Wer wir sind (4) Roman. Vierter Teil - Sabine Friedrich - E-Book

Wer wir sind (4) Roman. Vierter Teil E-Book

Sabine Friedrich

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Beschreibung

Teil 4 des Romans als eBook Rote Kapelle, kommunistische Gruppen, Weiße Rose, Kreisauer Kreis, 20. Juli: Dieser Roman vereint sie miteinander, die Frauen und Männer, die sich dem Nationalsozialismus widersetzten. Er erzählt von ihrem Sterben, vor allem aber von ihrem Leben. Dabei entrollt sich vor dem Leser ein gewaltiges Panorama. Im Zentrum von Teil vier stehen die Männer und Frauen des Kreisauer Kreises und mit Henning von Tresckow der Russlandfeldzug. Von der sechsjährigen Entstehungsgeschichte des Romans 'Wer wir sind' erzählt die Autorin in ihrem 'Werkstattbericht'. Der vollständige Roman, die Teile 1-3, 5 und der 'Werkstattbericht' sind ebenfalls als eBook erhältlich.     

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Seitenzahl: 586

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Sabine Friedrich

Wer wir sind (4)

Roman

Deutscher Taschenbuch Verlag

Originalausgabe 2012

© 2012 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, Garbsen

Textredaktion: Frank Griesheimer, Starnberg

Quellen im Anhang

Eine ausführliche Quellen- und Literaturliste sowie die Verbindungslinien einzelner Personen (Stammbaum) finden Sie im Internet unter: www.wer-wir-sind.de

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Rechtlicher Hinweis §44 UrhG: Wir behalten uns eine Nutzung der von uns veröffentlichten Werke für Text und Data Mining im Sinne von §44 UrhG ausdrücklich vor.

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH, KN digital - die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

eBook ISBN 978-3-423-41744-0 (epub)

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website

www.dtv.de/ebooks

ZWEITES BUCH

ZWEITER TEIL

1

2

3

4

5

6

DRITTER TEIL

1

2

3

Dank

Quellen

[Informationen zum Buch]

[Informationen zur Autorin]

ZWEITES BUCH

ZWEITER TEIL

1

In Georg Wilhelm Pabsts Verfilmung von Frank Wedekinds ›Büchse der Pandora‹ spielt Louise Brooks die Lulu und Helmuth Moltkes Jugendschwarm Daisy D’Ora Dr. Schöns Braut. Im selben Jahr 1929 spielt Brooks das Mädchen Thymian in Pabsts Verfilmung von Margarete Böhmes Roman ›Tagebuch einer Verlorenen‹. Daisy ist diesmal nicht dabei, aber dafür Carlo Mierendorffs Geliebte Franziska Kinz, May genannt. Sie spielt die hausbackene und verbitterte Witwe des Apothekers, die von Thymian gerechterweise mit ihren Kindern auf die Straße gesetzt wird. Und nun, in diesem Jahr 1933, ist Carlo Mierendorff in die Schweiz geflohen, und Franziska Kinz spielt die Krankenschwester in ›Hitlerjunge Quex‹, an der Seite von Heinrich George und Berta Drews.

Vorwärts! Vorwärts!

Schmettern die hellen Fanfaren

Vorwärts! Vorwärts!

Jugend kennt keine Gefahren!

Es ist alles genau so gekommen, wie Franziska es gefürchtet hat. Die Nazis haben gewonnen. Werner Best ist hessischer Polizeichef geworden: der Verfasser der ›Boxheimer Dokumente‹, für deren Veröffentlichung ausgerechnet Carlo Mierendorff gesorgt hat und in denen klar und deutlich zu lesen stand, wie die Nazis mit ihren Gegnern verfahren würden.

»Hast du Angst, May?« Das hat Carlo sie nach der Ernennung Hitlers zum Kanzler gefragt. »Hast du Angst, von nun an mit mir gesehen zu werden?«

»Aber nein, Carlo. Warum? Ich bin doch vollkommen unpolitisch.«

»Ja, May. Ah, das ist wahr. Ich werde dich furchtbar vermissen in der Schweiz.«

Aber er kommt zurück, nach kaum mehr als zwei Wochen. Freunde haben um seine Rückkehr gebeten. Sie haben Theo Haubach zu Carlo nach Zürich geschickt, den ältesten Freund aus der Jugendzeit. Theo hat Carlo Vorhaltungen gemacht: Die Arbeiter, die auf die SPD gesetzt haben, können schließlich auch nicht in die Schweiz fliehen. Man kann sie doch nicht einfach im Stich lassen, man darf den Kampf nicht verloren geben.

Schließlich ist Carlo dem Freund schweren Herzens zurück nach Deutschland gefolgt.

Er steht in Franziska Kinz’ Wohnzimmer. Er reibt die Hände aneinander, mit abwesendem Blick, geht im Zimmer herum, zum Fenster, schiebt den Vorhang ein wenig beiseite. Er sieht hinunter auf die Straße, lässt den Vorhang wieder zufallen. Es ist Ende März 1933. Das Ermächtigungsgesetz ist in Kraft getreten. Was die Wähler Hitler verweigert haben, das haben ihm die bürgerlichen Parteien auf einem Silbertablett überreicht: die vollkommene Macht. Carlo ist bitter. Er wird gesucht. Er hätte in der Schweiz bleiben sollen. Nun ist er in Frankfurt untergetaucht.

»Hast du Angst, Carlo?«

»Was?«

Er wendet den Kopf zu ihr. Er sagt: »Es ist nicht einfach. Nach der Freiheit in der Schweiz jetzt wieder hier zu sein.«

»Hartung ist auch weggegangen, von einem Tag auf den anderen«, sagt Franziska. »Unser Intendant. Und Lilli Palmer ist gekündigt worden. Die Achtzehnjährige, die letztes Jahr erst bei uns angefangen hat. Sie ist Jüdin.«

Carlo antwortet nicht. Vorhin auf dem Sofa hat er den Arm um sie gelegt. Sein Arm war starr, wie aus Metall. Carlo tritt wieder an Fenster.

»Carlo? Meinst du, dir ist jemand gefolgt? Meinst du, sie wissen, wo du bist?«

Er sagt: »Ich möchte mit dir ins Bett gehen, May.«

Und das muss sie nun tun. Das bleibt ihr nicht erspart. Es war ja klar, dass dies noch zu erledigen sein würde, bevor er nach Frankfurt zurückfährt. Sie gehen ins Schlafzimmer. Sie liegen im Bett. Sein Geruch ist ihr fremd. Vielleicht liegt es an seiner Angst. Sein Gewicht lastet auf ihr, seine Körperlichkeit. Wie sterblich so ein Körper ist: Fleisch, Blut und Knochen, nichts weiter. Dies war ihnen einmal das große Glück. Dies war ihnen Abend und Morgen, das Lied von Nachtigall und Lerche. Nun ist sie der gottergebene Abgrund, in den er sich stürzt, die fühllose Erde, in die er sich vergräbt. Sie stehen in der Diele. Er sagt: »Du fragst gar nicht, wo ich jetzt wohne.«

»Sag es mir besser nicht.«

»Bei Hella. Hella Priemel.«

»Ah. Ja.«

»May Moy«, er lächelt. »Komm, umarme mich. Und dann vergiss mich. Das wäre wohl das Beste für dich.«

Der Schmerz ergreift sie ganz unerwartet. Sie wirft die Arme um ihn, sie presst sich an ihn.

»Geh nicht!«

»Liebste. Aber ich muss doch.«

»Ich liebe dich«, flüstert sie. Sie sagt es heftiger. »Ich liebe dich.«

Er vergräbt den Kopf in ihrem Haar, lässt sie los. Er hält sie auf Armeslänge von sich. Zu ihrem Schrecken sieht sie Tränen in seinen Augen. Dann geht er. May eilt zum Fenster. Sie schiebt den Vorhang ein wenig beiseite.

Da ist er. Er geht rasch. Er dreht sich nicht um. Er überquert die Straße. Ein Stückchen weiter oben wartet Schulze im Auto auf ihn. Aus der Seitengasse oberhalb des Autos kommen vier SA-Männer.

Sie werden ihn sicher nicht erkennen.

Carlo Mierendorff nicht erkennen, in Darmstadt?

Sie haben ihn erkannt.

Sie rufen, sie rennen los. Carlo rennt auch. Er rennt aber nicht weg. Er rennt den Männern entgegen: Er rennt auf Schulzes Auto zu, Schulze lässt den Motor an. Schulze stößt zurück. Die Beifahrertür fliegt auf. Carlo wirft sich in den fahrenden Wagen, reißt die Tür zu, nach der der vorderste SA-Mann schon schnappt wie ein Hund. Schulze rast los. Sie sind fort. Sie sind gerettet. Carlo ist noch einmal davongekommen.

Sie verhaften ihn erst am 13. Juni, in Frankfurt.

Carlos Freunde haben die halbe Nacht lang nach ihm gesucht. Schließlich hat Höxter bei der Polizei angerufen. Siegfried Höxter, Vorsitzender der sozialistischen Studenten in Frankfurt: Er hat sich als SS-Mann ausgegeben. Die Polizei hat ihm Carlos Verhaftung bestätigt.

»Ich gehe jetzt hin«, sagt Siegfried Höxter.

»Du bist verrückt«, sagt Hella Priemel.

»Ich gehe hin! Sie müssen wissen, dass wir wissen, wo er ist.«

»Du kannst aber nicht gehen.«

»Ach? Warum, weil ich Jude bin? Ich werde jetzt dort hingehen und nach Dr. Carlo Mierendorff fragen. Sie müssen wissen, dass sie ihn nicht unbemerkt verschwinden lassen können.«

Aber das ist ja gar nicht ihre Absicht. Im Gegenteil.

