Wer wir sind (2) Roman. Zweiter Teil - Sabine Friedrich - E-Book

Wer wir sind (2) Roman. Zweiter Teil E-Book

Sabine Friedrich

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Beschreibung

Teil zwei des Romans als eBook Rote Kapelle, kommunistische Gruppen, Weiße Rose, Kreisauer Kreis, 20. Juli: Dieser Roman vereint sie miteinander, die Frauen und Männer, die sich dem Nationalsozialismus widersetzten. Er erzählt von ihrem Sterben, vor allem aber von ihrem Leben. Dabei entrollt sich vor dem Leser ein gewaltiges Panorama. Teil zwei des Romans folgt den Lebenswegen und Schicksalen der Frauen und Männer der Roten Kapelle, der Weißen Rose und der Mitglieder des Kreises um Hans Oster in der "Abwehr". Von der sechsjährigen Entstehungsgeschichte des Romans 'Wer wir sind' erzählt die Autorin in ihrem 'Werkstattbericht'. Der vollständige Roman, die Teile 1, 3-5 und der 'Werkstattbericht' sind ebenfalls als eBook erhältlich.    

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Seitenzahl: 612

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Sabine Friedrich

Wer wir sind (2)

Roman

Deutscher Taschenbuch Verlag

Originalausgabe 2012

© 2012 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, Garbsen

Textredaktion: Frank Griesheimer, Starnberg

Quellen im Anhang

Eine ausführliche Quellen- und Literaturliste sowie die Verbindungslinien einzelner Personen (Stammbaum) finden Sie im Internet unter: www.wer-wir-sind.de

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Rechtlicher Hinweis §44 UrhG: Wir behalten uns eine Nutzung der von uns veröffentlichten Werke für Text und Data Mining im Sinne von §44 UrhG ausdrücklich vor.

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH, KN digital - die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

eBook ISBN 978-3-423-41742-6 (epub)

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website

www.dtv.de/ebooks

ERSTES BUCH

ZWEITER TEIL

1

2

3

4

5

DRITTER TEIL

1

2

3

Dank

Quellen

[Informationen zum Buch]

[Informationen zur Autorin]

ERSTES BUCH

ZWEITER TEIL

1

Es ist alles zerstört. Es ist alles zugrunde gerichtet. Es ist ein Herbstabend 1932, und sie werden laut, sie werden scharf, sie schreien einander an. Worum geht es überhaupt?

Auf dieser zwanzig Hektar großen Insel mitten im Tegeler See haben einst Alexander und Wilhelm von Humboldt gespielt. Dann hat der Naturforscher Karl Bolle nach seinen Studienreisen zu den Kapverdischen und Kanarischen Inseln Hunderte ausländischer Bäume und Sträucher hier heimisch werden lassen. Und 1922 hat Direktor Wilhelm Blume seine Reformschule gegründet, die Schulfarm Scharfenberg. Die Schüler waren von Anfang an mit dabei. Sie haben beim Bau des Fährhauses und des Blume-Hauses geholfen, auf dem Scheunenboden einen Schlafsaal eingerichtet und die Scheune zum Speisesaal ausgebaut, in dem sie nun sitzen und einander bekriegen.

»Keine Verantwortung! Diese Schüler haben keinerlei Verantwortung gezeigt!«

Aber was brüllt Ackermann denn? Ackermann ist ein Idiot.

»Was denn für Verantwortung? Verantwortung übernimmt man freiwillig. Verantwortung kann nicht gefordert werden. Verantwortung kann man nur tragen, solange man sich selbst die Regeln gibt.«

»Dummes Gerede!«

Wann hätte je ein Lehrer einen Schüler auf Scharfenberg beschimpft?

»Dummes Gequatsche, es sind ja eure Regeln! Dass man sich abzumelden hat, wenn man die Insel verlassen will, ist noch in der Zeit der Schülerselbstverwaltung beschlossen worden.«

In den guten alten Zeiten, als Entscheidungen auf Scharfenberg streng demokratisch getroffen wurden: Jeder hatte eine Stimme, Schüler wie Lehrer, außer wenn es um die Verleihung dieses Stimmrechts an Neuzugänge ging. Über die Aufnahme eines neuen Mitschülers bestimmten die Schüler allein. Ein Neuer musste am Ende des ersten Schuljahres zwei Drittel der Schülerstimmen für sich gewinnen, in freier und geheimer Wahl, oder er musste die Schule wieder verlassen: Und wie ist es dann möglich, dass es hier neuerdings Nazis gibt?

Sieben Tageszeitungen aller politischen Richtungen werden auf Scharfenberg ausgelegt. Es gibt einen Presseclub, der den Inhalt dieser Zeitungen für die Lesefaulen zusammenfasst. Es gibt Mitglieder aller Parteien, aber immer waren Kommunisten und Sozialdemokraten weit in der Überzahl. Die meisten Schüler stammen schließlich aus Arbeiterfamilien. Scharfenberg ist erschwinglich. Das Schulgeld ist am Einkommen der Eltern ausgerichtet, und einen großen Teil ihres Lebensunterhalts erwirtschaften die Schüler selbst: Zur Farm gehören fünfzehn Morgen Ackerland, zwanzig Morgen Weide, vier Morgen Mähwiesen, Schweine, Pferde, Kühe, Kaninchen. Man kann in der Landwirtschaft mitarbeiten, in der Tischlerei, in der Schlosserei, in der Gärtnerei oder der Gruppe Allzeitbereit, die zum Beispiel die Klos sauber hält. Es gibt den Läutenant, der morgens früh um sechs alle mit der Glocke zum Morgenlauf rund um die Insel weckt. Es gibt einen Mahlzeitenchef, der beim Ausmisten der Ställe, dem Einbringen des Heus zur Kaffeepause mit dem Korb voller Schmalzstullen erscheint.

Natürlich wird alle Arbeit freiwillig geleistet. Arbeit ist schließlich keine Strafe. Eine Strafe ist es, nicht mehr arbeiten zu dürfen, von allen Aufgaben, von jeder Mitwirkung befreit zu sein. Was ist Erziehung? Einsicht in das Notwendige. Auf Scharfenberg gibt es keine Noten, keine fest abgezirkelten 45-Minuten-Stunden. Es gibt Waldläufe und Schwimmfeste, aber keine Turnstunden. Bei der Feldbestellung, der Wartung der Maschinen in den Werkstätten, den Fettuntersuchungen der Milch, der Anlage eines Gewächshauses, den meteorologischen Messungen, deren Ergebnisse täglich an den Zentralen Wetterdienst weitergeleitet werden, der Bekämpfung der Wasserratten auf der Kükenfarm gehen Unterricht und Arbeit ineinander über. Für die jährlichen Theateraufführungen kommen Schauspiellehrer nach Scharfenberg, die die Proben leiten und die Schüler in der Kunst des Vortrags und der freien Rede unterrichten.

»Ach hört doch auf. So ist es ja gar nicht mehr. Es geht hier doch alles kaputt.«

Das ruft Natze von der Kükenfarm. Die Kükenfarm wird längst ganz von der Schülerselbstverwaltung geleitet. Die beiden Jungen, die dort wohnen und arbeiten, tragen große Verantwortung: In ihren Händen liegt die Aufzucht der Wellensittiche, der Enten-, Gänse- und Hühnerküken und die Versorgung der Seidenraupen. Sie bauen Brutkästen und Volieren, sie schleppen die Maulbeerbaumblätter für die Raupen von der Anlegestelle herauf, sie machen ihre Schulaufgaben zwischen Säcken voll Tierfutter und Werkzeugkisten. Sie schlafen auch auf der Kükenfarm, in einem Raum im Dach.

»Das ist Verantwortung. Unsere Verantwortung für die Tiere. Keiner hat gesagt, wir müssten das machen. Wir haben uns freiwillig gemeldet, also tragen wir die Verantwortung. Aber für das, was jetzt passiert, sind wir nicht verantwortlich.«

Das ruft Natze Probst von der Kükenfarm. Natze kann wunderschön revolutionäre Lyrik rezitieren.

Auch heute du zerstampft. Ein Noch-Zerschellter.

Sie aber töten nicht den Geist.

Zurück, empor gen unberührte Wälder!

Der Mensch sei frei!

Ich breche auf. Ich komme! Ah: Trompeten.

Die Kükenfarm ist das letzte bewohnte Haus auf der Insel, mindestens hundert Meter entfernt von den anderen Gebäuden. Deswegen treffen sich dort die Kommunisten. Hans Coppi kommt aus einem kommunistischen Elternhaus. Heinrich Scheels Vater ist Sozialdemokrat. Hans Coppi hat Heinrich Scheel per Handschlag in den Kommunistischen Jugendverband aufgenommen. Durch das Lager der Scharfenberger ging der große Riss nicht, der die Linke spaltet. Aber natürlich ist auch auf Scharfenberg nun alles vorüber: alle Eintracht, alle Freiheit, alle Scharfenberger Traditionen.

»Und schuld daran ist Direktor Blume!«

Der Direktor ist nicht da, sonst wäre dieser Tumult gar nicht möglich.

»Zu Zeiten der echten Selbstverwaltung wäre eine solche Regelverletzung gar nicht möglich gewesen. Schuld ist Direktor Blume selbst, er verstümmelt die Schule. Er verzichtet freiwillig auf unsere alten Prinzipien.«

»Was soll Blume denn machen? Er hat doch nur Angst, dass die Schule geschlossen wird, falls die Nazis drankommen.«

»Sie wird nicht geschlossen. Es wird nur ein anderer Geist einziehen.«

Schulz. Sein Vater ist Nazi.

»Schulz! Wenn dir der Geist hier nicht passt, warum bist du nicht woanders hingegangen?«

»Wer hat Schulz überhaupt gewählt? Warum hat der das Stimmrecht bekommen?«

»Von wegen Stimmrecht. Hier wird ein Geist der Disziplin einziehen!«

»Schließen wir die Disziplinverletzer aus der Inselgemeinschaft aus!«

Das schreit Schulz. Nun springen die Ersten auf. Der Tumult ist perfekt. Der kleine Böker zieht Schulz am Ärmel: der kurzsichtige Rechtsanwaltssohn Böker, Gefolgschaftsführer der Hitlerjugend, über den sich die anderen ständig lustig machen.

