Die Nacht hat zwölf Stunden - Sabine Friedrich - E-Book

Die Nacht hat zwölf Stunden E-Book

Sabine Friedrich

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Beschreibung

Der dritte Teil des großen Romanprojekts über den Deutschen Widerstand Das Schicksal der Familien Bonhoeffer und Dohnanyi steht im Mittelpunkt dieses faszinierenden Romans. Und mit ihnen der kirchliche, vor allem aber der militärische Widerstand mit seinen beiden wichtigsten Protagonisten: Henning von Tresckow und Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Die persönlichen Schicksale der handelnden Personen werden auf einzigartige Weise mit den tatsächlichen Geschehnissen verknüpft und so zu lebendiger, gelebter Geschichte. Ein faszinierender Roman über Widerstand, Ideale und Menschlichkeit. Über die Hoffnung auf einen Neubeginn inmitten der Dunkelheit.

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Über das Buch

Henning von Tresckow fühlt sich wie ein nasses Hemd, das vom Kleiderbügel gerutscht ist. Er hat der Rede Hitlers nur mit Mühe folgen können. In seinem Kopf hallte ununterbrochen ein Satz. Erschieß ihn. Erschieß ihn. Erschieß ihn!

Dieser letzte Band von Sabine Friedrichs Romantrilogie rückt den kirchlichen, vor allem aber den militärischen Widerstand um Henning von Tresckow, die Stauffenberg-Brüder, die Bonhoeffers und Dohnanyis in den Mittelpunkt. Ein mitreißender, atmosphärisch dichter Roman über Radikalisierung und Krieg, Hoffnung, Zweifel und Entschlossenheit in Zeiten beschränkter Handlungsmöglichkeiten.

 

 

 

 

Am Grunde der Moldau wandern die Steine

Es liegen drei Kaiser begraben in Prag.

Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine.

Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.

 

Bertolt Brecht, »Lied von der Moldau« (Auszug)

Protokoll I, 26. Sitzung des Reichstags, 11. Januar 1916

Präsident des Reichstags Johannes Kaempf (Mitglied der linksliberalen Fortschrittlichen Volkspartei): Ich rufe zunächst auf die Anfrage Nr. 12 (Nr. 187 der Drucksachen). Zur Verlesung hat das Wort der Herr Abgeordnete Dr. Liebknecht.

Dr. Liebknecht: Ist dem Herrn Reichskanzler bekannt, dass während des jetzigen Krieges im verbündeten türkischen Reiche die armenische Bevölkerung zu Hunderttausenden aus ihren Wohnsitzen vertrieben und niedergemacht worden ist? Welche Schritte hat der Herr Reichskanzler bei der türkischen Regierung unternommen, um die Lage des Restes der armenischen Bevölkerung in der Türkei menschenwürdig zu gestalten und die Wiederholung ähnlicher Gräuel zu verhindern?

Präsident: Zur Beantwortung der Anfrage hat das Wort der Dirigent der politischen Abteilung im Auswärtigen Amte, Kaiserlicher Gesandter Herr Dr. von Stumm.

Dr. v. Stumm: Dem Herrn Reichskanzler ist bekannt, dass die Pforte in Konstantinopel vor einiger Zeit, durch aufrührerische Umtriebe unserer Gegner veranlasst, die armenische Bevölkerung bestimmter Gebietsteile des türkischen Reiches ausgesiedelt und ihr neue Wohnstätten angewiesen hat. Wegen gewisser Rückwirkungen dieser Maßnahmen findet zwischen der deutschen und der türkischen Regierung ein Gedankenaustausch statt. Nähere Einzelheiten können nicht mitgeteilt werden.

Dr. Liebknecht: Ich bitte ums Wort zur Ergänzung der Anfrage! (Heiterkeit.)

Präsident: Zur Ergänzung der Anfrage hat das Wort der Herr Abgeordnete Dr. Liebknecht.

Dr. Liebknecht: Ist dem Reichskanzler bekannt, dass Professor Lepsius geradezu von einer Ausrottung der türkischen Armenier gesprochen – (Glocke des Präsidenten. Redner versucht weiterzusprechen. Rufe: Ruhe! Ruhe!)

Präsident: Herr Abgeordneter, das ist eine neue Anfrage, die ich nicht zulassen kann. (Lebhaftes Bravo.) – Wir kommen zur Anfrage Nr. 13 (Nr. 188 der Drucksachen). Das Wort zur Verlesung hat der Abgeordnete Dr. Liebknecht.

Dr. Liebknecht: Ist die Regierung bereit, dem Reichstag schleunigst das Material vorzulegen über die Lage der Bevölkerung in den von Deutschland besetzten fremden Gebieten, ihre Versorgung mit Lebensmitteln, ihre Rechtslage, Zahl, Art und Grund der gegen sie von den deutschen Behörden verhängten Strafen, den Umfang der an ihr vollzogenen militärischen Requisitionen und die dabei befolgten Grundsätze?

Präsident: Das Wort zur Beantwortung der Anfrage hat der Herr Ministerialdirektor Dr. Lewald.

Dr. Lewald, Direktor im Reichsamt des Innern, stellvertretender Bevollmächtigter zum Bundesrat: Der Herr Reichskanzler ist nicht bereit, das von dem Herrn Abgeordneten Liebknecht gewünschte Material dem Reichstag vorzulegen, wird aber über die Tätigkeit der Zivilverwaltungen in den besetzten Gebietsteilen auf Wunsch dem Ausschuss für den Reichshaushalt Auskunft erteilen lassen.

Protokoll II, 1918–1919

Der Endkampf ist da! Die letzte große Schlacht: der große Angriff auf England, geführt von der gesamten Flotte. Ehrenvoller Untergang besser als feiges Einknicken!

Kriegsmüde Soldaten und Matrosen rebellieren. WIRFORDERN! Arbeiter in Kiel und Hamburg schließen sich der Revolution an.

Die Städte sind in der Gewalt der Revolution!

Der Kaiser hat abgedankt. Die friedliche Revolution vom 9. November 1918 ist die Geburtsstunde der Republik!

In Berlin feuern konterrevolutionäre Offiziere blind in die Menge.

Der Staat versagt.

Der Bolschewismus wird triumphieren.

Das Heer hätte weiterkämpfen können, wenn nicht von fremden Mächten gesteuerte Verräter die Macht an sich gerissen hätten und dem Heer in der Heimat in den Rücken gefallen wären.

Liebknecht hat die Arbeiter aufgerufen, sich zu bewaffnen und rote Garden zu bilden.

Die Spartakisten und ihre Führer bedrohen uns alle, sie wollen Zustände wie in Russland schaffen, wo Gewalt die Tagesordnung ist.

Die Geheimarmeen Liebknechts im Untergrund warten nur darauf loszuschlagen. Die reichen Villenbesitzer im Grunewald haben schon Hunderttausende an die Spartakisten gezahlt, damit ihre Villen ungeschoren bleiben. Die Spartakisten werden es nur auf den kleinen Mann abgesehen haben.

Schlagt die Juden tot! Tötet Liebknecht!

Täglich rufen Liebknechts fanatische Anhänger zur Gewalt.

Maschinengewehrfeuer! Blutbad an der Kreuzung Chausseestraße/Invalidenstraße. Mindestens sechzehn Tote, an die hundert Verletzte. Unter den Toten auch ein sechzehnjähriges Mädchen, das auf die Straßenbahn gewartet hatte. Wer gab den Befehl?

Der ›Vorwärts‹ bezeichnet die Toten als Opfer des Spartakismus.

Wird die Rückkehr der Frontsoldaten nach Berlin die Ordnung wiederherstellen?

Schlagt die Spartakistenführer tot! Dann werdet ihr Frieden, Arbeit und Brot haben! – Die Frontsoldaten.

Aufstand in Berlin! Regierungstreue Truppen und Spartakisten treten in der Hauptstadt zum Kampf um die Republik an.

Irregeleitete Fanatiker im Bund mit fremden Mächten wollen der Regierung die Macht entreißen! Die Freikorps garantieren den Fortbestand des Staats! Die entfesselte Volksmasse ist eine Bestie, die nur noch gewaltsam niedergerungen werden kann!

Sturmangriff des Militärs auf den von Spartakisten und russischen Bolschewisten besetzten ›Vorwärts‹.

Rosa Luxemburg wirft Regierungstruppen »Gräueltaten« vor.

Stadtzentrum militärisch abgeriegelt. Potsdamer Platz ein einziges Heerlager. Fünfhundert Kranzträger, die die Organisationen der Arbeiterklasse Berlins und ganz Deutschlands repräsentieren, folgen den Särgen Karl Liebknechts, Rosa Luxemburgs und der anderen Ermordeten des Januar 1919. Die proletarischen Massen Berlins schließen sich dem Zug an, bedroht von Maschinengewehren. Nie hat eine Regierung es gewagt, eine Trauerfeier in so brutaler Weise zu stören.

Verrat an den Idealen des 9. November 1918! SPD-Regierung macht militärische Gewalt zur Basis ihrer Herrschaft. Arbeiter Berlins! Wieder ist die Stunde gekommen. Wieder stehen die Toten auf, wieder reiten die Niedergerittenen –

1

Mai 1920, Schloss Wartenberg in der Neumark

»Wieder und wieder«, sagt Gerd von Tresckow, »versuche ich mich auf den Ablauf der Ereignisse zu besinnen. Aber je öfter ich es tue, umso mehr scheint es mir, als wäre ich gar nicht dabei gewesen. Die Kämpfe stehen mir nur zu deutlich vor Augen. Aber es ist alles unwirklich, entrückt, und zugleich allzu wirklich, wie in manchen Träumen.«

Gerd lehnt in der Tür des Gartensaals, die sich zur Veranda hin öffnet, mager, vernarbt, mit dem argwöhnischen Blick eines, der vom Hellen ins Dunkle tritt. Henning hat den Schaukelstuhl, den er schon als Kind geliebt hat, ganz nach vorn an die Glastüren gezogen. Die Brüder blicken hinaus, auf den von zahllosen Treffern aufgerauten See: Über Schloss Wartenberg in der Neumark geht ein Frühlingsschauer nieder.