Ist das heute wieder ein Gebrüll, unten auf der Straße. Herr Pfeiffer hat sich nach dem Mittagessen noch für ein Viertelstündchen hinlegen wollen, aber an Ruhe ist wieder einmal gar nicht zu denken. Tatsächlich kommen sie nun schon zum zweiten Mal vorbei. Da muss man also bei dem schönen Frühsommerwetter tatsächlich seine Balkontür schließen.

»Komm, Hasso. Komm rein! Ich will dichtmachen.«

Der Hund reagiert nicht. Er liegt auf dem Balkon und schläft. Dass der überhaupt schlafen kann, bei dem Krach. Aber so ist die Kreatur, begnadet.

»Hasso. Na komm schon!«

Keine Reaktion. Wenn man nicht gerade einen Kotelettknochen parat hat, dann ignoriert einen so ein Vieh, als wäre man gar nicht auf der Welt. Aber gut, dann bleibt der Hund eben draußen. Herr Pfeiffer schließt die Tür. Was sich so ein Tier wohl denken mag.

Der Hund liegt in der Sonne, auf seinem Häkelkissen, das ihm bei schönem Wetter immer auf den Balkon gelegt wird. Er schläft nicht. Er hat lediglich die Augen geschlossen. Dies ist ein vorteilhafter Platz: Von hier aus kann man die Straße überriechen, gelassen den Düften folgen, die für gewöhnlich Straße und Häuser überspinnen wie leuchtende Fäden.

Heute sind die Fäden verknäult. Die Gerüche schwappen in Wogen herauf, klatschrot, giftgelb, violett. Sie kommen nun schon zum zweiten Mal vorbei. Erst ging es in die eine Richtung hin, nun geht es in die andere wieder zurück. Mittendrin in der verschlungenen Masse rollt ein stinkendes Blechtier. Der vor dem Blechtier geht an einer Leine. Er geht sehr brav Fuß, aber er bekommt trotzdem Schläge, auf den Leib, auf den Hals, auf den Hinterkopf. Was wollen sie von ihm? Welches Kommando soll er befolgen?

Fuß, Sitz, Platz, Aus, Pfui –

Das aber ist es nicht, was sie dort unten brüllen. Der Hund konzentriert sich. Aber das Gebrüll ist ihm völlig unverständlich,

Mierendorff das Presseschwein der Leuschnerregierung Lump Arbeiterverräter linke Drecksau

Wahrscheinlich ist es dem Angeleinten auch unverständlich. Wahrscheinlich würde er ja gehorchen, wenn er nur wüsste, was er tun soll. Aber da er es nicht weiß, bezieht er eben Prügel.

Dem Hund kann das jedenfalls gleichgültig sein. Es betrifft ihn nicht, und es betrifft nicht seinen Herrn. Vorhin, als sie zum ersten Mal vorbeikamen, hat er eine Weile am Balkongitter gestanden. Er hat auch gebellt. Aber nun liegt er wieder auf seinem Kissen, in der Sonne. Sie sind jetzt auch vorbei. Es herrscht wieder Ruhe. Der Hund denkt über den Duft der gebratenen Zwiebeln nach, der aus dem dritten Stock herüberweht. Er denkt an Wurstpellen, an die Hündin von gegenüber, die läufig ist. An den Juckreiz in seinem Ohr. An Lob von seinem Herrn. An einen alten Hühnerknochen, den er gestern im Hof entdeckt und gefressen hat, mit großem Appetit.

Die Nachricht von Carlos Verhaftung hat in der Zeitung gestanden. Natürlich wusste Franziska schon Bescheid. Aber es war doch etwas anderes, es nun so zu lesen, wie es dort stand,

hat man ihn endlich aufgespürt

feige in seinem Versteck

Er beteuerte, dass er doch nur

Er beteuerte

blieb ihm die Pforte unerbittlich verschlossen

Es klang alles so würdelos. Franziska hat sich fast ein wenig für Carlo geschämt.

Hella Priemel hat herausgefunden, dass man Carlo ins Konzentrationslager Osthofen gebracht hat. Sie hat Franziska gebeten, Carlo dort zu besuchen. Das ist natürlich undenkbar. Franziska Kinz ist eine bekannte Schauspielerin, sie kann sich nicht dermaßen exponieren.

»Gut«, hat Hella gesagt. »Dann gehe ich. Ich müsste mich aber als Carlos Verlobte ausgeben, Fräulein Kinz. Anders erhalte ich keinen Zutritt.«

Aber bitte. Das macht Franziska nichts aus. Im Gegenteil, sie ist Hella dankbar. Sie hat ihr einen Brief an Carlo mitgegeben. Und sie wird ihn auch besuchen. Sie muss nur warten, bis ein bisschen Gras über die Sache gewachsen ist.

So ist also Carlo Mierendorff ohne Prozess ins Konzentrationslager gekommen. Und Julius Leber ist rechtskräftig zu zwanzig Monaten Gefängnis verurteilt, wegen Beteiligung an einem Raufhandel.

Julius war perplex. In einem Kassiber hat er Annedore den Verdacht mitgeteilt, die Richter hätten wohl der Staatsanwaltschaft entgegenkommen wollen.

Nun war Annedore erstaunt. Jahrelang hat Julius Leber die Klassenjustiz angeprangert, und nun verblüfft es ihn, dass er unter einem Reichskanzler Hitler keinen gerechten Prozess bekommt?

»Wie geht es deinem Mann? Hast du von ihm gehört?«

Annedore besucht ihre Eltern. Der Vater ist extra aufgestanden. Er liegt neuerdings viel zu Bett.

»Ich habe vorgestern einen Brief bekommen«, sagt Annedore. »Es geht ihm leidlich. Die Untätigkeit belastet ihn, seit man ihm Papier und Bücher entzogen hat. Aber er schreibt, mit ein bisschen Disziplin ließe sich auch das bewältigen. Er stellt sich nun eben vor, zu lesen und zu schreiben. Jeden Morgen von acht bis zehn Uhr geht er in seiner Zelle auf und ab und denkt. Er nimmt sich ein bestimmtes Thema vor und weicht zwei Stunden lang nicht davon ab.«

Der durchdringende Direktorenblick des Vaters. Ein Räuspern: der ungewünschte Schwiegersohn. Annedore zieht Jülis letzten Brief aus der Tasche.

»Er ist bereit, diese Prüfung zu tragen. Er schreibt, ein Freispruch wäre vielleicht gar nicht gut gewesen. Er hätte dann doch das Gefühl gehabt, im letzten Augenblick seinem Schicksal ausgewichen zu sein, statt es ganz durchkämpft und damit überwunden zu haben.«

Der Vater nickt schwer.

»Das Schicksal«, sagt er. »Ja.«

Annedore entfaltet den Brief. Sie sucht die Stelle, die sie markiert hat, um sie dem Vater vorzulesen.

Immer noch besser, für seine Überzeugung bedrückt zu werden, als in gedemütigter Freiheit zu leben! Sie können mich einsperren, sie können mir Amt und Stellung nehmen, aber nicht die Seele. Ich kann innerlich mit stolzer Seele das Gesicht der Zukunft zuwenden.

»Kann er das«, sagt der Vater. »Kann er das wirklich? Es wäre eine seelische Leistung. Eine große seelische Leistung, stark zu bleiben unter ungerechtfertigter Bedrückung.«

»Ja«, sagt Annedore.

Sie selbst denkt nicht viel über die Ungerechtigkeit des Urteils nach. Sie kommt nicht dazu. Sie kann sich Sinnlosigkeiten wie Bitternis, Ärger oder Ressentiments nicht leisten. Sie kann nicht gegen die Wälle der Wirklichkeit anrennen: Annedore braucht Geld. Jüli erhält ja kein Gehalt mehr. Es erbittert ihn sehr. Er leidet darunter, seine Familie in diese finanzielle Zwangslage gebracht zu haben. Er soll aber frei sein von Kummer und Schuld und von jeder zusätzlichen Last. Also muss Annedore Geld verdienen. Sie hat wieder zu schneidern begonnen. Natürlich stammen ihre Aufträge zurzeit noch meist von wohlmeinenden Leuten, die Mitleid mit ihr haben und die sie und Jüli unterstützen wollen. Aber ihre Künste werden sich herumsprechen.

»Am schwersten wird es Julius, dass er nicht mehr handelnd eingreifen kann«, sagt Annedore. »Er sieht die riesigen Aufgaben in der Außenpolitik und der Wirtschaft, und er darf nicht mehr mitgestalten. Daran könnte er manchmal fast verzweifeln. So ein sinnloses Leben, schreibt er. Ein Leben ohne Leistung.«

Der Vater nickt.

»Ja«, sagt er. »Ja, ich weiß, wovon mein Schwiegersohn spricht.«

Sie nimmt seine Hand.

»Vater«, sagt sie. »Der vorzeitige Ruhestand ist nichts Unehrenhaftes. Deine Lebensleistung wird dadurch in keiner Weise geschmälert.«

Wieder der durchdringende Blick. Er entzieht ihr die Hand.

»Ich habe auf die falschen Leute gesetzt. Und jetzt ist es zu spät. Es ist nicht wiedergutzumachen. Ich bin in Unehren aus dem Amt gejagt, und dein Mann sitzt im Gefängnis. Und was täte er, wenn er frei wäre? Er wäre auch in Freiheit zur Untätigkeit verdammt. Zur Bedeutungslosigkeit. Zur Sinnlosigkeit. Genau wie ich.«

Annedore sieht zum offenen Fenster, durch das der Sommer hereinweht, in sanften Böen warmer Luft. Sie kann es dem Vater nicht erklären, aber sie fühlt sich Julius verbunden wie nie. Sie spürt seine Gegenwart, die Gegenwart seiner Gedanken, mit denen er sie begleitet. Er schreibt von der Sehnsucht nach ihr und den Kindern, nach seinem Häuschen und dem blühenden Garten.