»Das kannst du doch nicht verlangen, Schulz«, sagt er. »Das sind doch auch Volksgenossen. Das sind doch unsere Mitschüler. Du kannst doch nicht wollen, dass man sie ausschließt.«

»Ausschluss!« Schulz schüttelt den Ärmel, den Böker festhält. Er beachtet Böker gar nicht. Wer beachtet Böker? »Ich bin für den Ausschluss!«

Hans Coppi erhebt sich.

»Dann schließt mich auch aus. Ich solidarisiere mich mit den Jungen, die mit mir und auf meinen Vorschlag hin in den Film gegangen sind.«

»Hans!« Heinrich Scheel hat den Arm des Freundes ergriffen. »Hör auf. Überlege dir, was du sagst. Du hattest doch eine Genehmigung.«

»Ich solidarisiere mich. Diese Diskussion ist eine Scheindiskussion. In Wirklichkeit geht es nicht um Genehmigungen, sondern um den Film. Der Film ist antinationalistisch. Der Besuch des Films soll bestraft werden.«

Ein paar jüngere Schüler haben Hans Coppi aufs Festland begleitet, um mit ihm zusammen Pabsts Film ›Kameradschaft‹ mit Ernst Busch zu sehen, von dem Coppi ihnen vorgeschwärmt hat. Die Jungen hatten keine Erlaubnis, die Insel zu verlassen. Das ist alles. Früher hätte die Schulgemeinschaft die Sanktion für eine solche Sache besprochen. Wahrscheinlich hätte man die Schüler für eine Weile von ihren Pflichten entbunden: Wer sich nicht an seine eigenen Regeln hält, dem kann man keine Verantwortung übertragen.

»Blume wird die Ausschlüsse sicher wieder rückgängig machen.«

Draußen vor der ehemaligen Scheune hat der Kunstlehrer Erich Scheibner, Rat genannt, Hans Coppi eingeholt. Rat ist beliebt. Er ist zuständig für die Dinge, die den Schülern wirklich wichtig sind: für die Theateraufführungen, Zeichenwettbewerbe, Marionettenspiele, Studienfahrten. Er und Hans Coppi haben denselben Weg. Rat hat ein Arbeitszimmer im Fährhaus, wo die Jungen sich Döblin, Remarque, Brecht, Tucholsky ausleihen können, Bände und Zeitschriften über Barlach, Dix, Pechstein, Grosz. Aber er schläft genau wie Hans Coppi, Hans Lautenschläger und die anderen im großen Jungenschlafsaal im Neubau.

»Coppi, Sie hatten eine Genehmigung. Sie müssen die Schule nicht verlassen. Denken Sie nur, wie enttäuscht Ihr Vater sein wird. Sie müssen mit Blume sprechen, wenn er wieder da ist.«

Hans Coppi sieht zu Rat hinunter, den er um mehrere Haupteslängen überragt.

»Mein Vater wird mich verstehen«, sagt er. »Er wird mein Verhalten gutheißen. Und ehrlich gesagt, ich habe gar nichts dagegen, hier wegzugehen. Ich gehe aufs Festland. Ich will nicht länger hier herumsitzen. Ich will gegen die Nazis kämpfen. Mein Vater wird auf meiner Seite sein. Er ist Arbeiter, und er wollte ein besseres Leben für mich.«

»Dann machen Sie Abitur!«

»Das kann ich auch auf dem Festland.«

Hans Coppi geht. 1934 wird auch der Lehrer Rat die Schule verlassen. Heinrich Scheel wird Direktor Blume ans Humboldt-Gymnasium begleiten, zusamen mit mehr als der Hälfte der Schülerschaft. Scharfenberg gibt es nun nicht mehr. Stattdessen gibt es nun die Rudolf-Heß-Schule, eine nationalsozialistische Musteranstalt, an der das Führerprinzip herrscht.

Hilde Rake kennt Scharfenberg gar nicht. Sie weiß nicht einmal, dass es auf der Insel Scharfenberg diese Schule gibt. Es ist ein kühler Frühlingstag 1939. Hilde wohnt in Berlin Mitte, über dem kleinen Laden für Lederwaren, den die Mutter betreibt. Sie wohnt noch immer dort, mit ihren fast dreißig Jahren. Sie hat auch dort gewohnt, als Franz noch in Berlin war. Franz und Hilde durften ja nicht heiraten. Sie konnten nicht zusammenziehen. Sie konnten nicht in einer gemeinsamen Wohnung wohnen, in einem steinernen Raum mit vier steinernen Wänden. Aber sie haben auf ihrer Insel gelebt.

Eine Weile haben sie auf ihrer eigenen Insel gelebt, die freilich den Stürmen immer weniger Widerstand entgegenzusetzen hatte. Das Meer biss erst kleine, dann riesige Stücke aus ihr heraus. Die Überfahrt wurde immer gefährlicher. Die Pfade, die in ihr Zentrum führten, wurden halsbrecherisch, dann gänzlich unwegsam, zuletzt war auch das Zentrum zerstört: das pulsierende Zentrum, in dem Franz und Hilde still waren, geborgen beieinander. Nun ist Franz fort.

Er hat Hilde verlassen. Hilde Rake und Franz Karma werden einander niemals wiedersehen, und Hilde hat nicht einmal den Trost der Wut, der gerechten Empörung. Franz hat sie ja ihr zuliebe verlassen.

»Ach Hilde. Von mir selbst einmal ganz abgesehen. Aber was hast du denn für ein Leben mit mir? Du kannst dich öffentlich nicht mit mir zeigen. Wir können nicht ins Kino gehen, nicht ins Theater. Warte, bis sie mich aus der Wohnung werfen. Dann kannst du mich im Judenhaus besuchen, und am Ende sperren sie dich dafür ein. Es geht nicht mehr. Ich bin eine Gefahr für dich.«

Aber es war natürlich umgekehrt. Hilde war eine Gefahr für Franz. Ihm hätten sie Rassenschande vorgeworfen, dem jüdischen Mann. Hilde wird niemals den Moment vergessen, als ihr endgültig klarwurde, dass Franz fortmusste.

Es war am Morgen nach den Novemberpogromen 1938. Franz und Hilde befanden sich in Sicherheit, bei arischen Freunden. Sie standen am Fenster hinter dem Vorhang und sahen hinaus auf den Hausvogteiplatz. Vor einem Kurzwarenladen lag die ganze Straße voll Knöpfe: Glasknöpfe, Holzknöpfe, Lederknöpfe, Hirschhornknöpfe, schillernde Perlmutterknöpfe und blitzende Messingknöpfe, gold- und silberfarbene Knöpfe, Knöpfe festlich bunt wie gestreute Blüten. Ein alter Mann kauerte auf dem Boden. Er sammelte seine Knöpfe in einen Eimer. Ein SS-Mann trat an ihn heran. Hilde Rake schwindelte es.

Es schwindelte ihr vor der Fülle der Handlungsmöglichkeiten, die dieser SS-Mann nun besaß, vor der schieren Menge begehbarer Wege, die sich jetzt, in diesem Moment, vor ihm auffächerten und von denen er gleich einen wählen würde. Und diese Wahl wäre in Ewigkeit unumkehrbar. Niemals würde er sich umwenden, zurückgehen und eine andere Abzweigung wählen können. Der SS-Mann hob den gefüllten Eimer auf, wog ihn in der Hand. Die Welt stand still. Dann kippte der SS-Mann die Knöpfe auf die Straße zurück, in weitem Bogen, in einer Geste großer, heller Lässigkeit. Der alte Mann hob den Kopf nicht. Der SS-Mann stellte den Eimer wieder hin. Er dachte einen Moment lang nach. Dann beugte er sich über den Alten und spuckte ihn an. Der Speichel traf die Schläfe, rann die Wange herunter.

»Du musst fort«, sagte Hilde. »Nun musst du fort.«

Franz ist fort.

Die Insel ist versunken. Hilde ist einkaufen gewesen. Nun ist sie vom Einkaufen zurück. Die Mutter sitzt auf dem Sofa. Halb sitzt sie, halb liegt sie, wie immer, wenn ihr Herz Sachen macht. Hilde stellt die Einkaufstasche ab. Die Mutter sieht mit schwimmenden Augen zu Hilde auf.

»Das Herz«, sagt die Mutter. »Mein Herz macht wieder Sachen, schon seit heute Morgen.«

»Hast du deine Tabletten genommen?«, sagt Hilde. »Ich glaube fast, du hast sie heute Morgen vergessen. Soll ich dir einen Kamillentee machen?«

Die Mutter antwortet nicht. Hilde hofft, dass sie nicht quengelt. Die Mutter neigt manchmal dazu, zu quengeln, wenn man etwas von ihr verlangt: dass sie ihre Tabletten nimmt, dass sie ihren Tee trinkt, dass sie tapfer ist, bis Erwin zurückkommt, Erwin hat beruflich verreisen müssen. Die Mutter mag das nicht. Sie kann nicht allein sein. Sie wird unsicher, sie ängstigt sich. Man kann ihr keinen Vorwurf machen. Wenn die Mutter stärker sein könnte, wäre sie es. Wenn sie es besser machen könnte, würde sie es besser machen. Die Mutter ist schwach. Aber ihr Erwin wird zurückkehren. Franz ist fort.

»Ich koche dir einen Tee«, sagt Hilde zur Mutter. »Ich hole dir deine Tabletten, bleib liegen.«

Sie nimmt die Einkaufstasche, trägt sie in die Küche. Sie hat Brot gekauft, Milch, einen kleinen Blumenstrauß. Hilde geht in der Küche umher, setzt Wasser auf, räumt das Brot in den Kasten. Sie nimmt die Teetasse und legt die Tabletten an den Rand des Untertellers. Hildes Lippen sind noch immer wund.