»Dass wir nun wieder hier sind«, sagt Gerd. »Dass alles weitergeht, nach dem Untergang. Man sieht die Details, aber was war das große Ganze? Was war die tragende Leinwand des Schlachtengemäldes? Und diese Infamie, dass sich nun alles zusammenrottet, um über uns herzufallen und uns zu den allein Schuldigen zu erklären.«

»Vae victis«, sagt Henning und gibt seinem Schaukelstuhl einen Stups. »So hat man es schließlich schon in der Schule gelernt. Freilich, dass das Versailler Schandwerk gerade an meinem neunzehnten Geburtstag in Kraft treten musste – aber irgendwer hat schließlich immer Geburtstag. Konzentrieren wir uns also auf den einen erfreulichen Aspekt der Angelegenheit, nämlich dass du uns wiedergegeben bist. Man hat ja keine allzu schönen Dinge über die Behandlung unserer Kriegsgefangenen in Frankreich gehört. Hast du übrigens nur die Eltern nicht beunruhigen wollen, oder ist es dir wirklich einigermaßen ergangen?«

»Was soll ich sagen. Es hat schon seinen Reiz, dort, wo man einen Bauchschuss erhalten hat, unter der Knute des Feindes sozusagen, sein eigenes Blut von den Trümmern zu waschen. Aber immerhin haben sie mich nicht in ihre afrikanischen Kolonien geschickt. Das Schlimmste war im Grunde die Hetzerei. Und dass ich nicht wusste, wo Henning von Tresckow sich herumtrieb. Offenbar im dicksten Getümmel, nachdem sie dir mit deinen siebzehn Jahren schon den Leutnant und das Eiserne Kreuz angeheftet hatten.«

»Ach Gerd. Nur das zweiter Klasse. Und auch nicht geradezu angeheftet. Während der Marneschlacht trat das Zeremonielle ziemlich zurück, und dann sind wir wieder in unsere alten Gräben an der Aisne zurückgekrochen, wo wir mehr oder minder hocken blieben, bis im November die Verteidigung zurück an die Maas verlegt wurde.«

Gerd lacht auf, als hätte er einen Krümel im Hals. »Wir hatten einen kleinen Sergeanten, der es sich nicht nehmen ließ, uns allmorgendlich Bericht zu erstatten. Abfall Österreich-Ungarns. Matrosenmeuterei. Revolte in Bayern. Waffenstillstandsverhandlung. Abdankung des Kaisers. Revolte in Berlin. Es war wie ein Wolkenbruch. Wie Trommelfeuer war es.«

Henning lehnt den Kopf gegen die Lehne des Stuhls zurück, der sanft ausschaukelt, anhält.

»Diese plötzliche Stille«, sagt er. »Das war es, was einen umgeworfen hat. Am 9. November hieß es noch, wir sollten aus der Front herausgelöst und ins Reich transportiert werden, um Unruhen zu unterdrücken. Am nächsten Morgen überschritt der Feind die Maas, ich hatte eine neue Widerstandslinie aufzubauen und suchte jeden letzten verfügbaren Mann zusammenzukratzen, nach den elenden Märschen gen Norden, in Regen und Nebel, auf aufgeweichten Straßen, unter pausenlosen Nachhutgefechten, und die Hälfte der Truppe fiebernd mit der Grippe. Und dann plötzlich – Schluss. Aus. Alles vorüber. Am 11. Dezember sind wir wieder in Potsdam eingezogen. Es war ein trüber Winterabend. Vielen auf den Straßen konnte man den Hunger ansehen. Und da standen wir dann, das ganze Feldregiment, in der dämmrigen Garnisonkirche, unter unseren Fahnen, die uns Oberleutnant Kurowski bis vor die Tore Potsdams entgegengetragen hatte, und Eulenburg legte den Befehl nieder. Mein geliebtes Regiment!Wir stehen am Ende des gewaltigsten Ringens der Weltgeschichte … Totenstill war es.«

Und ist es nun auch, bis auf den lustig trommelnden Regen. Auf dem Tisch liegt die ›Preußische Kreuz-Zeitung‹. Das Eiserne Kreuz in der Titelzeile ist vom Schlachtruf der Befreiungskriege umkränzt: Vorwärts mit Gott für König und Vaterland. Der Vater hat das Blatt dort liegen lassen, als er sich nach Tisch zurückgezogen hat. Hermann von Tresckow, preußischer General der Kavallerie: 1900 hat er Schloss und Gut Wartenberg von seinem Onkel geerbt, Hermann von Tresckow, preußischer General der Infanterie. Einundzwanzig Tresckows sind Generäle gewesen. Leutnant Henning Hermann Robert Karl von Tresckow versetzt den Schaukelstuhl mit der Spitze seines Schuhs wieder in leichte Bewegung.

»Und dann«, sagt er, »wir standen im Begriff, in die Kaserne Priesterstraße abzurücken, plötzlich der Befehl: Wachkompanie zusammenstellen, ins Neue Palais einrücken, die Kaiserin fährt in einer Stunde nach Doorn. Es war schon ziemlich spät. Wir standen mit präsentiertem Gewehr. Dann fuhr ein Wagen vor. Die Flügeltüren des Schlosses öffneten sich, die Kaiserin trat ins Freie hinaus, sie grüßte zu uns hin, der Wagen rollte davon. Und dann«, Henning nickt dem Bruder zu, »dann wurde das Palais dunkel. Ein helles Fenster nach dem anderen erlosch.«

Die Brüder schweigen, rauchen. Nach einer Weile sagt Gerd: »Und unsere Fahnen?«

»Die haben wir am nächsten Morgen ins Stadtschloss gebracht.«

Die Fahnen des 1. Garderegiments zu Fuß, aufgestellt 1806 aus den Resten der bei Jena und Auerstedt vernichteten alten Garden, das Leibregiment der Könige von Preußen, in das die Hohenzollernprinzen an ihrem zehnten Geburtstag eingestellt wurden und in dessen Regimentshaus die deutschen Kaiser ihre Geburtstage zu begehen pflegten: Gerd ist mit siebzehn, Henning mit sechzehn Jahren eingetreten.

»Tja, Gerd! So ist es nun. Unser Regiment gibt es nicht mehr, und auch keinen König von Preußen, auf den man seinen Fahneneid geschworen hat. Und nun? Was soll aus Deutschland werden? Man müsste handeln, aber auf welches Ziel hin? Mir ist es wie manchmal im Krieg, wenn man keinen Ausweg sah, weil alles, was man tun konnte, einen nur dem Chaos noch näher brachte. Freilich bei mir ist es vor allem Feigheit und Verwöhntheit. Mangelnde Fähigkeit, intensiv zu denken. Eben all meine immer wiederkehrenden Schwächen und Fehler.«

»Henning. Du bist ganz unvernünftig hart zu dir selbst. Als trügest du Schuld an der Misere und wärst derjenige, der das Elend mildern kann. Schau dir deinen Stuhl an, die Kufe muss repariert werden, und das kannst du hinbekommen. Aber der Überzug des Sessels muss ebenfalls erneuert werden, und die Tapeten, und überhaupt das ganze Gebäude, und da stößt auch Henning von Tresckow an seine Grenzen.«

»Ja, Gerd, da bringst du es wieder auf den Punkt. Selbst jetzt ist man eitel und wirft sich in Pose. Also Schluss mit dem Trauergesang. Lass mich erzählen, was wir neuerdings bei der Reichswehr treiben. Und ich meine jetzt nicht die Rettung der Regierung vor den Spartakisten. Nein, die wahre vaterländische Aufgabe besteht heutzutage darin, der alliierten Schnüffelkommission unter den Augen weg unsere eigenen Waffen zu klauen. Maschinengewehre, Minenwerfer, Klappfahrräder, alles wird im Schutz der Nacht in Sicherheit gebracht, in irgendwelchen Ruinen und Scheunen oder Dachböden und Kellern.«

»Wie transportiert ihr denn das schwere Gerät?«

»Allermeistens mit Pferdegespannen. Aber mit Havel-Zillen auch. Gar nicht so einfach, diese langen Kähne zu bewegen. Es ist natürlich ein Riesenspaß. Und eine ziemliche Schlepperei. Neulich auf dem Rückweg sind wir alle miteinander eingeschlafen, einfach auf unseren Kutschböcken eingenickt, und die Pferde konnten sehen, wie sie allein nach Hause fanden. Ein Wunder, dass keiner vom Karren gefallen und auf der Chaussee gelandet ist. Morgens findet dann freilich nicht mehr allzu viel Dienst statt. Und du? Hast du denn schon Pläne gefasst?«

»Ich denke«, sagt Gerd, »ich werde Landwirt. Ich habe mir überlegt, ich könnte vielleicht bei Wedemeyers lernen, auf Gut Pätzig.«

»Landwirt!«, sagt Henning. »Gerd, das imponiert mir. Immerhin gibt es zu essen auf dem Land. Ich komme dann regelmäßig aus Potsdam herüber und schlage mir bei Onkel Hans und Tante Ruth den Bauch voll.«

Gerd lacht auf. »Das tu. Ja, siehst du, mich hat man eben nicht in die vorläufige Reichswehr übernommen. Und wird es auch nicht, nachdem uns Versailles die Reduzierung der Offiziere auf viertausend diktiert.«

»Hättest du denn übernommen werden wollen? Nun mal im Ernst, Gerd. Versailles! Darin liegt doch das ganze Elend. Und ich meine gar nicht die Schändlichkeit dieses Machwerks, das man sich nicht schämt Friedensvertrag zu nennen, nachdem man uns die Unterzeichnung mit Androhung noch schärferer Hungersnot, Gewalt und Zerstückelung des Restreichs abgepresst hat. Ich meine die Bedeutungswandlung dieses einen Worts. Versailles – Gerd, du weißt, was das für Vater war. Wie er sich 1871 in den Spiegelsaal von Versailles geschlichen hat, als blutjunger Leutnant. Blutjung! So sagt er doch immer. Da stand er und erlebte das Fallen der Grenzen, das Zusammenwachsen der zerbrochenen Teile, die Herstellung der deutschen Einheit. Alles lag klar vor ihm, sein Leben, sein Weg. Er hatte feste Werte, selbstverständliche Grundsätze. Haltung. Das alles ist nun zertrümmert. Das Einzige, was geblieben ist, das Einzige, was einem eine Marschrichtung vorgibt, ist vielleicht noch dieses kaum in Worte zu fassende Hochgefühl, wenn man an gewisse Momente oder Dinge denkt, aber letztlich ist das auch nichts als ein Sichanklammern an Vergangenes und Verlorenes.«

Draußen der Regen hat aufgehört. Die Brüder treten auf die Veranda hinaus. Über Wald und See weitet sich hell der Himmel der Neumark.