Die Lilien stehen doch jetzt sicher in voller Pracht. Was sagt denn Katharinchen dazu, wenn Du sie an den Blüten schnuppern lässt? Ach, schöne weite Welt da draußen. Und wenn man nur wüsste, was sie mit einem vorhaben.

Aber die Haft wird nicht ewig dauern. Julius wird zu ihr zurückkehren. Er schreibt: Wie geht es eigentlich dem kleinen Hund? Er muss endlich einen Namen bekommen.

Ernst von Harnack hat in der Sache Carlo Mierendorff unternommen, was ihm möglich ist. Er hat mit den zuständigen Stellen gesprochen, vor allem mit Werner Best, der im März Staatskommissar für das Polizeiwesen in Hessen und im Juli Landespolizeipräsident geworden ist. Man hat Ernst von Harnack versichert, dass es Carlo Mierendorff gut geht. Man hat angedeutet, dass Carlo demnächst entlassen werden soll. Mehr ist im Moment in dieser Sache nicht zu erreichen. Als Nächstes muss Ernst sich um Emil Fuchs kümmern.

Der Quäker und religiöse Sozialist Emil Fuchs soll sich abfällig über die NSDAP geäußert haben und sitzt deshalb in Haft. Sein Nachbar Harald Poelchau, Gefängnisgeistlicher von Tegel, hat Ernst um Hilfe gebeten: Das Geld für eine Kaution muss aufgetrieben und Fuchs’ einstweilige Entlassung aus der Untersuchungshaft beantragt werden.

Die Türglocke schellt. Ernst hört die Stimme einer fremden Frau, dann die seiner Änne.

»Warten Sie. So warten Sie doch einen Moment, ich hole meinen Mann.«

Es klopft. Ernst ist schon an der Tür. Ihm gegenüber steht eine junge Frau. Ihr Blick ist wild, das Gesicht weiß. Es ist Frau Koß, Stellings Tochter.

»Mein Vater ist gefunden.«

Johannes Stelling, der ehemalige Ministerpräsident Mecklenburg-Schwerins, Mitglied des Reichstages und des SPD-Parteivorstands: Auch er hat gegen das Ermächtigungsgesetz gestimmt. Aber er ist dem Vorstand nicht ins Exil gefolgt, er hat alle Warnungen in den Wind geschlagen.

»Mein Vater ist gefunden. In einem Sack.«

»Was?«

»In einem Sack in der Dahme. Nahe der Grünauer Fähre.«

»Um Himmels willen.«

»Ein mit Steinen beschwerter Sack.«

»Und Sie sind sicher, dass es Ihr Herr Vater ist.«

»Er hat kein Gesicht mehr. Aber er trägt seinen Trauring. Und er hatte zwei Taschentücher mit seinem Monogramm in der Hose. Sie waren voll Blut. Mein Vater hat tagelang in einem Sack im Fluss gelegen. Aber die Taschentücher waren voll Blut.«

Als Frau Koß gegangen ist, sitzt Ernst lange an seinem Schreibtisch. Er denkt nach. Oder er betet. Er könnte es nicht sagen. Man muss das Ausland informieren. Man braucht Daten. Man braucht Fakten. Ernst von Harnack wird einen Fragebogen entwerfen. Er wird ihn vertrauenswürdigen Parteifreunden zuschicken, Genossen vom Bund religiöser Sozialisten.

Wo sind Schutzhäftlinge in Ihrer Gegend untergebracht?

Wie heißen die betreffenden Konzentrationslager und Gefängnisse?

Belegungsstärke?

Aufgliederung der Häftlinge nach Geschlecht, Konfession und politischen Parteien?

Dann wird er diese Daten weiterleiten. Man wird ihnen helfen. Das Ausland wird handeln. Die Welt wird dieses Unrecht nicht dulden.

Paulus Tillich ist fort. Er ist von seinem Amt suspendiert worden, kaum dass seine Schrift ›Die sozialistische Entscheidung‹ erschienen war.

Es ist also nicht beliebig oder zufällig, dass die politischen Romantiker Antisemiten sind, sondern folgerichtig, ja zwangsläufig. Der prophetische Protest gegen geheiligte Mächte ist der ewige Feind der an die Ursprünge gebundenen politischen Romantik. Eine wie auch immer geartete jüdische Sezession würde für uns den Rückfall in die Barbarei bedeuten.

Alle seine Freunde haben ihm dringend geraten, Deutschland zu verlassen, vor allem auch die Kollegen am Frankfurter Institut für Sozialforschung. Paulus hat schließlich Einsicht gezeigt. Er ist einer Einladung nach New York gefolgt: Man hat ihm eine Gastprofessur an der Columbia University und am Union Theological Seminary in New York angeboten.

Harald Poelchau ist erleichtert. Der Freund und Lehrer ist nun in Sicherheit. Poelchau selbst hat allerdings keinen Moment mit der Emigration geliebäugelt. Und so kommt es, dass er in diesem Sommer 1934 nun zum ersten Mal einer Hinrichtung beiwohnen muss.

Harald Poelchau hat sich nie klargemacht, dass es in dem von ihm erwählten Beruf womöglich einmal dazu kommen könnte. Es wird ja kaum jemals jemand zum Tode verurteilt. Und selbst an den Verurteilten wird die Strafe gewöhnlich nicht vollstreckt. Allenfalls Massenmörder mussten bisher mit einer Hinrichtung rechnen: Fritz Haarmann, Peter Kürten. Harald Poelchau versteht auch überhaupt nicht, warum man gerade ihn mit dieser Sache betrauen will. Er ist der jüngste und unerfahrenste der sieben Anstaltsgeistlichen, die für die Gefangenen in Plötzensee und Tegel zuständig sind. Er hat den Verurteilten bisher nicht betreut, er kennt ihn gar nicht. Harald Poelchau hat protestiert. Er hat gebeten, dass dieser Kelch an ihm vorübergehen möge. Die Bitte ist ihm abgeschlagen worden. Harald hat tagelang nicht geschlafen. Er hat nicht zur Ruhe gefunden, nicht auf seinem kleinen Boot, das im Tegeler See liegt, nicht am Tisch mit Dorothee, nicht nachts in seinem Bett.

Der Gefangene selbst scheint sich die Sache weit weniger zu Herzen zu nehmen. Er ist ein Raubmörder. Er ist jung, vierschrötig, stumpf, aber er wirkt nicht wie ein Mörder. Wie wirkt ein Mörder? Harald ist pünktlich am Vorabend der Hinrichtung in Plötzensee erschienen, mit Bibel, Gesangbuch, in vollem Ornat. Er war anwesend, als der Vertreter der Staatsanwaltschaft dem Verurteilten die Ablehnung des Gnadengesuchs mitgeteilt hat und den genauen Zeitpunkt der Urteilsvollstreckung: Morgen früh um sechs. Der Gefangene hat aufgeschluchzt. Dann hat er sich gefasst. Willi Krantz, der die Kantine von Plötzensee versorgt, hat die Henkersmahlzeit bringen lassen, Eisbein und Kraut.

Der Gefangene hat sich mit großem Appetit darüber hergemacht.

Er hat sinniert: Vielleicht ist ja der Tod besser als eine lange Haft. Vielleicht ist es besser, gar nicht auf der Welt zu sein, als hier in diesen Zellen zu verschimmeln. Dann hat er eine Weile mit dumpfem Interesse den Kriegserinnerungen der beiden Wachleute zugehört, die dafür verantwortlich sind, dass sich der Verurteilte vor der Hinrichtung nichts antut. Einmal hat er von seiner Mutter gesprochen, mit großer, ehrlicher Wärme.

»Sie wird es sich schrecklich zu Herzen nehmen. Sie hat ja nur mich. Sie ist nicht wie ich, Herr Pfarrer. Sie ist eine gute Frau.«

»Möchten Sie ihr vielleicht einen Brief schreiben?«

»Einen Brief?«

Der Verurteilte hat ihn groß angesehen.

»Hier sind Papier und Stift. Wenn Sie Ihrer Mutter schreiben wollen.«

Der Verurteilte hat sich aufgerichtet.

»Ja«, hat er gesagt. »Dann will ich ihr also mal schreiben. Haben Sie noch eine Zigarette, Herr Pfarrer?«

Und das wird Harald Poelchau nie wieder passieren.

Er hat noch eine Zigarette. Aber es ist die letzte. Die letzte der amtlich ausgegebenen Zigaretten. Warum hat Harald nicht daran gedacht, eine Packung zu kaufen?

Weil er selbst nicht raucht. Er kennt das Bedürfnis nicht, also ist ihm nicht eingefallen, dass ein anderer es haben könnte. Harald Poelchau ist äußerst zornig auf sich. Der Gefangene raucht. Er schreibt. Der Stift ist ein Bleistift. Man hört das Streichen der Mine auf dem Papier. Harald versucht sich zusammenzunehmen.

Er sieht aus dem Fenster, durch das man nichts sieht. Er bemüht sich, anwesend zu bleiben in dieser winzigen Zelle, aus der sogar der Heizkörper entfernt worden ist, nachdem sich einmal ein Verurteilter in der Nacht vor seiner Hinrichtung an ihm stranguliert hat. Der Verurteilte beendet den Brief.

»Und gehen Sie gleich morgen früh zu ihr? Bringen Sie ihr den Brief, trösten Sie sie ein bisschen?«

»Ja. Das werde ich. Ich verspreche es.«

Der Verurteilte hat genickt.