Es ist die letzte Spur. Das letzte Zeichen der letzten gemeinsamen Nacht, die vergangen ist, wie Tausende solcher Nächte für Tausende von Liebenden vergangen sind. Einmal noch sind die Brecher an dem Damm aufgeschäumt, der Vergangenheit und Zukunft trennte. Dann kam der Morgen. Franz brach auf. Er war ruhig.

Am Ende war er ruhig. Am Ende hat es kaum noch für einen Kuss gelangt. Hilde nimmt das Tablett. Sie geht zurück ins Zimmer, zur Mutter. Sie weiß noch nicht recht, wie sie gehen soll. Sie weiß nicht recht, wie man leben soll, seitdem die Welt sich am Hausvogteiplatz gewandelt hat. Vielleicht muss man sehr, sehr sanft zu allem sein. Vielleicht muss man wie ein Schlafwandler gehen, die Füße so auf den Boden setzen, dass sie ihn fast nicht berühren. Jeder neue Tag ist eine neue Schneewüste.

Die Wüste sieht jeden Tag gleich aus. Hilde hinterlässt vielleicht eine Spur. Sie sieht aber keine Spur. Jeden Tag geht sie wieder los, allein, durch die schneestiebende weiße Dunkelheit. Und wenn sie sich umwendet, liegt hinter ihr alles wie unberührt, als wäre dort niemals jemand gegangen.

»Hier, Mama, deine Tabletten. Vorsicht mit dem Tee.«

»Danke, Kind. Und dann mein Rücken. Ich habe es wieder so sehr im Rücken, schon seit heute Morgen. Würdest du mir ein wenig den Rücken massieren, Kind.«

»Aber gern, Mama. Ist es so besser? Das ist gut. Dann decke ich jetzt den Tisch, zum Abendessen.«

Und dann kommt Hans Coppi. 1939 hat Hilde Hans Coppi wiedergetroffen: Sie kennen einander von früher, aus einer Gruppe von Jungkommunisten. 1933 war Hans sechzehn. Er besuchte das Lessing-Gymnasium in Tegel, wo er sich nach den Scharfenberger Jahren freilich überhaupt nicht zurechtfand. Er blieb auch nicht lange. Er hat Flugblätter verteilt, und die Gestapo hat ihn in Haft genommen. Im KZ Sachsenhausen bei Oranienburg hat man ihn aufbewahrt, bis er achtzehn war und man ihm den Prozess machen konnte, und dann hat man ihm ein Jahr Jugendstrafe in Plötzensee aufgebrummt.

Hans Coppi schüttelt den Kopf.

»Plötzensee. Schlimm genug. Aber Oranienburg. Ich frage mich, was sie erreichen wollen, wenn sie einen dort einsperren. Glauben sie, dass man ihr System freundlicher beurteilt, wenn man ihre Lager von innen kennt? Glauben sie, dass man danach nicht mehr gegen sie kämpft?«

»Sie wollen einem wohl Angst machen«, sagt Hilde. »Sie wollen, dass man nichts so fürchtet wie die Rückkehr ins Lager.«

Hans lacht auf. Er legt den Arm um Hilde, die sich an ihn lehnt, Hilde setzt die Füße immer noch sehr vorsichtig. Hans tritt entschieden auf. Er ist sieben Jahre jünger als Hilde, aber so fühlt es sich nicht an.

»Man muss kämpfen«, sagt er. »Mit allen Kräften muss man gegen sie kämpfen, das sage ich dir.«

Hans hat natürlich recht. Hilde weiß das. Sie hat bisher gegen gar nichts gekämpft. Vielleicht hat sich einfach noch keine Gelegenheit ergeben. Franz Karma hat keinen Wert darauf gelegt, dass Hilde um ihn kämpft oder an seiner Seite kämpft. Vielleicht ist es diesmal anders. Vielleicht wird diesmal etwas von Hilde verlangt. Vielleicht genügt es dann, dass Hans mutig ist. Wenn Hans mutig ist, reicht das vielleicht für sie beide.

Lotte Schleif sitzt in ihrer kleinen Wohnung am Küchentisch. Hans Coppi ist gerade gekommen, der Sohn ihrer alten Freundin. Er hat zwei Freunde mitgebracht, Heinrich Scheel und Hans Lautenschläger.

Sie sind alle drei Scharfenberger. Die Scharfenberger halten zusammen. Sie haben ihre eigene Sprache, einen eigenen Umgangston, gemeinsame Erinnerungen, wie die Mitglieder einer Familie. Heinrich Scheel und Hans Lautenschläger treffen sich auch weiterhin mit ihrem alten Lehrer Scheibner, den alle auf der Insel Rat nannten.

In Rats Wohnung am Hackeschen Markt tagt regelmäßig ein Lern- und Diskutierzirkel, in dem manchmal auch Flugblätter hergestellt werden und wo sie einander nun fragen müssen, ob sie die ganze Zeit auf dem falschen Weg gewesen, die ganzen Jahre zu falschen Göttern gebetet haben: Es ist der 25. August 1939, und Stalin hat gemeinsam mit Hitler einen Nichtangriffspakt unterzeichnet.

Die Sowjetunion paktiert mit den Nazis. Russland lässt die deutschen Arbeiter im Stich und macht mit dem Todfeind gemeinsame Sache. Hans Coppi sieht ganz eingefallen aus.

»Und was ist mit den Toten?«

»Was ist mit den Ermordeten?«

»Jeder Gefängniswärter kann nun in die Zellen hineingrinsen und sagen, da habt ihr es, Stalin lässt euch im Stich, die Russen gehen mit dem Führer.«

»Eine Kapelle der Roten Armee soll das ›Horst-Wessel-Lied‹ gespielt haben, bei Ribbentrops Ankunft in Moskau.«

»Wie sie über uns lachen müssen!«

»Sind wir denn ganz allein?«

»Sind wir seine einzigen Feinde?«

Sie schweigen. Es gibt nichts mehr zu sagen. Sie sitzen nahe beieinander. Dies ist Lottes Wohnung. Aber so fühlt es sich nicht an. Es fühlt sich an, als wären sie auf einem Ozeandampfer. Draußen tobt der Sturm. Sie allein sind übrig. Sie leben noch. Alles andere ist untergegangen. Und dringt nicht schon Wasser unter der Tür herein? Welches Werg soll dieses Leck stopfen?

Aber vielleicht weiß Kurt Schumacher Rat. Kurt Schumacher hat schon einmal Rat gewusst, nach der Flucht Rudolf Bergtels, der als Kommunist wegen Hochverrats zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt worden war. Es ist Rudolf aber gelungen, aus dem Straflager Aschendorfer Moor zu entkommen. Er hat sich zu Lotte Schleif durchgeschlagen, nach Berlin Wilmersdorf, in die Kaiserallee 172. Lotte spielt sich den Moment immer wieder vor, wie einen Lieblingsfilm.

Es klingelte. Lotte öffnete. Der Mann vor ihrer Tür duckte sich unter seinen Hut, hüllte sich in die Dämmerung dieses Sommerabends, der zu warm war für seinen Schal, für den hochgeklappten Kragen seines Mantels. Woher hatte er den Hut, woher den Mantel? Lotte packte seinen Arm, zog ihn in die Wohnung. Sie schloss die Tür hinter ihm, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür.

»Da bist du. Da bist du.«

Sie umarmten einander, berauscht von seiner Flucht, seiner Rückkehr ins Leben. Er würde aber nicht bleiben können: nicht in Lottes Wohnung, nicht in diesem ganz gewöhnlichen Berliner Mietshaus. Lotte hat Ilse um Rat gebeten.

Die Bildhauerin Ilse Schaeffer: Auch ihr Mann ist wegen kommunistischer Umtriebe inhaftiert. Ilse wiederum hat sich an den Genossen Kurt Schumacher gewandt, und der hat Rudolf Bergtel sofort in seiner Laube im Kleingarten in der Papestraße verborgen.

Der Garten ist nicht einsehbar. Er ist der letzte in der Reihe. Dahinter beginnt die Wildnis, die bis zu den Bahnschienen reicht. Aber länger als ein paar Tage konnte Rudolf Bergtel natürlich auch hier nicht bleiben. Also hat Kurt vorgeschlagen, ihn in die Schweiz zu bringen. Sie haben alle zusammengelegt. Sie haben Decken besorgt, Proviant, Bahnfahrkarten. Lotte hat einen Zehn-Dollar-Schein in Rudolfs Schuh eingenäht. Dann hat Harro Rudolf Bergtel zum Anhalter Bahnhof begleitet.

Der Fliegeroffizier Harro Schulze-Boysen: In Uniform ist er an Bergtels Seite gegangen, vorüber an den Steckbriefen mit Bergtels Gesicht, beschwingt von der Arroganz seines Muts, getragen vom Hochgefühl der Tat, nach all dem Gerede und Herumgesitze der letzten Wochen, Monate und Jahre. Er hätte sich gewünscht, jede Woche so einen Gang zu tun.

Er hätte singen können.

Er hat womöglich gesungen oder jedenfalls leise durch die Zähne gepfiffen. Bergtel hat verbissen geschwiegen. Der hochgestimmte Mann an seiner Seite war ihm nicht geheuer. Der Kerl hatte die Aura des Klassenfeinds, ihm fehlte jeglicher kommunistische Stallgeruch. Und woher zum Teufel nahm er die gute Laune?

Am Bahnsteig ist Bergtel in den Zug nach Bregenz eingestiegen.