»Weißt du«, sagt Henning, »ich überlege ernstlich, ob ich nicht auch aus der Reichswehr ausscheide. Sieh mich nicht so an. Ich weiß, andere wären froh, übernommen zu werden, sie kriechen in den Wehrverbänden unter oder versuchen womöglich die Regierung zu stürzen, so wie General Lüttwitz und Kapitän Ehrhardts Freikorps vor ein paar Wochen. Bei dieser Sache blieben wir zum Glück außen vor, weil es schon gleich hieß, Reichswehr schießt nicht auf Reichswehr. Aber letztes Jahr, als wir die Redaktionsräume des »Vorwärts« gestürmt haben – lieber Himmel, Gerd, hat man sich im Weltkrieg vorstellen können, eines Tages auf die eigenen Landsleute zu schießen? Ist das die Zukunft? Das Hunderttausend-Mann-Heer? Man schreibt damit im Grunde doch die Möglichkeit ab, jemals irgendetwas Vernünftiges zu leisten. Aber am Ende will man doch mit Stolz auf sein Leben zurückblicken können. Am Ende will man erreicht haben, was man seiner Veranlagung nach und unter Anspannung aller Kräfte erreichen konnte, nicht mehr, aber eben auch nicht weniger.«

Hennings Finger trommeln einen ungeduldigen kleinen Marsch aufs Geländer. Gerd widersteht dem Impuls, seine Hand auf die des Jüngeren zu legen, ein beruhigendes Wort des Ausgleichs zu sprechen. Immer war Henning der Strahlendere, der Begabte, schon als kleiner Junge und erst recht im Alumnat des evangelischen Klosters Loccum. Absichtslos zog er die anderen an sich, während Gerd sich am Rand hielt, fein heraus in der konkurrenzlosen Stellung des großen Bruders. Mochten die Mitschüler um Hennings Gunst wetteifern: Gerd würde ihn mehr lieben als sie, mehr als alle anderen, so aus vollem Herzen heraus, wie Henning es womöglich selbst kaum vermochte.

»Und so ist es nun, Gerd«, sagt Henning. »Ich will ab jetzt den Tatsachen ins Auge blicken. Und ich will nichts zu schwer nehmen, jedenfalls nicht schwerer als unbedingt nötig, denn das ist auch nicht richtig. Also, Schluss mit Sentimentalitäten und dem ewigen Blick zurück. Welche Kräfte sind es, die heute den Ton angeben? Die Mächte des Geldes. Die Juristen. Und, was ist falsch daran? Ich möchte womöglich auch einmal Geld verdienen. Unabhängig sein. Spargelspitzen essen, Maßschuhe tragen. Lach nicht! Zur Republik mag man stehen, wie man will, aber die Reichswehr wird es nicht sein, die sie gestaltet. Ich habe überlegt – ja wirklich, Gerd, ich denke, ich werde Jurisprudenz studieren. Oder womöglich das Bankwesen.«

10. Mai 1922, Frankfurt am Main

Der Erste, der kommt, ist Ernst von Salomon: neunzehn Jahre alt, erloschene Pfeife im linken Mundwinkel, nuschelt durch den rechten, mustert Friedrich Wilhelm Heinz’ Bleibe kritisch unter dunkel dräuenden Augenbrauen hervor. »Wo ist Tillessen? Noch nicht da?«

»Siehst du ihn irgendwo?«, sagt Heinz. »Meinst du, er steckt im Kleiderschrank?«

»Tillessen muss dabei sein, das wünscht der Kapitän.«

»Du bist zu früh«, sagt Heinz. »Und wo ist Kern? Hieß es nicht, du bringst ihn mit?«

Salomon setzt sich an den Tisch, den Heinz soeben sorgfältig abgewischt hat, legt achtlos die Pfeife ab, Tabaksbeutel daneben, macht sich breit, ascht und krümelt. Als Nächster kommt Plaas. Er nickt Heinz zu, den er fast täglich sieht, schlägt Salomon kräftig erfreut auf die Schulter. »Na, mein Lieber. Und? Hast du deinem Herzen endlich einen Stoß gegeben und bist in die Partei eingetreten?«

Salomon winkt ab. »Plaas. Das Zweckbündnis des Kapitäns mit Hitler in Ehren. Aber ich bin kein Nationalsozialist und auch nicht in Stimmung, die Macht einer Splitterpartei künstlich zu verstärken.«

»Du bist kategorisch. Ich bin Stratege. Was sagt im Übrigen ein Parteibuch über den Menschen? Heinz ist auch nicht in der Partei, und trotzdem hat ihn der Führer der SA, Göring, neulich als obersten SA-Führer von Westdeutschland bezeichnet.«

»Plaas, sei logisch. Ist das ein Argument für oder gegen eine Mitgliedschaft? Wo ist übrigens dein Parteibuch der Organisation Consul? Sag bloß, du hast kein Dokument unterzeichnet, das deine offizielle Aufnahme belegt?«

Heinz lächelt milde. Er war es, der die Organisation Consul in Hessen wesentlich aufgebaut hat, aus den Trümmern der nach dem Kapp-Putsch zerschlagenen Marinebrigade Ehrhardt. Die OC ist natürlich illegal, aber illegal mit Lizenz: Dank der Beschränkungen von Versailles bleibt die Reichswehr auf Verstärkung durch die Wehrverbände angewiesen. Heinz kooperiert eng mit dem Ausbildungsbataillon des Infanterieregiments 15 und der Abwehrstelle West des Reichswehrgruppenkommandos 2 in Kassel. Mit leichtem Schlag auf den Tisch entzieht er den beiden anderen das Wort.

»Kern der Idee ist, die Roten zum Losschlagen zu bewegen. Aber die Idee erfüllt sich in der Tat. Die Beseitigung Erzbergers letztes Jahr hat die öffentliche Ordnung mitnichten so nachhaltig gestört, wie es wünschenswert gewesen wäre. Die Frage ist also nicht, ob’s edler im Gemüt, die Pfeil und Schleudern des wütenden Geschicks erdulden oder durch Widerstand sie enden, die Frage ist, wen soll es treffen?«

»Tillessen«, sagt Plaas, »ist für Scheidemann. Sollten wir nicht doch auf Tillessen warten?«

Heinz enthält sich eines Kommentars, betrachtet seine polierten Nägel, überprüft mit Befriedigung ihren weichen Glanz. Natürlich will Plaas auf Tillessen warten. Plaas ist Tillessens Adjutant, er verdankt ihm seinen Job als Schriftleiter der ›Völkischen Rundschau‹. Dagegen die Rangunterschiede zwischen Torpedobootskommandant Tillessen und Oberleutnant Heinz können als weitgehend eingeebnet betrachtet werden, seit sie im März gemeinsam den von den Siegermächten verunglimpften und daraufhin eilfertig von den Erfüllungspolitikern als Kriegsverbrecher geschmähten Volkshelden Dithmar aus der Naumburger Strafanstalt befreit haben.

»Die große, die zentrale Frage ist doch, wie wir die Unterstützung des Arbeiters gewinnen«, sagt Salomon.

»Der Arbeiter wird uns unterstützen, sobald er begreift, dass unsere Volksorganisation sozialistisch ist«, sagt Plaas.

»Dann dürfen wir aber nicht die Fehler des Kapp-Putschs wiederholen. Wir dürfen es nicht auf einen Generalstreik ankommen lassen. Das Volk muss erkennen, dass es sich im Interesse seines eigenen Glücks an unsere Seite zu stellen hat.«

»Werd nicht gefühlsschwer, Salomon«, sagt Plaas. »Wir fechten doch nicht, damit das Volk glücklich wird. Wir fechten, um es in seine Schicksalslinie zu zwingen.«

»Das Volk wird uns folgen, wenn der Feind selbst den Bürgerkrieg ausruft und wir uns ihm entgegenstellen«, sagt Heinz. »Und was den Kapp-Putsch betrifft, so war der militärische Sieg ja errungen. Die Brigade Ehrhardt hatte das Regierungsviertel besetzt, ich stand mit meiner Kompanie in vorderster Front. Unser Fehler bestand darin, von Kapp und Konsorten radikales Handeln zu erwarten.«

Heinz zieht das weiße Tüchlein, das die Brusttasche seines Jacketts ziert, heraus und führt es mit Bedacht zur Nase. Bergamotte, Wildleder, Lavendel. Ein neues Wässerchen, Geschenk von Heinz an sich selbst zu seinem dreiundzwanzigsten Geburtstag vor drei Tagen.

»Die alten Eliten streben danach, die Vorkriegsverhältnisse wiederherzustellen«, sagt er. »Aber das Reich ist nicht etwas zu Restaurierendes. Das Reich ist das noch nie Verwirklichte, ein Auftrag, den nur ein Bund der Besten erfüllen kann: keine von den Massen gewählte, sondern nur eine Elite geborener Führer. Deshalb muss diesmal der Feind provoziert werden, uns zuerst anzugreifen, dann fegen wir gemeinsam mit ihm die alten Führungsschichten hinweg. Also noch einmal, wen soll es treffen?«

»Den Bankier Warburg?«, sagt Plaas. »Den Schmierfink Wolff? Oder, wie Tillessen sagt – «

»Wir wissen, was Tillessen sagt«, sagt Heinz. »Scheidemann. Aber überlegen wir. Scheidemann ebenso wie zuvor Erzberger gehören zu denen, die das System nur verkörpern. Aber Rathenau ist ihre Hoffnung auf die Zukunft. Mit Rathenau würde jede Aussicht zerstört, dass aus diesem ganzen verkommenen Haufen Westen, Kompromiss, Demokratismus, Materialismus, Republik womöglich doch noch etwas Großes und Gültiges erwachsen könnte.«

»Das stimmt«, sagt Salomon. »Bei Rathenau würde ein Sturm losbrechen. Die Linken, die Gemäßigten, alle miteinander würde man sie hochgehen sehen. Und dann kommen wir und stellen die Ordnung wieder her. Es wäre ein wunderbarer machiavellistischer Dominoeffekt. Wo ist im Übrigen Fischer?«

»Fischer kann erst gegen Abend aus Sachsen los«, sagt Plaas.