»Dann will ich mich jetzt mal aufs Ohr legen.«

Harald ist sprachlos. So hat er sich Gethsemane nicht gedacht. Aber es ist natürlich das Beste für den Mann. Es ist einfach ein gnadenreicher Mechanismus der verzweifelten Seele, so wird es sein. Harald steht auf, um die Wachleute zu bitten, doch hinaus vor die Zellentür zu treten. Bei seiner Rückkehr hat sich der Verurteilte bereits auf die Pritsche niedergeworfen. Harald setzt sich auf einen Stuhl. Er betrachtet den Gefangenen. Der Mann schläft tief, ohne zu schnarchen. Er ist fünfundzwanzig Jahre alt. Harald versucht sich auf das vorzubereiten, was in wenigen Stunden von ihm verlangt werden wird. Er sucht nach einem sicheren Halt. Er sucht nach einer Standfläche, auf der er so fest verankert ist, dass er dem Ansturm gewachsen sein wird. Bruchstücke des 90. Psalms ziehen ihm durch den Kopf.

Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden. Denn tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache

gleichwie ein Gras, das doch bald welk wird, das da frühe blühet und bald welk wird und des Abends abgehauen wird und verdorret

Und wir bringen unsere Jahre zu wie ein Geschwätz

Aber es will ihm nicht gelingen, sich auf das Kommende zu konzentrieren. Seine Gedanken wandern. Sein Geist gehorcht nicht. Die Nacht verrinnt. Das trübe Licht verlischt nicht. Der Verurteilte auf der Pritsche schläft. Hin und wieder erscheint das Auge des einen oder anderen Gefängnisbeamten hinter dem Spion. Und was ist der Unterschied zwischen ihnen und dem Verurteilten? Auch die Wächter sind zum Tode verurteilt. Aber sie kennen nicht den Tag und die Stunde. Harald Poelchau ist zum Tode verurteilt.

Fülle uns frühe mit deiner Gnade, so wollen wir fröhlich sein unser Leben lang

Sei uns freundlich und fördere das Werk unsrer Hände bei uns

Der du die Menschen lässest sterben und sprichst: Kommt wieder, Menschenkinder!

Denn tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist

Die beiden Gefängnisbeamten vor der Tür sind nun still. Draußen ist es noch immer finster. Der Verurteilte bewegt sich. Er ist erwacht. Er setzt sich auf, er sieht sich um.

»Haben Sie noch eine Zigarette?«

Harald Poelchau knirscht mit den Zähnen.

»Leider nein. Aber warten Sie. Ich werde Ihnen eine besorgen.«

Er tritt zur Tür, klopft. Der Beamte öffnet sofort.

»Hätten Sie eine Zigarette für den Mann?«

»Ja, natürlich, gern, Herr Pfarrer.«

»Ich werde sie Ihnen bezahlen«

»Nee, nee. Lassen Sie man. Hier, nehmen Sie noch eine.«

Der Verurteilte raucht. Es ist immer noch dunkel. Dann dringt vom Hof der warnende Ruf einer Amsel herein. Der Gefangene fährt hoch.

»Wie lange noch? Wie spät ist es?«

»Es ist kurz vor halb vier.«

»Das glaube ich nicht. Es ist sicher später.«

Harald hält ihm die Uhr hin. Wie sollen sie nun durch die verbleibende Zeit kommen? Die letzten zwei Stunden eines Lebens: Und man fragt sich, wie man sie totschlagen kann.

»Möchten Sie, dass ich ein Gebet spreche?«

»Nee, nee. Lassen Sie man.«

Sie schweigen. Der Verurteilte sitzt ganz ruhig. Er sieht vor sich hin. Denkt er etwas? Er hat jedenfalls kein Bedürfnis nach einem Gespräch. Er hat kein Bedürfnis nach Bekenntnissen, nach dem Abendmahl. Draußen auf dem Gang ertönen Schritte, Stimmen. Der Gefangene hebt den Kopf. Die Tür öffnet sich. Es ist aber nur der Schuster. Harald hat von ihm gehört.

Er hat gehört, was der Schuster tut: Er nimmt dem Gefangenen seine Kleider ab. Er lässt ihm nur die Hose. Er nimmt ihm die Schuhe ab, gibt ihm Holzpantinen, dann fesselt er ihm die Hände auf dem Rücken.

Der Verurteilte lässt alles über sich ergehen. Poelchau weiß nicht, wie er dies noch länger aushalten soll. Er starrt auf den mahlenden Mund des Schusters, seine wässrigen Augen. Er versucht zu atmen, das Würgen niederzuzwingen. Dann ist der Schuster fertig. Die Zellentür fällt hinter ihm zu. Und wieder Schritte auf dem Flur.

Sie kommen.

Jetzt kommen sie. Es sind nicht die beiden Beamten, die die Nachtwache gehalten haben. Es sind frische, unverbrauchte Männer, die den Gefangenen noch nicht gesehen haben. Der Gefangene steht auf. Die Beamten nehmen ihn zwischen sich. Harald Poelchau folgt ihnen. Die Flure hallen. Sie treten durch die Tür ins Freie. Wieder der schrille Amselruf. Der Gefängnishof ist im Morgenlicht kalt, grau, leer. Ein Altar ist in der Mitte des Hofes aufgebaut. Die Kerzen flackern, im süßen süßen Sommermorgenwind, ihre Flammen blass im Licht der Sonne, die über die Dächer klettert, erste Strahlen in den Hof schickt. Vor dem Altar steht ein Vertreter des Gerichts im Talar, neben ihm zwei Beisitzer. Der Anstaltsdirektor ist anwesend, der Anstaltsarzt, der leitende Scharfrichter Röttger im schwarzen Cut. Er wohnt in der Waldstraße in Moabit. Er betreibt nebenher ein Fuhrgeschäft. Die Henkersknechte sind hauptberuflich Fleischergesellen: Es hilft zu wissen, wie sich bei einem Säugetier die Wirbel aneinanderreihen. Das Urteil wird verlesen. Der Verurteilte steht da. Über seinen nackten Oberkörper ist eine Jacke geworfen. Seine Hände sind auf dem Rücken gefesselt. Die Morgensonne steigt höher. Der Himmel ist hell, wolkenlos. Es wird ein schöner Tag. Das Urteil ist verlesen. Der Verurteilte wird gepackt, blitzschnell zu Boden geworfen, sein Kopf wird auf den Block gedrückt, bevor Harald erfasst hat, dass es nun so weit ist. Er kann sich nicht regen. Aber dies kann ja gar nicht geschehen.

Es ist unmöglich: ein Mord unter offenem Himmel, in Anwesenheit all dieser geachteten Bürger und ordentlichen Kirchgänger. Ein Mord von Menschen an einem Menschen, und keiner schreitet ein, kein Gericht ist dagegen anzurufen: Dies ist das Gericht. In Haralds Ohren schrillt es. Er versucht, nichts zu sehen. Er versucht, nicht dabei zu sein. Aber er ist dabei, jetzt ist er dabei, und er sieht: das erhobene Handbeil, den fallenden Kopf, die wild hochzuckenden Füße, den kopflosen Körper, der vom Block rollt. Das Blut, das Blut, den unvorstellbaren Strom von Blut,

Wiesenprinz! Wiesenprinz!

Sein Magen hebt sich. Er verliert das Bewusstsein.

Mitglieder der Strafrechtskommission des Reichsjustizministeriums zur Frage nach dem Vollzug der Todesstrafe (Auszug aus dem Sitzungsprotokoll)

Prof. Dr. Kohlrausch: Ich halte das Fallbeil heute für die unserem Kulturkreis gemäßeste Vollzugsart. In gewissen Fällen möchte ich auch für das Erschießen eintreten. Darin liegt etwas Männliches und eine gewisse letzte Achtung vor der Überzeugung, der der Täter folgen zu müssen geglaubt hat. Auch den Schierlingsbecher halte ich für erwägenswert.

Professor Dr. Dahm: Ich bin für das Handbeil. In der Todesstrafe kommt die Überlegenheit des Staates zum Ausdruck, dieser Gedanke erfordert Würde.

Staatssekretär Dr. Roland Freisler: Handbeil. Die deutscheste Hinrichtungsform, die sich bei uns längst eingebürgert hat. Beim Fallbeil ist es auch schwieriger, die Hinrichtung geheim zu halten, besonders wenn die Maschine transportiert werden muss. Es hat auch den Anschein des Seelenlosen, Unpersönlichen. Den Schierlingsbecher halte ich für diskutabel. Vielleicht liegt hierin ein hoher sittlicher Wert.

Professor Dr. Kohlrausch: Bei der Gestaltung der Selbsttötung sind natürlich kirchliche Bedenken möglich.

Staatssekretär Dr. Freisler: Durchaus. Aber der Staat zwingt ja niemanden, freiwillig aus dem Leben zu gehen.

Die letzten Meter sind immer die schwierigsten. Julius ist ins Gefängnis von Wolfenbüttel verlegt worden. Annedore besucht ihn dort alle sechs Wochen. Sie fährt von Lübeck mit dem Zug nach Hamburg, von Hamburg nach Hannover, von Hannover nach Braunschweig, dann nach Wolfenbüttel. Dann geht sie zu Fuß. Die Reise dauert einen halben Tag. Sie haben fünfzehn Minuten Sprechzeit. Anschließend fährt Annedore einen halben Tag lang wieder zurück. Zum Glück ist Annedores Mutter zu ihrer Tochter in die Gertrudenstraße gezogen.

Das Haus wäre sonst gar nicht mehr zu halten. Auch so weiß Annedore manchmal kaum noch, wie sie über die Runden kommen soll. Sie muss ja nicht nur für sich und die Kinder sorgen, sondern auch die Unterhaltszahlungen für Jülis uneheliche Tochter und die Raten für die Prozess- und Haftkosten aufbringen. Annedore kann aber alles tragen, solange die Mutter nicht weint.

Die Mutter weint. Der Vater hat sich umgebracht, und die Mutter weint. Diese Tränen schwächen Annedore. Das Wenn-doch-nur und Wenn-doch-nicht schwächt sie, das Wäre und Hätte und die Unendlichkeit des Haders. Sie kann das ja alles sehr gut verstehen. Aber sie kann es nicht ertragen. Annedore darf jetzt nicht schwach sein. Sie bereitet sich auf die Meisterprüfung vor. Im nächsten Jahr wird Jüli die Strafe verbüßt haben. Im März 1935 wird er freikommen. Bis dahin muss sie eine Existenz aufgebaut haben, die sie beide trägt.