Ein paar Abteile weiter hinten saß Kurt, in voller Bergsteigerausrüstung. Harro hat auf dem Bahnsteig gewartet, bis der Zug angefahren ist. Erst ist Rudolf Bergtel an ihm vorbeigerollt, ein paar Momente später Kurt. Sie haben einen langen leuchtenden Blick gewechselt. Dann rollte der Zug aus der Bahnhofshalle. Harro sah ihm nach. Das war nun also schon wieder vorbei. Er ging nach Hause und schickte Libs zu Elisabeth, um sie wissen zu lassen, dass Kurt gut aus Berlin weggekommen war. Aber damit ist die Gefahr natürlich längst nicht überstanden. Elisabeth steht im Garten an der Papestraße. Sie sammelt die Läuse von einer Rose ab. Sie ist ruhig. Wann ist die Gefahr überstanden? Wenn man tot ist. Es ist also zwecklos, sich zu fürchten. Man lähmt sich nur selbst. Man lähmt den anderen. Nichts ist einschränkender für einen Menschen, als in steter Sorge sein zu müssen wegen der Sorgen, die er anderen bereitet. Im Grunde müsste man an jedem gewöhnlichen Alltagsmorgen mit Todesangst erwachen: Solange man lebt, kann man sicher sein, den Tod noch vor sich zu haben. Elisabeth hat den Salat gegossen. Sie hat die Erde um die Karotten gehackt, ein paar Hände Stangenbohnen geerntet und einige schöne Tomaten. Kurt soll morgen Abend zurückkehren. Dann wird sie erfahren, wie alles gewesen ist.

Den ersten, anspruchslosen Teil des Weges sind sie getrennt marschiert. Kurt ist vorausgegangen. Er hat darauf geachtet, nicht außer Sichtweite zu gelangen, was gar nicht so einfach war: Bergtel ist nicht durchtrainiert. Er ist geschwächt von der Lagerhaft. Immer wieder musste Kurt auf ihn warten, und zwar unauffällig: In den Niederungen des Gebirges treibt sich an schönen Hochsommerwochenenden viel ausflüglerisches Volk herum. Gegen Abend wurde es leerer. Dennoch erreichten sie die Hütte später als geplant.

Am nächsten Morgen brachen sie zeitig auf. Hier oben waren sie allein. Sie marschierten gemeinsam. Zum Glück hielt das Wetter. Mehrfach mussten sie klettern, auf schmalen Älpler- und Schmugglerpfaden. Zweimal hatte Kurt ernste Bedenken, ob er seinen Schützling überhaupt heil auf die andere Seite bringen würde. Nach einem steilen Anstieg über Geröllhalden konnte Bergtel lange nicht weiter, und Kurt stand neben ihm und verzweifelte. Was, wenn dem Mann nicht mehr aufzuhelfen war? Aber Bergtel nahm seine Kraft zusammen. Dann entsetzte ihn der Blick in die Schlucht so sehr, dass er sich lange nicht auf den Felsgrat wagte. Aber nun ist auch diese Gefahr bestanden. Sie haben den Kamm des Gebirges erreicht. Sie haben ihn bereits hinter sich gelassen. Sie stehen an einen Felsen gelehnt und sehen hinab, wo unter ihnen in der wasserklaren Luft ein Steinadler seine Kreise zieht.

»Die Schweiz«, sagt Bergtel.

»Ja.«

Also nun bergab. Kurt stützt Bergtel. Der Abstieg quält untrainierte Muskeln mehr als der Aufstieg.

»Sind wir schon da?«

»Ich bin nicht sicher.«

Weiter. Und über die unsichtbare Grenzlinie geradewegs in die Schweiz hinein. Bergtel kauert auf dem Boden, das Gesicht tränennass. Kurt steht neben ihm. Er richtet den Blick über den Kopf seines Schützlings hinweg.

»Komm, Genosse«, sagt er schließlich. »Ich begleite dich noch ein Stück, bis zu den drei großen Felsen dort unten. Ab da ist der Pfad klar erkennbar und leicht. Ich muss zurück. Ich habe es noch weit, bevor es dunkel wird.«

Elisabeth hat die Wicken hochgebunden, das Unkraut zwischen den Kohlköpfen entfernt. Sie wischt sich die Stirn. Sie sieht auf die Uhr. Die Zeit vergeht, aber sie vergeht langsam, in tröpfelnder Stille. Elisabeth wünschte, sie könnte Kurt helfen. Sie hilft so gern. Sie würde die Welt so gern in Ordnung bringen. Sie glaubt, dass die Welt in Ordnung zu bringen wäre, wenn nur jeder mitmachen würde. Viele Leute sind prinzipiell auch bereit dazu. Sie wissen oft nur nicht, wo sie anfangen sollen.

Dabei ist das egal. Es ist wie mit einem verwüsteten Zimmer. Zuerst steht man händeringend inmitten des Chaos. Aber dann stellt man eben den nächstbesten Stuhl wieder auf. Man sammelt die Scherben vom Boden, man stapelt die aus den Borden gerissenen Bücher, man wischt und wäscht ab und arbeitet sich allmählich vor, und irgendwann ist alles fertig.

Elisabeth denkt an Kurt. Sie hat ihn den ganzen Weg im Geist begleitet, Kilometer für Kilometer der Reise, Schritt für Schritt über das Gebirge. Elisabeth überlegt, ob sie es Oda sagen würde, wenn Kurt auf seiner Bergtour verhaftet würde. Es ist aber ein unsinniger Gedanke.

Einmal aus der gütigen Dunkelheit ins grelle Licht des forschenden Staates gezerrt, ginge es für sie alle nicht mehr um private Animositäten. Es ginge dann nur noch darum, niemandem die Gestapo auf die Fersen zu hetzen, niemanden den Gewalten auszuliefern. Sie sind wie kleine Tiere, in die Finsternis unter der riesigen Erdkruste gesperrt. Die Kruste lastet auf ihnen: die Gewalt dieses Reichs, seine Schwärze, sein atemberaubendes Gewicht. Warum das Flirren eines Glücks inmitten dieser Nacht zertreten? Warum sich nicht freuen über das, was Kurt bei Oda findet? Seine Zuneigung zu Oda schmälert doch nicht seine Liebe zu Elisabeth. Wird nicht im Gegenteil die Gesamtheit der Liebe durch jede neue Liebe vermehrt?

Freilich muss man diese Haltung erst üben. Elisabeth geht langsam durch den Garten auf Kurts Atelier zu. Kurt ist nicht da. Elisabeth könnte Kurt eines Tages verlieren, das ist eine Möglichkeit. Und wenn es so wäre, wenn es sich nicht vermeiden ließe, wäre es dann nicht ein großes Glück, ihn nur an eine andere verloren zu haben?

Elisabeth hat die Tomaten und das Gemüse in ein Körbchen gelegt. Das Körbchen ist für die Hohenemsers: für Elisabeths blinden Onkel Richard, für Tante Alice. Elisabeth will sie nachher noch besuchen. Sie hat ihnen eine kleine Tasche voll Welt gepackt: Fotos von einem Ausflug in den Spreewald, Patience-Karten, die Juniausgabe von ›Velhagen und Klasings Monatsheften‹ mit Artikeln über den Tenor Benjamino Gigli, den Maler Wilhelm von Kobell und leider auch einem Erguss des evangelischen Theologen Gerhard Kittel über Weltjudentum und Rassenmischung in der römischen Kaiserzeit.

Tante und Onkel sind für alle Gaben sehr dankbar. Sie können ja nur noch in ihrer Wohnung sitzen. Fast alles andere ist ihnen verboten: Museen, Konzerte, Kinos, Theater, Badeanstalten, Busfahren und die Rast auf Parkbänken, die Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel, auch die Mitgliedschaft in Vereinen.

»Natürlich hilft uns nun auch keiner mehr.«

Das sagt Tante Alice.

»Uns sieht ja keiner mehr. Wer soll uns helfen? Keiner bemerkt ja mehr, dass wir da sind.«

Keiner außer Elisabeth. Immerhin sind die Hohenemsers bislang nicht aus ihrer Wohnung vertrieben worden.

»Ach Kind. Darauf warten wir noch. Hier sitzen wir und warten darauf, dass sie uns aus unserer Wohnung vertreiben. Die Goldmanns sind aus ihrer geworfen worden. Wo sie doch zweiundzwanzig Jahre dort gelebt haben. Aber wir gehen nicht. Eher sterbe ich.«

Elisabeth geht durch Kurts Atelier. Das große Tor steht offen. An der Wand liegt der halbfertige Druckstock, an dem Kurt zurzeit arbeitet. Daneben auf einem großen Holztisch liegen Stifte und Papier. Elisabeth tritt an den Tisch.

Sie ergreift einen Stift. Sie nimmt ein Blatt. Sie beginnt zu zeichnen: Kurt Schumachers Gesicht, das so oft gezeichnete, dies gelingt ihr blind. Es gelingt ohne Vorlage, auch wenn er nicht bei ihr ist. Diese Züge, diese Formen hat sie in den Innenflächen der Hand, in den Fingerspitzen. Aber sie hat das Gesicht ein wenig zu weit nach rechts gesetzt.

Viel zu weit nach rechts. Die Zeichnung ist nicht balanciert. Sie verlangt nach einem Gegengewicht. Elisabeth zögert. Dann holt sie einen Handspiegel aus der Tasche. Sie betrachtet sich im Spiegel, greift wieder zum Stift, dies kann sie nicht blind tun. Ihr eigenes Gesicht ist ihren Fingern fremder als das seine.

Lotte Schleif sitzt in ihrer kleinen Wohnung am Küchentisch, mit Heinrich Scheel, Hans Lautenschläger und Hans Coppi. Rudolf Bergtel ist fort. Er ist sehr weit fort: Er ist in Sicherheit. Lotte denkt an Rudolf Bergtel, an seine Jahre im Lager.

»Und wozu das alles?«

Stalin und Hitler haben einen Pakt unterzeichnet.

»Was ist mit den Toten? Was ist mit den Ermordeten?«

Ein Kommunist hat zwei Vaterländer, Deutschland und die Sowjetunion. Nun sind sie von beiden Ländern verraten.

