Wer wir sind - Sabine Friedrich - E-Book

Wer wir sind E-Book

Sabine Friedrich

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Beschreibung

Der vollständige Roman als eBook Rote Kapelle, kommunistische Gruppen, Weiße Rose, Kreisauer Kreis, 20. Juli: Dieser Roman vereint sie miteinander, die Frauen und Männer, die sich dem Nationalsozialismus widersetzten. Er erzählt von ihrem Sterben, vor allem aber von ihrem Leben. Dabei entrollt sich vor dem Leser ein gewaltiges Panorama. Von der sechsjährigen Entstehungsgeschichte des Romans 'Wer wir sind' erzählt die Autorin in ihrem 'Werkstattbericht'. Der 'Werkstattbericht' und der Roman in fünf Teilen sind ebenfalls als eBook erhältlich.   

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Rote Kapelle, kommunistische Gruppen, Weiße Rose, Kreisauer Kreis, 20. Juli: Dieser Roman vereint sie miteinander, die Frauen und Männer, die sich dem Nationalsozialismus widersetzten. Er erzählt von ihrem Sterben, vor allem aber von ihrem Leben. Dabei entrollt sich vor dem Leser ein gewaltiges Panorama.

Der »Werkstattbericht« und der Roman in fünf Teilen sind ebenfalls als eBook erhältlich.

ERSTES BUCH

ERSTER TEIL

1

Was folgt auf das Ende, was liegt vor dem Anfang? Das Korn ist eingebracht, die Felder sind leer. Der Nachmittag ist farbensatt, warm wie das Fell eines Hundes, der in der Sonne schläft. An Silberfäden segeln winzige Spinnen durch die Stille, sichtbar-unsichtbar, schwebend in den Aufwinden der Thermik. Der Garten liegt im Rausch von Goldmohn, Dahlien, Zinnien, Sonnenblumen, die den kommenden Winter nicht überstehen werden. Ist hier jemand? Hat jemand gerufen? Die Zeit kräuselt sich.

Die Zeit strudelt in Wirbeln, und die Geschichte entfaltet sich, sie rollt sich auf wie ein Farnblatt, verzweigt sich, sie teilt sich in Stränge, die sich umeinander winden und zu Spiralen, Wendeln, Spindeln verschlingen, bis der Anfang wieder mit dem Ende verschmilzt, das nichts ist als ein weiterer Anfang: ein warmer goldener Indian-Summer-Nachmittag 1917 in Milwaukee, der deutschesten Stadt Amerikas.

Amerika und Deutschland befinden sich miteinander im Krieg. Das deutschsprachige Pabst-Theater ist geschlossen. Die deutschsprachigen Zeitungen und Magazine, die in den Cafés auszuliegen pflegten, haben das Erscheinen eingestellt. Sauerkraut heißt neuerdings Freiheitskohl. Bismarckrolle heißt Schöne Amerikanerin. Das Goethe-Standbild steht noch im Stadtpark, aber die Germania ist vom Brumder Newspaper Building entfernt worden. Mildred Fish und ihre Freundin Grace Carlsruh sitzen auf einer Bank hinter dem Carlsruh-Haus im Garten.

Mildred hat keine deutschen Vorfahren, im Gegensatz zu Grace und vielen anderen an der West Side High School. Sie hat trotzdem am Deutschunterricht teilgenommen. Aber damit ist es vorbei. Die Schülerinnen der West Side High rollen Verbände, stopfen Strümpfe und errichten Fahnenstangen im Schulhof. Und Mildreds Gedicht ›Our Boys‹ über die kämpfende Truppe wird nächste Woche in der Schülerzeitung ›Comet‹ erscheinen:

Perhaps a nobler life is theirs in death.

How little of the debt we can repay –

Das hat Mildred geschrieben. Mildred schreibt sehr talentiert, das sagen alle. Für ihre Geschichte über wahre christliche Liebe in Kriegszeiten hat sie letztes Jahr sogar einen Preis gewonnen, eine Kodak-Kamera im Wert von acht Dollar, Mildred weiß genau, was christliche Liebe ist. Ihre Mutter ist eine Anhängerin der Christlichen Wissenschaft. Sie hat Mildred beigebracht, dass das Böse in Wahrheit gar nicht existiert. Leid und Kummer, Schmerz und Verzweiflung, Krankheit und Tod sind nichts als Trugbilder. Wirklich ist allein die Liebe, die stark ist wie der Tod.

Mildred selbst ist keine Anhängerin der Christlichen Wissenschaft. Aber sie glaubt an die Macht der Liebe. Sie glaubt an die Einheit von Gott, Natur und Mensch. Alles ist heilig. Alles ist vom Wesen des Göttlichen durchdrungen: Das glaubt Mildred ganz fest. Sie und Grace Carlsruh reden eine Menge über solche Themen. Im Moment reden sie aber über Miss Simmons, ihre Englischlehrerin.

»Sie ist ein Trampeltier«, sagt Grace zu Mildred. »Und sie ist humorlos. Sie hat Betty eine Strafarbeit aufgegeben, nur weil Betty im Unterricht gelacht hat.«

»Sie ist vor allem geistlos«, sagt Mildred. »Was sie über Dichtung sagt, ist niemals tief empfunden oder eigenwillig gedacht. Es ist immer nur ein ganz mechanisches Gerede.« Mildred überlegt. Dann weiß sie es.

»Es ist ein Dröhnen wie von einem Staubsauger. Und man selbst ist der abgewetzte Teppich, dem sie die letzten Fäden eigener Gedanken herauszieht.«

Mildred lächelt, weil Grace lacht. Sie sitzen im Schatten nebeneinander und trinken Limonade. Die Limonade hat ihnen Mrs. Carlsruhs irisches Mädchen gemacht. Die Carlsruhs haben ein Mädchen. Bei den Fishs wäre man froh, wenn man Limonade hätte. Man wäre froh, wenn man jeden Abend satt ins Bett gehen könnte, schuld an der Misere ist Mildreds Vater.

Der Vater ist ein Versager, der nur an seine Pferde und an den Whisky denkt. Die Mutter hat ihn längst aus dem Haus geworfen. Sie schultert die ganze Last allein. Sie verdient sehr wenig, mit ihrer Arbeit. Sie geht aber aufrecht. Sie ist schmal, überarbeitet und zäh, aber sie hält den Kopf hoch, auch wenn sie für fremde Leute putzt, um ihre vier Töchter durchzubringen.

Die Älteste, Harriette, ist inzwischen verheiratet. Mildred ist die Jüngste. Sie wird studieren. Sie wird schreiben, so wie die Journalistin und Literaturkritikerin Margaret Fuller aus dem Kreis der neuenglischen Transzendentalisten um Ralph Waldo Emerson und Henry David Thoreau. Ganz sicher bedeutet es doch etwas, dass Mildred Fish dieselben Initialen hat wie Margaret Fuller?

Margaret hat für Horace Greeleys ›New York Tribune‹ über Kunst, Kultur und Literatur geschrieben, und 1846 ist sie nach Europa gereist, als erste weibliche Auslandskorrespondentin einer amerikanischen Zeitung. Es war alles sehr abenteuerlich und romantisch. Denn in Italien hat Margaret sich in den jungen italienischen Revolutionär Marchese Giovanni Angelo d’Ossoli verliebt. Sie hat Seite an Seite mit ihm für die Republik gekämpft, und er hat eisern zu ihr gestanden, auch als sie schwanger wurde und seine Familie drohte, ihn zu enterben. Nachdem die italienische Revolution gescheitert war, war er sogar bereit, mit Margaret und dem Kind nach Amerika auszuwandern.

Im Mai 1850 traten sie die Reise an. Aber an Bord des Schiffs brachen die Pocken aus. Der Kapitän erlag der furchtbaren Krankheit, und als vor Fire Island ein Sturm aufkam, lief das führerlose Schiff auf Grund.

Margaret, der Marchese und ihr kleiner Sohn ertranken, in Sichtweite der amerikanischen Küste. Tagelang wanderte der Philosoph Henry David Thoreau am Strand zwischen den angespülten Trümmern umher, auf der Suche nach Margarets Manuskript über die italienische Revolution. Er fuhr sogar mit einem Boot an den Ort des Unglücks und versuchte, auf das Wrack zu gelangen. Vergebens. Margarets letztes Werk hat die See behalten, ebenso wie ihre sterblichen Überreste.

»Mir ist langweilig«, sagt Grace.

Sie stellt ihr leeres Limonadenglas auf den Boden neben die Bank im Carlsruh-Garten. Sie gähnt, sie streckt sich.

»Wollen wir Rollschuh fahren?«

»Gern«, sagt Mildred. »Ich habe meine Rollschuhe vorn am Tor liegen lassen.«

Die Mädchen gehen miteinander über den Rasen. Sie sind fünfzehn Jahre alt. Sie gehen Arm in Arm, sie lachen. Sie spielen ein Spiel, einem alten Kinderreim folgend,

Two little hands go clap, clap, clap,

Two little feet go tap, tap, tap.

Sie werden für immer zusammenbleiben, das haben sie einander versprochen. Sie werden niemals heiraten, sondern zusammen in einem kleinen Haus an einem grünen Flussufer leben, mit Katzen und Kanarienvögeln und englischen Rosen im Garten. Tagsüber werden sie dichten und singen. Und abends werden sie ihre Freunde empfangen: Dichter, Philosophen und Künstler, die wie Mildred und Grace nach dem Edlen, Echten, Einfachen streben, es wird sein wie am Hofe von König Artus. Mildred weiß nur noch nicht, ob sie Guinevere oder Galahad sein wird. Und gleich werden sie das Tor erreicht haben.

