Klugheit in eine Situation zu bringen, die von der ständigen Aufregung lebt.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Alain de Botton, 1969 in der Schweiz geboren, lebt in London. Kosmopolit und phantasievoller Flaneur der Kultur- und Geistesgeschichte, arbeitet er an einer Philosophie unseres Alltagslebens, das er in all seinen Aspekten untersuchte: ›Versuch über die Liebe‹, ›Wie Proust Ihr Leben verändern kann‹, ›Trost der Philosophie‹, ›Kunst des Reisens‹ und ›Freuden und Mühen der Arbeit‹ heißen seine Bücher. Daneben gründete er in London die »School of Life« und »Living Architecture«. Seine Bücher und Fernsehserien wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Prix Européen de L'Essai »Charles Veillon«.
www.alaindebotton.com
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Covergestaltung: hißmann, heilmann, hamburg / Sybille Dörfler
Coverabbildung: Sam Edwards / OJO Images / Getty Images19719
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel
›The News: A User's Manual‹ bei Hamish Hamilton, London.
© 2014 by Alain de Botton
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2015
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-403337-2
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Für meine Mutter
I. Vorwort
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
II. Politik
Langeweile & Verwirrung
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
Ein Hoffnungsschimmer
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
Angst & Wut
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
Bösewichte & das Böse
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
Ein paar Ideen
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
III. Ausland
Information/Imagination
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
Die Einzelheiten
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
Fotografie
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
IV. Wirtschaft
M2 und Utopisches
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
Nachrichten über Investoren
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
V. Prominenz
Bewunderung
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
Neid
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
Der Wille zum Ruhm
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
Schädlicher Ruhm
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
VI. Katastrophen
Tragödie
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
Unfälle
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
Natur
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
Gesundheitsberichte
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
VII. Konsum
Restaurants, Reisen, Technik …
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
Kultur
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
VIII. Fazit
Personalisierung
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
Nachrichten von innen
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
Bildnachweis
Für meine Mutter
Eine Gebrauchsanweisung wird nicht mitgeliefert, weil sie das Normalste, Einfachste, Selbstverständlichste und Unauffälligste von der Welt sein sollen, wie Atmen oder Blinzeln.
Nach einer Pause, meist nicht länger als eine Nacht (oft viel weniger; wenn wir besonders unruhig sind, schaffen wir es nicht einmal zehn oder fünfzehn Minuten), unterbrechen wir, was wir gerade tun, um die neuesten Nachrichten mitzubekommen. Wir halten unser Leben in der Erwartung an, eine weitere Dosis wichtiger Informationen über alle bedeutenden Erfolge, Katastrophen, Verbrechen, Epidemien und Liebeskomplikationen zu erhalten, die der Menschheit irgendwo auf dem Planeten zugestoßen sind, seit wir das letzte Mal nachgeschaut haben.
Im Folgenden soll diese universale und vertraute Gewohnheit als noch viel eigenartiger und gefährlicher dargestellt werden als üblicherweise.
Die Medien legen es darauf an, uns das angeblich Ungewöhnlichste und Wichtigste aus aller Welt aufzutischen: Schneefall in den Tropen; ein außereheliches Kind des Präsidenten; miteinander verwachsene Zwillinge. Doch durch dieses explizite Interesse für das Abnorme vermeiden es die Nachrichten gekonnt, den Blick auf sich selbst und auf die vorherrschende Rolle zu lenken, die sie in unserem Leben mittlerweile einnehmen. Eine Schlagzeile wie ›Die halbe Menschheit täglich von den Nachrichten fasziniert‹ können wir von Organisationen, die sich ansonsten dem Außergewöhnlichen und Bemerkenswerten, dem Korrupten und Schockierenden widmen, nicht erwarten.
Gesellschaften werden modern, wie der Philosoph Hegel meinte, wenn die Nachrichten die Religion als wesentliche Quelle der Orientierung und als Prüfstein der Autorität ablösen. In den entwickelten Wirtschaftsgesellschaften üben die Medien heute eine mindestens so starke Macht aus wie früher der Glaube. Die Berichterstattung taktet den traditionellen Tagesablauf mit unheimlicher Genauigkeit: Das Frühstück hat sich ins Morgenmagazin verwandelt, das Abendessen ist identisch mit der Tagesschau. Aber die Nachrichten gehorchen nicht nur einem quasireligiösen Stundenplan. Man soll ihnen mit denselben ehrerbietigen Erwartungen begegnen wie früher der Religion. Auch hier erhoffen wir uns Erkenntnisse über Gut und Böse, möchten dem Leiden auf den Grund gehen und die sich entfaltende Logik des Seins verstehen. Und auch hier könnten wir uns, wenn wir unsere Teilnahme an den Ritualen verweigern, der Häresie schuldig machen.