Aber vielleicht haben Lotte und die Jungen etwas übersehen. Vielleicht kann Kurt Schumacher noch einmal helfen? Ein paar Tage später sitzen die Scharfenberger wieder um Lottes Tisch. Sie sitzen wie das letzte Mal. Aber die Atmosphäre ist verwandelt. Das drückende Wetter ist abgezogen, die Luft prickelt und sprüht vor Frische. Kurt und Elisabeth Schumacher haben einen Mann mitgebracht, der sich als Hans hat vorstellen lassen. Er trägt Knickerbocker, ein loses Hemd. Das blonde Haar hat er zurückgekämmt. Sein Gesicht ist offen, freundlich. Seine Haltung ist entspannt. Dennoch hat er etwas Straffes, durchaus Militärisches.

»Also?«, sagt der Mann, der sich Hans nennt. »Was meint ihr? Was wird eurer Meinung nach im Westen passieren?«

Die Jüngeren hängen an seinen Lippen.

»Was wird passieren, wenn wir demnächst Polen überrennen?«

»Die Westmächte werden uns den Krieg erklären.«

Der neue Hans betrachtet den Sprecher voll Stolz, wie ein Lehrer den Klassenprimus.

»Richtig«, sagt er. »Genau. Sie werden uns den Krieg erklären. Aber werden sie ihn führen? Werden sie ihn führen können?«

Die Jungen beginnen zu strahlen. Der neue Hans grinst.

»Was, wenn sie uns den Krieg erklären, aber ihn gar nicht führen können? Was, wenn dann Russland einen Beistandspakt mit dem Westen hätte statt eines Nichtangriffspaktes mit uns?«

»Dann müssten die Russen für die Engländer kämpfen.«

»Dann müssten die Russen sich für die Kapitalisten schlagen.«

Nun strahlen sie alle. Sie reden durcheinander. Der neue Hans hat sie, er reißt sie mit.

»Es ist also gar kein Nichtangriffspakt.«

»Es ist ein Noch-nicht-Angriffspakt.«

»Der den Russen Zeit gibt, sich vorzubereiten.«

»Darauf, die Nazis fertigzumachen.«

Der neue Hans nickt. Er lässt seinen Blick von einem zum anderen schweifen, liebevoll wie ein Vater im Kreis seiner Söhne.

»Hitler zerstört den kapitalistischen Westen. Und danach wird Stalin Hitler zerstören.«

»Dann kommt die nationale Erhebung der Deutschen.«

»Und die Arbeiter der anderen westlichen Länder werden sich uns anschließen.«

Es ist also alles gar nicht so furchtbar. Es ist im Grunde alles in Ordnung. Alles ist auf dem richtigen Weg, alles befindet sich im Aufstieg. Sie sind kurz davor, einander zu applaudieren. Sie sind kurz davor, einander zu umarmen, in Hurrarufe auszubrechen wie nach einem Sieg. Dabei ist alles noch genauso wie vorher. Die tatsächliche Lage hat sich nicht verändert.

»Dies ist nicht nur ein Kampf zwischen Demokratie und Faschismus. Dies ist ein Kampf zwischen Westen und Osten.«

»Genau. Und wenn das jetzt nicht entschieden wird, geht es in der nächsten Generation von vorn los. Dann kämpfen die nächsten den Kampf zwischen Kommunismus und Kapitalismus.«

»Aber es kann ja diesmal gar nicht zugunsten des Kapitalismus entschieden werden. Der Kapitalismus ist am Ende, das hat man in der Weltwirtschaftskrise gesehen. Es kann nicht wieder zugunsten der Ungleichheit entschieden werden. Das würde nur neuerlichen Konflikt bedeuten.«

Der neue Hans betrachtet den Sprecher begeistert.

»So ist es. Jetzt kriegt der Westen die Quittung für seine Abwieglerei. Erst haben sie vor den Roten geschlottert, und jetzt schlottern sie vor dem Krieg mit uns, den sie führen müssen, wenn wir Polen angreifen. Ich gönne ihnen den schlechten Schlaf. Die Spanier haben auch schlecht geschlafen, als man in London Nichteinmischung gespielt hat.«

Die Jungen lachen. Sie strahlen den neuen Hans an. Er kommt erst ins Laufen, wenn die anderen umfallen. Ihm ist erst wohl bei Temperaturen, bei denen die anderen ermattet zu Boden sinken. Er hat die große Geste, die Überlegenheit, die Unbekümmertheit, die alles leicht und gefahrlos aussehen lässt.

»Also Mut. Warten wir ab, wie es weitergeht. Wir dürfen jedenfalls alle sehr gespannt sein. Wir dürfen sehr optimistisch sein.«

Er erhebt sich. Die anderen erheben sich mit ihm. Es ist alles gesagt. Der fremde Hans hat alles bereinigt.

»Ach Kinder, es ist doch toll. Es ist doch eine aufregende Zeit, in der wir leben dürfen.«

So ist es. Wenn dieser Mann es behauptet, dann ist dies keine verfluchte Epoche, sondern eine packende, herausfordernde.

»Wir sollten unbedingt in Kontakt bleiben«, sagt Heinrich Scheel.

»Unbedingt«, sagt Hans Lautenschläger.

»Ich finde auch«, sagt der Mann namens Hans. Er streckt Heinrich Scheel die Hand hin.

»Harro Schulze-Boysen«, sagt er. »Lotte weiß, wie ihr mich erreicht.«

Hans Coppi und Hilde Rake sitzen im Garten der Coppis in der Laubenkolonie Waldessaum. Die Kolonie liegt im Norden Berlins zwischen den Borsig-Werken und der Haftanstalt Tegel, am ausgefransten Rand der Stadt, deren letzte Ausläufer sich hier in der Ödnis der Schuttplätze, Lagerschuppen und Fabrikhöfe verlieren. Es ist ein heißer Augustabend.

Ein Mittwoch: Am Mittwoch schließt die Arztpraxis, in der Hilde als Sprechstundenhilfe angestellt ist, schon am Nachmittag. Hilde ist sofort losgeradelt. Sie sitzen im lichten Schatten des Apfelbaums, zwischen Rosen und Kartoffeln, Beerenbüschen und Küchenkräutern, weit fort von den glänzenden Villenvierteln, den dichtgedrängten Arbeiterquartieren, den Boulevards, Kneipen, Theatern und Warenhäusern der Stadt.

Sie sind allein. Mutter Coppi bedient noch in ihrer kleinen Eisdiele schräg gegenüber der Kolonie. Hilde lehnt an Hans’ Schulter. Sie hat ihre Brille abgenommen. Alles ist grün und üppig und hell. Das sieht Hilde. Sie sieht alles verschwommen, weil sie die Brille abgenommen hat. Sie zerreibt ein Blatt Petersilie zwischen den Fingern und freut sich an ihrem scharf-süßlichen Duft. Sie ist sehr glücklich.

»Was mich wirklich verärgert, ist die Ungerechtigkeit«, sagt Hans. »Dass manche Leute mit einem silbernen Löffel im Mund geboren werden, mit allen Chancen dieser Welt, und andere müssen um alles ringen und kommen doch nicht von der Stelle.«

Hans ist Dreher. Er arbeitet in der Fabrik. Er arbeitet hart, und er ist im Grunde zu intelligent für seine Arbeit.

»Ich bin natürlich selber schuld«, sagt Hans. »Warum trete ich nicht in die Partei ein? Warum mache ich nicht Karriere bei der SS? Warum bilde ich mir ein, an eine bessere Welt glauben zu müssen, an eine gerechtere Zukunft?«

Hilde streichelt seinen Arm.

»Du könntest vielleicht noch einmal die Schule besuchen«, sagt sie.

Hans schweigt einen Moment.

»Ich weiß nicht«, sagt er dann. »Ich glaube, das ist Unsinn. Ich glaube, ich bin zu alt dafür.«

»Du bist erst dreiundzwanzig«, sagt Hilde. »Und du sollst ja gar nicht wieder aufs Gymnasium gehen. Aber es gibt doch Abendschulen. Du könntest dort das Abitur nachmachen.«

»Noch einmal Fremdsprachen büffeln«, sagt Hans. »Noch einmal Goethe, Schiller und Hölderlin. Sich noch einmal all den bildungsbürgerlichen Ballast aufladen. Nein, ich mag meine Zeit damit nicht mehr verplempern. Ich möchte praktische Dinge tun. Dinge, die einen Nutzen haben.«

Die Sonne ist untergegangen, aber es ist immer noch warm.

»Eine Technikerschule vielleicht«, sagt Hans. »Ich könnte eine Technikerschule besuchen. Ich muss darüber nachdenken. Aber im Grunde. Warum nicht.«

Hilde hat ihre Brille abgenommen. Aber sie sieht, wie Hans sie ansieht. Sein Blick ist wie eine Decke, die Hilde sich um die Schultern zieht. Sie weiß, dass sie an Hans’ Seite nichts zu fürchten hat. Harro und Libs haben neuerdings darüber nachgedacht, dem Großstadtleben den Rücken zu kehren. Sie haben ernstlich mit dem Gedanken gespielt, hinauszuziehen in irgendeine schöne ländliche Gegend, Bücher zu schreiben, zu reisen und womöglich doch ein Kind zu bekommen. Harro war bei der Gestapo vorgeladen, weil Werner Dissel, ein alter Kumpel aus ›gegner‹-Zeiten, wegen bündischer Umtriebe und kommunistischer Zersetzung verurteilt worden ist.

Das ist es allerdings nicht, was Harro wurmt. Es ging ja wie immer alles gut aus. Aber Harro ist im Ministerium nicht glücklich. Natürlich klingt es großartig: Abteilung fremde Luftmächte. Es klingt glamourös. Aber tatsächlich ist der Verdienst schlecht, es gibt sehr viel Arbeit, und direkte nachrichtendienstliche Erkundigungen obliegen nicht etwa dem Reichsluftfahrtministerium, sondern der Amtsgruppe Abwehr der Wehrmacht unter Admiral Canaris. Harros Abteilung kann nicht viel mehr tun, als sich aus Zeitungen und Büchern über die Stärke der ausländischen Luftrüstung zu informieren. Harro ist unzufrieden. Er ist unterfordert, unterbewertet, unterbezahlt, und warum soll er sich unter diesen Umständen abarbeiten? Libs schreibt Filmkritiken, sie fotografiert. Harro hat seine Übersetzungen, die ihm einiges einbringen. Vielleicht wäre ein Leben auf dem Land wirklich eine Alternative. Sie könnten ein Bauernhaus in Meeresnähe beziehen und einen Gemüsegarten anlegen. Wie wäre es mit Schleswig-Holstein? Libertas zieht es sowieso immer hinaus in die Natur.