Sie werden auf die Straße hinaustreten. Sie werden ihre Rollschuhe anschnallen, und dann geht die Fahrt los. Dann geht es den Hügel hinunter, auf die Küste zu, schnell und schneller unter Rufen und Gelächter denen entgegen, die in der Ferne auf sie warten,

Two little legs kick high, high, high,

Two little arms wave bye, bye, bye.

Arvid Harnack ist in Berlin, zu Besuch bei Tante Amalie und Onkel Adolf. Adolf von Harnack ist 1914 für seine Verdienste vom Kaiser geadelt worden. Es war dasselbe Jahr, in dem Arvids Vater gestorben ist. Am 27. Februar ist Otto Harnack aus dem Haus gegangen und nicht mehr wiedergekommen. Erst nach mehr als drei Wochen hat man ihn gefunden, im Schilf am Flussufer strudelnd, der schwere Körper leicht im eisigen Schmelzwasser des Neckar. Während der Wochen des Wartens hat seine Frau Clara jeden Tag daran denken müssen, dass sie am Sonntag davor nicht mit ihm in die Mozartmatinee gegangen ist.

Sie war mit einem Modell verabredet, in ihrem schönen stillen Atelier, weitab der Kinder, der Familie, des alltäglichen Lärms, geborgen zwischen Farbtuben und Pinseln, im sauberen Geruch von Leinöl und Terpentin. Sie freute sich sehnsüchtig auf diesen Termin. Otto war natürlich voller Verständnis. Er war immer voller Verständnis, wenn jemand der Welt entfliehen wollte.

»Geh du nur malen«, hat er gesagt. »Geh du ruhig malen, wenn du es so gern möchtest.«

Dann ging er ins Konzert, allein. Und Clara hat ihn gehen lassen. Aber hätte sie ihn zurückhalten können? War ihr ein Mittel gegeben, um ihn zu retten, den Literaturprofessor und Goethe-Forscher Otto Harnack? Clara glaubt es nicht. Die tiefe, schauervolle Nacht hatte ihn überkommen. Das schäumende Meer hat ihn mit sich fortgerissen. Und natürlich ist er nicht absichtlich an jenes Ufer, an genau jene Stelle gegangen, an der er nicht mehr weiterkonnte. Aber einmal dort angelangt, sah er keine Möglichkeit mehr. Es gab kein Boot, keine Brücke, keinen Fährmann, mit dem er zu neuen, helleren Ufern hätte übersetzen können. Clara denkt, dass er am Ende vielleicht ganz heiter war. Er war vielleicht erleichtert, es hinter sich zu haben. Nun muss Clara Harnack ihre vier Kinder eben allein durch diesen Krieg hindurchretten.

Aber nicht ganz allein. Schließlich ist noch die Familie da. Onkel Adolf und Tante Amalie empfinden die familiäre Verantwortung. Sie bewohnen eine große Villa im Berliner Professorenviertel in Grunewald. Sie haben Platz: Ihre Kinder sind alle schon erwachsen und aus dem Haus. Onkel und Tante sind gern bereit, von Zeit zu Zeit die Sprösslinge ihrer Schwägerin zu sich zu nehmen, diesmal ist Arvid allerdings ohne seine Geschwister nach Berlin gefahren.

Es ist eine außerturnusmäßige Reise. Arvid soll sich von einer Verletzung erholen. Man hat ihm sechs Glassplitter aus dem Auge operiert. Die Sache war leider nicht zu vermeiden. Ein Straßenbengel hatte einen kleineren Jungen mit einem Stock bedroht. Arvid hat eingegriffen, und bei der Rangelei ist seine Brille kaputtgegangen, das Unangenehmste waren wie immer Aufregung und Sorge der Mutter. Dabei hat Arvid sich bemüht, ihr den schlimmsten Schrecken zu ersparen. Er hat sich sein Taschentuch vors Auge gedrückt und ist ganz allein ins Krankenhaus marschiert, wo der Arzt die Splitter ohne Betäubung entfernt hat. Arvid ist nicht einmal angebunden worden. Er hat versprochen stillzuhalten, und das hat er auch getan. Er hat sich einfach die ganze Zeit über vorgestellt, er wäre ein Soldat im Krieg. Er hat sich vorgestellt, er wäre in vorderster Linie an der Front verletzt worden und läge nun da und würde operiert, es ist ein Junisonntag 1916.

Der Krieg geht ins dritte Jahr. In den Gärten der großen Grunewaldvillen wachsen Kartoffeln und Kohl. Zwerghühner scharren zwischen den Frühbeeten. Hähne krähen den Amseln und Drosseln in ihre Lieder hinein. Im Schuppen der Delbrücks haust eine Milchziege. Im Schuppen der Harnacks hausen Kaninchen. Im Zaun dazwischen ist eine Pforte, die von einem Grundstück zum anderen führt, so dass man jederzeit zwischen dem Delbrück-Haus und dem Harnack-Haus hin- und hergehen kann: Amalie von Harnack und Lina Delbrück sind Schwestern, und ihre Männer sind über das unter Schwägern übliche Maß hinaus miteinander befreundet. Heute hat man sich um die sonntägliche Mittagstafel der von Harnacks versammelt.

Im Moment plaudert man über Max Reinhardts Inszenierung der ›Räuber‹ an der Volksbühne, die Arvids Vettern Ernst und Axel gestern Abend gesehen haben. Ernst und seine junge Frau Änne sind zurzeit auf Besuch in Berlin. Ernst hat neunzehn Monate im Felde gestanden, dann ist er zusammengebrochen. Inzwischen haben die Kopfschmerzen nachgelassen, auch das Zittern und die Weinkrämpfe. Fronttauglich ist er aber nicht. Er ist zur deutschen Zivilverwaltung in Polen abkommandiert, Arvid vermeidet es, ihn darauf anzusprechen. Es ist dem Vetter doch sicher peinlich. Arvid selbst ist ärgerlicherweise erst fünfzehn und damit noch zu jung für den Krieg. Seine Mutter ist zum Frauenfriedenskongress der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit nach Den Haag gereist. Arvid stimmt ihr gern zu, dass Frieden viel besser wäre als Krieg. Aber er hofft doch, dass er noch mit dabei sein und für Deutschland kämpfen kann, bevor der Frieden ausbricht, auch wenn er auf dem dummen Auge vielleicht nie wieder richtig sehen wird.

»Wollen wir nachher Schlagball spielen, Arvid?«

Justus Delbrück sitzt Arvid gegenüber. Die Harnack-Vettern und -Basen sind alle erwachsen. Aber Just ist genauso alt wie Arvid. Mit Just, Emmi und Max Delbrück lässt sich etwas anfangen.

»Wollen wir Schlagball spielen oder lieber Boccia?«

»Schlagball zuerst. Boccia wird später sowieso gespielt, wenn Onkel Adolf in den Garten kommt.«

Das Rhabarberkompott ist serviert. Die Löffel klappern. Die Fenster sind geöffnet. Draußen rauschen die Bäume. Das Gespräch an der Tafel plätschert munter dahin, teilt sich in mehrere Läufe auf, in Bächlein, die sich durch Wiesen schlängeln und über Steine springen, bevor sie wieder in ein gemeinsames Bett zusammenfinden. Dann rücken die Schwäger ihre Stühle zurück: Der Theologe und Religionswissenschaftler Professor Adolf von Harnack und der Historiker und Herausgeber der ›Preußischen Jahrbücher‹ Professor Hans Delbrück haben ihren Nachtisch aufgegessen.

»Was ich noch anmerken wollte«, sagt Adolf von Harnack.

»Wenn ich dir kurz meine Ansicht der Lage«, sagt Hans Delbrück.

Das ist das Zeichen. Die Damen erheben sich, die Kinder springen auf. Die Herren entzünden Zigarren, während um sie herum eilig das Schlachtfeld geräumt wird.

»Man wundert sich doch über Admiral von Tirpitz’ Forderung nach dem uneingeschränkten U-Boot-Krieg«, sagt Hans Delbrück zu seinem Schwager. »Selbst wenn uns das den Sieg bringen würde, was ich nicht glaube, muss man sich fragen, was damit gewonnen wäre. Dauernder Friede wird doch nur möglich sein, wenn wir zeigen, dass Deutschland bereit ist, eine Macht unter anderen Mächten zu sein. Wenn wir jeden Anschein vermeiden, als befänden wir uns auf einem sozusagen napoleonischen Weg und strebten nach der Unterwerfung anderer Nationen.«

»Ich bin in diesem Punkt ausnahmsweise einmal ganz deiner Meinung«, sagt Adolf von Harnack. »Hast du meinen Artikel im ›Tag‹ gelesen? Ich bin darin Zedlitz entgegengetreten, der sich ebenfalls darüber ereifert, dass nicht alle zur Verfügung stehenden Machtmittel eingesetzt werden, um Deutschland zum Sieg zu verhelfen. Seiner Meinung nach gehen Entscheidungen auf der Grundlage humanitären Gedankenguts auf Kosten deutscher Interessen. Aber wie kann der äußerste Einsatz aller Kampfmittel jemals im Interesse Deutschlands liegen? Man muss doch wenigstens die diplomatischen und handelspolitischen Folgen abschätzen, wenn man schon sonst keine Maßstäbe mehr kennt. Ich hatte gestern ein längeres Gespräch mit dem Reichskanzler. Ich habe ihm zu bedenken gegeben, dass auch politische Entscheidungen letztlich der sittlichen Betrachtung unterworfen sind, dem Spruch des Gewissens. Natürlich gelten in der Politik andere ethische Regeln als im Privatleben. Aber auch einer Regierung wird am Ende nur vertraut werden, wenn sie sich an die Regeln der politischen Ethik hält.«