Die Medien verbergen ihre eigenen Wirkmechanismen und lassen sich schwer hinterfragen. Sie sprechen ganz natürlich und ohne Betonung, ohne je Bezug auf ihre eigene voreingenommene Perspektive zu nehmen. Sie vertuschen, dass sie nicht nur über die Welt berichten, sondern vielmehr ständig damit zugange sind, in unseren Köpfen einen neuen Planeten zu erschaffen, der unverkennbar zu ihren eigenen Prioritäten passt.
Von Kindesbeinen an lernen wir, die Macht der Bilder und Worte zu würdigen. Man geht mit uns ins Museum und lehrt uns feierlich, dass bestimmte Bilder längst verstorbener Künstler unsere Sichtweise prägen. Wir lernen Gedichte und Geschichten kennen, die unser Leben verändern.
Doch über die uns stündlich von den Nachrichten gebotenen Worte und Bilder klärt man uns erstaunlicherweise eher selten auf. Wir sollen es wichtiger finden, die Handlung von Othello zu verstehen, als die Titelseite der New York Post zu entschlüsseln. Eher erfahren wir, wie Matisse mit Farben umging, als dass man uns die Wirkung der Glamourfotos in der Daily Mail erklärt. Wir sollen uns keine Gedanken darüber machen, wie unsere Meinung beeinflusst wird, wenn wir uns in die Bild-Zeitung oder in das Promi-Magazin OK!, in die Frankfurter Allgemeine Zeitung oder Hokkaido Shimbun, die Tehran Times oder die Sun vertiefen. Man lehrt uns nicht, die große Kunst der Nachrichtenmärkte zu analysieren, die unseren Realitätssinn ebenso beeinflussen wie den Zustand dessen, was wir – ohne transzendentale Assoziationen – als unsere Seele bezeichnen können.
Trotz des ganzen Geredes von Bildung versäumen es die modernen Gesellschaften, die bei weitem einflussreichsten Mittel zu kontrollieren, von denen ihre Bevölkerung lernt. Unabhängig davon, was in unseren Klassenzimmern passiert, erfolgt die mächtigste und dauerhafteste Art der Bildung über den Äther und auf unseren Bildschirmen. Nachdem wir die ersten zwanzig Lebensjahre in sorgsam behüteten Klassenzimmern zugebracht haben, werden wir dann den Rest des Lebens von neuen Instanzen bevormundet, die einen ungleich größeren Einfluss auf uns haben als jede akademische Institution. Wenn unsere formale Schulbildung abgeschlossen ist, werden die Nachrichten zu unseren Lehrern. Sie sind die unangefochten wichtigste Macht, die den Ton unseres öffentlichen Lebens angibt und unser Bild von der Gesellschaft jenseits unserer eigenen vier Wände prägt. Sie sind die Schöpfer politischer und gesellschaftlicher Realität. Wie Revolutionäre genau wissen: Will man die Mentalität eines Landes ändern, macht man sich nicht auf zu den Kunstsammlungen, zum Bildungsministerium oder zu den berühmten Schriftstellern; man fährt mit den Panzern direkt zum Nervenzentrum der Politik, den Chefetagen der Medien.
Warum brauchen wir, das Publikum, ständig die neuesten Nachrichten? Angst ist da ein wichtiger Faktor. Schon nach kurzer Zeit ohne Nachrichten mehrt sich unsere Beklemmung. Wir wissen, was alles passieren kann und wie schnell: Die Treibstoffleitung einer A380 kann kaputtgehen und das Flugzeug brennend ins Meer stürzen, ein Virus einer afrikanischen Fledermaus kann die Grenzen der Spezies überspringen und die Ventilatoren eines voll-besetzten japanischen Nahverkehrszuges verseuchen, Investoren können Währungsturbulenzen herbeiführen, und schließlich kann ein ganz normal wirkender Vater seine beiden prächtigen kleinen Kinder grausam zu Tode bringen.