Sie hat sich für ein paar Juliwochen in Nidden auf der Kurischen Nehrung bei einem Fischer eingemietet, ganz in der Nähe des verlassenen Ferienhauses von Thomas Mann. Sie will ein wenig zur Ruhe kommen, in der Natur neue Kraft schöpfen und endlich ihr Buch schreiben. Welches Buch, was soll darin stehen?

Libs weiß es genau, solange sie nicht schreibt. Solange sie nicht schreibt, ist die Geschichte fertig. Sie flimmert, sie lebt, sie ist voll Witz und voll Tiefe. Die Figuren funkeln, sie vibirieren vor Lebendigkeit, Heiterkeit und Melancholie. Liebe und Schmerz, Trauer und Freude, Geburt und Tod sind aufs Wundervollste miteinander verwoben. Dann setzt sich Libs hin, und alles ist weg. Sobald das weiße Papier vor ihr liegt, besteht die ganze Welt aus Papier, und Libs steht vom Schreibtisch auf und wandert in die Dünen.

Warum will sie aber auch unbedingt ein Buch schreiben? Es muss doch gar nicht sein. Libs verdient gut mit ihren Filmkritiken. Sie verdient mehr als Harro. Sie schwimmt im Meer, weit hinaus. Während sie schwimmt, überlegt sie, was sie nach dem Schwimmen tun könnte. Sie kauft geräucherten Fisch an einer Fischerhütte und lacht mit dem jungen Fischer, den sie bezaubert. Was, wenn sie hierbliebe?

Harro fehlt ihr. Sie geht am Strand entlang, dann wandert sie in den Bruch hinein. Wird sie vielleicht einen Elch sehen? Sie malt sich aus, wie es wäre, mit dem jungen Fischer zu leben. Es wäre ein Dasein, so simpel wie Brot. Ein Leben, bestimmt vom Rhythmus der Jahreszeiten, von Ebbe und Flut. Es wäre Harmonie, Geborgenheit, Frieden. Wie wundervoll. Nur müsste eben auch Harro dabei sein. Die Freunde müssten zu Besuch kommen. Man müsste wenigstens hin und wieder einmal nach Liebenberg fahren können.

Bei ihrer Rückkehr wird sie erwartet. Polizei steht am Fischerhäuschen, um Libs wegen Spionageverdachts zu verhaften.

Freilich stellt es sich schnell heraus, dass alles nur ein Irrtum war. Freilich lässt man sie gleich wieder frei. Aber Libs ist verstört. Sie kehrt sofort nach Berlin zurück, wo Harro sich inzwischen überlegt hat, dass man besser doch nicht aufs Land zieht.

Es ist immerhin fraglich, ob sie genug verdienen würden. Das wirtschaftliche Risiko wäre schwer kalkulierbar. Im Übrigen ist ein solches Idyll schlicht nicht mehr zeitgemäß. Man darf im Grunde nicht einmal davon träumen: Das verkündet Harro, Harro ist nach wie vor unterbezahlt, unterfordert, unterschätzt. Er lebt nicht das Leben, das er leben wollte. Daran sind die Nazis schuld. Also müssen die Nazis fallen.

Die Nazis müssen verschwinden, damit Harro sich entfalten kann, und sie werden auch verschwinden. Wer ins Innere dieses Staates sieht, weiß, dass sie nicht bleiben können: Das sagt Harro im Kreis seiner Getreuen. Sie haben sich in Elfriede Pauls Wohnung versammelt.

»Alles wird in einem neuen Weltkrieg untergehen«, sagt Harro. »Das prophezeie ich. Erst kommt der Weltkrieg und klärt die nationalen Fragen, dann wird der Klassenkrieg die sozialen Fragen klären.«

Und wie kann Harro für sich auf eine führende Rolle hoffen, wenn er sich jetzt dem Kampf entzieht? Worauf soll er sein Recht auf Mitgestaltung begründen, wenn er den kommenden Auseinandersetzungen schon im Vorfeld ausweicht und in die Pampa zieht? Nein, er muss in Berlin bleiben.

»Im Ministerium haben wir jetzt wochenlang an einem Papier über die Entwicklung der ausländischen Luftrüstung geknobelt«, sagt Harro. »Aus den verfügbaren Informationen geht zweifelsfrei hervor, dass die Franzosen und Engländer die Deutschen bis Ende des Jahres in der Luftrüstung eingeholt und in puncto Flugzeugproduktion bis Anfang 1940 überflügelt haben werden. Also haben wir das geschrieben. Göring hat getobt. Defätismus! Verrat! Vernichtung! Wir werden ihm nun ein neues Papier basteln. Aus dem wird hervorgehen, dass die Luftrüstungskapazität der anderen viel zu gering ist, um selbst innerhalb einer ganzen Dekade unseren Rüstungsvorsprung einzuholen.«

»Und was ist über die englische Garantie zu sagen, Polen als Staat zu erhalten?«

»Ach, die Engländer. Die werden für Polen keinen Finger rühren. Der Westen faselt von Menschenrechten und Freiheit, aber in Wirklichkeit haben sie nur Angst davor, dass die Roten drankommen. Franco, Hitler und Mussolini können sich auf den Westen verlassen. Madrid war noch nicht gefallen, da hatten die Westmächte das Franco-Regime bereits anerkannt. Nein, der Westen wird uns nicht angreifen. Aber wir werden den Westen angreifen.« Harro streckt sich, er greift nach seiner Teetasse. »Ich bin im Grunde sehr optimistisch«, sagt er. »Natürlich nicht in dem Sinne, dass ich einem wirren Traum vom Glück nachhinge, das sicher nicht. Ich glaube nicht an einen guten oder friedlichen Ausgang der Dinge. Aber darum geht es auch nicht. Es geht um ein kämpferisches Leben, das man jederzeit bejahen kann.«

Harro klingt immer sehr frohgemut.

Wenn Harro guten Mutes ist, dann will auch Libs kein defätistischer Feigling sein. Ihr ist es manchmal, als sackte der Boden unter ihr weg.

Sie hat manchmal das Gefühl, als käme die Wirklichkeit ihr rasend entgegen, eine Lokomotive, die aus den Gleisen des Alltags gesprungen ist, in denen sie fahrplan- und vorschriftsmäßig dahinzugleiten hätte, während Libs hinter der sicheren Schranke steht. Aber was, wenn Libs in Wahrheit gänzlich ungeschützt ist? Was, wenn in Wirklichkeit nur ein paar dünne Jahre zwischen ihr und dem Alter, dem Tod, dem Verderben stehen? Was, wenn sie ihre Jugend verliert, ihre Reize, ihre Anziehungskraft, wenn ihr nie etwas Bleibendes gelingt, wenn sie Harro verliert, für immer, für immer?

Es ist freilich Unsinn, so etwas zu denken. Es vergeht auch gleich wieder. Es war sicher nur ein Anflug von Erkältung. Libs nimmt ein schönes heißes Bad. Sie fährt nach Liebenberg zum Reiten. Libs fährt mit der Mutter an den Rhein, mit Harro und den Schumachers in den Spreewald. Sie lädt Gäste ein, sie kocht ihnen Tee, sie hat eine Flasche Rum aufgetrieben. Libs packt ihr Schifferklavier, stellt das Bein auf den Stuhl und singt. Sie singt das Lied vom Räuberhauptmann und seinem Mädel,

Nimm diesen Ring, und sollte jemand fragen,

So sollst du sagen, ein Räuber habe ihn getragen,

Der dich geliebt bei Tag und bei der Nacht.

Harro lächelt. Er hört ihr zu. Er singt leise mit, die letzte Strophe,

Und auf dem Berge, da sah man Schwerter blitzen,

und an der Spitze den Räuberhauptmann sitzen.

Doch eine Kugel traf ihn in das Herz.

Sechs stolze Reiter, die trugen seine Leiche,

und legten ihn wohl unter eine Eiche

Dietrich Bonhoeffer hat Deutschland verlassen. Er ist in Amerika. Er ist emigriert. Es ist der 15. Juni 1939. Dietrich ist seit einer guten Woche hier. Er hat sich den Entschluss nicht leichtgemacht. Er hat mit Bischof Bell in England gesprochen, auch mit Willem Adolf Visser ’t Hooft, dem neuen Generalsekretär des Vorläufigen Weltrats der ökumenischen Kirche. Beide haben ihm zugeredet zu gehen. Denn was soll Dietrich tun, wenn er zum Kriegsdienst einberufen wird?

Er ist unter keinen Umständen bereit, für Hitler in den Krieg zu ziehen und den Treueeid der Soldaten zu leisten. Mit dieser Haltung steht er allein. Tatsächlich ist man in den Bruderräten allgemein der Ansicht, auch ein Pfarrer hätte die Pflicht, für sein Vaterland zu kämpfen, wenn er eingezogen wird. Dennoch hat Dietrich die Abreise so lange hinausgeschoben, dass es fast zu spät gewesen wäre.

Reinhold Niebuhr und Paul Lehmann haben Dietrich auf ein Gastsemester in die USA eingeladen. Dietrich hat ein Urlaubsgesuch eingereicht, aber noch bevor das Wehrmeldeamt darüber entschieden hatte, kam der Befehl zur Musterung. Ohne die Fürsprache seines Vaters hätte man Dietrich wohl schwerlich eine Unbedenklichkeitsbescheinigung ausgestellt.