Das ist es, was zählt. Annedore zählt die Briefe, die sie bis dahin noch schreiben darf. Sie hat ihm in einem Kassiber geschrieben, dass seine Strafe gerade in dieser Zeit doch eigentlich ein Glück im Unglück ist: Denn wenn er frei wäre, wäre er womöglich ohne Anklage oder Verhandlung in eines der Lager gesperrt worden, einfach so und auf unbestimmte Zeit. Jüli hat den Gedanken begierig aufgegriffen.

Du hast vollkommen recht. Und dies ist der tiefste Punkt. Es kann von nun an nur wieder aufwärtsgehen, und es wird wieder aufwärtsgehen.

Die letzten Meter sind immer die schwierigsten. Das Gefängnis ist wie alle Gefängnisse: groß, grau, düster. Annedore tritt ans Tor, klingelt. Der Pförtner kommt ans Fenster. Sie zeigt ihre Sprecherlaubnis vor. Die Pforte im großen Tor öffnet sich. Annedore tritt ein. Sie weiß, was jetzt kommt: die Durchsuchung ihrer Taschen, ihrer Kleider, der Gang durch die langen Flure, die Tore, die sich öffnen, hinter ihr schließen wie in einem schlimmen Traum. Aber Annedore ist wach.

Sie ist hellwach, seit jener Eisenbahnfahrt von Berlin nach Lübeck, seit dem Anblick des grünen Polizeiwagens vor dem Bahnhof. Seit dem Tod des Hundes. Die Kinder haben nach dem Hund gefragt. Annedore hat ihnen erzählt, er wäre weggelaufen. Matthias hat sich diese Treulosigkeit sehr zu Herzen genommen. Annedore hat einen Stoffhund genäht. Beide Kinder lieben den Stoffhund sehr. Annedore hat gefragt, wie der Stoffhund heißen soll. Katharina hat die Brauen zusammengezogen. Sie hat lange nachgedacht, mit verlorenem Blick, als lauschte sie auf etwas. Sie hat lautlos die Lippen bewegt.

»Lio. Der Hund soll Lio heißen.«

»Nein! Nicht Lio! Nein!«

Matthias stand mit geballten Fäusten, außer sich. Die Tränen quollen, rannen.

»Aber warum nicht, Kind?«

»Nein, nein!«

»Gut. Nicht Lio. Er muss ja nicht Lio heißen. Wie soll der Hund denn dann heißen, Matthias? Welchen Namen möchtest du ihm geben?«

Aber es war nichts aus ihm herauszubekommen. Katharina war zornig.

»Er heißt doch Lio. Er heißt so, er heißt so, warum geht es immer nach ihm? Warum geht es immer nach Matthias? Lio heißt der Hund, er heißt Lio, Lio, Lio, Lio.«

»Nein! Nicht! Nein, nein nein!«

Im Haus in der Gertrudenstraße wird es immer trister. Es wird immer unmöglicher. Katharina geht durch den Garten. Sie würde gern singen. Sie singt aber nicht. Ihr fällt kein einziges Lied ohne Vögel ein.

Alle Vöglein sind schon da, alle Vöglein alle

Wenn ich ein Vöglein wär und auch zwei Flügel hätt

Ein Vogel wollte Hochzeit halten, in dem grünen Walde

Kommt ein Vogel geflogen, setzt sich nieder auf mein Fuß

Katharina hat im Garten eine tote Amsel gefunden. Sie hat die Amsel lange betrachtet. Es war nicht erkennbar, warum sie gestorben war. Katharina hat überlegt, ob man die Amsel beerdigen sollte. Aber dann hat sie doch einfach der Mutter Bescheid gesagt, und die Mutter hat den Vogel weggeworfen. Die Großmutter hat geheult. Nicht wegen des Vogels. Die Großmutter heult immer. Der Großvater hat sich umgebracht. Wieso hat er es getan? Katharina will es gar nicht wissen. Katharina heult nicht. Es reicht, wenn einer heult. Sie fragt sich manchmal, warum der Vater nicht kommt. Warum er an seinem Buch schreibt, statt hier endlich für Ordnung zu sorgen. Der Gärtner ist entlassen, das Mädchen auch. Die Teekanne ist heruntergefallen und nicht ersetzt worden. Von einem der Küchenstühle ist ein Bein abgebrochen, und man hat es nicht repariert. Dinge verschwinden: Das Silberbesteck ist durch eines aus Blech ersetzt, aber die Mutter besteht noch immer auf Servietten.

Sie besteht darauf, dass man sich bei Tisch ordentlich hinsetzt, dass man sich ordentlich den Mund tupft, bevor man trinkt, obwohl die feinen Porzellantässchen längst ebenso verschwunden sind wie das Silber. Alles um Katharina herum fällt auseinander. Warum bringt der Vater kein Geld? Hat er seine Kinder nicht lieb? Katharina hat etwas gehört.

An allem ist doch nur dein Mann schuld! Wenn der sich im Reichstag nicht so aufgeführt hätte, dann hätte man deinen Vater nie aus dem Schuldienst entlassen! Wenn dein Mann nicht straffällig geworden wäre, dann hätte Vater sich niemals umgebracht!

Mutter, du musst damit aufhören. Du musst jetzt endlich aufhören, solche Dinge zu sagen.

Katharina hat angefangen zu singen, hin und her zu hopsen. Sie hat lauter Lieder von Vögeln gesungen.

Kommt ein Vogel geflogen, setzt sich nieder auf mein Fuß

Wenn ich ein Vöglein wär und auch zwei Flügel hätt

Katharina schläft neuerdings schlecht. Sie kann nicht einschlafen. Sie wird in der Nacht wach, weil sie schlecht geträumt hat. Und der Bruder spinnt. Er isst nicht. Er spricht tagelang nicht. Er tobt wegen jedem Mist los, er schneidet sich absichtlich in die Hand, er donnert mit der Stirn gegen die Wand. Er sitzt in einer Ecke des Dachbodens oder irgendwo draußen im Garten. Er wiegt sich und singt, wiegt sich und singt. Keiner versteht, was er singt. Es ist eine Fantasiesprache. Manchmal sind es helle und heitere Silben,

hirili lilili hirilelie leh

Aber die Laute werden dunkler, je länger Matthias singt. Dann überwältigt ihn sein Lied, und er kann nicht mehr damit aufhören. Die dunklen Silben brechen gegen seinen Willen aus ihm hervor,

schorouou gorou gorou rou horr horr lorr ror

Es ist grauslig und ziemlich lächerlich. Katharina hat den Bruder schon ein paarmal so gefunden, sich wiegend, die Augen dunkel vor Angst, während die Silben über seine Lippen drängten, furchterregend und albern. Einmal hat sie ihn angeschrien. Einmal hat sie ihn geschlagen.

»Sagen Sie es ihm nicht, Fräulein Kinz. Sagen Sie es ihm wenigstens nicht.«

»Nein. Nein, natürlich nicht.«

Franziska Kinz hat einen Neuen. Sie liebt Carlo Mierendorff nicht mehr. Sie hat sich in einen Nazi-Journalisten verguckt.

»Carlo würde es nicht verkraften. Er klammert sich an Sie. Er hängt an Ihnen mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele, mit aller Kraft.«

»Natürlich werde ich ihm nichts sagen. Natürlich werde ich ihm weiterhin schreiben. Ich werde ihn auch wieder besuchen.«

Franziska hat Carlo schon ein paarmal besucht. Die Besuche fallen ihr leichter, seitdem sie in Heinz Kaesbach verliebt ist. Sie muss nun nicht mehr May Moy sein. Sie ist eine Schauspielerin, in der Rolle der aufopferungsvollen Geliebten. Sie spielt die Rolle sehr gut. Sie hält Carlos Hand, sie sieht ihn liebevoll an. Sie bringt ihm belegte Brote mit, Obst. Sie darf ihn zehn Minuten sehen, dann geht sie wieder. Franziska macht auch weiterhin Eingaben bezüglich seiner Freilassung.

Heinz Kaesbach unterstützt sie darin. Er sähe es ebenfalls gern, wenn Carlo endlich freikäme. Franziska könnte dann reinen Tisch machen, und Heinz und sie könnten heiraten. Und spricht es nicht sehr für Heinz’ Charakter, dass er seiner Franziska erlaubt, weiterhin einem Regimegegner zu schreiben?

Es ist ein Zeichen von Mut, von Größe. Es ist ein Zeichen von Liebe, nicht nur jede Eifersucht zu unterdrücken, sondern vor allem die politische Problematik zu tolerieren. Heinz ist schließlich Parteimitglied. Er schreibt für den ›Völkischen Beobachter‹. Er ist Journalist, er verfügt über Informationen: Er erkennt klar, dass es Deutschland nun besser und immer besser gehen wird. Franziska ist froh, dass die nationale Revolution gesiegt hat. Und im Übrigen interessiert sie sich gar nicht für Politik. Sie hat sich noch nie für Politik interessiert.

»Was hältst du davon, wenn ich mit den Kindern nach Berlin ziehe?«

Julius starrt Annedore an.

»Julius. Wäre es dir recht, wenn wir nach Berlin gingen?«

Er antwortet ihr immer noch nicht. Sie stehen in der Besucherbaracke des KZ Esterwegen im Emsland. Es ist das Jahr 1935. Es ist Mai. Im März hatte Jüli seine Strafe verbüßt. Im März hätte er freikommen sollen. Aber sie haben ihn vom Gefängnis direkt ins KZ überstellt. Nun ist er ein Schutzhäftling, wie Carlo Mierendorff. Ein Schutzhäftling weiß nicht, ob er jemals freikommen wird. Über ihn entscheidet kein Gericht. Und eines ist Annedore in den letzten Wochen klar geworden: Niemals wird man den Lübecker Arbeiterführer Leber freilassen, wenn er danach nach Lübeck zurückkehrt.