»So ist es«, sagt Hans Delbrück. Er streift die Asche seiner Zigarre ab und lässt den Blick aus dem Fenster schweifen. »Letztlich muss man sich fragen, ob unsere heutigen Entscheidungen auch noch von Nachkommen gebilligt werden können, die unsere beschränkten und kurzlebigen Interessen nicht teilen. Aber solch weiten Blick wird man von Tirpitz wohl nicht erwarten können.«

Der Krieg ist blöde, aber er ist nötig. Das hat Harro Schulze längst kapiert. Der Großneffe des Großadmirals Alfred von Tirpitz, ältester Sohn des Korvettenkapitäns Erich Edgar Schulze und seiner Frau Marie-Luise, geborene Boysen, vermisst seinen Papa sehr. Aber für das Vaterland, die Volksgemeinschaft, den Sieg muss man Opfer bringen. Und die Engländer muss man verachten, das weiß Harro auch. Die Engländer kennen keine höheren Werte. Sie sind ein Volk von Händlern. Ihnen geht es nur um Geld und Gewinn und um Mehrung ihrer Macht. Sie haben keinerlei echte Moral: Sie versuchen nur mit allen möglichen tückischen Tricks zu verhindern, dass die Deutschen auch mal drankommen und Kolonien in Asien oder Afrika haben, und die Franzosen sind auch nicht besser, Harro ist am Sedantag 1909 geboren, dem Jahrestag des entscheidenden Siegs über die Franzosen in der Schlacht von 1870. Die Mutter hat Harro erklärt, dass dieses Geburtsdatum ein Grund ist, stolz zu sein. Harro schreibt seinem Papa an die Front.

Ich freue mich, wenn ihr die Engländer wegjagt. Wann ist wohl der Krieg zu Ende? Wir hätten Dich Weihnachten so gern hier gehabt.

Harro ist letztes Jahr in die Vorschulklasse des Realgymnasiums Schmargendorf aufgenommen worden. Er konnte schon vorher ein bisschen lesen und schreiben, aber inzwischen klappt es richtig gut. Harro schreibt,

Lieber Papa,

ich habe Dich immer noch lieb. Ist der Krieg nicht bald zu Ende? Das Bild und den Spruch von Friedrich dem Großen habe ich bekommen, auch den Aufruf des Kaisers an Heer und Flotte. Ich habe ihn gerne gelesen. Gestern war wieder ein großer Ball, wir haben alle getanzt und etwas vorgeführt und danach noch Grießspeise gegessen. Wir dichten hier sehr viel. Ich habe keine Zeit mehr, viele Grüße von Deinem Sohn Harro

Dann ist der Krieg tatsächlich zu Ende. Harros Papa scheidet aus der Marine aus und kommt nach Hause. Harro freut sich natürlich, aber es wurmt ihn auch. Es ist doch irrsinnig ungerecht, dass ausgerechnet die perfiden Engländer den Krieg gewonnen haben, und auch noch die Franzosen, der Erbfeind. Der Kaiser hat sich ziemlich geräuschlos nach Doorn in den Niederlanden verkrümelt. Die Revolution hat die Monarchie hinweggefegt. Und die Deutsche Vaterlandspartei, die Onkel Alfred von Tirpitz, sein Schwiegersohn Ulrich von Hassell, Wolfgang Kapp und Alfred Hugenberg 1917 gegründet haben, hat sich aufgelöst. Während des Krieges hat die DVP in deutscher Standhaftigkeit und unerschütterlichem Glauben an den Sieg jedes schwächliche Nachgeben nach innen und außen aufs Schärfste verurteilt. Der Einigungsfrieden, den es unbedingt zu verhindern galt, ist auch tatsächlich nicht zustande gekommen. Stattdessen hat Deutschland nun eine atemberaubende Niederlage erlitten.

Und schuld daran sind die Sozialdemokraten! Schuld ist das internationale Judentum! Schuld sind die Novemberverbrecher! Das deutsche Heer war im Felde unbesiegt!

Zum Glück hat Onkel Alfred die aufrechten Deutschen schon wieder um sich gesammelt, in der Deutschnationalen Volkspartei.

Lasst die alten Fahnen wehen, deutschnational bringt Auferstehen!

Harro verbringt in den folgenden Jahren die Sommerferien bei den Hasselrots in Schweden, wo man das magere Kind ein bisschen aufpäppelt. Er besucht Tanzereien und spielt Theater, er segelt und schwimmt, er lernt Schwedisch, schließt Freundschaften und bastelt mit dem Sohn des Hauses an einer eigenen Zeitung,

Lenin von Läusen aufgegessen

Dempsey hat Kind totgetrampelt

Frankreich trauert: Poincaré verliert Nachtmütze

Sie lachen sich halb tot. Bengt muss ja im Rollstuhl sitzen, weil er Kinderlähmung gehabt hat. Aber rudern kann er, man muss ihn nur ins Boot heben. Und er spricht sehr gut Deutsch. Harro wird bald auch sehr gut Schwedisch sprechen.

Lenin äts upp av löss

Dempsey har trampat barn

Frankrike sörjer: Poincaré förlora sängfösare

Im Sommer 1922 kann Harro schon echte schwedische Zeitungen lesen. Da gibt es nun allerdings Nachrichten, die ihn elektrisieren.

Assassination

Tysklands utrikesminister Walther Rathenau mördad

Seine Gastfamilie lächelt ein wenig über Harros kindliche Aufregung. Aber sie kapieren eben nicht, dass sein Papa die Drahtzieher des Attentats alle persönlich kennt,

Hakenkreuz am Stahlhelm,

Schwarz-weiß-rotes Band,

Die Brigade Ehrhardt

Werden wir genannt!

Kapitän Hermann Ehrhardt ist ein alter Kamerad von Harros Papa. Seine Marinebrigade konnte das Kämpfen nach dem Krieg nicht einfach sein lassen. Entschlossen, weiterhin für das Vaterland zu wirken, knüppelte sie mit vollem Einsatz die Arbeiter- und Soldatenräte in Braunschweig nieder, half die Münchner Räterepublik zu beseitigen und die Aufstände der Polen in Oberschlesien niederzuschlagen. Und dann, zum Dank für all das, sollte Kapitän Ehrhardt sein Freikorps auflösen, nur weil der Vertrag von Versailles das verlangt.

Aber er hat den Teufel getan. Der Kapitän ist nach Berlin marschiert. Seine Brigade hat das Berliner Regierungsviertel besetzt, die Regierung verjagt und die Unruhen der Arbeiter im Norden der Stadt niedergeschlagen. Nun hätte eigentlich Kapp mit seinen Leuten loslegen müssen: Onkel Alfreds Parteifreund Wolfgang Kapp und seine Leute wollten doch schon die ganze Zeit putschen, nun sollten sie allmählich mal sehen, dass sie mit ihren Plänen beikämen.

Aber der Staatsstreich kam zu langsam in Gang. Die Zivilisten erwiesen sich als zu schlaff, die Vorbereitungen waren lausig. Die Arbeiter gingen in Generalstreik, die Ministerialbürokratie verweigerte den Putschisten den Gehorsam, und schließlich sah die Sicherheitspolizei ein, dass mit den neuen Leuten noch weniger Staat zu machen war als mit der alten Regierung. Kapp rannte davon, die Regierung kehrte zurück und setzte die Brigade Ehrhardt nicht etwa fest, sondern gegen die Märzaufstände in den Arbeitervierteln ein, die als Folge des Putschs ausgebrochen waren.

Danach war dann tatsächlich Schluss. Die Brigade wurde aufgelöst. Einige ihrer Mitglieder wurden in die reguläre Reichswehr eingegliedert. Ein paar kamen auf ostelbischen Gütern unter, als billige Arbeitskräfte und willkommene Schlägerreserve gegen aufmuckende Landarbeiter. Und aus dem Rest konstituierte sich die Organisation Consul, die erst den verhassten Erfüllungspolitiker Matthias Erzberger und dann Außenminister Walther Rathenau umgebracht hat.

Das offizielle Entsetzen über die Morde war ebenso groß wie die heimliche Freude der Arbeitgeberverbände und anderer staatstragender Kräfte.

»Papa, was ist ein Erfüllungspolitiker?«

Harro und der Vater sitzen daheim im Wohnzimmer.

»Einer, der brav ausführt, was die Sieger verlangen, bis Deutschland endgültig zugrunde geht.«

Und Kapitän Ehrhardts Organisation Consul erschießt solche Leute, auf offenem Feld. Harro ist beindruckt. Der Vater erklärt ihm den Unterschied zwischen guter und schlechter Gewalt: Schlechte Gewalt ist es, wenn die Tat selbstischen Zwecken dient. Gut und gerechtfertigt ist die Gewalt, wenn sie im Dienste höherer Ideale ausgeübt wird, weil man zum Beispiel das Vaterland retten muss.

Harro und der Vater sitzen im Wohnzimmer und debattieren. Die Mutter sieht in der Küche nach dem Rechten, das Baby Hartmut schreit, die kleine Helga wickelt ihre Puppen. Harro und der Vater diskutieren in männlicher Verbundenheit. Sie reden von Dingen, die die Mutter, die Schwester Helga, das Baby Hartmut niemals begreifen können. Sie erregen sich gemeinschaftlich über Professor Delbrück, die Franzosen, die Belgier, die Engländer, die Amerikaner, das Parteiensystem, die Republik, es ist wunderschön. Harro und der Vater reden von kämpferischen Dingen. Sie reden über die Köpfe der anderen Familienmitglieder hinweg, sie begeistern sich gemeinsam: Die Schulzes sind 1922 gerade noch rechtzeitig nach Duisburg umgezogen, um den Beginn des Ruhrkampfs zu erleben, alle Deutschen verbrüdern sich nun.