Aber es ist alles gut ausgegangen. Dietrich ist in New York. Die Bescheinigung gilt für ein Jahr. Dietrich hat ein Jahr Zeit, um mit sich zu Rate zu gehen. Aber er wird natürlich hierbleiben. Er wird auch nach Ablauf dieses Jahres nicht zurückkehren, er müsste ja verrückt sein. Dietrich ist nun in Sicherheit.

Er ist außerdem sehr nett empfangen worden. Paul Tillich und Reinhold Niebuhr haben ihn am Hafen in New York abgeholt. Sie haben ihn in seinem alten kleinen Zimmer im New Yorker Union Seminary untergebracht, in demselben, das er 1930 bei seinem Studienaufenthalt bewohnt hat. Sie haben auch Einladungen zu Vorlesungen und Vorträgen für ihn eingefädelt.

Dietrich hat nun alles, was sich ein Flüchtling oder ein Emigrant nur wünschen kann: Wirkungsmöglichkeiten, ein Einkommen, Freunde, ein Zuhause. Man duldet ihn nicht nur, man freut sich über seine Ankunft. Man ist erleichtert und glücklich, ihn hier zu wissen. Und natürlich geht man davon aus, dass er bleibt, solange das Reich der Finsternis währt. Das Problem ist, dass Dietrich nicht recht begreifen kann, warum er eigentlich hier ist.

Dietrich ist in Amerika nicht nötig. Er ist überflüssig. Er ist vollkommen ersetzbar: Alles, was er hier tut, könnte von anderen getan werden. Paulus Tillich hat abgewunken, als ihm Dietrich seine Bedenken mitgeteilt hat.

»Das ist doch Unsinn. Natürlich werden Sie hier gebraucht, genau Sie. Man wird Ihnen anbieten, die Betreuung der Emigranten in New York zu übernehmen, im Auftrag des Amerikanischen Komitees für christliche deutsche Flüchtlinge. Das ist doch eine Aufgabe von Belang.«

Ohne Zweifel. Aber wenn Dietrich Emigranten betreut, Feinde der Nationalsozialisten, ist ihm der Rückweg endgültig versperrt. Das ist ein unerträglicher Gedanke. Dietrich quält sich seit Tagen. Das Heimweh quält ihn, das bitterste, bitterböseste Heimweh. Er versteht es nicht. Er ist so oft im Ausland gewesen, und er hat niemals Heimweh gehabt. Er muss sich einfach am Riemen reißen. Er muss sich damit abfinden, dass er jetzt hier ist. Sicher geht es den meisten Emigranten nicht anders als ihm. Und die Freunde haben so viel für ihn getan. Er möchte keinesfalls undankbar erscheinen. Aber Deutschland fehlt ihm. Die Brüder fehlen ihm, die Arbeit.

Arbeitet er hier etwa nicht?

Jedenfalls tut er etwas. Warum es nicht Arbeit nennen? Er hat seit drei Tagen keine Post mehr erhalten. Ein Tag ohne Post ist ein toter Tag. Ein Tag ohne Nachricht von daheim ist ein Tag, den Dietrich nicht gelebt hat, und nun sind es bereits drei Tage. Hat man ihn schon vergessen? Ist er für die anderen tot? Dietrich ist lebendig begraben. Diese große Stadt New York, dieses weite Land Amerika ist eine Gefängniszelle, in die er eingekerkert ist. Und je länger dieser fürchterliche Zustand dauert, desto entschiedener sträubt er sich dagegen, dies als nunmehr geltenden Normalzustand zu akzeptieren. Jeder neue Tag kommt, jeder Tag vergeht. Die Zeit hat ein ungeheures Gewicht. Jeder Moment hat Gewicht. Jeder Moment dröhnt, wie ein Bronzegong. Gestern hat er in der Bibel geblättert, auf der Suche nach einem Losungswort. Er hat auch eines gefunden. Er hat Jesaia 28, 16 aufgeschlagen,

Wer glaubt, flieht nicht.

Und aus welchen Tiefen entspringt der Impuls zu handeln, so und nicht anders zu handeln? In welche Fundamente ist der Pfeil gesetzt, der einem Menschen die Marschrichtung vorgibt, der ihm den Weg weist, von dem er nicht abweichen kann, ohne zu verzweifeln? Das schreibt Dietrich in sein Tagebuch. Er bildet sich nicht ein, die Antwort zu wissen. Er weiß gar nichts, nur dass er fort muss. Er kann seinen Helfern nicht erklären, welche Motive ihn treiben, er kann es sich selbst nicht erklären. Natürlich ist man ein wenig verstimmt. Man hat sich mit diesem Flüchtling alle nur erdenkliche Mühe gegeben, und nun ist Dietrich entschlossen, am Vorabend des heraufziehenden Krieges wieder nach Deutschland zurückzukehren,

Wenn du mal nicht weißt, was du tun musst, dann tu das, was dir schwerer wird, es ist meist das Richtige.

Das hat Dietrichs Lehrer Adolf von Harnack gelegentlich behauptet. Aber das ist Unsinn. Das Falsche zu tun ist nicht das Leichtere. Das Falsche zu tun ist unendlich schwer. Und welche Qual müsste es erst sein, das Falsche gewählt zu haben und dann ein Leben lang gewaltsam das Wissen darum unterdrücken, in jeder Lebensminute das schrille Gepfeife von Schuld und Versagen ersticken zu müssen? Welche Gewaltanwendung wäre das gegen das eigene Herz und Ohr, welche Selbstvernichtung, fast schon ein Selbstmord. Es wäre Selbstmord.

Das Falsche zu tun ist ein Akt gegen das eigene Leben, der in der Richtung des Selbstmords liegt. Das weiß Dietrich jetzt.

Paul Tillich geleitet Dietrich Bonhoeffer aufs Schiff. Tillich ist betrübt, er ist schweigsam. Dietrich ist ruhig. Er ist federleicht. Er verlässt Amerika. Er fährt heim.Dietrich, warum bist du zurückgekehrt? Warum bist du nicht in Amerika geblieben?

Er ist in England, in Sydenham, wo er Station bei seiner Schwester Sabine und ihrer Familie gemacht hat. Der Aufenthalt geht dem Ende entgegen: In zwei Stunden wird Dietrich nach Deutschland abreisen.

Warum bleibst du nicht auf meiner Seite der Welt? Warum bist du nicht in Amerika geblieben, wo ich dich auch in einem Krieg immer hätte erreichen können? Warum bist du nicht dortgeblieben als unser Wegbereiter, für den Fall, dass die Deutschen England erobern?

Es hat aber keinen Sinn, diese Fragen zu stellen. Sabine Leibholz hat sie für sich behalten. Ihr Bruder hat seine Entscheidung getroffen, also gibt es nichts mehr zu der Sache zu sagen. Dietrich steht mitten im Zimmer. Er hat ihr zum Abschied ein Geschenk gemacht: eine prächtige indische Samtdecke von einem Londoner Flohmarkt, als Tagesüberwurf für ihr Bett, damit sie in der elenden Welt möblierter Zimmer etwas Schönes ihr Eigen nennen kann. Er hat alle seine Kleidungsstücke auf dieser Decke ausgebreitet: Er will sie hierlassen, für Gert. Sabine weiß nicht, ob sie lachen oder weinen soll.

»Aber Dietrich. Du wirst doch auch in Deutschland Hosen brauchen.«

»Dann kaufe ich mir eben welche. Gert hat die Sachen nötiger. Wer weiß, wann er wieder arbeiten kann. Außerdem ist es auch eine Befreiung für mich. Es ist wundervoll, leicht zu reisen.«

Dietrich lacht. Das Fenster steht offen. Von unten klingen die Stimmen der Mädchen herauf, die auf dem englischen Rasen der Pension von Miss Sharp spielen. Der Garten hängt noch immer voller Rosen.

»Ich bin so froh«, sagt Dietrich. »Denk nur, wenn der Krieg schon ausgebrochen wäre, hätte ich es vielleicht gar nicht mehr nach Hause geschafft. Das wäre furchtbar gewesen.«

»Aber was wirst du nun tun? Was tust du, wenn es zum Krieg kommt?«

»Ich werde sehen. Vielleicht eröffnen sich Möglichkeiten im Sanitätsdienst. Ich werde jedenfalls nicht für Hitler kämpfen. Ich bin kein Pazifist, aber auf der falschen Seite zu kämpfen ist nicht erlaubt.«

Sabine sieht ihn an, ihren Zwillingsbruder, diesen großen, breiten, vitalen Mann. Er sieht vollkommen anders aus als sie selbst, die dunkle, schmale Sabine. Aber wenn sie ihn ansieht, ist es ihr, als sähe sie sich selbst, ihr eigenes Spiegelbild.

»Und wirst du es auch nicht bereuen, Dietrich?«

»Ich darf es nicht bereuen. Sieh mal, wenn ich mich jetzt gedrückt hätte, dann hätte ich mir doch später niemals mehr anmaßen können, an der Wiederherstellung christlichen Lebens mitzuarbeiten.«

Jetzt weint sie. Er ergreift ihre Hände.

»Nicht weinen«, sagt er. »Das musst du nicht. Ich bin wirklich vollkommen heiter. Du musst auch heiter bleiben und Gott vertrauen. Du darfst die Hoffnung nicht verlieren.«

Sie hebt den Kopf.