In der unmittelbaren Nachbarschaft mag Stabilität und Frieden herrschen. Im Garten schwingen die Zweige eines Pflaumenbaums in der Mittagsbrise, und auf den Bücherregalen im Wohnzimmer sammelt sich allmählich Staub an. Aber wir wissen genau, dass diese Heiterkeit nicht den chaotischen und grausamen Grundfesten des Seins entspricht, und deshalb kommt sie uns dann irgendwann immer bedrohlicher vor. Insgeheim wissen wir um die Möglichkeit einer Katastrophe, und aus dieser leise pochenden Angst richten wir unsere Smartphones auf den nächsten Funkkontakt aus und warten auf die Schlagzeilen. Es ist eine Variante der Beklemmung, die unsere entfernten Vorfahren kurz vor dem Morgengrauen empfunden haben müssen, als sie sich die bange Frage stellten, ob die Sonne wieder am Firmament aufgehen würde.
Trotz allem ist hier auch ein gewisses Vergnügen im Spiel. Die Nachrichten, gleich wie schrecklich sie sein mögen und vielleicht gerade, wenn sie am schlimmsten sind, entlasten uns von dem bedrückenden Gefühl, auf uns selbst zurückgeworfen zu leben, immer wieder unseren eigenen Möglichkeiten gerecht werden zu müssen und darum zu ringen, ein paar Menschen in unserem engeren Umkreis davon zu überzeugen, unsere Ideen und Bedürfnisse ernst zu nehmen.
Die Nachrichten verfolgen heißt, eine Muschel ans Ohr zu halten und gebannt dem Rauschen der Menschheit zu lauschen. Es kann eine willkommene Ablenkung von unseren Sorgen sein, von so viel schwerwiegenderen und belastenderen Problemen zu erfahren, so dass diese größeren Belange unsere eigenen selbstreferentiellen Nöte und Zweifel überlagern. Eine Hungersnot, eine überflutete Stadt, ein frei herumlaufender Serienmörder, die Abdankung einer Regierung, die ökonomische Vorhersage der Armutsentwicklung fürs nächste Jahr: Solch äußere Unruhe eignet sich perfekt, um uns innerlich zur Ruhe zu bringen.
Heute informieren uns die Nachrichten über einen Mann, der am Lenkrad seines Wagens einschlief – nachdem er abends lange aufgeblieben war, um im Internet Ehebruch zu begehen –, von einer Brücke stürzte und in einen Wohnwagen krachte, wodurch er eine fünfköpfige Familie in den Tod riss. Ein anderer Artikel handelt von einer gutaussehenden, begabten Studentin, die nach einer Party spurlos verschwand und fünf Tage später zerstückelt im Kofferraum eines Taxis gefunden wurde. Eine dritte Nachricht berichtet in allen Einzelheiten über die Affäre einer Tennislehrerin mit ihrem dreizehnjährigen Schüler. So offenkundig verrückt solche Nachrichten auch klingen, laden sie uns doch ein, uns vergleichsweise gesund und glücklich zu fühlen. Wir können uns von ihnen abwenden und Erleichterung über unsere berechenbaren Routinen empfinden, weil wir unsere ausgefalleneren Wünsche doch immer wieder erfolgreich bezähmt und uns so gut beherrscht haben, dass wir noch nie einen Kollegen vergiftet oder einen Verwandten unter der Veranda beigesetzt haben.
Was machen diese ganzen Nachrichten nun im Laufe der Zeit mit uns? Was bleibt von den Monaten, gar Jahren, die wir ihnen insgesamt widmen? Wo sind all die Aufregungen und Ängste geblieben: über das vermisste Kind, das Etatdefizit und den untreuen General? Inwiefern haben diese Neuigkeiten dazu beigetragen, uns Weisheit zu lehren, statt nur vage und nicht wirklich erhellende Erkenntnisse zu hinterlassen, wie beispielsweise, dass China im Aufwind ist und Zentralafrika korrupt und dass unser Bildungswesen reformiert werden muss?
Nur weil unser Gehirn so großzügig funktioniert, beharren wir nicht auf solchen Fragen. Wir haben die Vorstellung, es wäre nicht in Ordnung, einfach abzuschalten. Es ist schwer, eine Gewohnheit aufzugeben, die wir bereits in jungen Jahren angenommen haben, als wir mit übergeschlagenen Beinen in der Schule saßen und höflich der Autoritätsperson lauschten, während sie uns erzählte, was sie für wichtig hielt.