Alle politischen Konflikte, sozialen Unterschiede, Fragen der Klassenzugehörigkeit sind hinweggefegt. Telefon heißt ab sofort Fernsprecher, Trottoir Gehweg, automatisch selbsttätig, ein Kasino ist ein Werksgasthaus. Harro ist dreizehn, dann vierzehn. Die deutsche Welle, die alles Trennende wegspült, reißt ihn mit sich und trägt ihn empor. Er entwischt seiner Mutter, marschiert in einer Kundgebung mit und wird prompt verhaftet.

»Also, mein Sohn. Dann erkläre mir mal, warum du deine Mutter so in Angst und Sorge versetzt hast.«

Aber der Vater kann seinen Stolz nicht verhehlen. Der Korvettenkapitän Erich Edgar Schulze, Neffe des Großadmirals Alfred von Tirpitz: Er kann es beim besten Willen nicht tadelnswert finden, dass sein Junge sich für das Vaterland einsetzt.

Auch Arvid Harnack ist zum Einsatz bereit.

Als kaum Achtzehnjähriger hat er sich einem Studentenbataillon der Freikorps angeschlossen und ist in den Kampf gezogen, um die Provinz Oberschlesien für das Reich zu erhalten. Die Oberschlesier hatten sich schließlich in einer ordentlichen Abstimmung für ihre Zugehörigkeit zum Reich entschieden. Aber die Siegermächte haben die Resultate der Wahl nicht umgesetzt. Solch offenbare Ungerechtigkeit der Machthaber ist schwer zu dulden. Arvid ist zum Kämpfen entschlossen. Er wird nicht beiseitestehen in dieser wilden Zeit, in der alles brodelt und kämpft, zueinander drängt, miteinander ringt. Die Freikorpsler sind allerdings nicht Arvids Fall.

Sie haben Arvid ziemlich erschüttert. Arvid sieht ein, dass es nicht immer ohne Gewalt abgeht. Aber ist es per se ein Zeichen jugendlicher Lebensfreude, wenn man zu fünft einem Einzelnen aufs Maul haut, wie die Kerls in den Korps sich auszudrücken belieben? Dies ist denn doch nicht Arvids Schlachtfeld. Arvid wird nun studieren und Universitätsprofessor werden. Er wird aus einer anderen Position heraus kämpfen. Anders geht es ja auch gar nicht. Arvids Vater war ebenso Universitätsprofessor wie Arvids Onkel Adolf Harnack und wie Hans Delbrück, der sozusagen sein Onkel ehrenhalber ist. Arvid studiert nun also Jura. Die Familie ist erleichtert. Aber schon ein paar Monate später lässt Arvid alles stehen und liegen und reist ins neugegründete Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen.

Er reist auf den Spuren von Stjepan Radić, dem Vorsitzenden der Kroatischen Bauernpartei. Radić tritt für ein unabhängiges Kroatien ein und für die Rechte der Bauern. Er beruft sich auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker, wie es der amerikanische Präsident Woodrow Wilson proklamiert hat, er kämpft gegen die Unterdrückung der kroatischen Landbevölkerung durch die Serben, die im neugegründeten Königreich das Sagen haben wie die Siegermächte in Deutschland.

Arvid bewundert Radić. Der Mann stammt aus allereinfachsten Verhältnissen. Er ist stark kurzsichtig, aber er hat es geschafft, die Schule zu besuchen. Er hat sich durchgeschlagen, er ist ein Kämpfer und ein Demokrat. Man kann von ihm lernen. Arvid lässt sich auf einem Floß die Drau hinuntertreiben. Er wird verhaftet, weil man ihn für einen ungarischen Spion hält. Er entkommt, fährt durch Rumänien und Bulgarien, gelangt mit Waffenschmugglern über das Schwarze Meer in die Türkei und kehrt von dort schließlich einigermaßen heil wieder nach Hause zurück. Was ihm von dieser Reise bleibt, ist die Erinnerung an Momente starker Gefühle, Augenblicke staunender Selbstvergessenheit.

Zwischen diesen Momenten hat er sich oft gelangweilt. Landschaft zog vorüber, flüchtige Begegnungen ereigneten sich, während Arvid vorandrängte, getrieben von einer starken Unruhe, auf ein Ziel zu, das sich ihm entzog, je länger und weiter er reiste, die Frage ist doch, warum die Welt ist, wie sie ist. Warum ist alles so ungerecht verteilt: Besitz, Glück, Gesundheit, Reichtum, Bildung? Wie kann man die Lage verbessern, wie kann man für Gerechtigkeit sorgen? Wie sollte Deutschland aussehen, wie könnte Arvid seinem Land aufhelfen? Arvid ist zu dem Schluss gelangt, dass alles letztlich eine Frage der Ökonomie ist.

Er hat beschlossen, dass er die Juristerei nun zügig zu Ende bringen und dann Nationalökonomie studieren wird. Er wird sich eine breite Grundlage schaffen. Und dann muss er eine Position erringen. Nur aus einer Position heraus kann man etwas bewirken.

Mit dreiundzwanzig wird Arvid Harnack zum Dr. jur. promoviert. Für ein Gastsemester geht er an die London School of Economics. Danach empfiehlt Onkel Adolf den Neffen an Professor Albrecht Mendelssohn-Bartholdy, der das Hamburger Institut für Auswärtige Politik leitet. Der Professor ist von dem jungen Wissenschaftler recht angetan. Zusammen mit dem Präsidenten der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft setzt er sich dafür ein, dass Arvid Harnack ein Rockefeller-Stipendium erhält und zwei Jahre lang an der University of Wisconsin in Madison studieren kann: Und so also treffen Mildred und Arvid einander.

Arvids Weg zu Mildred führt über Schlesien, Polen, Jugoslawien, Rumänien, die Türkei und England nach Bremerhaven, über den Atlantik nach New York, auf Schienen an die tausend Meilen weit nach Westen, wo er sich an einem Frühsommermorgen im Jahre 1926 auf dem Campus der University of Wisconsin verläuft und schließlich in den falschen Seminarraum stolpert, in dem nicht Professor Commons, sondern die Literaturwissenschaftlerin Mildred Fish am Pult steht und als Assistentin von Professor Laird Studienanfänger in Homer einführt,

Leise redete mancher, und sprach die geflügelten Worte:

Tadelt nicht die Troer und hellumschienten Achaier,

Die um ein solches Weib so lang’ ausharren im Elend –

Da steht Mildred, groß und schlank, das strahlend blonde Haar altmodisch und romantisch aufgesteckt, in einem fadenscheinigen Kleid ihrer Schwester Harriette, das sie trägt wie ein Königinnengewand. Arvid bleibt. Nach der Stunde spricht er Mildred an. Er entschuldigt sich für die Störung. Er beruft sich auf mangelnde Ortskenntnis. Er ist nervös, er sucht nach Worten, er bedauert sein schlechtes Englisch. Sie bedauert lachend ihr schlechtes Deutsch.

»Wir könnten vielleicht zusammen lernen«, sagt er. »Wir könnten einander unsere Sprachen beibringen, Sie mir die Ihre und ich Ihnen die meine.«

Es beginnt also damit, dass sie einander zu verstehen trachten. Dass sie bereit sind, die Vokabeln des anderen zu lernen, die Konstruktionen seiner Sätze zu begreifen, sie setzen nicht selbstverständlich voraus, dass sie mit denselben Worten immer auch dasselbe meinen. Sie müssen nachfragen, sich vergewissern.

Sie meinen also?

Habe ich richtig verstanden, dass?

Arvid versteht am Anfang meist falsch. Er ist zu förmlich, er ist zu steif. Er kann sich nicht daran gewöhnen, dass amerikanische Professoren ihre Studenten beinahe wie Gleichrangige behandeln. Er hat es nie erlebt, dass ein Professor ständig für seine Studenten erreichbar ist, dass er sich mit ihnen am Abend trifft, wie es John R. Commons mit der verschworenen Gemeinschaft seiner Friday Nighters tut, der Professor für politische Ökonomie und Soziologie gilt als der glanzvollste Geist der Universität.

Er versucht, christliche Ideale mit den Erkenntnissen der Soziologie und der Wirtschaftswissenschaften zu vereinen. Er entwickelt Konzepte für eine staatliche Arbeitslosenversicherung, für eine Arbeiterunfallversicherung. Er berät den Gouverneur von Wisconsin, er arbeitet mit Regierungsmitgliedern und mit Gewerkschaftern zusammen: Wirtschaftliche Gegebenheiten können nicht isoliert verstanden werden, sondern nur zusammen mit der sozialen und politischen Wirklichkeit, in die sie eingebettet sind. Die Menschen verfolgen unterschiedliche wirtschaftliche Interessen. Aber sie sind daran interessiert, diese Interessen miteinander zu versöhnen. Dabei zu helfen ist Aufgabe des Staates, und den Staat richtig anzuleiten ist Aufgabe der Wissenschaftler der Universität. Die Grenzen der Universität von Wisconsin sind die Grenzen des Staats Wisconsin: Das ist die berühmte progressive Wisconsin Idea, auf die sie alle so furchtbar stolz sind. Aber ist es nicht eigentlich eine deutsche Idee?

Die Amerikaner brauchen sich gar nicht so viel auf die gesellschaftlichen Wirkungsmöglichkeiten einzubilden, die sich ihre Universität erkämpft hat. Ist nicht Arvids eigener Onkel Adolf von Harnack das beste Beispiel für ein Wissenschaftlertum, das sich mit den Institutionen des Staates verbindet, um auf sie einzuwirken und so der Gesellschaft direkt zu nützen, statt weltfern auf dem grünen Hügel zu residieren? Bei aller typisch deutschen Bescheidenheit muss man es doch als selbstverständlich voraussetzen, dass auch den Amerikanern die ethische und ästhetische Überlegenheit europäischer und insbesondere deutscher Kultur über alles Amerikanische klar bewusst ist. Keiner der Friday Nighters widerspricht Arvid.