»Aber worauf hoffst du?«, sagt sie. »Wofür wirst du beten, Dietrich?«

»Für die Niederlage Deutschlands natürlich. Ich werde von nun an täglich für den Sieg der christlichen Zivilisation beten, um den Preis der Zerstörung unserer Heimat. Und siehst du, gerade deswegen muss ich ja zurückkehren. Diese fürchterliche Bitte dürfte ich doch niemals aussprechen, wenn ich in Sicherheit in Amerika geblieben wäre.«

2

»Man muss den Krieg nehmen wie ein Gewitter.«

»So sehe ich es auch. Ein Gewitter, das die Luft klären wird.«

»Nächstes Jahr im Herbst ist der Spuk vorbei.«

»Das Tausendjährige Reich wird deutlich kürzer als geplant.«

»Noch fünf Minuten! In fünf Minuten ist es so weit.«

»Das ist Quatsch. So leicht wird es auch wieder nicht. It’s a long way to Tipperary, das sage ich euch.«

It’s a long way to Tipperary

It’s a long way to go –

Harro hat ihnen vorhin das Lied beigebracht. Seitdem ist es immer wieder angestimmt worden, unabhängig davon, welche Platte gerade auf dem Grammophon lag,

It’s a long way to Tipperary

To the sweetest girl I know –

»Noch vier Minuten!«

Es ist der Abend des 1. September. Heute Morgen hat der Krieg gegen Polen begonnen. Und um Mitternacht wird Harro dreißig, ebenso der Gastgeber Herbert Engelsing, Herstellungsleiter bei der TOBIS-Filmgesellschaft.

»Noch drei Minuten!«

Viele Gäste drängen sich in der großen Wohnung der Engelsings draußen im Grunewald. Das Wohnzimmer ist zum Tanzen leergeräumt. Im Esszimmer ist ein Büfett aufgebaut. Die Sektgläser stehen gefüllt bereit.

»Die Kriegsursachen sind doch nicht irgendwelche Staatsmänner. Wenn Idioten an der Spitze stehen, ist das doch kein Zufall.«

»Jetzt bricht zusammen, was zusammenbrechen muss. Die Nazis werden hinweggefegt. Frankreich und England werden nicht länger zusehen – «

Goodbye Piccadilly,

Farewell Leicester Square!

It’s a long long way to Tipperary –

»Ganz Europa wird hinweggefegt werden, das sage ich euch. Der britische Imperialismus wird zusammenbrechen, und damit ist auch die Vorherrschaft Europas und der weißen Rasse zu Ende. Die europäische Lebensordnung wird hinweggefegt, oder das, was noch davon übrig ist.«

»Noch zwei Minuten!«

»Das Kolonialsystem wird zusammenbrechen, der Monopolkapitalismus, der diesen Krieg wollte. Danach wird man eine freie Gesellschaft schaffen. Eine Gesellschaft, die nicht auf Ausbeutung beruht.«

»In einer Minute! Achtung!«

»Dieser Krieg wird das alte Europa unter sich begraben.«

Bis jetzt ist Tanzmusik gespielt worden. Jetzt nimmt jemand den Plattenarm vom Grammophonteller. Jemand hält eine Uhr hoch, beginnt zu zählen wie an Silvester.

»Neun – acht – sieben – sechs – «

Alles hat sich erhoben. Alles umdrängt Harro und den Gastgeber. Die letzten Gläser werden hastig verteilt.

»Drei!«

»Zwei!«

»Hoch!«

Libertas fliegt Harro um den Hals. Ingeborg Engelsing umarmt ihren Mann,

Hoch soll’n sie leben!

Hoch soll’n sie leben!

Die Gefeierten werden umdrängt wie Helden. Gläser klingen, Augen leuchten, dann stimmt jemand die »Marseillaise« an. Die ersten zwei Zeilen: Weiter kommen sie nicht.

»Libs!«

»Wo ist Libs!«

Libs ist die Rettung. Sie ist diejenige, die den Text kennt. Libs ist immer die, die alle Texte kennt.

Contre nous de la tyrannie,

L’étendard sanglant est levé –

Jemand schiebt die Gläser beiseite. Harro und Herbert heben Libertas hoch, auf den Tisch.

Aux armes, citoyens!

»Alle mitsingen! Los, alle mitsingen!«

Sie beginnen von vorn. Noch einmal. Und noch einmal. Jetzt können es die meisten,

Allons enfants de la Patrie,

Le jour de gloire est ARRIVÉ!

Ingeborg Engelsing fasst ihren Mann am Arm.

»Herbert? Ich fürchte, man kann uns draußen hören. Ich fürchte, wir holen uns die Polizei auf den Hals. Ich gehe mal eben hinaus auf die Straße.«

Es ist eine milde Nacht. Die schweren Samtvorhänge vor den Fenstern dämpfen offenbar die Geräusche: Im Vorgarten hört man zwar noch schwach die Stimmen, aber ohne einzelne Worte zu verstehen. Ingeborg Engelsing tritt durch die Gartentür auf die Straße hinaus. Hier ist gar nichts mehr zu hören. Ingeborg geht am Haus entlang, biegt dann in die Seitenstraße ein, die an der Längsseite des Gartens hinunterführt, es ist sehr still. Ist der Gesang verstummt? Es ist sehr dunkel: Aus den Fenstern der Grunewaldvillen fällt kein Lichtstrahl. Ingeborg bleibt stehen.

Deutschland ist im Krieg. Die Leuchtreklamen sind abgeschaltet. Still breitet sich die erloschene Stadt unter dem klaren Nachthimmel hin. Man kann die Sterne sehen, am Himmel über Berlin. Klar, feierlich, kalt. Sehr, sehr weit weg. Ingeborg Engelsing versucht, nicht zu weinen.

Elisabeth Schumacher ist in Meiningen, bei der ungeliebten Verwandtschaft. Sie ist bei den Eckolds, der Nazi-Familie der Mutter. Es gibt Brot. Es gibt Schmalz, Gurken, Wurst. Es gibt genug zu essen, trotz der neu ausgegebenen Lebensmittelkarten. Hier auf dem Land wird es immer genug zu essen geben. Aber natürlich müssen die Karten sein.

Das sagt Elisabeths Tante. Es geht ja nicht, dass die, die morgens schon kommen, den anderen alles wegkaufen können. Die Karten müssen sein, der Krieg muss sein. Niemand hier ist vom Krieg begeistert. Aber der Einmarsch in Polen war unvermeidlich. Das müssen doch auch die Engländer einsehen. Die Krise um Danzig hatte sich unerträglich zugespitzt, was hätte der Führer denn tun sollen? Die Polen haben eineinhalb Millionen Menschen unter Waffen genommen und an die Grenze geschafft. Wer behauptet, die deutsche Führung hätte gezielt auf den Krieg mit Polen hingearbeitet, der ist ein Verräter und ein Lump: So geht es den ganzen Tag. Die Tanten haben Angst. Einmal mehr hat sich die ganze Welt gegen Deutschland verschworen. Frankreich und Großbritannien haben dem Reich den Krieg erklärt, Australien, Indien, Neuseeland, Kanada und Südafrika.

»Was hat die Welt denn nur gegen uns? Was hat man im Ausland nur gegen das arme Deutschland?«

Hilde sitzt mit der Mutter und deren Lebensgefährten Erwin beim Abendessen am Küchentisch, als ein langgezogenes Heulen den Raum erfüllt. Sirenen. Sie starren einander an. Dann springt Erwin auf.

»Fliegeralarm! Das ist Fliegeralarm. Feindliche Flugzeuge sind im Anflug auf Berlin.«

Er stürzt zum Fenster und reißt es auf. Das Geheul schwillt an. Draußen vor dem Fenster liegt die Straße. Der Himmel über Berlin ist leer.

»Wir müssen in den Keller«, sagt Erwin.

»In den Keller?«, sagt die Mutter. »Aber Erwin. Das ist doch lächerlich.«

»Wir müssen in den Keller«, sagt Erwin. »Es ist verboten, bei Luftalarm in der Wohnung zu bleiben.«

»Das ist doch Unsinn. Das kann man nicht verlangen. Ich bin ein kranker Mensch. Im Keller würde ich mir den Tod holen.«

»Wo ist überhaupt die Luftschutztasche?«, sagt Erwin.

»Was?«

»Die Luftschutztasche. Sag nicht, ihr Frauen habt keine Luftschutztasche gepackt.«

Erwins Entrüstung ist echt. Die Mutter ist verschreckt. Was hat der Feind überhaupt in Berlin verloren? Der Feind gehört nicht nach Berlin. Er gehört dorthin, wo die deutschen Soldaten sind: an die Front.

»Gut«, sagt die Mutter. »Dann gehen wir eben in den Keller. Es ist natürlich lächerlich. Du wirst sehen, wir werden dort ganz allein sein.«

Aber sie irrt. Der Keller ist voll. Alle hocken sie da, komplett mit Gasmasken. Gleich vorn an der Tür steht Bauer, der Luftschutzwart.

»Na, Frau Rake. Da sind Sie ja endlich. Wo ist denn Ihr Luftschutzgepäck?«

»Schaut mal! Ein Flieger!«

Der kleine Walter aus dem dritten Stock steht am Kellerfenster. Das Kellerfenster liegt oberirdisch. Es ist offen, schließlich riecht es muffig hier unten. Erwin tritt neben Walter. Es stimmt. Hoch oben am Himmel schwebt jetzt ein einsames Flugzeug. Es blitzt einmal auf, in der Abendsonne, dann dreht es ab.

»Ist das der Feind?«, sagt der kleine Walter.

»Nee«, sagt Erwin. »Glaube ich nicht.«

Bauer steht jetzt auch dabei.

»Bestimmt ist das einer von unseren«, sagt er. »Sonst würde unsere Flak doch schießen.«

Wieder heulen die Sirenen auf. Es ist aber ein anderer Ton.

»Und jetzt? Was ist das jetzt?«

»Gar nichts. Entwarnung.«

Der Spätherbstwind rührt die See auf wie ein Schneebesen. Regen fällt, in langen grauen Schnüren, dann wieder gibt es Tage voll eines wechselnden unsicheren Sonnenscheins, wo es an den geschützten Stellen unten an der Seepromenade so warm wird, dass sich die Leibholzens auf eine der Bänke setzen können. Sie sind aus London weggezogen. Sie wohnen nun im Süden Englands, am Meer, in einem kleinen Ort namens St. Leonards-Hastings.

Sabine hat inzwischen sehr viel gelernt. Sie weiß nun, dass man Engländer nicht gleich zu Anfang einer Bekanntschaft nach ihrem Beruf fragen darf, dass Engländerinnen nicht lobend