Einige aber doch - Sabine Friedrich - E-Book
SONDERANGEBOT

Einige aber doch E-Book

Sabine Friedrich

0,0
14,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Mein größter Wunsch ist, dass du, wenn du an mich denkst, glücklich bist.« Fast alle Frauen und Männer, die die Gestapo als ›Rote Kapelle‹ zusammenfasste, erwartete am Ende der gewaltsame Tod. Aber  so gleich ihr Schicksal, so unterschiedlich ihre Lebenswege. Sabine Friedrich erzählt nicht von Helden einer fernen Vergangenheit, sondern von entschlossenen und suchenden, zweifelnden und überzeugten, zornigen und liebenden Menschen, die gezwungen waren, sich zu den Gegebenheiten ihrer Zeit zu verhalten wie alle anderen auch. Die meisten fügten sich. Viele murrten. Wenige handelten. Einige aber doch.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 490

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch

Sie gehen paarweise, eng umschlungen wie Liebespaare. Ursula und Werner haben schon eine Weile am Sachsendamm geklebt, als die erste Patrouille kommt. Werner presst Ursula gegen die Wand. Gegen den Zettel. Sie hören die Stiefeltritte, näher. Näher. Werner presst sich an sie, als wollte er sich mit ihr zusammen in die Wand hineindrängen ...

Fast alle Frauen und Männer, die die Gestapo als »Rote Kapelle« zusammenfasste, erwartete am Ende der gewaltsame Tod. Aber so gleich ihr Schicksal, so unterschiedlich ihre Lebenswege. Sabine Friedrich erzählt nicht von Helden einer fernen Vergangenheit, sondern von entschlossenen und suchenden, zweifelnden und überzeugten, zornigen und liebenden Menschen, die gezwungen waren, sich zu den Gegebenheiten ihrer Zeit zu verhalten − so wie alle anderen auch.

Die meisten ihrer Zeitgenossen fügten sich. Viele murrten. Zum Handeln fand kaum jemand. Einige aber doch.

 

 

 

 

»Die Lehre solcher Geschichten ist einfach, ein jeder kann sie verstehen. Sie lautet, politisch gesprochen, daß unter den Bedingungen des Terrors die meisten Leute sich fügen, einige aber nicht.«

Hannah Arendt in ›Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen‹

Prolog/Epilog

16. Februar 2018/16. Februar 1943, Berlin-Plötzensee

Warum bin ich zurückgekommen? Wozu noch einmal aufbrechen, noch einmal mit ihrem Ende beginnen? Was mache ich hier, wer bin ich oder wer glaube ich zu sein, Jona auf dem Weg nach Tarschisch?

Komm, lass sie liegen. Lass sie ausruhen von ihren Werken, lass die Stadt um sie in den Staub sinken wie Ninive am Ufer des Tigris, Dohlen und Eulen schlafen auf den Trümmern, sie schreien in den Fenstern und die Raben auf den Schwellen – 

Ich bin mit dem Bus gekommen, via Potsdamer Platz, Checkpoint Charlie, Topografie des Terrors. Eine kleine touristische Zeitreise, um erneut hier zu landen, vor Haus III des Gefängnisses Plötzensee: dem Totenhaus, das stumm und angespannt unter dem pelzigen Mittwinterhimmel kauert. Horch: Echos von Schritten in Fluren –

Aber hier ist gar nichts, nur der Schuppen. Nur die postutopische Stadtlandschaft westlich des Berlin-Spandau-Kanals und nördlich der Autobahn 100: Fabriken, Kleingartenkolonien, Lagerhallen, festgebackene Schneehaufen wie dreckiges Styropor und der Eisenbesen des Winds, der ungehindert aus Sibirien heranfegt. Dies ist keines Menschen Heimat, und hätte ihn seine Mutter auf dem Asphalt vor meinen Füßen geboren. Hier war jeder ein Fremder, egal wo er herstammte: aus der Sowjetunion, den Ländern des besetzten Europa oder dem Vaterland höchstselbst. Oder aus Milwaukee, Wisconsin, wie die Frau in Zelle 25, deren Todestag sich heute zum 75. Mal jährt: Mildred Harnack-Fish, vierzig Jahre alt, die, so ihre Biografin, ihre letzten Stunden damit verbracht hat, Walt Whitmans Gedicht über die Ermordung Abraham Lincolns aufzuschreiben.