Sie kennen Arvids Onkel ja überhaupt nicht. Sie haben Adolf von Harnacks Namen noch niemals gehört, auch nicht den Namen der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, deren Präsident dieser Onkel angeblich sein soll, es ist ihnen auch ziemlich egal. Sie respektieren Arvid für die Tatsache, dass er bereits ein Studium abgeschlossen hat. Sie wundern sich ein wenig über die hochfahrende Verletzlichkeit ihres deutschen Kommilitonen, der sich benimmt, als versuchten die Amerikaner sein persönliches Erbe zu schmälern, aber sie sind entschlossen, ihren eigenen Traditionen zu folgen und ihrem Gast tolerant und freundlich zu begegnen, Arvid Harnack wird sich schon eingewöhnen.

Er arbeitet bei John Commons über die Geschichte der vormarxistischen Arbeiterbewegung in den Vereinigten Staaten. Der Professor interessiert sich zurzeit sehr für die historische Entwicklung der amerikanischen Gewerkschaften. Arvid und Mildred sitzen allein in dem Souterrainraum der Universität, in dem sich die Friday Nighters heute Abend treffen wollen.

Arvid erzählt Mildred von Albert Brisbane. Er hat Brisbane soeben für sich entdeckt. Brisbane ist in der Gegenrichtung zu Arvid gereist: Er war Amerikaner und hat in Europa Literatur und Philosophie studiert. Brisbane war von Europa begeistert. Er verkehrte im Salon der Rachel Varnhagen von Ense. Er war befreundet mit dem Komponisten Mendelssohn-Bartholdy, dem Großvater des Professors, dessen Empfehlung Arvid seinen Amerika-Aufenthalt verdankt. In Berlin hat Brisbane Hegel gehört. Und dann ist er auf ein Buch des Frühsozialisten Charles Fourier gestoßen, das ihm den größten Eindruck gemacht hat.

»Brisbane beschreibt das ganz wunderbar. Er beschreibt, wie Fouriers Ausdruck Attraktive Industrie auf ihn gewirkt hat. Das war ja ganz unvorstellbar. Es ist heute noch unvorstellbar, dass etwas mit industrieller Produktion Zusammenhängendes anders als schäbig, schmutzig, ausbeuterisch und zerstörerisch sein könnte. Warten Sie, ich lese es Ihnen vor«, Arvid räuspert sich. Er schlägt die Seite in Brisbanes Buch auf, die er mit einem Papierchen markiert hat. »Ich sprang auf, warf das Buch zu Boden und begann in der höchsten Erregung auf und ab zu marschieren. Eine neue Welt ging vor mir auf. Ich sah eine gesunde und reiche Menschheit überall ihre geistigen Zentren, ihre Universitäten errichten. Welche gewaltige Revolution würde es bedeuten, wenn es gelänge, an die Stelle des niederdrückenden, entwürdigenden Schuftens, des traurigen Loses der Massen, das sie mit seinen prosaischen, verdummenden und verbildenden Einflüssen vollständig erdrückt, angenehme, nicht schändende und nicht entwürdigende Arbeit zu setzen. Das erste natürliche Resultat würde sein, dass alle arbeiteten und so die Mittel schüfen, die es allen erlauben würden, sich den heute nur wenigen offenstehenden wissenschaftlichen und intellektuellen Beschäftigungen hinzugeben.«

Arvid sieht auf. Mildred ist hingerissen: Welch wunderbare wahre Vision. Ja, wenn keiner mehr wie ein Sklave schuften muss, wenn die Arbeitszeit auf acht Stunden am Tag begrenzt ist, wenn jeder über die nötigen Mittel verfügt, dann werden die Menschen von ganz allein frei und gut werden. Sie werden ihr Geld für gute Bücher und Theaterbesuche ausgeben, sie werden nach der Arbeit die Philosophen studieren, die großen Dichter lesen, ihre Seelen verfeinern, so dass endlich alle lernen, liebevoll und mitleidig miteinander umzugehen, statt stumpf und dumpf ein Leben lang nach nichts Höherem als dem nächsten Stückchen Brot zu trachten.

Mildred sieht aber noch mehr. Sie sieht die tiefe Verbindung zwischen ihrer und Arvids Seele.

Denn Brisbane ist schließlich nach Amerika zurückgekehrt. Dann ist er zu George Ripley gefahren und hat ihm die neuen Ideen unterbreitet. Ripley aber hatte damals gerade die Brook Farm gegründet, eine ideale Gemeinschaft von Arbeitern, Studenten und Lehrern, von Dichtern und Denkern und einfachen Leuten, die sich vom Land ernähren, in liebevoller Eintracht und persönlicher Freiheit miteinander leben und körperlich und geistig zusammen arbeiten wollten, in einer Oase der Harmonie, in der die Bedürfnisse der Seele und des Körpers miteinander in Einklang gebracht wären, so dass Brook Farm eines Tages als Modell für die ganze Welt dienen würde: Und Margaret Fuller, Mildreds Vorbild seit Jugendtagen, hat eine Weile auf dieser Farm gelebt.

Nathaniel Hawthorne hat auf Brook Farm gelebt. Emerson ist zu Besuch gekommen. Alle neuenglischen Transzendentalisten sind dort gewesen, alle die Helden, die Mildreds Denken und Fühlen bestimmen, und nun ist also Arvids Albert Brisbane dazugekommen, die Verbindung ist unverkennbar. Arvid und Mildred sind seelenverwandt. Arvid ist Mildreds Freund, ihr Bruder. Er ist der, der neben ihr ausschreitet: Mildred liest Arvid Walt Whitman vor,

Allons! after the great Companions, and to belong to them!

Allons! through struggles and wars!

Allons! the road is before us,

Camerado, I give you my hand!

I give you myself before preaching or law –

Und haben sich nicht gerade die neuenglischen Transzendentalisten immer auf Deutschland berufen? Haben nicht gerade sie, die wahren Begründer der amerikanischen Literatur, viele ihrer Inspirationen aus Arvids Land bezogen? Margaret Fuller etwa, die Biografin Goethes,

had seated herself beneath the great German oak, and gazed upon the growth of poesy, of philosophy, of criticism, of the drama,

Margaret hat Goethes ›Tasso‹ in Englische übersetzt. Sie hat Goethes ›Gespräche mit Eckermann‹ übersetzt, die Arvids Vater in Deutschland herausgegeben hat: Otto Harnack war Literaturwissenschaftler, genau wie Mildred. Er hat ein Buch über Goethe geschrieben, das Arvid sich extra von seiner Mutter nach Amerika hat schicken lassen, um es Mildred schenken zu können,

Otto Harnack: ›Goethe in der Epoche seiner Vollendung 1805–1832‹

Mildred hat sich noch nie einem Mann so nah gefühlt. Arvid liest ihr Goethe vor. Er trägt Gedichte vor, auswendig. Arvid kann den halben ›Faust‹ auswendig,

Die Sonne tönt, nach alter Weise,

In Brudersphären Wettgesang,

Und ihre vorgeschriebne Reise

Vollendet sie mit Donnerklang.

»Mein Vater hat sich übrigens ertränkt.«

Arvid und Mildred sind auf dem Weg nach Palfreys Glen. Sie sind seit einer Stunde unterwegs. Arvid hat vorhin nach Mildreds Hand gegriffen. Sie hat sie ihm einen Moment überlassen, dann aber doch wieder entzogen. Sie haben Trinkwasser mitgenommen, sonst nichts. Wenn sie Hunger haben, werden sie irgendwo unterwegs an die Tür eines Farmhauses anklopfen und dort um etwas zu essen bitten. So ist es üblich, hier im Westen, wo Solidarität und Hilfsbereitschaft der Pioniere sich noch erhalten haben: Das hat Mildrd Arvid erklärt. Man wird sie auf ein wenig Zimttoast einladen oder auf ein paar frische Waffeln, und wenn sie Glück haben, wird sich eine lange Unterhaltung mit den Farmersleuten ergeben, aus der man viel Praktisches und Wirkliches über das Leben lernen kann.

»Mein Vater hat sich ertränkt und ist erst nach drei Wochen gefunden worden«, sagt Arvid.

»Mein Vater ist erfroren«, sagt Mildred. »1918, ein furchtbarer Winter. Er war vorher auch verschwunden, aber nur ein paar Tage lang. Dann hat man ihn gefunden, unter einer meterhohen Schneeverwehung, in seinem Pferdestall, in dem keine Pferde mehr standen. Nichts war mehr da. Er hatte alles verkaufen müssen. Er war pleite. Er hat niemals für uns gesorgt. Das hat unsere Mutter getan. Unsere Mutter ist eine sehr starke Frau.«

»Meine Mutter auch«, sagt Arvid. »Die Frauen müssen stark sein, vielleicht stärker als die Männer.«

»Glauben Sie das?«, sagt Mildred. Sie bleibt stehen, sie ergreift seine Hand. »Glauben Sie das wirklich und ehrlich? Oder sagen Sie das nur?«

»Ich glaube es«, sagt Arvid, verblüfft über ihre plötzliche Leidenschaftlichkeit. »Ich glaube es ganz wirklich und ehrlich.«

»Dafür liebe ich Sie«, sagt Mildred. »Wirklich, das tue ich. Ich liebe Sie.«

»Sie lieben mich?«, sagt Arvid.

Am nächsten Tag fahren sie mit dem Boot auf den See.

Es ist früh am Morgen. Es ist warm. Wunderbarerweise fällt ein leichter Regen aus einem fast wolkenlosen Himmel. Das Kanu gleitet hinaus auf den Lake Mendota. Mildred hat ein Tuch umgebunden, gegen die Feuchtigkeit. Sie lachen. Dann sind sie still. Sie genießen die Einsamkeit auf dem Wasser, die Ruhe. Als sie das Ufer am Picnic Point erreichen, hört der Regen auf. Sie ziehen das Boot über die Kiesel an den Strand. Sie haben Sandwiches dabei, Kaffee, die Sonne kommt heraus und trocknet die Kiesel.