Die Frage, warum die Nachrichten eine Rolle spielen, setzt voraus, dass es sich lohnt, sie bewusster zu konsumieren. Dieses Buch ist eine Bestandsaufnahme, eine Phänomenologie einiger Begegnungen mit den Nachrichten. Es ist um Nachrichtenzitate gebaut, die aus unterschiedlichen Quellen ausgewählt und absichtlich genauer analysiert wurden, als ihre Schöpfer dies ahnten, immer in der Annahme, dass diese Zitate es wert sind, genauso wie Gedichtzeilen oder philosophische Abhandlungen untersucht zu werden.
Die Definition von Nachrichten wird bewusst vage gehalten. Auch wenn es offensichtliche Unterschiede zwischen Mediengesellschaften gibt, so finden sich doch hinreichende Ähnlichkeiten, damit man von einem Weichbild ausgehen kann, zu dem sich die herkömmlichen Machtbereiche der Nachrichten – Radio, Fernsehen, Online- und Printmedien –, die entgegengesetzten Ideologien von rechts und links sowie die Kategorien von intellektuell und anspruchslos verwischen.
Unser Vorhaben hat einen utopischen Aspekt. Es stellt nicht nur die Frage nach den Nachrichten von heute; es prüft auch die Vorstellung, was eines Tages aus ihnen werden könnte. Von idealen Nachrichtenorganisationen zu träumen bedeutet keineswegs, gegenüber derzeitigen ökonomischen und sozialen Bedingungen der Medien gleichgültig zu sein; vielmehr basiert das Projekt auf dem Wunsch, aus einer Flut von pessimistischen Annahmen auszubrechen, mit denen wir uns nur allzu leicht abfinden.
Moderne Gesellschaften entwickeln erst allmählich ein Verständnis dafür, welche Nachrichten sie brauchen, um erfolgreich zu sein. Lange waren die Nachrichten so schwer zu erfassen und so kostspielig zu verbreiten, dass sich ihr Einfluss auf unser Innenleben unweigerlich in Grenzen hielt. Inzwischen aber können wir ihnen fast nirgendwo auf dem Planeten entkommen. Sie warten in der Frühe auf uns, wenn wir aus unruhigem Schlaf erwachen; sie folgen uns an Bord von Flugzeugen, die zwischen den Kontinenten unterwegs sind; sie warten darauf, unsere Aufmerksamkeit zu bannen, wenn die Kinder im Bett sind.
Den Nachrichtenrummel haben wir zutiefst verinnerlicht. Was für eine Leistung ist inzwischen ein Moment der Ruhe, was für ein kleines Wunder, einschlafen oder uns in Ruhe mit einem Freund unterhalten zu können – und was für eine mönchische Disziplin erfordert es, uns vom Mahlstrom der Nachrichten abzuwenden und einen Tag lang nur dem Regen und unseren eigenen Gedanken zu lauschen.
Vielleicht brauchen wir Hilfe, um damit umzugehen zu lernen, was die Nachrichten uns antun: mit dem Neid und dem Schrecken, mit der Aufregung und der Frustration; mit allem, was man uns vermittelt hat und wovon wir gelegentlich ahnen, dass wir es besser nie erfahren hätten.
Daher eine kleine Gebrauchsanweisung, die in Kürze und zu unserem eigenen Wohl eine allzu normal und harmlos gewordene Gewohnheit aufbrechen soll.
Enorme Mietschulden bei Wohngeldprogramm ¶
Gesetzesänderung zur Abtreibung abgelehnt ¶
Konfuse Bemühungen zur Wirtschaftsbelebung ¶
Urteilsspruch zur Einwanderung vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ¶
›Mangelhafte Klarheit‹ bei öffentlichen Ausgaben ¶
regelung von Waffenrechten endgültig entschieden ¶
Konservative Anti-Steuer-Gruppe erhebt Klage ¶
Interimsernennung im Berufungsverfahren ¶
Inzestuöser Kannibale in Sydney angeklagt ¶
BBC
Frühmorgens und noch im Bett greift man zu einem Bildschirm und schaut nach den Nachrichten. Gleich wird es Zeit sein zu duschen und für die übliche Hektik, um pünktlich das Haus zu verlassen, aber noch bleiben ein paar Augenblicke, um im Internet zu schmökern.