»Fischer kann direkt nach Berlin fahren«, sagt Heinz. »Genauso Techow. Die Tat kann spontan vor Ort geplant werden. Radikales Handeln steht im Dienst eines Konzepts, aber die konkreten Befehle erteilt ein wahrer Führer nicht am Schreibtisch, sondern an vorderster Front.« Heinz nickt Plaas zu, der im Gegensatz zu Salomon ebenfalls Frontkämpfer war. »Heimat, Nation, Schicksal, Vaterland, Volk. Wir alle führen diese Worte im Mund. Aber wo greifen sie ins Leben ein? Was erfüllt sie mit Sinn? Blut. Die Tat. Das Attentat. Darum spreche ich mich für Rathenau aus. Die Hinrichtung Rathenaus wird unversöhnlich trennen, was auf ewig getrennt werden muss.«

24. Juni 1922, Berlin

Getrappel auf den Fluren, Stimmen.

»Der Minister!«

Türenschlagen, Rufe. Aufruhr in allen Stockwerken. Hans von Dohnanyi, wissenschaftlicher Assistent des Kriegsschuldreferats, sitzt am Schreibtisch in seinem Büro im Archiv des Auswärtigen Amts. Er finanziert sein Jurastudium damit, dass er hilft, die Vorkriegsakten zur Publikation über ›Die große Politik der Europäischen Kabinette 1871–1914‹ aufzubereiten. Es mehren sich die Stimmen, die ihm raten, allmählich sein Arbeitspensum zurückzuschrauben und sich ganz auf seine universitären Verpflichtungen zu konzentrieren, mit seinen immerhin schon zwanzig Jahren, aber abgesehen von nackten materiellen Notwendigkeiten fesselt ihn auch der Einblick, den die Akten bieten.

Die juristischen und politischen Prozesse, die letztlich in den Weltkrieg geführt haben, sind doch nicht nur den Nachgeborenen, sondern auch den meisten Zeitgenossen verborgen geblieben. Aus ihnen wird ersichtlich, dass das Kriegswesen in der Tat nicht ein vom sonstigen Leben der Völker losgelöstes Phänomen, sondern im Gegenteil eine seiner charakteristischsten Äußerungen ist, ganz wie es Hans von Dohnanyis väterlicher Freund und Förderer Professor Hans Delbrück in seiner vierbändigen ›Geschichte der Kriegskunst‹ dargelegt hat. Man betrachte nur einmal die ritterliche Kriegsweise, die notwendig eine feudale Ordnung –

»Dohnanyi!« Jemand steckt den Kopf durch die Tür. »Sind Sie taub? Haben Sie nicht gehört? Der Minister ist erschossen!«

»Er war auf dem Weg hierher«, sagt Hans von Dohnanyi. Er umklammert den Hörer des Fernsprechapparats im Auswärtigen Amt. »Gert, Rathenau war auf dem Weg ins Amt, als die Handgranate geworfen wurde.«

»Ja«, sagt Gerhard Leibholz. »Königsallee Ecke Wallotstraße ist es passiert. Fünf Schüsse. Er soll sofort tot gewesen sein.«

»Aber warum? Gert, warum Rathenau?«

Leibholz lacht bitter auf. »Na, weil er Jude ist. Warum sonst?«

»Ach Gert, ja. Es ist fürchterlich! Vorhin renne ich auf die Wilhelmstraße hinaus, da kommt mir so ein feister ostelbischer Agrarier entgegen, deutet auf die auf halbmast gezogene Flagge des Reichskanzlerpalais und sagt: Was ist denn für ein Jude gestorben, dass das Ding da halbmast weht? Weil dem Kerl natürlich schwarz-rot-gold nicht passt. Ich war schwer in Versuchung, ihm eins hinter die Löffel zu geben, aber gerade in dem Moment hielt das Auto des Nuntius Pacelli vor dem Ministerflügel. Seitdem kommt ein Auto nach dem anderen. Das ganze Viertel ist in Aufruhr. Gert, was soll jetzt werden? Man ist doch nun ein führerloses Schiff. Rathenau, seine Person, war doch gewissermaßen fast eine Garantie für die Revision des Versailler Vertrags. Wer soll denn jetzt die Verhandlungen führen, gerade in der Kriegsschuldfrage? Er war der Einzige, der die Sache hätte rausreißen können. Keiner besitzt im Ausland den Kredit wie er.«

»Weshalb«, sagt Gert Leibholz, »ihn die extremen Kräfte ja eben als Verräter sehen. Wer verhandelt, gilt ihnen als Schwächling, diplomatisches Geschick ist Vaterlandsverrat. Nur das Dreinschlagen zeigt wahren nationalen Stolz.«

»Gert – warte. Vielleicht war es eine Verwechslung. Vielleicht wollten sie den Kanzler erwischen. Man dachte doch, der stünde nach Erzberger als Nächster auf der Liste: Wirth, der Erfüllungspolitiker. Aber Rathenau stand über allen Parteien. Er war objektiv, intelligent, brillant.«

»Was den völkischen Kreisen einmal mehr beweist, dass die brave Biederkeit des Germanen gegen die flinke Wendigkeit des fremden jüdischen Volksstammes nicht ankommt. Also schreien sie danach, dass man sie vor den Überlegenen schützt. Natürlich nur zum Besten des Vaterlands.«

»Aber was sind das für Patrioten, die zufrieden lächeln über ein Attentat? Wie soll aus einem Mord ein besserer Staat erwachsen? Wie auch immer man das Gute definiert, man kann es doch nicht mit einem Verbrechen befördern. Ist diesen Leuten nicht klar, dass sie einen Bürgerkrieg riskieren? Gert – ob Klaus und Just es überhaupt schon wissen? Bis nach Heidelberg ist die Nachricht womöglich noch gar nicht gedrungen.«

Gerhard Leibholz, Sohn wohlhabender jüdischer Eltern, Hans von Dohnanyi, als Spross einer österreichischen Mutter und eines ungarischen Komponisten katholisch getauft, und Klaus Bonhoeffer und Justus Delbrück, ordentliche preußische Protestanten von Geburt an, so wie es eigentlich sein soll: Sie sind enge Freunde, seit sie gemeinsam das Grunewald-Gymnasium und den Konfirmationsunterricht des braven Pfarrer Priebe besucht haben.

Auch ist Hans von Dohnanyi seit letztem Jahr mit Klaus Bonhoeffers Schwester Christine verlobt, heimlich allerdings. Christel studiert in Heidelberg Zoologie. Vor ihr auf dem Tisch liegt Hans’ neuester Brief.

»Der Feind steht rechts! Da steht der Feind, und darüber ist kein Zweifel: dieser Feind steht rechts!« Dieses Wort Philipp Scheidemanns, das auch Otto Wels beim Kapp-Putsch gebraucht hat, hat Kanzler Wirth in der Sondersitzung des Reichstages wieder aufgenommen. Seine Partei wird nun zweifellos über ihn herfallen, weil man keine möglichen Koalitionspartner im rechten Lager verprellen will. Aber genau diese Anbiederei der angeblich Gemäßigten an die äußerste Rechte hat doch erst die Mordatmosphäre geschürt.

Christel stützt den Kopf in die Hand. Von Politik versteht sie nichts, das sollte sie Hans besser noch einmal sagen, damit er sich nichts Falsches von der Ehe mit ihr verspricht. Allerdings Rathenau wirkte wirklich wie ein Mensch, der aus reinen Absichten handelt. Insofern hat der Mord vor allem den Charakter einer scheußlichen Undankbarkeit.

Immerhin der Bürgerkrieg scheint abgewendet, schreibt Hans. Millionen Deutsche demonstrieren gegen den Terror, Hunderttausende sind Rathenaus Trauerzug gefolgt. Dennoch, unter der Oberfläche schwelt etwas, wie bei einem kranken Körper, bei dem man die Symptome erfolgreich unterdrückt, aber innerlich wird er doch zerfressen.

Das ist wahr. Die meisten Studenten in Heidelberg wären zu solch einer Mordtat wie der an Rathenau fähig. Sie trampeln begeistert bei Professoren wie dem rechtsextremen Physiker Philipp Lenard, und kaum eine Verbindung nimmt Juden auf.

Und damit beginnt es doch, schreibt Christel an Hans. Das ist das erste Symptom der Krankheit.

Wobei die Idee der Rosenbergs, ihren Sohn geradezu Hildebrand zu nennen, auch wieder albern ist. Was, wenn er nach dem Großvater gerät, der Rassejude ist? Das wäre, als hieße das arme Wurm Siegfried Cohn. Es gibt doch wahrlich genug andere Namen. Am Ende merkt man es ja doch.

April 1924, Stuttgart

»Sie waren zuletzt im Dom zu Palermo, soweit ich weiß«, sagt Claus Schenk Graf von Stauffenberg zu Frank Mehnert. Die Freunde sitzen in Claus’ Zimmer, in der Dienstwohnung der Herzoglichen Rentkammer in der Stuttgarter Jägerstraße. Claus war heute wieder nicht in der Schule: Eine weitere seiner ekligen Anginen ist im Anmarsch.

»Palermo also.« Frank nickt düster. »Und Berthold schreibt dir.«

»Natürlich schreibt er mir. Er ist schließlich mein Bruder.«

»War es ein richtiger Brief?«

»Was meinst du? Ja.«

»Mir«, sagt Frank, »hat er nur eine Karte geschrieben. Eine einzige Karte, aus Rom.«

Claus betrachtet den Vierzehnjährigen, der seinem großen Bruder verfallen ist.

»Komm«, sagt er. »Lass uns noch ein wenig weiterlesen.«

Zwischen ihnen auf dem Bett liegt Hölderlins ›Hyperion‹.