»Ich würde gern nach Berlin ziehen, Jüli. Ich denke, es wäre das Beste für alle.«

Nun endlich antwortet er.

»Mein Paulus. Entscheide, wie du es für richtig hältst. Ich werde später einmal sicher alle deine Entscheidungen gutheißen.«

Er scheint sie wirklich nicht zu verstehen. Er sieht sie an. Er streichelt sie, mit seinem Blick. Er trinkt von ihr.

»Mein Jüli. Bist du auch gesund?«

»Natürlich, lieber Junge. Es geht mir sehr gut.«

Und schon ist die Sprechzeit wieder um. Ein Tag Anreise, ein Tag Rückreise. Fünfzehn Minuten Sprechzeit. Man führt Julius weg, dann wird Annedore hinausbegleitet. Nach ihrem letzten Besuch hat er ihr geschrieben,

Was ist ein so kurzer Besuch doch für eine Festigung und Beruhigung.

Selbst wenn sie nur eine einzige Minute bliebe: Ihr Anblick wäre doch der Beweis, dass es eine Außenwelt gibt, ein Jenseits hinter dem Stacheldraht, und dass Julius Leber in diesem Jenseits nicht vergessen ist. Julius Leber zweifelt nämlich jetzt manchmal an dieser anderen Welt. Er kann sie sich nicht mehr recht vorstellen. Er schreibt auch keine langen Briefe mehr.

Es gibt nichts zu schreiben. Es gibt nur das tägliche Einerlei.

Mein lieber Junge. Ich weiß jetzt, durch Dich, was Liebe ist.

Annedore hat eine neue Haftkostenrechnung zu begleichen. 1326 Mark. Sie hat schon zum zweiten Mal um Stundung gebeten. Sie sagt Julius nichts davon. Sie schreibt ihm von den Kindern, vom Wetter. Julius und Annedore sind seit acht Jahren verheiratet, seit zwei Jahren getrennt. Annedore hat Julius gefragt, ob sie versuchen soll, häufiger Besuchserlaubnis zu erhalten. Sie ist sehr darüber erschrocken, wie furchtbar ihr Vorschlag ihn erschreckt hat.

»Nein nein nein, lass das sein. Bitte nicht um Extratermine. Unter keinen Umständen.«

Er versucht also, nicht aufzufallen. Er hat Angst. Der Gedanke lässt ihr keine Ruhe. Was hat man ihm getan, dass er Angst hat, sie könnte eine Bitte wagen? Aber Annedore kann jetzt handeln. Seine Strafe ist verbüßt. Sie kann jetzt mehr tun, als ihn zu besuchen. Sie kann kämpfen: Sie hat nun Aussichten auf Erfolg.

Auch Carlos Jugendfreund Theo Haubach ist seit November 1934 im KZ Esterwegen in Haft. Er liegt auf seiner Pritsche in der Baracke. Sein Nachbar im Dunkel neben ihm haucht durch die blutigen geschwollenen Lippen.

»Es ist heute sehr lebhaft auf dem Kurfürstendamm. Ich komme gerade aus der Redaktion in der Kantstraße.«

Theo schließt die Augen. Er murmelt zurück.

»Ich gehe an der Kaiser-Wilhelm-Kirche vorbei.«

»Ins Romanische Café.«

»Dort treffen wir uns. Es ist wieder wahnsinnig voll. Lauter individualistisch-anarchistische Kaffeehaus-Literaten.«

Ein leises Lachen.

»Aber wir finden einen Ecktisch. Kurt Hiller ist da.«

»Carl Zuckmayer.«

»Was nehmen Sie?«

»Bloß nicht den Kaffee. Vielleicht ein kleines Helles, eiskalt.«

»Und dann weiter ins Café Leon.«

»Die Mampe-Stuben.«

Wieder ein leises Auflachen von der Pritsche.

»Beefsteak mit Zwiebeln.«

»Für mich den Kartoffelbrei.«

»Schwannekes Weinstube in der Rankestraße. Käsewürfel, ein temperierter Burgunder.«

»Wir sitzen am Tisch. Die Lampen verbreiten warmes Licht.«

Etwas wie ein Schluchzen. Theo Haubach fragt, in verändertem Ton.

»Woran denkst du?«

»Meine Frau«, sagt Carl von Ossietzky.

Car-lo! Car-lo!

Die Krähen, die über das Konzentrationslager Lichtenburg fliegen, rufen seinen Namen. Carlo Mierendorff war erst im KZ Börgermoor im Emsland, nun ist er hier auf der Lichte, zusammen mit Leuschner, seinem früheren Chef.

Car-lo Car-lo

Die Krähen wundern sich. Was ist los mit diesen Figuren, dort unten auf dem Hof? Normalerweise lassen sie so viel zurück, sie finden so vieles unverwertbar. Aber hier bleibt nichts übrig. Kein verschimmeltes Brot, keine Kartoffelschalen, keine wurmigen Abschnitte von Kohlrüben.

Carlo, Carlo –

Die Krähen fliegen über das Lager. Ihre Schreie verhallen in der Winterdämmerung.

»Wozu hast du das gemacht?«

Katharina Leber steht vor ihrer Mutter.

»Wozu hast du Vater ein Zimmer eingerichtet, wenn er gar nicht hier ist?«

Annedore Leber und die Kinder sind in Berlin. Sie haben ein winziges Haus bezogen, im Zehlendorfer Eisvogelweg 71. Wieder ein Vogelname. Und es ist ein hässliches Haus. Katharina findet es ärmlich und scheußlich. Am scheußlichsten ist das Herrenzimmer, mit seinen abgewetzten grünen Möbeln. Neulich hat jemand Katharina gefragt, ob denn ihr Vater noch in Haft wäre. Katharina hat gefaucht.

»Mein Vater ist nicht in Haft. Er schreibt ein Buch.«

Sie hat das auch zu Gudrun Himmler gesagt. Katharina und Gudrun Himmler gehen in eine Klasse. Gudrun war neulich zu Besuch hier. Katharina hat ihr erklärt, wo ihr Vater ist.

»Er ist im Ausland und schreibt ein Buch.«

»Worüber denn?«

»Das weiß ich nicht. Woher soll ich das denn wissen!«

Katharina hat die Mutter noch nie nach dem Buch gefragt. Das wird sie auch nicht tun. Sie steht vor der Mutter, in dem scheußlichen Herrenzimmer.

»Wozu hast du Vater ein Zimmer eingerichtet, wenn er gar nicht hier ist?«

»Er kommt vielleicht bald.«

Annedore hat sich an Hildebrandt gewandt, den Reichsstatthalter von Mecklenburg-Lübeck. Sie hat ihm darzulegen versucht, dass ihr Mann seine Gefängnisstrafe abgesessen hat und im Fall seiner Entlassung nicht mehr nach Lübeck zurückkehren würde. Hildebrandt hat sich nicht geäußert. Annedore hat dem Reichsinnenminister geschrieben. Sie hat ihm die Belastungen geschildert, die sie zu tragen hat. Sie hat erklärt, dass sie und Jüli rein arisch sind, dass sie ihre Kinder in deutschem Geist erziehen, dass Julius Leber national denkt: Warum sonst wäre er als Elsässer nach Deutschland gegangen statt nach Frankreich? Warum sonst hätte er im Weltkrieg auf deutscher Seite gekämpft? Annedore hat nochmals betont, dass er nicht nach Lübeck zurückkehren wird. Sie hat eine von Julius unterzeichnete Erklärung beigelegt, dass er sich nie mehr politisch betätigen wird.

Annedore und Julius sind seit acht Jahren verheiratet. Etwas mehr als fünf davon haben sie zusammengelebt. Seit beinahe drei Jahren sind sie getrennt. Ostern, Weihnachten, die Geburtstage der Kinder markieren den Ablauf der Zeit. Sie beziehen sich in ihren Briefen auf diese allgemeinen Daten. Sie verwenden sie als Anlass, einander zu schreiben: Julius schreibt keine richtigen Briefe mehr. Er schreibt, dass das Essen im KZ gut sei und dass die Bewegung an frischer Luft ihn kräftige. Die Kinder fragen nicht mehr nach dem Vater.

Sie trippeln und hüpfen, wenn Annedore ihnen Grüße von ihm ausrichtet, sie laufen fort, unter einem Vorwand. Annedore denkt, dass sie noch einmal an Hildebrandt schreiben wird.

Er hat versprochen, ihr Gesuch im Innenministerium durch einen Brief zu unterstützen. Sie überlegt, dass sie ein Gesuch an Kriminaldirektor Bock stellen wird, Julius zu Weihnachten freizulassen. Dasselbe Gesuch wird sie an die Gestapo in Berlin schicken.

Annedore näht an einem Kleid für Lina Dahrendorf. Gustav Dahrendorf ist ein Parteifreund von Julius. Er war Mitglied des Reichstags, Redakteur des sozialdemokratischen ›Hamburger Echo‹, und 1933 ist auch er ein paar Monate in Schutzhaft gewesen. Die Dahrendorfs wohnen ganz in der Nähe in Zehlendorf. Annedore näht.

Katharina ist in der Schule. Matthias sitzt am Tisch und malt einen Baum. Der Baum hat Blätter. Einzelne Blätter. Viele viele einzelne Blätter, und sie alle muss das Kind malen. Wie soll es je fertig werden? Die Bäume vor dem Fenster sind kahl. Es ist November. November 1936. Gestern sind sie im Tiergarten spazieren gegangen. Matthias hat einen Gärtner beobachtet, der das Laub zusammengerecht hat. Er hat die Mutter gefragt, warum der Mann das tut. Die Mutter hat es ihm erklärt: Das Laub muss entfernt werden, damit die Grashalme im Winter nicht darunter ersticken. Das Kind hat geschwiegen. Seine Brauen zogen sich zusammen. Dann brach es aus ihm hervor.