Schade, heute ist wohl nichts besonders Attraktives dabei. Den ersten eher verwirrenden Titel – Enorme Mietschulden bei Wohngeldprogramm – klickt man an in der Hoffnung, dass etwas Aufregenderes dahintersteckt:
Die Mietschulden von Mietern, denen bei einem öffentlichen Pilotprojekt das Wohngeld direkt ausgezahlt wird, sind nachweislich enorm gestiegen. Ein Bezirk prognostiziert einen Verlust von 14 Millionen Pfund, sollte die neue Regelung für alle betroffenen Mieter in Kraft treten. Das Wohngeld direkt an die Begünstigten statt an die Vermieter zu zahlen soll eine entscheidende Änderung bei dem geplanten neuen Universal-Credit-Programm werden. Das Amt für Arbeit und Soziales ließ verlauten, das Experiment solle sicherstellen, dass das Programm landesweit effizient umgesetzt werde. ¶
Das klingt nicht viel besser. Eine Entscheidung darüber, wie die Regierung Geringverdiener mit Wohngeld unterstützen soll, ist zweifellos wichtig; ein wohlgesinntes Medienunternehmen hat Zeit und Geld investiert, um Aufmerksamkeit für die Einzelheiten dieses Förderprogramms zu erregen. Trotzdem vermag es diese Nachricht nicht so recht, Interesse zu wecken.
Dies ist nichts Ungewöhnliches. Regelmäßig sind wir mit Schlagzeilen von offenkundiger Wichtigkeit konfrontiert, die uns doch persönlich nichts angehen. Langeweile und Verwirrung sind die häufigsten, aber zugleich beschämenden und daher schnell verdrängten Gefühle, welche die Medienunternehmen moderner Demokratien mit ihren sogenannten ›ernsten‹ politischen Nachrichten evozieren.
Weiter unten auf der Liste der Schlagzeilen findet sich allerdings die Geschichte über einen inzestuösen Kannibalen in Australien, die unmittelbar eingängig ist.
Vielleicht ist man ja letztlich doch ein völlig oberflächlicher und unverantwortlicher Bürger.
Doch ehe wir uns zu sehr selbst geißeln, sollten wir uns vorstellen, wie wir unter ähnlichen Umständen auf die Schlagzeile ›Russe konsultiert Rechtsanwalt‹ reagiert hätten, wenn sie der Titel der folgenden Geschichte wäre:
Drei Damen – eine alte, eine junge und eine Kaufmannsfrau – und drei Herren – der eine ein deutscher Bankier mit Ring am Finger, der andere ein Kaufmann mit Bart und der dritte ein verdrossener Beamter in Uniform, ein Ordenskreuz am Hals – warteten offenbar schon lange. Zwei Gehilfen schrieben an ihren Tischen, die Federn kratzten. Die Schreibutensilien, für die Alexej Alexandrowitsch ein Faible hatte, waren ungewöhnlich gediegen, das musste Alexej Alexandrowitsch einfach auffallen. Der eine Gehilfe wandte sich, ohne aufzustehen und mit zugekniffenen Augen, verdrossen an Alexej Alexandrowitsch.
»Was wünschen Sie?«
»Ich hätte etwas mit dem Anwalt zu besprechen.«[1]
Man stelle sich vor, die Geschichte ende an dieser Stelle abrupt, und nun würde von uns große Begeisterung und der Wunsch erwartet, unbedingt mehr erfahren zu wollen, auch wenn unklar wäre, wann ›mehr‹ berichtet würde, und das nächste Dutzend Zeilen dieser mühsamen Geschichte vielleicht erst Wochen später folgen würde!
Eher unwahrscheinlich, dass auf diese Art ein ernsthaftes Interesse an Anna Karenina geweckt würde. Dennoch werden viele der wichtigen Geschichten den Lesern präsentiert, indem man sie in einen wie zufällig ausgewählten kurzen Ausschnitt aus einer langatmigen Erzählung eintaucht, um sie dann schnell wieder herauszuziehen, ohne ihnen dabei eine Erklärung für den größeren Zusammenhang zu geben, in dem sich die Ereignisse entwickelt haben – gleich ob es um eine Wahl, eine Haushaltsverhandlung, eine außenpolitische Initiative oder Änderungen bei Fördermaßnahmen geht. Kein Wunder, dass wir uns langweilen.