Aus dem Gedächtnis natürlich. Es empfiehlt sich, das eine oder andere auswendig zu können, für den Fall, dass man einmal in eine Lage gerät, wo man nur auf das zurückgreifen kann, was man bei sich hat, und das fände man nicht in seinen Taschen.

When lilacs last in the dooryard bloom’d

And the great star early droop’d in the western sky in the night,

I mourn’d … and yet shall mourn with ever-returning spring –

Wahrscheinlich hatte man ihr einen Stoß Blanko-Briefformulare überlassen: kostbare Blätter, normalerweise einzeln ausgegeben, und liniert, um den Mitteilungsdrang der Häftlinge zu begrenzen. Auch ein Zensor braucht seinen Feierabend. Aber warum die in Zelle 25 nicht nach Herzenslust kritzeln lassen? Die kam in ein paar Stunden ohnehin weg, zusammen mit ihrem ganzen Geschreibsel. Oder hätte man sie etwa an ihre Familie schreiben lassen sollen, nach Amerika?

Da sitzt sie also, auf einem Hocker, im Licht der Glühbirne, die Tag und Nacht brennt, und versucht die Sprache ihrer Mörder mit einem amerikanischen Gedicht zu verscheuchen, während deutsche Wörter in ihrem Kopf herumsurren wie Schmeißfliegen. Gleich wird der zahnlose Schuster hereinschlurfen, mit den Holzpantinen und dem Kittel, für ihren Gang zum Schuppen. Sie hat von ihm gehört: Erst schneidet der Schuster den Frauen das Haar ab, dann der Henker den Hals. Ja, eine komplexe Maschinerie ist das Rechtssystem, viele Rädchen müssen ineinandergreifen, damit es schnurrt: wobei eine ruinierte Frisur wohl als eher lässliche Unannehmlichkeit zu werten ist, unter den gegebenen Umständen. Andererseits, halt inne, denk nach: Warum sollte ihr Haar der Guillotine im Weg sein? Ist die Schneide so stumpf?

Vorbei die goldenen Zeiten, wo ihr ein solcher Einfall noch ein Stöhnen abgepresst hätte. Der Schrecken trifft sie längst nicht mehr blitzartig, sie zuckt und zappelt Tag und Nacht in seinem blendenden Strahl. Fast spürt sie ihn nicht mehr. Sie weint allerdings.

Sie weint unaufhörlich, stetig, ohne Hoffnung auf Trost: eine Niobe, die niemals Kinder hatte. Ein Fluch, der sich nun als ein Segen herausstellt. Mit anderen Worten, es könnte alles viel schlimmer sein. Sie sagt sich, dass sie damit leben kann, sterben zu müssen, es ist die Einsamkeit dieser letzten Stunden, die sie umbringt. Blickt sie zurück, sucht sie nach einem Sinn, nach dem roten Faden im sich zusammenziehenden Knoten?

Alle Wörter, die ihr geblieben sind, offenbaren nun ihre Herkunft: das Lexikon des Henkers.

Sie hält eine Orange in den Händen. Ein Abschiedsgeschenk des Kantinenwirts, das ihr der Gefängnispfarrer mitgebracht hat. Anständige Menschen, diese beiden, sie haben Mitleid mit ihr. Sie hoffen, dass die Orange sie tröstet, sie vielleicht an ihre Kindheit in Amerika erinnert: an ein mageres Schulmädchen, märchenblond, in die Kleider ihrer älteren Schwestern gehüllt wie in die fadenscheinigen Roben einer Prinzessin im Exil. Tagträume von Rittern, Liedern unter Rosenbögen. Auftritt ein Fremder: ein Doktor der Rechte und angehender Nationalökonom, von einem Rockefeller-Stipendium über die Sieben Meere geweht, ihr Seelenbruder, so blond wie sie, sein Haar der Goldhelm eines fahrenden Sängers. Ah ja, die verwandelnde Kraft der Imagination! Der Natur, der Poesie, der Liebe. Der Gewalt. Ja. Eine ungeheuerliche Verwandlung: Stein zu Staub, Knochen zu Wasser. Sie weint und weint, seit jeher, immer schon, ihre Tränen fast ölig, der Bodensatz am Grunde des Kelchs.