»Aber da? Da ist noch Laub. Da ist überall noch Laub, auf den Grashalmen.«

»Aber Kind. Es sind doch nur ein paar einzelne Blätter. Das macht doch nichts.«

»Aber die Halme darunter werden ersticken.«

»Nein. Sicher nicht. Diese paar Halme. Es sind doch nur ein paar einzelne Halme, in der ganzen Wiese.«

»Aber warum diese? Warum gerade diese?«

Im August ist Julius ins Lager Sachsenhausen gebracht worden. Annedore hat seit sechs Wochen keine Besuchserlaubnis erhalten. Sie dürfen einander nur noch zwei Briefe im Monat schreiben, an festgelegten Tagen. Weihnachtspakete sind dieses Jahr verboten. Annedore näht. Vor zwei Monaten hat sie an Hitler geschrieben. Die Reichskanzlei hat den Erhalt ihres Schreibens bestätigt. Annedore hat erneut ein Gesuch an Hildebrandt gerichtet. Sie hat ein Gesuch an die Politische Polizeikommandatur der Länder gerichtet. Sie hat Generaloberst Hans von Seeckt eine lange Liste der militärischen Verdienste Julius Lebers übersandt, auf die ihr Frau von Seeckt freundlich und voll menschlichen Verständnisses geantwortet hat. Sie hat den Bischof von Osnabrück um seine Hilfe gebeten, und er hat sich bei der Gestapo für Julius eingesetzt. Es ist, als liefe man durch Kleister. Warum darf sie ihren Mann nicht besuchen?

Was will man vor ihr geheim halten?

Sie tun ihm irgendetwas an. Nachts kommen Bilder. Dann nimmt sie eine Tablette. Sie hat ein Gesuch an Himmler geschrieben: Katharina geht immerhin mit Himmlers Tochter in eine Klasse. Annedore hat Himmler um ein persönliches Gespräch gebeten.

Damit, nachdem so viel gegen meinen Mann spricht, auch einmal jemand für ihn sprechen kann.

Sie hat keine Antwort bekommen. Sie hat Julius’ Anwalt Ruscheweyh zu Kriminaldirektor Bock gesandt. Bock hat Ruscheweyh erklärt, Leber sitze aus politischen Gründen in Haft und es gebe also keine Veranlassung, ihn freizulassen: Der Staat erhebe totalen Anspruch auf seine Bürger, und gegenüber Leber sei er nun eben ein totaler Sieger und handle entsprechend. Es klang, als müsste Annedore sehr froh sein, dass Jüli noch lebt.

Ruscheweyh sieht es offenbar genau so. Er hat Annedore geraten aufzugeben: Weitere Schritte würden ja doch ohne Erfolg bleiben und von der Gegenseite nur als Mangel an würdigem Verhalten ausgelegt. Annedore hat geglaubt, nicht richtig zu hören: Ihr Ringen um Leben und Freiheit ihres Mannes offenbart einen Mangel an persönlichem Stolz? Annedore hat keine Zeit, um über dergleichen Unsinn nachzudenken. Sie muss den Präsidenten des Lübecker Landgerichts Dr. Rischau um Verlängerung der Stundung der Haftkostenrechnung bitten, weil sie sich immer noch bemüht, die Prozesskosten abzutragen, und dann wird sie sich noch einmal an Hildebrandt wenden. Gestern ist einer der beiden Briefe gekommen, die Julius im November aus dem KZ schreiben darf.

Gewaltig ist das Schicksal, aber gewaltiger der Mensch, der es unerschütterlich trägt.

Seine Handschrift hat sich verändert. Die Zeilen schwanken über die Seite. Die Linien sind dünn und zittrig, die Buchstaben unregelmäßig. Die Briefe sehen aus, als wären sie mit verbundenen Augen geschrieben. Aber die Kinder wissen nichts. Die Kinder sind unbelastet. Matthias sitzt auf dem Boden. Vor ihm steht die Dose. Sie ist aus glasiertem Ton. Der Prägestempel auf ihrem Boden hat die Form eines kleinen Bäumchens. Oder vielleicht sind es zwei große Bs, die ihre Rücken aneinanderlehnen und für Bontjes van Beek stehen, Jan Bontjes van Beek. Die Dose sieht jedenfalls aus wie ein graugrüner Stein.

Sie ist ein Stein, auf dem Grund eines breiten Flusses.

Das ist alles. Das ist das ganze Spiel.

Es ist ein sehr sehr schönes Spiel. Der Stein auf dem Grund des Flusses ist still. Fische glitzern an ihm vorüber, graublau, grünlich silbern. Wasser umschmeichelt ihn, kühl und hell. Aber etwas stimmt nicht. Das Wasser ist tief. Matthias kommt nicht aus dem Wasser heraus. Die Wasserfläche ist hoch über ihm, ein glitzernder Spiegel, ein Wasserhimmel, unter dem er keine Luft bekommt, Matthias muss diesen Himmel durchstoßen. Er muss hindurch, hinauf, hinaus, in das Jenseits auf der anderen Seite, wo er endlich Atem schöpfen kann, Matthias beginnt zu strampeln. Er hält die Luft an. Er kann die Luft nicht mehr lange anhalten. Er wird gleich schreien, aber wenn er schreit, ertrinkt er.

»Was machst du da?«

Jemand hat einen Stein ins Wasser geschleudert. Das Wasser rauscht auf, Schlamm wirbelt hoch, Matthias schnappt nach Luft, ein gestrandeter Fisch.

»Er spielt, Mama.«

Katharina.

»Er spielt? Aber er sitzt doch einfach nur da und strampelt.«

»Lass ihn doch, Mama.«

»Lass mich!«

Schon geht es wieder los. Und morgen wird Julius Leber entlassen. Es ist der 4. Mai 1937. Annedore hat Theodor Eicke aufgesucht, den Inspekteur der Konzentrationslager in der Prinz-Albrecht-Straße 8. Eicke war sehr nett. Er war verständnisvoll. Er hat Annedore zugehört. Dann hat er ihr geraten, einfach ein kurzes Gesuch auf Haftentlassung zu stellen und darin zu erwähnen, dass sie in der Lage sei, für ihren Mann finanziell aufzukommen. Annedore beschäftigt inzwischen drei Näherinnen. Sie hat das Gesuch gestellt. Und diesem Gesuch ist stattgegeben worden. Annedore kann es noch immer nicht fassen. Sie versucht zu überlegen, was sie nun tun muss. Sie versucht sich vorzustellen, was Julius sich morgen wünschen könnte. Ein schönes Essen, ein heißes Bad. Ein frischbezogenes Federbett. Eine Hand, die ihn streichelt, die Nähe seiner Kinder. Was übersieht sie? Annedore will alles richtig machen. Sie ist so froh. Sie ist Eicke dankbar. Theodor Eicke, wie Julius im Elsass geboren, der im KZ Dachau die Lagerwachen für alle KZs ausbildet: Annedore denkt warmen Herzens an ihn. Am liebsten würde sie ihm eine Freude machen.

Julius Leber sitzt an seinem Esstisch. Er sitzt wie ein Gast. Er ist ein Gast: Dies ist nicht sein Haus in der Lübecker Gertrudenstraße, das er vor vier Jahren verlassen hat. Dies ist Berlin-Zehlendorf, Eisvogelweg 71. Natürlich hat Julius gewusst, dass Annedore mit den Kindern hier lebt: Er hat die Adresse schließlich auf jeden seiner Briefe geschrieben. Aber er hat nie versucht, sich das Häuschen vorzustellen. Er hat sich nie vorgestellt, hier zu wohnen, an Annedores Seite. Wenn er in den Zimmern umhergeht, sieht er verloren aus, richtungslos. Sein Blick hält die Gegenstände nicht fest. Immerhin hat Julius schon eine Nacht in seinem Bett geschlafen.

Gegen Morgen hat er geweint.

Er hat versucht, nicht im Weg zu sein, als Annedore die Kinder für die Schule fertig gemacht hat. Der kleine Matthias wollte nicht gehen. Er wollte bei seinem Vater bleiben: bei dem fremden Mann, an den er keine Erinnerung haben kann und dem er seit gestern nicht von der Seite gewichen ist. Katharina hat den Vater gefragt, warum er keine Haare hat. Sie hat ihn gefragt, warum er nicht in sein Zimmer zieht.

»Wir haben es dir extra eingerichtet. Warum ziehst du nicht da ein?«

Julius sitzt an seinem Tisch. Er schält Kartoffeln, für das Mittagessen. Er trägt seine Kleider. Er ist zurück. Von Zeit zu Zeit sieht er auf, zu Annedore hin. Annedore näht. Um halb zwei kommt die Kundin, dann muss der Rock fertig sein. Das Fenster steht offen. Mailuft strömt herein, Vogelgezwitscher, der Duft von Bäumen. Julius Leber schält Kartoffeln. Er wird bald wieder er selbst sein.

Er ist noch er selbst, er muss es nur wieder spüren. Sie sieht zu ihm hin. Die Falten von Nase zu Mund sind tief. Die Stirnfalten sind tief, die Wangen sind mager. Aber sie haben ihn nicht zerstört.

»Das verdanke ich dir, mein lieber Junge. Du hast mich die ganze Zeit gehalten. In deiner Hand. Wie einen verletzten Vogel hast du mich gehalten.«

Das hat er gestern zu ihr gesagt. Er hat sie umarmt, lange Zeit. Er hat die Arme um ihre Schultern gelegt, er hat sich auf ihre Schultern gestützt.