Wohl dem Manne, dem ein blühend Vaterland das Herz erfreut und stärkt! Mir ist, als würd ich in den Sumpf geworfen, als schlüge man den Sargdeckel über mir zu, wenn einer an das meinige mich mahnt –

»Gehst du morgen wieder in die Schule?«, sagt Frank.

»Ich weiß nicht. Vielleicht gehe ich überhaupt nicht mehr hin. Ich habe ein Gesuch gestellt, vorzeitig zur Abiturprüfung zugelassen zu werden.«

»Mit sechzehn?«, sagt Frank. »Ohne achte und neunte Klasse?«

»Ich kann mich ja privat vorbereiten. 1919 hatten wir auch Privatunterricht, in Lautlingen im Schloss, weil Mutter Stuttgart wegen der Spartakisten und Bolschewisten zu unruhig erschien.«

»Berthold auch?«

»Privatunterricht? Natürlich er auch. Berthold, Alexander und ich.«

Frank Mehnert schüttelt in Verzweiflung den Kopf. »Er ist mit Blumenthal nach Italien gefahren, Claus. Ich verstehe ja, dass jeder Berthold liebt. Er ist der Hervorragendste, der allen Überlegene. Natürlich beten ihn alle an. Aber Blumenthal! Ich habe einen von Blumenthals Briefen gesehen. Berthold hat ihn offen herumliegen lassen. Wahrscheinlich wollte er, dass ich ihn finde. Königsspross nennt Blumenthal ihn. Principi iuventutis, der durch seiner künftigen Hauptstadt Straßen schreitet.«

Und wie soll man dies nun dem Jungen erklären? Es ist unmöglich. Frank ist kein Mitglied des »Staats«: des Bundes um den Meister Stefan George, in dem man Claus als Wunderknab und Haupt der Sage bedichtet, als Ebenbild des jungen Königs zu Pferde: Kaiser Friedrich II., wie ihn die Statue des Bamberger Reiters zeigt und Ernst Kantorowicz ihn in seinem großen Werk über den Herrscher schildert.

Der Enkel Friedrichs I. Barbarossa, geboren auf Sizilien, gekrönt in Mainz und Aachen, war ein deutscher Kaiser italienischen Geblüts von höchstem geistigem Adel, Mathematiker, Sänger, idealer christlicher Führer, den Musenreigen führender Krieger, strahlender Träger der Traditionen der Staufer und der Normannen: Und seine Erben sind Berthold, Alexander und Claus Stauffenberg.

Dies Erbe ist eine Bürde, die mit Stolz getragen werden will und äußerste Selbstzucht verlangt. Mit Außenstehenden darüber sprechen lässt sich nicht. Wer nicht dazugehört, kann nicht verstehen und soll auch nicht: nicht Dichtung, nicht Liebe, nicht die Hingabe von Goethes Ferdinand an Egmont, von Schillers Don Carlos an Posa. Dem amerikanisierten Menschen, der vor dem Pathos heroisierter Liebe zurückfährt, bleibt nur der Flirt. Mag er sich verlieren in der ziellosen Geschäftigkeit der Massen, sich zerstreuen und am Ende taten- und erkenntnislos zugrunde gehen. Aber in des Meisters Nähe dämmert herauf ein anderes Ideal, ein gelobtes land im duft der sagenferne, Gegenbild der Zeit und zugleich sichtbar-unsichtbar in Deutschland wiedergeborenes Ideal, ein Hellas auf deutschem Boden, das Land Dietrich von Berns und des Rolandslieds, Hölderlins und Nietzsches, dessen Baumeister unerkannt unter den Menschen wandelt, Herrscher, Priester, Richter, Vater, glühender Mittelpunkt im Kreise seiner Jünger: der Dichter Stefan George.

Claus liest zurzeit viel in den frühen Gedichten des Meisters, vor allem im ›Jahr der Seele‹. Die Verse schmiegen sich erst dem Klang nach ein, dann eröffnen sie sich in der Seele zu einer Landschaft, die Züge der heimischen trägt, aber befreit ist von Befleckung, Niedergang und Verfall: das schöne, das wahre, das geheime Deutschland.

Karl Wolfskehl hat den Begriff gefunden. Das Geheime Deutschland hat sich nie in der Welt manifestiert. Es ist ein Mysterium: das, was niemals war und zugleich immer ist, ein Reich, das heute unter dem wüsten oberflächenschorf noch halb im traume sich zu regen beginnt, das einzig lebendige in dieser zeit, höchster ästhetischer Maßstab und zugleich allerhöchste Verpflichtung zu handeln. Es erwächst aus der Liebe zur Dreiheit von Schönheit, Adel, Größe, und es lebt in den Gedichten des Meisters, in dessen Staat Berthold, sein Zwillingsbruder Alexander und Claus im Mai 1923 eingeführt worden sind.

Vielleicht könnte man auch Frank einmal dem Meister vorstellen. Darüber muss man mit den Brüdern sprechen. Sie sind mit weiteren Mitgliedern des »Staats« in Palermo zusammengekommen, der Geburtsstadt Friedrichs, die Kantorowicz’ Worte neu haben erstehen lassen: die schon halb afrikanische Hauptstadt des versunkenen Reichs mit ihren Moscheen, Synagogen, normannischen Kirchen, griechischen Säulen, und mitten in der treibenden Menge der Apulier, Griechen, Sarazenen, Deutschen, Juden, Genuesen der unerkannte König und zukünftige Kaiser: ein mutter- und vaterloses Kind, erzogen von namenlos gebliebenen Imamen, vergessenen Priestern und mehr als alles von der Dinge Not. An seinem Sarkophag im Dom zu Palermo haben die Mitglieder des »Staats« am Tag nach Palmsonntag einen Kranz niedergelegt, mit einem Band mit der Aufschrift: SEINENKAISERNUNDHELDEN / DASGEHEIMEDEUTSCHLAND.

Claus ist als zu jung für diese Reise erachtet worden. Er sehnt sich nach Berthold nicht minder als Frank Mehnert. Er schweigt aber darüber. Er muss nun trachten, des Kampfes fürs Vaterland würdig zu werden. Vielleicht wird er Baumeister, wie es der Meister erwog, bevor er den Ruf vernahm, Dichter zu werden. Vielleicht studiert Claus zuvor noch Geschichte, um von anderen vorbildhaften Völkern zu lernen. Oder vielleicht ergeht auch an ihn ein Ruf. Vielleicht ist eine Tat Claus Schenk Graf von Stauffenberg schicksalhaft auferlegt: eine Aufgabe, die kein anderer übernehmen kann und die er also nicht umgehen darf. Das hat er auch dem Meister geschrieben.

je klarer das Lebendige vor mir steht · je höher das Menschliche sich offenbart und je eindringlicher die tat sich zeigt · umso dunkler wird das eigene blut · umso ferner wird der klang eigner worte und umso seltener der sinn des eigenen lebens · wol bis eine stunde in der härte ihres Schlages und in der größe ihrer erscheinung das zeichen gebe

Mai / Juni 1924, Rom

»Der Dom zu Palermo«, sagt Dietrich Bonhoeffer zu seinem Bruder Klaus und zu Axel von Harnack, mit denen er in einer Trattoria an der Fontana di Trevi sitzt, »war eine furchtbare Enttäuschung. Ich bin wirklich erschrocken und konnte gar nicht glauben, dass das der vielgerühmte Dom sein soll, wo der Sarg Kaiser Friedrichs II. steht, aber er war es wirklich, also bemühte ich mich verzweifelt um ein Gefühl der Erhabenheit, aber es ging nun einmal nicht. Also ging ich wieder hinaus und würdigte ganz erleichtert wenigstens die unter Abstrichen bestehende äußerliche Einheitlichkeit des Ganzen.«

Dietrich und Klaus sind gerade nach Rom zurückgekehrt, von einem Abstecher nach Sizilien und Afrika. Es ist Klaus Bonhoeffers letzter Abend. Morgen kehrt er nach Deutschland zurück, ohne den jüngeren Bruder.

»Habt ihr denn auch einen Soldo in den Brunnen dort draußen geworfen?«, sagt Axel. »Ein Volksglaube besagt, dass das zu einer sicheren Rückkehr nach Rom führt.«

»Das ist alles bestens erledigt«, sagt Klaus. »Dietrich hat ja schon vor Reiseantritt den ganzen Baedeker auswendig gelernt. Ich war ohnehin nur als Begleitperson angeheuert. Die Eltern haben Dietrich diese Reise geschenkt, als Mittel zur Heilungsbeförderung, nachdem er dank seines Tänzchens auf dem Eis seinen achtzehnten Geburtstag im Krankenbett feiern musste.«

»Allerdings führt mir deine Abreise recht schmerzlich vor Augen, wie kurz die Herrlichkeit auch für mich nur noch währen wird«, sagt Dietrich. »Ich kann mir gar nicht vorstellen, Rom zu verlassen. Ja, Axel, du bist zu beneiden.«

Axel von Harnack ist als Hilfskraft damit beschäftigt, die Bibliothek des Deutschen Archäologischen Instituts zu ordnen, die ins Gemeindehaus der evangelischen Kirche an der Via Sardegna verlegt worden ist, da Italien den ursprünglichen Bau auf dem Kapitolshügel nach dem Weltkrieg enteignet hat.

»Man wird mit der Sortiererei wohl noch eine Weile zu tun haben«, sagt Axel. »Zu Rom und Unteritalien sind die Sammlungen sehr umfangreich. Das Institut würde seine Forschungstätigkeit gern bis nach Afrika ausdehnen, aber daran ist zurzeit ja überhaupt nicht zu denken.«

»Die Gegend scheint allerdings weitgehend befriedet zu sein«, sagt Klaus. »Die italienischen Militärs hatten uns versichert, dass wir unbekümmert selbst bei Dunkelheit überall herumlaufen könnten, und wir fühlten uns auch nie in Gefahr. Die Strafen, die einen Eingeborenen erwarten, der die Hand gegen einen Weißen erhebt, sind von großer Drastik.«

So sagt das nun Klaus. Dietrich überlegt, dass er sich zurückhalten wird. Als jüngster der Brüder war er oft genug wegen einer voreiligen Bemerkung, einer kindlichen Dummheit, eines Hangs zum Vorlauten dem Gelächter der älteren preisgegeben, und sein Hang zum Raufen hat die Sache nicht besser gemacht. Aber über diese Reise nach Tripolitanien kann er tatsächlich nichts Vernünftiges sagen.