»Haben Sie Hunger?«

»Noch nicht.«

Sie sitzen am Strand und blicken über das Wasser. Der Himmel ist jetzt ganz klar, ein glänzender Morgenhimmel. Das Wasser am Ufer schmatzt friedlich wie ein Baby. Sie sprechen über Arvids neuesten Fund: New Harmony, eine kleine Siedlung in Indiana, die 1814 von dem deutschen Radikalpietisten Johann Georg Rapp gegründet worden ist. Rapp und seine Anhänger suchten nach einer neuen Form des Gemeinschaftslebens, basierend auf den Prinzipien eines wahren Christentums außerhalb der Kirche. Sie versuchten das Reich Gottes vorauszunehmen: das Reich brüderlich-sozialer Versöhnung und vorbehaltloser Liebe, wie es für das Ende der Zeit nach Armageddon verheißen ist. Sie hielten sich zehn Jahre, dann waren sie am Ende. Sie verkauften ihre Siedlung an Robert Owen. Auch Owen ging es um eine Erneuerung des Gemeinschaftslebens. Aber er wollte bei den Arbeitsund Produktionsbedingungen anfangen. Außerdem hielt er es für unabdingbar, die Menschen von klein auf zur Vernunft zu erziehen. Er begann mit seinem Sohn, Robert Dale Owen.

»Und der hat seine Ideen fortgeführt«, sagt Arvid. »Er hat eine Gefährtin gehabt, Frances Wright. Eine schottische Frauenrechtlerin. Sie haben gemeinsam in der New Yorker Arbeiterpartei gekämpft, für Owens Erziehungsideale und für die Freiheit der Frau.«

Sie sehen einander an.

»Es ist ein langer Kampf, nicht wahr?«, sagt Mildred. »Aber es ist ein Kampf, der sich lohnt. Ich glaube, dass die Menschen sich fortentwickeln. Es geht nur allmählich, und es gibt Rückschritte. Aber man darf nicht aufgeben. Ich glaube, es ist so, wie Emerson und die Transzendentalisten sagen: Der Geist des Menschen kann alles schaffen. Der Mensch ist fähig, immer neues Licht und neue Kraft in sich aufzunehmen. Und dieses Licht, diese Liebe werden die Welt immer mehr erfüllen und erleuchten, in jedem Bereich. Recht, Wirtschaft, Schulen, Landwirtschaft, Naturwissenschaft, alles wird sich immer mehr zum Besseren wandeln.«

»Das haben Sie schön gesagt«, sagt Arvid. »Ich finde es sehr schön, dass Sie sagen, es sei die Liebe, die die Welt wandeln wird. Aber vielleicht ist es doch eher die Vernunft? Die klare Erkenntnis des wünschenswerten Zustands. Wie sollte die Welt beschaffen sein? Das ist ja die größte aller Fragen. Es ist die Frage nach der Aufgabe der Menschheit.«

»Aber diese Frage kann man nur mit Liebe beantworten«, sagt Mildred. »Einander zu lieben, einander liebevoll zu begegnen ist doch das Vernünftigste, was man tun kann, und auf diesem Prinzip muss alles aufbauen. Nur so können wir herausfinden, wie wir der Menschheit bei ihrem Aufstieg helfen können.«

Arvid betrachtet sie begeistert.

»Wir haben uns dieselbe Aufgabe gestellt«, sagt er. »Und wir stehen nicht allein. Durch alle Zeiten hindurch haben die Menschen versucht, gerechter miteinander umzugehen. Immer haben sie versucht, neue wirtschaftliche und politische Modelle zu entwickeln, neue Formen des Zusammenlebens, und sie tun es auch jetzt. Sie tun es hier. In Deutschland. In Russland. Überall suchen die Menschen nach neuen Wegen.«

»Die Jungen suchen jedenfalls«, sagt Mildred. »Junge Menschen auf der ganzen Welt, über alle Grenzen hinweg.«

»Ja. Das glaube ich auch. Ich glaube auch, dass wir uns am Beginn einer neuen, besseren Zeit befinden.«

I announce justice triumphant;

I announce uncompromising liberty and equality;

I announce the justification of candor, and the justification of pride;

I announce a life that shall be copious, vehement, spiritual, bold;

Himmel und Wasser sind im Morgenlicht von irisierendem Perlmutt, wie das Innere einer Seemuschel. Ein sanfter Wind weht. Mildred ist durchdrungen von Freude. Es ist wie in dem Hölderlingedicht,

Es kommt der neue Tag aus fernen Höhn herunter,

Der Morgen der erwacht ist aus den Dämmerungen,

Er lacht die Menschheit an, geschmückt und munter,

von Freuden ist die Menschheit sanft durchdrungen.

Wie schön das ist, wie hell und heiter. Ein junger Gott tritt Mildred aus diesen Versen entgegen, arglos und leichtfüßig, Mildred denkt mit einmal, dass sie Arvid heiraten wird. Sie haben einander noch nicht geküsst. Mildred denkt, dass Arvid sie heute küssen wird.

Dass er sie heute fragen wird,

Willst du mich heiraten?

Und natürlich wird sie Ja sagen.

Ja, ja, ja, ja!

Sie kann seine Frage fast nicht mehr erwarten.

Sie kann seinen Kuss kaum erwarten. Sie muss tief Atem holen, als erhöbe sich etwas in ihr, das mehr Luft unter den Schwingen verlangt, dies ist die Höhe, auf der sie fortan leben wird. Sie sieht Arvid an, von der Seite: das schon vertraute Profil, klar vor dem Morgenhimmel, den ernsten Mund, die geraden Brauen,

You must be he I was seeking.

I have somewhere surely lived a life of joy with you,

You grew up with me, were a boy with me,

I ate with you, and slept with you –

Arvid wendet sich ihr zu. Mildred hält ihm ihr Gesicht entgegen.

Well done, Harnack!

Die Freunde, die Schwäger klopfen ihm auf die Schultern, an diesem 7. August 1926. Nun ist Arvid verheiratet. Nun lernt er Amerika kennen. Nun lernt er, Geschmack an Potato Chips und Root Beer zu finden, er lernt amerikanische Lieder, schließt neue Bekanntschaften. Sie lesen Shakespeare mit verteilten Rollen, in den langen Winternächten, sie fliegen in der Winterdunkelheit im Segelschlitten übers Eis des Lake Mendota und braten hinterher Hammelkoteletts am offenen Feuer unter dem Sternenhimmel. Sie trinken eine Flasche geschmuggelten Weins in der Küche ihrer winzigen Wohnung, sie sitzen auf Stühlen, die ihnen eine Professorengattin ausgeliehen hat, an dem von einer anderen Professorengattin geliehenen Gartentisch, Arvid löst Mildreds Haar. Mildred nimmt Arvids Brille ab. Wie haben sie nur gelebt ohne einander? Wie haben sie es ertragen, einander nicht zu kennen? Und natürlich wird Mildred an Arvids Seite bleiben. Im Frühling 1928 endet Arvids Stipendium. Arvid muss nach Deutschland zurückkehren. Mildred wird noch einen Kurs halten, über den Konflikt zwischen Ästhetik und Ethik bei Hawthorne, und dann wird sie ihm übers Meer folgen.

»Wie romantisch!«

Mildreds Freundinnen umdrängen Mildred. Was für ein Abenteuer, sich in einen Ausländer zu verlieben, in einen jungen europäischen Wissenschaftler, wie glamourös, ihm nachzureisen in die Alte Welt,

Allons! after the great Companions, and to belong to them!

Allons! through struggles and wars!

Camerado, I give you my hand!

Und in zwei Stunden ist es so weit.

Es ist jetzt elf Uhr morgens. In zwei Stunden wird Mildred von Bord gehen. Sie wird angekommen sein, in Bremerhaven, bei Arvid, Mildred hat sich ungeduldig nach ihm gesehnt. Sie hat sich nach Deutschland gesehnt, nach Europa, wo ihr Leben nun endlich anfangen wird, natürlich wird Mildred Zeit brauchen, um sich in der Fremde zurechtzufinden. Sie hat sich aber gut vorbereitet. Sie ist auf der Überfahrt viel allein gewesen. Sie hat Emersons Ratschlag beherzigt,

To go into solitude, a man needs to retire as much from his chamber as from society. I am not solitary whilst I read and write, though nobody is with me. But if a man would be alone, let him look at the stars.

Jede Nacht ist Mildred an Deck gegangen und hat allein zu den Sternen hinaufgeblickt. Jeden Tag hat sie viele Stunden an der Reling gelehnt, tatenlos, ohne Buch, während der Bug des Schiffs durch die Wellen schnitt, das Wasser vor ihr aufrauschte, die Zukunft ihr streng und wundervoll entgegenblies wie der salzige Wind, der keine Spur von vertrautem Landgeruch mehr trug. Sie glaubt nun zu wissen, was die europäischen Auswanderer bei ihrer Überfahrt nach Amerika empfunden haben müssen, die Väter jener amerikanischen Patrioten, die Amerikas Unabhängigkeit und Freiheit erkämpft, die Mildreds Heimat gegründet haben. Mildred hat sich gesagt, dass diese Heimat unverlierbar ist. Mildreds Heimat ist nun nicht mehr der amerikanische Boden. Mildreds Amerika ist eine Heimat des Geistes und des Herzens, das jeden willkommen heißt, der aufrechten Gemütes ist, ein geläutertes Amerika, das auf der offensichtlichen Wahrheit gründet,

that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.