Wir stehen viel zu nah davor. Um ein Beispiel aus der Kunst zu geben: Es ist, als sollten wir die Augen ein oder zwei Millimeter über einer diffusen blauvioletten Oberfläche mit unregelmäßigen schwarzen, weiß umrandeten Strichen öffnen. Was wir aus dieser Perspektive erkennen könnten, sähe aus, als schauten wir auf die Landschaft des Jupiters, auf die Oberfläche einer Unebenheit oder auf den versteinerten Fußabdruck eines prähistorischen Wesens – nichts davon ist sonderlich aufregend. Und doch sehen wir dabei vielleicht das Detail eines der psychologisch eindrucksvollsten Porträts der Kunstgeschichte, Tizians Bildnis des Gerolamo Barbarigo, nur aus dem falschen Abstand. Denn dieses Kunstwerk muss man aus einem Abstand von mindestens einem Meter Entfernung betrachten, ehe es Interesse weckt.
Aus der Langeweile entsteht eine neue Art von Herausforderung und Verantwortung. Die längste Zeit der Menschheitsgeschichte gab es keine Nachrichten, die einen langweilen konnten. Die Informationen waren einer kleinen, erhabenen aristokratischen Regierungsklasse vorbehalten. Nur wenige hatten Zugang dazu: der König, der Kanzler, der Heeresführer und die Entscheidungsträger der Handelshäuser.
Heutzutage stehen die Nachrichten jedem zur Verfügung, und doch drehen sich die Räder unserer Neugier oft viel zu langsam in einem endlosen Datenbrei. Es ist, als ob jeden Tag vor dem Frühstück ein ernster, beunruhigter Bediensteter hereinstürmte mit einer Mappe voller irritierender und ermüdender Themen: ›Fünf Krankenhäuser am Monatsende vor dem Kreditlimit‹, ›Zentralbank besorgt um Mobilisierung von Geld für Anleihen‹, ›Chinesisches Kriegsschiff mit Ziel Vietnam vom Festland ausgelaufen‹, ›Kanadischer Premierminister morgen hier zum Dinner‹.
Was sollen wir davon halten? Wo kann all dies in unserem Kopf abgespeichert werden?
Wen interessiert das?
Tizian, Bildnis des Gerolamo Barbarigo, ca. 1510.
Medienunternehmen geben ungern zu, dass das, was sie uns Tag für Tag präsentieren, winzige Ausschnitte von Geschichten sind, deren eigentliches Ausmaß letztlich erst Monate oder gar Jahre später erkennbar ist – und dass es somit oft klüger wäre, die Geschichte in Kapiteln anstelle von Satzfetzen zu erfahren. Von vornherein vermitteln sie uns, dass es entschieden besser ist, jetzt und hier eine vage und unvollständige Vorstellung von einem Thema zu haben, als auf solidere und umfassendere Erkenntnisse zu warten, die wohlmöglich erst zu einem späteren Zeitpunkt sichtbar werden.
Angesichts der daraus resultierenden Verwirrung brauchen wir gute Wegweiser. Unter der Schlagzeile ›Russe konsultiert Rechtsanwalt‹ muss der Auszug aus einem so hervorragenden Roman wie Anna Karenina langweilig wirken. Wenn hingegen angekündigt würde, dass wir hier einen kleinen, eher monotonen Abschnitt aus einem großartigen Buch lesen, das auf tausend Seiten die tragischen Seiten der Ehe erkundet, insbesondere die Spannung zwischen dem Wunsch nach Abenteuer und dem Bedürfnis nach Häuslichkeit und gesellschaftlicher Konformität, würden wir die Fortsetzung wohl etwas gespannter erwarten.
Wir brauchen Medien, die uns neugierig machen und klarstellen, wie ihre Berichte in die größeren Themen passen, für die erst eigentlich ein ernsthaftes Interesse besteht. Um uns für eine Information zu interessieren, müssen wir wissen, inwiefern wir etwas mit dem betreffenden Thema zu tun haben. Man kann sich das menschliche Gehirn wie eine Bibliothek vorstellen, in der Informationen nach bestimmten Bereichen geordnet sind. Was wir von Tag zu Tag hören, lässt sich meist leicht in die Regale einsortieren, in die es gehört, und wird unmittelbar und unbewusst eingeordnet: Nachrichten über eine Affäre kommen in das reichbestückte Regal zum Thema Beziehungen, eine Geschichte über die Entlassung eines Geschäftsführers gehört zu unseren zunehmenden Kenntnissen über Arbeit und Status.