Wie hatte man sich Afrika gedacht! In strahlenden Farben hatte man sich alles ausgemalt, aber aller schwülstig-grandiose Nebel hatte sich in Nichts aufgelöst vor der Sonne der Wirklichkeit. Mit eigenen Maßstäben war Afrika gar nicht zu ermessen, stumm und ohne Begreifen stand man und musste es hinnehmen, verdammt zur vollständigen Passivität.

Klaus spricht derweilen von Dattelpalmwäldern, von den Papageien, die man vom Schiff aus im Hafen von Malta kaufen konnte, von Karawanen, Märkten, Brunnenszenen.

»Die Würde und Gemessenheit der Araber ist ungemein beeindruckend«, sagt Klaus. »Eine Welt wie im Alten Testament. Tripolitanien ist ja erst seit 1912 italienische Kolonie, es ist also alles noch sehr ursprünglich. Aber dass die Italiener sogar die Menschen eines Volks von solch hoher Kultur, wie es die Araber sind, als Sklaven behandeln und brutal drangsalieren, hat uns die gesamte Reise über empört. Entsprechend stark ist natürlich die Erbitterung, aber auch die unmenschliche Angst der Araber und noch mehr der Neger vor jedem Europäer.«

»In Afrika«, sagt Dietrich, »habe ich erst begriffen, was Europa ist.« Er setzt sich auf, er kann nun doch nicht an sich halten. »In Afrika«, sagt er, »steigert sich der Schrecken, den man empfindet, von Tag zu Tag, als wäre man ein leeres Gefäß, in das Unmengen schwersten Materials geworfen würden, bis es durchzubrechen droht und man fürchtet, dabei schlimmsten Schaden zu nehmen. Wenn man dann in Sizilien wieder europäischen Heimatboden berührt, ist es wie Fesseln von einem genommen. Die Orangen- und Zitronenhaine erscheinen vertraut wie deutscher Wald, und mit Begeisterung schwelgt man in einer Landschaft seines Heimatgefühls.«

Einen Moment schweigen sie alle. Dann sagt Axel: »Wobei das Fortleben unseres antiken Erbes gerade in der islamischen Welt noch längst nicht hinreichend gewürdigt und untersucht ist.«

»Unbedingt«, sagt Dietrich lebhaft. »Überhaupt müsste man sich mit dem Islam einmal näher befassen. Bei den Arabern ist das alltägliche Leben nicht so getrennt von der Religionsausübung wie bei uns, wo man sich nach dem Kirchgang sofort wieder einem grundsätzlich anderen Leben zuwendet. Auch Religiöses und Nationales schienen mir untrennbar vermischt. Ein wahrer Mohammedaner kann man nur als Araber sein, dagegen ein Neger, der zum Islam übertritt, bleibt für einen Araber doch immer ein Neger. Solche Religionen können nicht Weltreligion sein wie das Christentum.«

»Wobei sich in Preußen der Protestantismus ebenfalls engstens mit dem Staat verbunden hat«, sagt Axel, Sohn Adolf von Harnacks, Professor für Kirchengeschichte an der Berliner Universität.

»Und hätte es vielleicht besser nicht tun sollen«, sagt Dietrich. »Vielleicht hätte der Protestantismus besser eine Sekte innerhalb der weltumspannenden Kirche bleiben sollen, statt sich zu einem Teil des Staats zu machen. Dann hätte er an der Universalität der Kirche teilgehabt, diesem unfassbaren Gebäude, wie es mir während der Messe am Palmsonntag im Petersdom so plastisch vor Augen trat. Am Altar standen hohe Geistliche, Seminaristen, Mönche aus dem ganzen Erdenrund, schwarze, weiße, gelbe, braune Gesichter, alle in ihren geistlichen Trachten vereint, unabhängig von Nationalität, Rasse und Sprache.«

»Schwere Themen«, sagt Klaus. Er dreht versonnen sein leeres Weinglas. »Was meint ihr, sollte man noch einen Tropfen bestellen?«

Dietrich hält an sich. Klaus gilt dem Vater als der brillanteste seiner Söhne, und das mag sein, wie es will, aber jedenfalls ist er unsagbar wurstig in Geldsachen. Wahrscheinlich geht er davon aus, dass Axel bezahlt, aber das ist keinesfalls ausgemacht, und in der Kasse der Brüder herrscht Ebbe. Dietrich hätte seiner Zwillingsschwester Sabine so gern etwas Exotisches mitgebracht. Zu Hause bekommt man ja so wenig. In Afrika hätte er auch fabelhafte Dinge für sie finden können, aber am Ende hat er gar nichts gekauft, auch nicht für sich selbst, stattdessen hat sich Klaus für Dietrichs Geld ein arabisches Mokkaservice gestattet. Und nun muss Dietrich sparen: verflucht sparen, wie er Sabine gestern geschrieben hat, sodass er sich ein Mitbringsel nicht einmal dann leisten kann, wenn er das Geld nur auslegt.

Axel winkt dem Kellner. Dietrich ergibt sich in die Dinge. Was bleibt ihm übrig? Klaus ist dreiundzwanzig, fünf Jahre älter als er, und Axel wird im nächsten Jahr bereits dreißig. Er war keiner von Dietrichs Spielkameraden so wie die jüngeren Sprösslinge der Harnacks, Delbrücks, Bonhoeffers und Dohnanyis, die alle zusammen im Professorenviertel im Grunewald aufgewachsen sind.

Klaus lehnt sich in seinem Stuhl zurück. »Ich frage mich«, sagt er, »wie sich der Untergang des Römischen Reichs wohl für den Einzelnen vollzogen haben mag. Axel, was meinst du? War es etwas Radikales, ein plötzlicher Bruch, oder eher schleichender Verfall? Freilich, die Hunnen und die Vandalen … Aber einmal war ja doch wieder Frieden. Und dennoch blieben die Becken der Thermen irgendwann leer, und das Feuer im Leuchtturm von Portus erlosch. Vielleicht hat es nicht einmal jemand bemerkt. Oder irgendein Kind hat gedeutet: Vater, Vater! Der Vater hat aufgesehen: Ach, sieh an, das Feuer ist aus. Na, morgen brennt es wieder. Aber das tat es nicht. Und dann eben nie wieder.«

»Wahrscheinlich haben die Leute in solchen Zeiten übergenug mit ihrem eigenen Überleben zu tun«, sagt Axel. »Sie haben gar keine Zeit, um über Grundsätzliches nachzugrübeln, sondern alles geschieht aus der Not des Moments. Flüchtlinge bauen sich Hütten unter den Aquädukten, in die Ruinen der Landvillen nisten sich Dörfer ein, Esel gehen auf Trampelpfaden, die prachtvollen Fernwege sind von den neuen Grenzen zerschnitten, und zwischen ihren Steinen wächst Gras.«

»Und auf dem Forum Romanum Rüben und Kohl«, sagt Klaus. »Wie in unseren einstigen Rosenbeeten, und in euren auch.«

»Delbrücks«, sagt Dietrich, »hatten bis letztes Jahr noch zwei Milchziegen im Schuppen.«

»Haben sie die nicht mehr?«, sagt Axel. »Ich denke sehr dankbar an unsere Stallhasen und Truthühner zurück. Wie wären wir ohne sie durch die schlimmen Jahre der englischen Blockade gekommen? Die Leute haben ja 1920 noch gehungert. Kein Wunder, wenn mancher heutzutage die großen Städte verdammt und das Heil in einer Rückkehr zu bäuerlichen Werten sieht.«

»Aber zugleich«, sagt Klaus, »tanzt man nach Jazzmusik und betet den Fortschritt an. Wie soll man diese Strömungen vereinen?«

»In der Reichswehr«, sagt Dietrich, »hoffen sie alle auf Beseitigung der Republik. Letzten Winter habe ich an einer Militärausbildung einer studentischen Reservekompanie teilgenommen – nichts Großes, nur schnell zwei Wochen Grundausbildung, bevor die Entente-Kommission ihre Nase auch noch in diese Angelegenheit steckte. Aber immerhin haben wir Schießen gelernt, was ja schließlich das Wichtigste ist. Jedenfalls die Mannschaften haben sich uns gegenüber sehr anständig und kameradschaftlich verhalten, aber sie sind wirklich unsagbar reaktionär. Sie hoffen alle, dass Ludendorff mit besserer Unterstützung als der dieses Hitler doch noch irgendwie die Sache herausreißt und dann eben der nächste Putsch klappt. Dagegen meine Bundesbrüder von der Igel-Studentenverbindung wollen Ludendorff sämtlich umbringen. Jeder ist heute eben nach irgendeiner Richtung verhetzt.«

»Offenbar«, sagt Klaus, »fällt vielen die ganze Welt auseinander, nur weil das Staatsgebilde zusammenbricht, in dem sie groß geworden sind. Die wirtschaftliche Not spielt natürlich eine Rolle, auch der Ruhrkampf hat alle sehr aufgewühlt. Aber vor allem scheint ihnen zu fehlen, was wir zu Hause mitbekommen haben. Klare Maßstäbe. Ein Fundament, das im Chaos nicht gleich zerkrümelt. Das starke Netz der Familien.«

»Wobei mir einfällt«, sagt Axel. »Ich habe gehört, Christel und Hans heiraten nächstes Jahr?«

Klaus lacht. »Die Eltern drängen neuerdings geradezu darauf, obwohl Hans unserem Vater doch immer etwas zu großspurig war. Dabei spricht er ja eigentlich ganz leise und ruhig. Aber nachdem Christel nun einmal entschlossen ist, ihn zu nehmen, hält Vater es nicht für vertretbar, ihn wegen ihrer Doktorarbeit noch jahrelang hinzuhalten. Ihr Studium ist jetzt ja ohnehin nicht mehr sinnvoll.«

»Lass das nicht Agnes hören«, sagt Axel. »Meine kämpferische Schwester plant gerade eine Geschichte der Frauenbewegung, natürlich mit großer Unterstützung unseres Vaters.«

»Meine Schwester Sabine«, sagt Dietrich, »hat sich mit Gert Leibholz verlobt.«

»Die kleine Sabine!«, sagt Axel. »Aber freilich, sie ist natürlich genauso alt wie du. Dass mir das aber auch niemand geschrieben hat. Wie stellt sich denn euer Vater dazu?«

»Papa mag Gert beinahe am allerliebsten von allen jungen Leuten, glaube ich«, sagt Dietrich. »Er nimmt ihn immer ganz vertraut zur Seite, wenn er uns besucht. Aber Mama hat Bedenken. Gert ist ja schon vor drei Jahren zum Dr. phil. promoviert worden, und nun mit zweiundzwanzig sitzt er über seiner juristischen Doktorarbeit. Aber sie sagt, dass Papa es Tag für Tag erlebt, wie weniger brillante Geister bei der Vergabe von Stellen und Ämtern über ihre jüdischen Kollegen bevorzugt werden, und unter solchen zu erwartenden Zurücksetzungen könnte Sabine vielleicht leiden. Sie ist doch sehr empfindsam. Papa hat ihnen jetzt auferlegt, sich mit der Hochzeit noch bis zu Sabines und meinem zwanzigsten Geburtstag zu gedulden.«

Zusammen treten sie hinaus in die frühlingsmilde römische Nacht. Das Wasser des Trevi-Brunnens rauscht laut in der Stille. Die Pferde und Tritonen brechen aus dem Stein wie seit je.