»Und nun werde ich für dich da sein. Ich bin mit der Politik fertig. Ich will bei dir und den Kindern sein. Ich will essen, trinken, gute Luft atmen. Mehr nicht. Und ich werde wohl eine Möglichkeit finden müssen, ein bisschen Geld zu verdienen.« »Hast du schon Pläne für die Zukunft?«, sagt Gustav Dahrendorf.

Sie sitzen im Wohnzimmer der Lebers. Gustav und Julius sind einander zuletzt im eisigen Vorfrühling 1933 begegnet, bei der Kundgebung der Eisernen Front auf dem Burgfeld.

»Sprechen konntest du damals nicht«, sagt Dahrendorff. »Aber du hast dich gezeigt. Du bist aufs Podium getreten und hast nur ein Wort gesagt. Das Wort, worum es ging und geht.«

Freiheit

»Ja«, sagt Julius. »Na ja. Politik. Zu deiner Frage. Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Ich möchte meine Frau nicht die finanzielle Last allein tragen lassen. Ich muss Geld verdienen, aber wie, das weiß ich nicht.«

»Ich bin inzwischen zum Kohlenhändler geworden«, sagt Dahrendorf. »Vielleicht kann ich dich auch in der Branche unterbringen.«

»Das wäre gut«, sagt Julius. »Ich wäre dir sehr dankbar.«

Er steht auf. Er beginnt im Zimmer umherzugehen. Er schreitet nicht die ganze Länge des Raumes ab: Er geht fünf Schritte in die eine, fünf in die andere Richtung.

»Ich muss zugeben, ich finde mich in dieser neuen Welt noch nicht ganz zurecht«, sagt er. »Es hat sich doch sehr viel verändert, im Vergleich zu 1933.«

Hat Julius sich verändert? Annedore hat ihn nach den Briefen mit der zittrigen Schrift gefragt, aus der Zeit, als sie ihn nicht besuchen durfte.

»Ich habe sie im Dunkeln geschrieben«, hat er gesagt. »Ich hatte drei Monate Arrest in der Dunkelzelle. Na, wie soll es da sein, kalt und dunkel. Sehr kalt. Es war ja Winter. Tagsüber darf man nicht sitzen oder liegen. Nachts schläft man auf dem nackten Boden. Irgendwann fängt man an, Dinge zu sehen. Immerhin bin ich nicht blind geworden, das passiert manchmal. Immerhin bin ich nicht verrückt geworden. Am Anfang habe ich versucht zu tun, als wäre es nicht dunkel. Ich habe versucht, Sekunde für Sekunde der tropfenden Zeit zu leben, so als verginge der Tag tatsächlich. Ich habe mir vorgestellt, ich wäre zu Hause. Ich stünde auf. Ich ginge in die Küche hinunter«, er schüttelte den Kopf. »Das geht aber nicht. Man fängt dann an, Kaffee zu riechen, wie bei den Qualen des Tantalus, und dann bildet man sich ein, man hätte den Kaffee und tränke ihn. Ich habe dann versucht, an gar nichts zu denken. Ich habe versucht zu bleiben, wo ich war. Nach einer Weile fühlt es sich an, als ob sich die Zelle bewegt. Als ob sie durch die Dunkelheit fährt. Manchmal fährt sie rasend schnell, rasend schnell.«

»Wie hast du es ausgehalten, Jüli?«

»Schwer zu sagen. Ich weiß es nicht. Ich denke, ich habe mich daran gehalten, dass ein hartes Schicksal nicht dasselbe ist wie ein schlechtes und dass kein Schicksal ganz sinnlos sein kann.«

Fünf Schritte in die eine, fünf in die andere Richtung. Und wieder hin. Und wieder zurück.

»Über das Schicksal habe ich oft nachgedacht. Man bildet sich ja immer ein, seine Entschlüsse frei zu treffen, aber das stimmt nicht. Unser Wesen entscheidet für uns, unsere guten und schlechten Wesenszüge, beide gemeinsam. Und wie viel man auch über die einzelnen Züge weiß, über diese Einheit weiß man nichts. Dabei ist sie der wahre Antrieb, der Motor für alles, was man tut. Man hat sich also selbst dorthin gebracht, wo man steht, auch wenn man nicht weiß, wie man das gemacht hat. Das habe ich mir gesagt. Ich habe mir gesagt, der Weg, den ich gehe, ist trotz allem mein eigener. Ich habe ihn mir nicht wissentlich ausgesucht, aber die Sterne in meinem Inneren haben mir auf ihm vorausgeleuchtet. Nicht dass ich ihr Licht immer finden konnte, dort in der Dunkelheit, wo ich war.«

Fünf Schritte in die eine, fünf in die andere Richtung. Hin, dann wieder zurück, wieder hin.

»Aber nun bin ich frei«, sagt Julius Leber zu Gustav Dahrendorf. »Ich bin am Leben. Ich muss meine Familie ernähren. Ich muss mindestens versuchen, das Meine beizutragen.«

»Du bist erst ein paar Tage in Freiheit«, sagt Gustav Dahrendorf. »Verlange nicht zu viel von dir. Ich muss jetzt los, Lina erwartet mich zum Essen. Aber morgen gehe ich zu den Harnacks. Ernst von Harnack, du kennst ihn?«

»Der ehemalige Regierungspräsident von Merseburg«, sagt Julius Leber.

»Ja. Er wohnt gleich hier um die Ecke. Am Fischtal 8. Er ist 1933 auch kurzfristig in Haft gewesen, im Zusammenhang mit seinen Nachforschungen wegen der Ermordung Johannes Stellings. Komm doch morgen mit, wenn du Lust hast.«

Gustav Dahrendorf geht nach Hause. Er ist voll Bewunderung für Julius Leber. Er geht die Straße entlang, in Richtung Bushaltestelle, und denkt an die Beisetzung der Reichstagsabgeordneten Clara Schuch.

Er denkt daran, wie Clara Schuch in der letzten SPD-Fraktionssitzung aufgestanden ist und vehement für die Teilnahme an der Abstimmung zum Ermächtigungsgesetz plädiert hat, obgleich überall gemunkelt wurde, die SA würde die sozialdemokratischen Abgeordneten nicht lebend aus der Krolloper lassen. Im August 1933 ist sie ins Frauengefängnis in der Barnimstraße gebracht worden.

Sie war nur fünfzehn Tage in Haft. Danach musste sie sich regelmäßig bei der Polizei melden. Sie sprach, sie schlief, sie aß, sie trank, mit leeren Augen, zum Weinen geneigt und zu quälendem Selbstekel. Im Mai 1936 ist sie gestorben, mit sechsundfünfzig Jahren.

Sie ist auf dem Friedhof Baumschulenweg beigesetzt worden. Es war ein wunderbarer Morgen, glänzend vor Frische, grün und golden unter einer kühlen Sonne. Den Angehörigen war verboten worden, den Termin der Beisetzung öffentlich anzuzeigen. Aber von überall strömten Menschen herbei. Die Halle des Krematoriums war schnell überfüllt, aber es kamen immer noch mehr. Erst waren es Hunderte, dann Tausende. Wahrscheinlich kam auf fünfzehn ein Spitzel. Und noch immer riss der Strom nicht ab. Waren es viertausend, die sich hier versammelt hatten, fünftausend? Woher wussten sie von diesem Ereignis? Alle trugen Blumen. Wiesenblumen, Gartenblumen, an Feldrainen, am Spree- und Havelufer selbstgepflückte Sträuße, Bouquets aus Läden und von Marktständen. Niemand sprach. Wer angekommen war, stand und schwieg. Die Menge stand und schwieg, wogte und schwieg. Dann plötzlich ein Ruf.

»Alle Blumen nach vorn!«

Über die Köpfe der Menschen erhob sich die Welle, spülte über die Menge hinweg, schäumte an dem Sarg auf, überschwemmte ihn, bedeckte, begrub ihn, leuchtend und vergänglich, Gustav Dahrendorf weinte. Der neben ihm weinte, ein fremder Mann. Er ergriff Gustavs Hand, so wie Gustav nach der Hand seines Nebenmannes auf der anderen Seite tastete, viele weinten. Noch immer sprach niemand. Noch immer schwieg die Menge, während die letzten Sträuße ihr Ziel erreichten.

»Wozu bin ich frei?«

Carlo Mierendorff sitzt auf dem Sofa im Wohnzimmer seines alten Freundes Henko. Hella Priemel sitzt neben ihm. Carlo verdankt ihr seine Freiheit. Hella war nur eine von vielen, die für Carlo gebeten haben. Aber sie war es, die den Mut aufgebracht hat, zu Werner Best zu gehen.

SS-Standartenführer Werner Best ist nicht mehr Landespolizeipräsident von Hessen wie 1933, als Ernst von Harnack sich bei ihm für Mierendorff eingesetzt hat. Er ist Abteilungsleiter im Geheimen Staatspolizeiamt in der Prinz-Albrecht-Straße. Seiner Auffassung nach ist ein Staatsfeind ein Krankheitsherd im Volkskörper, den spurenlos zu beseitigen edelste Aufgabe der Polizei ist. Hella hat Best um Carlos Freiheit gebeten.

Best hat bedauernd die Hände gehoben: Mierendorff befindet sich außerhalb seines Befehlsbereichs.

»Dann holen Sie ihn«, hat Hella gesagt. »Holen Sie ihn in Ihren Befehlsbereich.«

Ein starkes Stück. Best hat die Brauen hochgezogen. Noch niemals ist er darum gebeten worden, jemanden in die Prinz-Albrecht-Straße 8 zu holen, ins Hausgefängnis der Gestapo. Und warum sollte ausgerechnet er sich für Mierendorff einsetzen, Werner Best, dessen ›Boxheimer Dokumente‹ Carlo Mierendorff aufgespürt und veröffentlicht hat?