Mildred steht an Deck.

Bald hat die Fahrt ein Ende. Mildred wird von nun an Deutsch sprechen. Sie sagt sich stumm die Verse des »Prologs« aus dem ›Faust‹ vor, die ihr überaus passend erscheinen, jetzt am Ende ihrer Überfahrt,

Die Sonne tönt, nach alter Weise,

In Brudersphären Wettgesang,

Und ihre vorgeschriebne Reise

vollendet sie mit Donnerklang.

Nun, vielleicht geht es auch etwas leiser. Mildred gedenkt, kein unnötiges Getöse zu machen. Sie ist bereit. Sie hat gepackt. Sie kann sofort von Bord gehen. Sie bringt nicht viel mit: eine Kiste voller Bücher, zwei Koffer, die so leicht sind, dass sie sie allein tragen kann. In weniger als zwei Stunden wird sie ihren Fuß auf den Boden des fremden Landes setzen. Arvid wird sie am Hafen erwarten. Sie wird ihn umarmen. Und wenn sie das nächste Mal den Kopf hebt und um sich blickt, wird alles Vorhergehende an Bedeutung verloren haben.

Die Erinnerung an ihre Reise, die angeregten Kontakte, die sich auf langen Schiffsfahrten so erstaunlich schnell einzustellen pflegen, die verträumten Stunden im Liegestuhl, das geschäftige Treiben in den Salons und das gleichförmige Schwappen und Aufstäuben der Wellen am Bug: All das wird zu verblassen beginnen und immer mehr verblassen, vor den großen Erlebnissen, die auf sie warten. Es wird immer ferner ins Unwirkliche entgleiten, ein Geschehnis jenseits der Zeitenwende: Und dann wird eines Tages nichts mehr davon geblieben sein. Es wird sich aufgelöst haben, gänzlich und ohne jeden Rest.

Die Gedenkstunde hat noch nicht begonnen. Die Stimmen sind gedämpft, wie es dem Anlass entspricht. Es ist viel Prominenz gekommen, aus Wissenschaft, Politik, dem öffentlichen Leben. Vorn in der ersten Reihe sitzen Amalie von Harnack und Lina Delbrück, die Schwestern und Nachbarinnen. Die Witwen: Sie haben die Hände im Schoß gefaltet. Sie halten sich sehr aufrecht. Sie haben beide ihre Männer verloren: Am 14. Juli 1929 ist Hans Delbrück gestorben, und nun, keine zwölf Monate später, sein Schwager Adolf von Harnack. Durch die geöffneten Fenster des Goethe-Saals strömt der Duft der Lindenblüten herein.

Arvid unterhält sich leise mit Adolf Grimme, dem preußischen Kultusminister. Grimme ist Sozialdemokrat. Er ist ein Parteifreund von Arvids Vetter Ernst, aus dem Bund religiöser Sozialisten. Ernst hat Grimme und Arvid vorhin miteinander bekanntgemacht. Nun erläutert Grimme, was er unter religiösem Sozialismus versteht.

»Wirken für den Frieden, für die Völkerverständigung. Man könnte sagen, wir bemühen uns um ein Verständnis des Sozialismus im Licht seines religiösen Sinns. Oder um das Verständnis des Christentums, im Licht seines sozialen Sinns. Jeden Christen muss doch die kalte Gleichgültigkeit des Kapitalismus gegen das von ihm verursachte Elend erschrecken. Die Selbstverständlichkeit, mit der über die Güter der Erde verfügt wird.«

»Sie nehmen unter anderem Bezug auf das 3. Buch Mose, wenn ich recht verstehe«, sagt der Theologe Hans Lietzmann, der neben Grimme steht. »Darum sollt ihr das Land nicht verkaufen für immer. Denn das Land ist mein, und ihr seid Fremdlinge und Gäste bei mir.«

»Das würde meiner Frau gefallen«, sagt Arvid. »Mildred? Es klingt wie eine Stelle bei Emerson. Du weißt sicher, welche ich meine.«

Sie weiß es genau.

The charming landscape which I saw this morning, is indubitably made up of some twenty or thirty farms. Miller owns this field, Locke that, and Manning the woodland beyond. But none of them owns the landscape.

Mildred und Arvid leben erst seit ein paar Monaten in Berlin. Sie haben zum ersten Mal eine eigene Wohnung. In Jena, dann in Gießen haben sie in kleinen möblierten Studentenbuden gewohnt. Mildred war am Anfang vor allem damit beschäftigt, Deutsch zu lernen. Sie hat natürlich schon in Amerika sehr gut Deutsch gesprochen. Aber es ist anders, eine Sprache im Ausland zu erlernen. Zu Hause übersetzt man nur das Eigene, ohne zu bemerken, wie fremd das Fremde tatsächlich ist. Mildred in Amerika hat sich nicht vorstellen können, was in Deutschland auf sie zukommen würde.

An manchen Tagen geht alles sehr gut. Mildred sagt sich, dass dies die Mehrzahl der Tage ist. An diesen Tagen tritt sie morgens auf die Straße hinaus und fühlt sich im Einklang mit der deutschen Welt. Sie genießt dann die Freiheiten deutscher Studenten, die keine Pflichtseminare kennen, keinen Anwesenheitszwang, und die Universität können sie wechseln, wann immer sie möchten. Natürlich sind die Harnacks durch die finanzielle Situation etwas eingeschränkt. Arvid ist bestrebt, seine Karriere auf ein breites Fundament zu gründen, und das braucht seine Zeit. Mildred und Arvid müssen sich ihrer bescheidenen Lebensumstände aber nicht schämen. Hier in Berlin am Rande des Kreises der großen Professorenfamilien stellt Geld allein noch keinen Wert dar. Hier mitten im alten Europa, wo die gediegenen Professorenmöbel sich von Generation zu Generation vererben, wo die Gespräche bei Tisch um Philosophie, Theologie, Literatur und Kunst und nach Tisch um Politik, Wirtschaft und Wissenschaft kreisen, wo jedes Kind selbstverständlich ein Instrument erlernt und man den Kleinsten an ihren Bettchen zur guten Nacht Goethe vorliest: Hier misst man der Höhe der Aktienkurse nicht quasireligiöse Bedeutung bei. Hier zählen Bildung, geistige Durchdringung und Anstand mehr als ein Reichtum, der seinen sittlichen Verpflichtungen nicht nachkommt. Hier genügt es nicht etwa, sich zu fragen, ob das, was man erzählen möchte, hinreichend interessant ist. Man muss auch erwägen, ob es nicht womöglich zu interessant ist, so dass die Zuhörer zu dem Schluss gelangen könnten, man hätte sich prahlerisch herausstellen wollen.

Einfach leben, anspruchsvoll denken: Das ist das Motto, unter das auch Mildred ihr Leben mit Stolz stellen kann. An guten Tagen fühlt sie, wie mühelos sie hineinschmilzt in die Form, die ihr das Leben vorgibt. Sie freut sich dann ihrer Schmiegsamkeit, der Gewandtheit, mit der sie sich den Sitten und Gebräuchen anpasst, der Kompetenz, mit der sie die vielfältigen Aufgaben und Anforderungen ihrer Arbeit, ihres Privatlebens erfüllt. Die guten Tage sind so.

Es gibt aber auch andere Tage. Dann fühlt sie sich wie ein runder Pflock in einem eckigen Loch. Wie der sprichwörtliche wunde Daumen in der amerikanischen Redewendung, der in einem unmöglichen Winkel absteht: auffällig, gefährdet, womöglich gebrochen, während sich alle anderen Finger aufs Artigste aneinanderschmiegen. Es liegt nicht an Arvids Familie. Mildred ist von allen sehr herzlich willkommen geheißen worden. Aber an den fremden Tagen hilft ihr das nichts. Sie kann dann überhaupt nichts tun. Sie kann nur warten, dass es vorübergeht. Sie kann sich nur sagen, dass sie sich irrt: Sie ist nicht die Fremde. In Wirklichkeit ist sie nicht heimatloser auf diesem Stück Erde, das Deutschland genannt wird, als all die hier Geborenen, die in behäbiger Selbstsicherheit durch ihr Land schreiten ohne den geringsten Zweifel an ihrer Daseinsberechtigung, ohne auch nur ein Quäntchen jenes eigentümlichen Heimwehs, das unter gebildeten Menschen Philosophie genannt wird.

Inzwischen haben die meisten Trauergäste Platz genommen.

Auch die Harnacks haben sich gesetzt. Clara Harnack sucht die Hand ihres Ältesten. Arvid drückt ihre Finger. Mildred auf Arvids linker Seite beugt sich ein wenig vor. Sie sieht zu ihrer Schwiegermutter hinüber, mit dem Hauch eines Lächelns, fragend hochgezogenen Augenbrauen. Clara deutet ein Nicken an.

Mildred nickt zurück und lässt sich wieder in ihren Sitz sinken. Clara ist froh über diese Schwiegertochter. Sie passt sehr gut zu Arvid. Sie ist blond wie er, hell wie er, sie teilt seine Interessen. Etwas altmodisch Romantisches umweht sie, das Arvid sehr angezogen haben muss.

Auch Falk liebt seine Schwägerin.

Arvids kleiner Bruder: der schlaksige Siebzehnjährige zu Claras rechter Seite, er ist das jüngste der vier Harnack-Kinder. Zu dieser Gedenkstunde ist er von seinem Internat in Weimar beurlaubt worden. Falk presst die feinen Lippen aufeinander. Er fingert nervös an seinen Manschetten, genau wie sein Vater es immer getan hat. Falk weiß das natürlich gar nicht. Er weiß nicht, ob er seinem Vater ähnelt. Er hat keine Erinnerung an ihn. Er fragt nie nach ihm: Er sieht in allem zu Arvid auf.