»Dieser Aquädukt«, sagt Axel, »ist im Übrigen seit der Antike in Betrieb. Die Aqua Virgo. Du siehst, Klaus, nicht alles geht unter. Die griechische Kultur ragt in die Welt der Römer hinein wie die Antike in die Gegenwart. Das republikanische, das kaiserliche, das frühchristliche, das päpstliche Rom, alles liegt hier in dieser Stadt sozusagen Schicht auf Schicht aufeinander.«

»Und obenauf das faschistische«, sagt Klaus. »Mitten durch die ganze wogende Menge der Ausschreier und Händler und Kinder steuern ja ständig die Automobile der Faschisten, die ihre Flugblätter unter das Volk werfen und den Leuten erzählen, mit ihnen würde das römische Imperium wiedergeboren. Das könnte diesem Hitler auch gefallen, dass man ihn per Dekret zum Regierungschef macht, so wie Mussolini. Aber sein Marsch auf Berlin ist zum Glück schon vor der Münchner Feldherrnhalle zum Stehen gekommen.«

Sie gehen durch die Via Poli, vorbei an Santa Maria in Trivio. Ihre Schritte hallen in der Stille. Dietrich überlegt, dass er morgen nach Klaus’ Abreise gleich wieder in den Petersdom gehen wird. Beim ersten Anblick, vom Zug aus in der Ferne, sah der Dom feierlich aus, dann aus der Nähe war der Eindruck zunächst ernüchternd, wie immer, wenn man sich etwas zu oft vorgestellt hat, aber ebendiese Ernüchterung schafft erst Raum für die Wirklichkeit des Erlebens. Darüber denkt er zurzeit viel nach: Wie immer alles zusammenkommen muss, damit etwas Lebendiges, Wahres entsteht, Wissen und Wahrnehmung, Vorstellung und Erinnerung.

Allerdings das Kolosseum – solche Wucht und Schönheit hat Dietrich sich niemals vorstellen können. Die alten Mauern waren umrankt, eingebettet in ein Dickicht von Palmen, Pinien, Lorbeersträuchern, allerlei Kräutern und Gras. In der Stille auf den gewaltigen Trümmern sitzend, dachte er mit einmal: Der große Pan ist nicht tot.

Zu Klaus gesagt hat er davon nichts. Aber dieses Gefühl, diese Gewissheit hat ihn über Tage begleitet. Es durchfährt ihn noch immer ab und an, mit einer Mischung aus Freude und Schreck: Der große Pan ist nicht tot. Der große Pan ist nicht tot.

November 1924, Schloss Lindstedt / Potsdam

Da ist es nun wieder, das Dornröschenschloss, seine ockerfarbene italienische Pracht ebenso bezaubernd wie befremdlich, hier mitten im märkischen Sand, eine halbe Stunde westlich des Neuen Palais. Henning von Tresckow steht auf dem Colonnadengang, der den Garten von Schloss Lindstedt wie eine Zugbrücke überspannt. Zu diesem Moment nun ballen sich die dicht gedrängten dreiundzwanzig Jahre seines bisherigen Lebens zusammen, deren natürliche Gliederung ist: Vorkrieg – Weltkrieg – Nachkrieg. Die Weltreise hätte die nötige Erneuerung bringen sollen, war aber Unsinn und ist nun auch abgebrochen. Henning sieht in den Garten hinab. Am Himmelfahrtstag, bei seinem ersten Besuch, ist er von hier hinuntergesprungen, Erika von Falkenhayn gerade vor die Füße. Die Freunde, die ihn mitgebracht hatten, lachten: Er war auf den Knien gelandet und hatte die Hose zerrissen. Gedacht hatte er sich die Szene galanter. Fräulein von Falkenhayn, heiter erschrocken, wollte ihm aufhelfen, aber er stand schon, vollführte eine schwungvolle Verbeugung: Hochverehrtes Fräulein. Während er leichthin plauderte, war er innerlich sprachlos angesichts der Art, wie sie den Kopf hielt: anmutig, unbefangen, graziös, blumenhaft?

Und gleich wird sich die Tür öffnen. Dann wird etwas beginnen. Erika von Falkenhayn weiß, dass er kommt. Bei seiner Abreise waren sie noch nicht so weit, dass er sie um ein Bildnis hätte ersuchen können, aber sie haben einander geschrieben.

»Lieber Herr von Tresckow!«

Wärme umfängt Henning. Erikas Mutter eilt ihm durch die Halle entgegen. Ida von Falkenhayn: Sie drückt Hennings Hand mit der ihr eigenen Mischung aus echter Freundlichkeit und unbewusster, noch immer mädchenhafter Koketterie.

»Wie schön, Sie wohlbehalten wiederzuhaben. Kommen Sie, wir trinken Kaffee zusammen. Oder nein, Sie mögen lieber Tee. Bitte, hier herein. Nehmen Sie Platz, Erika kommt sicher gleich. Wir hatten ja gefürchtet, Sie frühestens erst im nächsten Sommer wieder bei uns begrüßen zu dürfen.«

»Ja, gnädige Frau, den Anschein hatte es. Aber in Santiago de Chile erwartete mich ein Brief meines ältesten Bruders, der meine Weltreise sozusagen halbiert hat.«

»Doch nichts Katastrophales?«

»Keineswegs. Nichts, was sich nicht hätte regeln lassen.«

So spricht er, der Kaufmann und Makler Henning von Tresckow, in diesem Jahr der Währungsreform. Auf dem Weg zur Börse trägt er Paletot, Gamaschen, einen weltmännischen Hut. Direkt gegenüber der Potsdamer Garnisonkirche besitzt er ein Haus, in dem er selbst die schönste Wohnung bewohnt und die anderen Räumlichkeiten an Offiziere vermietet. Aber sein gesamtes Kapital hat er seinem von Insolvenz bedrohten Halbbruder Jürgen zur Verfügung gestellt, dem Erstgeborenen und Erben von Wartenberg, um Schloss und Gut für die Familie zu erhalten.

Und da ist Erika. Henning springt auf, tritt ihren ausgestreckten Händen entgegen.

»So setz dich doch bitte gleich, Kind«, sagt Frau von Falkenhayn. »Ich brenne darauf, Herrn von Tresckow von seiner Reise berichten zu hören. Ich habe mich lediglich bezähmt, um ihm zu ersparen, alles zweimal erzählen zu müssen.«

»Verehrte gnädige Frau«, sagt Henning, »es mag wie bloße Höflichkeit klingen, aber glauben Sie mir: Nichts, was ich unterwegs gesehen habe, war imstande, das Bild dieses zauberhaften Schlösschens aus meinem Herzen zu vertreiben.«

»Nicht einmal Paris?«, sagt lächelnd Erika von Falkenhayn. »Nicht einmal die Palmenwälder Brasiliens?«

»Paris«, sagt Henning, »kommt nicht an gegen Potsdam, das sich im Licht des Vollmonds in den Wasserläufen spiegelt. Und der Urwald? Spinnen, Schlangen, giftige Frösche. Da lobe ich mir unsere märkischen Kiefernwälder. Hübsch ist allerdings die Landschaft von England. Der Kreidefelsen von Beachy Head, dahinter die South Downs mit ihren sanften Feldern und Wiesen: Das ist eine Gegend, die zum Herzen spricht.«

»Und die Engländer?«, sagt Erika. »Wie haben die Sie empfangen?«

»Allgemein recht freundlich. Selbst wenn sich herausstellte, dass wir Deutsche waren, mein Reisegefährte Hesse und ich, zuckten sie meist nur geringfügig zusammen. Manch einer drückte sogar sein Mitgefühl für unsere Lage aus.«

»Die Engländer«, sagt Frau von Falkenhayn. »Mit denen haben wir auch unsere Erfahrungen gemacht. Mein verstorbener Mann hatte ja im November 1917 in Jerusalem den Türken gegen die Engländer beizustehen. Wir sind überhaupt viel herumgekommen. China, die Mandschurei, Korea, überall war er Militärberater. Und dann im Weltkrieg waren Hindenburg und Ludendorff auf einmal der Ansicht, er sollte nicht mehr länger preußischer Kriegsminister und Chef der Obersten Heeresleitung sein. Na, wir wissen ja, als wie ungeheuer siegreich sich diese Herren entpuppt haben. Wir jedenfalls gingen nach Jerusalem. Erika war zwölf. Es existiert eine sehr hübsche Fotografie, die sie inmitten feztragender Muselmanen zeigt.« Ida nickt ihrer Tochter zu. »Aber ich muss sagen – dieser Kemal Pascha! Das war der osmanische Statthalter. Nachdem die britische Regierung erklärt hatte, sie betrachte die Einrichtung einer jüdischen Heimstatt in Palästina mit Wohlwollen, war für Kemal Pascha jeder Jude ein Verräter. Aus Jaffa hatte er schon an die zehntausend vertrieben, man sprach von Hunderten von Toten, und am liebsten hätte er alle Juden zwangsumgesiedelt, gerade so wie die Armenier, diese armen Menschen, die ja fast alle umgekommen sind. Aber das hat mein Mann verhindert. Resolut ist er eingeschritten, um einen solchen Völkermord an den Juden zu verhindern.«

»Ja, Mama«, sagt Erika sanft. »Das sind allerdings recht alte Geschichten. Wollen wir nicht lieber hören, was unser Gast zu erzählen hat? Was haben Sie denn nun für Pläne, Herr von Tresckow?«

»Ich werde Erika von Falkenhayn heiraten«, sagt Henning zu seinem Bruder Gerd, den er auf Gerds Gut Osterode besucht. »Ich hätte längst gesprochen, wenn nicht diese Reise gewesen wäre. Sie sollte ja dem Ausloten neuer wirtschaftlicher Möglichkeiten dienen, das ist nun auf der Strecke geblieben. Aber Wartenbergs Rettung war natürlich wichtiger.«

»Es war nicht Jürgens Schuld, Henning. Wenn die Kaufkraft des Roggens in einem Verhältnis von sechzig Prozent zu den Preisen landwirtschaftlicher Maschinen steht, und dann sind Steuern zu begleichen und Betriebsmittel zu kaufen – «

»Ich weiß schon. Und dazu die Böden der Mark. Wie Vater immer sagt: Hier bei uns wächst es beim dritten Mal erst an.«

»Und in Frankreich?«, sagt Gerd. »Wie sieht es dort inzwischen aus?«

»Die Wiederaufbauarbeiten sind natürlich überall im Gang. Aber in der Champagnerkreide zeichnen sich die alten Grabensysteme noch immer mit unheimlicher Deutlichkeit ab. Dazwischen zerschossene Dörfer, riesige Friedhöfe, selbst Reims ist noch immer kriegszertrümmert. Hesse und ich haben uns vorsichtshalber als Engländer ausgegeben. Speziell in Paris. Dort gibt es ein Gebäude, das Panthéon de la Guerre, in dem ein riesiges Gemälde verherrlicht, wie die Repräsentanten von drei Dutzend Ländern unsere Fahnen in den Staub treten. Sie merken nicht einmal, was ihr Triumphgeheul offenbart: dass man alle Soldaten der ganzen Welt zusammenscharen musste, um mühsam das eine Volk, dem diese Fahnen gehörten, in vier langen Jahren totzuschlagen.«

Die Brüder schweigen, rühren in ihren Tassen.

»Aber unter dem Triumphbogen«, sagt Gerd schließlich, »ist dies Grabmal des unbekannten Soldaten. Davon hast du geschrieben, Henning.«

»Ja. Welch große, anrührende Idee! Schade, dass nicht wir sie hatten. Gerd, hör zu. Ich trete wieder in die Reichswehr ein.«

»Wirklich?«, sagt Gerd. »Aber Henning, warum?«

1926, Bamberg

Öl, Socken, Männer, Pferd: Der Geruch der Kasernenluft, so eindrücklich wie unverwechselbar. Am Tisch der Stube isst man sein Brot, putzt und ölt das Gewehr, legt die Musiknoten ab: Beethovens fünfte Cellosonate, ein Stück von sprechender Ausdruckskraft, auch wenn dafür klangliche Härten in Kauf zu nehmen sind. Claus Stauffenberg ist am 1. April 1926 ins 17. Bayerische Reiterregiment eingetreten. Architekt zu werden hat letztlich das Erbe seines Namens nicht gestattet. So hat er es einem Freund geschrieben: Die wahrhaft aristokratische Auffassung, und die ist für unsereinen doch wohl das Primäre, erfordert eben den staatlichen Dienst, gleichgültig in welchem engeren Beruf.

»Stauffenberg!«

Claus setzt den Bogen ab. Dass sie nach dem Klopfen nicht auf Antwort warten. Es ist eine ganze Bande, die hereindrängt.

»Wir ziehen los ins Kasino.«

»Erst ins Kasino, dann zu einer Tanzerei.«

»So kommen Sie schon, seien Sie kein solcher Einsiedler.«

»Lasst gut sein. Er kommt ohnehin nicht mit. Es bildet ein Talent sich in der Stille.«

»Stauff ist eben noch nicht wieder ganz auf dem Damm.«

Nach einem ausgedehnten Manöver, bei dem durch einen Fluss zu reiten und dann in nasser Uniform weiterzumachen war, hat Claus drei Wochen mit eitriger Angina gelegen, ärgerlicherweise die Bedenken der Mutter angesichts seiner Berufswahl aufs Schönste bestätigend. Auch der Vater war nicht in Begeisterung verfallen: Und was, mein Sohn, meinst du beim Militär vollbringen zu können, angesichts der Restriktionen des Versailler Vertrags?

»In Wirklichkeit will Stauff doch nur lieber die Stehgeige quälen.«

Die Regimentskameraden winken ihm zu, übermütig, nicht bösartig, allenfalls mit ein wenig zu großspuriger Unbefangenheit. Einen Moment später hört er sie den Flur entlangpoltern, dann verklingt ihr Lachen und Rufen. Darin erweist sich nun der menschliche Takt der Standesgenossen: keinen Abstand zu wahren, sondern dummstolz zu verlachen, was ihnen zu hoch ist. Wie angenehm ist dagegen der Umgang mit den Soldaten und Bauernsöhnen: die Zuverlässigkeit, die gegenseitige freundliche Gleichmäßigkeit der Bitten und Erfüllungen der Befehle. Claus zieht die Mappe zu sich heran, die vor ihm liegt. Sie enthält die ersten Seiten einer im Staat gefertigten Homer-Übersetzung. Obenauf liegt ein Brief an Max Kommerell, den er vorhin angefangen hat.

Wie wünschte ich, Geliebter, Dich umarmen zu können und für minuten nur Deinen küssen und dem hören Deiner worte da zu sein! Kennst Du das dasein dessen, der seit jahren kaum mehr eine stunde irgendeiner erfüllung, eine nicht fordernde, sondern nur im dasein volle stunde haben durfte, sondern nur treibende und solche voller fragen?

Aber damit war natürlich zu rechnen. Nun noch Zweifel an der einmal getroffenen Entscheidung zu äußern verbietet sich: Man könnte sich davon ja nie wieder erholen. Was verlangt ist, ist vollkommene Härte und unbedingter Gehorsam sich selbst gegenüber, ein gleichmäßiges Vorwärtsschreiten auf der einmal gewählten Laufbahn, die Disziplin, nur auf daszu achten, was man sich vorgenommen hat. Was bedeutet schon das Opfer einiger Jugendjahre? Reich wäre Claus entschädigt, wenn er dafür dem Vaterland im Geringsten gedient haben könnte: Das hat er dem zweifelnden Vater entgegengehalten.

Die Wahl gerade dieses Regiments ließ sich schönerweise mit Onkel Berthold begründen, der ebenfalls bei den Reitern gedient und damit Claus’ Chancen erhöht hatte, überhaupt in die von Versailles gefesselte Reichswehr aufgenommen zu werden. Auf wahres Verständnis, soweit denn benötigt, ist ohnehin nur bei den Vertrautesten zu hoffen. Alexander hat zum Eintritt seines Bruders ins Regiment der Bamberger Reiter ein Gedicht verfasst:

Dein Blut ist Sturm wie einst und Glut und brennt

und fließt in eins mit dem gekrönten Reiter

den unsre fernste Hoffnung König nennt

Offa, wie Alexander Stauffenberg im Kreis um den Meister genannt wird: Er sieht, was Außenstehenden verborgen bleiben muss, Claus’

unstillbaren Drang

nach Tat so fern – bis du an deinem Herzen

den Bruder findest noch im untergang

September 1930, Berlin

»Was sagen Sie zum Ausgang der Reichstagswahl?«, sagt Werner Best zu Edgar Julius Jung, mit dem er in einem Café in der Berliner Motzstraße sitzt.

Best spricht mit Respekt. Er ist mit Jung recht gut aus dem Rheinlandkampf und der Arbeit im Hochschulring deutscher Art bekannt, und sie sind beide Volljuristen, aber der fast zehn Jahre Ältere ist außerdem als Schriftsteller eine Berühmtheit. Sein eminent einflussreiches Werk ›Die Herrschaft der Minderwertigen‹ steht im Begriff, in zweiter Auflage neu zu erscheinen, mit dem Zusatz: ›Ihr Zerfall und ihre Ablösung durch ein neues Reich‹.

»Ich nehme an«, sagt Edgar Julius Jung, »dass uns der Wahlerfolg der NSDAP das zweifelhafte Vergnügen gewähren wird, nun sozusagen von den Logen aus zuzusehen, wie sich die Lemminge kopfüber ins trübe Gewässer der Massenpartei stürzen.«

Best räuspert sich. Dann sagt er: »Die Organisation der Massen, nicht die gewaltsame Revolution, ist heute die einzige Möglichkeit der Machtergreifung.«

»Durchaus. Die NSDAP ist sicherlich unsere Volksbewegung, weshalb manche Geistigen nun den Anschluss aus innerer Disziplin vollziehen. Aber bei meiner Unterhaltung mit Hitler hat das Trennende überwogen. Vor allem die Rassenlehre verkehrt unsere Vorstellung des Volkstums als einer geistigen, metaphysischen, organischen Einheit geradezu in ihr Gegenteil.«

»Man wird die Bewegung zu unterlaufen und ihr unseren Stempel aufzudrücken haben. Möglich ist das aber nur von innen.«

Jung dreht sich zu Best hin. Er reißt hinter runden Brillengläsern die Augen auf, macht sein Tyll-Oylnspygl-Gesicht. »Sie sind dabei?«

»Noch nicht. Aber ich stehe im Begriff einzutreten.«

»Das verwundert mich. Es ist doch soeben Ihr Aufsatz in Jüngers ›Krieg und Krieger‹ erschienen, in dem Sie das Heroisch-Realistische zum Prinzip erheben. Das Ideal des Aushaltens auf verlorenem Posten. Haltung haben, standhaft sein, ohne Hoffnung, ohne Rettung: Das ist Größe, das heißt Rasse haben. Und nun wollen Sie zu den Siegern gehören?«