Der Saal ist nun ganz besetzt.

Die Verwandtschaft ist vollständig versammelt: die Mitglieder der vielfach miteinander verflochtenen Familien der Harnacks, Delbrücks, Bonhoeffers und Dohnanyis, die im Professorenviertel des Grunewalds wohnen. Röcke rauschen, hier und da räuspert sich jemand. Dann wird es still. Das Streichquartett spielt das Adagio aus Haydns ›Quartett in g-Moll‹. Die Gedenkstunde beginnt.

2

Es ist der Sommer 1913. Hans von Dohnányi ist elf Jahre alt. Er liegt in seinem Bett. Er kann aber nicht schlafen. Das liegt an der Stille: an der schlimmen, tonlosen Stille, die alles erfasst hat, Hans hat extra das Fenster seines Zimmers geöffnet. Aber keine Musik quillt unten aus den Salons hinaus in den Abend. Kein Kammerkonzert, kein gemeinsames Klavierspiel der Eltern klingt zu den Kinderzimmern hinauf: Nichts schwappt von draußen herein als immer neue Schwälle von Stille. Es hat auch keinen Sinn, wenn Hans jetzt heult. Wenn er heult, schläft er erst recht nicht ein. Dann bekommt er Kopfweh und fühlt sich flau im Magen, und dann verzweifelt er gänzlich, Hans versucht daran zu denken, dass er morgen mit Justus Delbrück Tennis spielt. Just ist sein bester Freund. Sie besuchen beide das Grunewald-Gymnasium. Sie werden Tennis spielen, und nach dem Spiel werden sie zu den Delbrücks in die Kunz-Buntschuh-Straße gehen. Erst am Abend muss Hans wieder zu Hause sein, zum Abendessen, zum Schlafengehen, Hans wünschte, er könnte schlafen. Aber der Lärm der fehlenden Musik ist zu laut. Die Mutter könnte doch wenigstens ein bisschen Klavier spielen?

Elisabeth von Dohnányi ist Pianistin. Sie könnte sich an den Flügel setzen, ein wenig improvisieren. Aber wahrscheinlich würde das alles nur noch verschlimmern. Es würde das Unhörbare noch lauter machen: das Fehlen des väterlichen Spiels, Ernst von Dohnányi ist ausgezogen. Er ist fort. Alles andere ist noch da: die Villa, die Hunde, das Personal, das französische Fräulein, der riesige Garten. Was haben Hans, Grete und die Mama falsch gemacht?

Der Vater ist ein bedeutender Mann. Er ist Professor an der Königlich-Preußischen Hochschule für Musik, er komponiert, er hat in Wien, London, Paris, New York Konzerte gegeben. Hans, Grete und die Mama haben immer sehr darauf geachtet, den Vater nicht bei der Arbeit zu stören. Sie haben immer Rücksicht genommen. Aber vielleicht war es nicht genug Rücksicht. Der Vater ist jedenfalls fort. Es kommen auch keine Gäste mehr. Früher wurden bei Tisch oft drei oder vier Sprachen durcheinander gesprochen, und dann gingen die Kinder zu Bett und lauschten der Musik, die durch die Nacht zu ihnen hinaufwallte. Nun sitzen sie abends allein zusammen. Es ist fast, als wäre jemand gestorben.

Es ist, als hätten sie alle Angst. Aber wovor? Das Schlimmste ist doch bereits passiert. Sie sind allein und verlassen, gibt es etwas Schlimmeres? Hans versucht an die Menschen zu denken, die noch da sind. Er versucht an seinen besten Freund Justus zu denken: Aber Just hat seinen Vater noch.

Just, Emmi und Max sind zu dritt, in der Delbrück-Villa in der Kunz-Buntschuh-Straße. Sie sind eigentlich sogar zu siebt, auch wenn die ältesten Geschwister nicht mehr ständig im Haus leben. Und gleich nebenan wohnen Onkel und Tante Harnack, und bei ihnen gehen Justs Vettern und Basen ein und aus, Hans von Dohnányi in der Stille seines Bettes wünschte, ihn umgäben auch so viele Leute.

Er wünschte, er wäre Just Delbrücks Bruder oder wenigstens sein Vetter. Aber das ist ein dummer Wunsch. Er kann ja niemals in Erfüllung gehen. Nun weint Hans doch. Es ist wirklich schlimm mit ihm. Er weiß genau, er wird nun Kopfweh bekommen. Aber er kann nichts gegen die Tränen tun. Nun, wo er einmal angefangen hat zu weinen, darf er gar nicht mehr damit aufhören: Sobald das Schluchzen verstummt, flutet die Stille ins Zimmer zurück, mit erneuter Macht. Und dann ist sie erstickender, tödlicher denn je.

Die Stille ist immer da, immer. Wen sie einmal erfasst hat, den lässt sie nie wieder los. Aber tagsüber muss man sie nicht hören. Das helle Licht des Mittags übertönt ihren Hall, der Lärm der Aktivitäten, Hans von Dohnányi spielt mit den Delbrück-Kindern Schlagball. Sie spielen auf der Kunz-Buntschuh-Straße vor dem Delbrück-Haus. Sie spielen nicht um Punkte, dazu sind sie zu wenige. Eine richtige Schlagballmannschaft besteht aus zwölf Spielern, und sie sind heute wieder nur zu viert, es ist das dritte Kriegsjahr.

In den Gärten der großen Grunewaldvillen wachsen Kartoffeln und Kohl. Zwerghühner scharren zwischen den Frühbeeten. Hähne krähen den Singvögeln ins Frühlingskonzert hinein. Im Schuppen der Delbrücks haust eine Milchziege. Im Schuppen der Harnacks hausen Kaninchen. Im Zaun dazwischen ist eine Pforte, die von einem Grundstück zum anderen führt, so dass man jederzeit zwischen dem Delbrück-Haus und dem Harnack-Haus hin- und hergehen kann. Arvid kommt immer auf diesem Weg herüber, wenn er nebenan bei Onkel Adolf von Harnack und Tante Amalie zu Gast ist. Er ist aber bereits abgereist, was sehr schade ist: Arvid könnte die Mannschaft verstärken. Er würde sicher eine Menge Punkte holen, wenn sie um Punkte spielen würden.

»Los, Just! Schlag schon!«

Just hat den Ball. Aber er lässt sich nicht hetzen. Er lässt sich von niemandem etwas sagen, schon gar nicht von kleineren Geschwistern. Neuerdings hat er aufgehört, sich zu waschen. Er hat aufgehört, sich zu kämmen oder das Hemd zu wechseln oder die Schuhe zu reinigen. Er behauptet, diese Dinge wären belanglose Äußerlichkeiten, sie zu unterlassen störe keinen großen Geist, und einen kleinen Geist ginge es nichts an. Emmi riecht hin und wieder an Just, um zu prüfen, ob er schon stinkt.

Natürlich stinkt Just nicht. Er riecht inzwischen nur intensiv nach Just, was Emmi aber nicht stört: Und heißt das, sie ist ein großer Geist? Hans steht ruhig, konzentriert. Der kleine Max neben ihm trippelt und hopst auf der Stelle, an den Marionettenfäden seiner Ungeduld. Emmi steht leicht vorgebeugt, auf dem Sprung. Sie wird losrennen, sobald Just geschlagen hat. Sie kann ziemlich schnell rennen. Sie kann diesen Punkt holen, um den sie nicht spielen, Just bewegt die Hand mit dem Ball auf und ab, als schätzte er sein Gewicht. Er streicht sich das Haar aus der Stirn, kneift die Augen zusammen. Dann holt er aus. Emmi spürt ein Ziehen in ihren Muskeln, als liehe sie Just ihre eigene Kraft. Als führte sie selbst diesen Schlag, für ihn,

Weit, Bruder! Weit!

Just wirft. Just schlägt. Der Ball fliegt. Emmi rennt. Hans und Max rennen auch. Emmi rennt an ihnen vorbei. Sie triumphiert: Die Jungen haben den Ball nicht gefangen. Sie werden Emmi nicht abwerfen, Emmi rennt zu dem Zaunpfahl, den sie als Tickstange benutzen, tippt den Pfahl an, rennt wieder zurück. Aus den Augenwinkeln sieht sie zwei fremde Jungen die Kunz-Buntschuh-Straße herunterkommen. Emmi rennt weiter. Die beiden Jungen überqueren die Straße und kommen auf sie zu. Der größere hat etwas in der Hand: den Ball, den er jetzt hochhält.

»Das ist doch bestimmt eurer, nicht wahr.«

Emmi bleibt stehen. Der Junge mit dem Ball ist kräftig, mit einem Schopf dunklen Haars wie ein dichtes Fell. Er mag etwa vierzehn oder fünfzehn sein, also ungefähr im Alter von Just und Hans. Der andere Junge ist kleiner und jünger. Er hat ein ganz helles Gesicht: ein hellblondes, ein wenig trotziges Weihnachtsengel-Gesicht, das dem seines Bruders überhaupt nicht gleicht. Trotzdem sieht man sofort, dass es Brüder sind. Der größere Junge lässt seinen Blick von Hans zu Just schweifen, von Just zu Max und Emmi.

»Hier«, sagt er schließlich zu Hans. »Euer Ball.«

»Danke«, sagt Hans.

»Der ist bis nach dahinten gerollt«, sagt der Junge. »Bis ins Gebüsch.«

»Ja«, sagt Hans. »Da landet er oft.«

»Manchmal fliegt er sogar bis rüber zu den Harnacks«, sagt Just. »Manchmal müssen wir ihn eine Ewigkeit suchen.«

»Mir ist mal ein Ball in eine Scheibe geflogen«, sagt der fremde Junge.

»Au Backe«, sagt Just. »Und, hast du sehr schlimm Schimpfe gekriegt?«