Der Gefängnispfarrer steht bei ihr. Harald Poelchau: Er verkneift sich Trostworte. Gerade hat er Frau Dr. Mildred Harnack-Fish berichtet, wie ihr Mann gestorben ist. Wobei das in Wahrheit nicht möglich ist. Der Tod zielt auf das Tier, auf den wortlosen Kern. Außerdem war Poelchau nicht dabei. Man hat ihm den Zutritt zum Schuppen verwehrt. Eine Neuerung, das. Bis zu jenem 22. Dezember 1942 ist es seit jeher das Recht und die Pflicht des Gefängnispfarrers von Plötzensee gewesen, den zum Tod Verurteilten bis zum Ende zu begleiten: mit ihm vor den schwarzen Vorhang zu treten, der plötzlich auffliegt, die Guillotine wird sichtbar, die Gehilfen des Scharfrichters packen das Opfer, drücken es hinunter und auf das Instrument, das Beil saust herab, der Kopf rollt zu Boden, der Blutstrom bricht hervor, die Beine zucken wild, die Holzpantinen fliegen in hohem Bogen.

Wobei Arvid Harnack nicht auf diese Weise gestorben ist. Letzten Sommer, während der Verhaftungswelle, haben Häftlinge eines Außenlagers des KZs Sachsenhausen einen Stahlträger mit acht Fleischerhaken im Schuppen angebracht. Warum acht? Fünf der elf, die am 22. Dezember exekutiert worden sind, sind an diesen Haken gestorben, aber nicht gleichzeitig, natürlich nicht; fast ist Poelchau versucht zu sagen: Gott bewahre. Arvid Harnack, Harro Schulze-Boysen und die anderen wurden einer nach dem anderen in den Schuppen geführt, in Abständen von exakt fünf Minuten.

Für die Guillotine genügen drei. Poelchau hat Röttgers nicht auf diese grausige Differenz angesprochen. Der Scharfrichter wohnt in Moabit, er betreibt nebenbei ein Fuhrunternehmen. Seine Gehilfen sind Fleischerlehrlinge. Es ist nützlich zu wissen, wo bei einem Tier die Wirbel sitzen.

Arvid Harnack jedenfalls war in seiner letzten Stunde ruhig, gefasst, beinahe heiter. So hat es Poelchau seiner Witwe berichtet, für die er die Geschichte noch einmal und jedes Mal wieder so hat erzählen müssen, als täte er es zum ersten Mal. Er hat gesagt: Auf Wunsch Ihres Mannes haben wir Goethes ›Prolog im Himmel‹ miteinander gesprochen. Sie wissen. Die Sonne tönt, nach alter Weise –

Sie hat genickt, beinahe lächelnd, beinahe die Zeilen mit ihm sprechend, wie er sie mit Arvid gesprochen hatte. In früheren Zeiten wäre Poelchau danach bei Arvid geblieben. Dass er das diesmal nicht getan hat, hat er Mildred verschwiegen. Aber er war rechtzeitig wieder zurück, um Arvid über den Hof zu begleiten, so wie zuvor Harro Schulze-Boysen, der als Erster gegangen ist.

»Libs und Harro«, sagt Mildred. »Haben sie einander noch einmal gesehen?«

»Nein.«

Sie nickt wieder, mit geschlossenen Augen, die Frucht in ihrem Schoß umklammernd wie eine Planke im Meer. Ihren Ehering wird der Staat einschmelzen. Arvids Abschiedsbrief hat sie gestern früh ihrer Zellengenossin im Frauengefängnis Kantstraße übergeben, die heute ins Konzentrationslager Ravensbrück verbracht worden ist und hofft, sich und den Brief über die Zeiten retten zu können.

Mein innig geliebtes Herz – 

Mildred kann ihn auswendig. Was sie verloren hat, sind die vertrauten Züge: die Schriftzüge seiner Hand, die es nicht mehr gibt.

Erinnerst du dich an unser erstes ernstes Gespräch? Dieses Gespräch wurde mein Leitstern und ist es geblieben. Erinnerst du dich an Picnic Point, als wir uns verlobten? Ich sang vor Freude frühmorgens im Club. Unsere angespannte Arbeit machte uns das Leben nicht leicht, und die Gefahr des Erdrücktwerdens war nicht klein, aber trotzdem blieben wir lebendige Menschen. Das wurde mir ganz klar, als wir in diesem Jahr den großen Elch vor uns auftauchen sahen – vorher warst du wie eine Göttin aus dem Meer gestiegen.

Du bist in meinem Herzen: »Du sollst immer darinnen sein!« Mein größter Wunsch ist, dass du, wenn du an mich denkst, glücklich bist.

Wenn ich an dich denke, bin ich es.

1

Juni 1926,Lake Mendota, Wisconsin

Ein Morgen im Frühsommer, von nun an und für immer strahlend mit mythischer Kraft. Sie haben ein Kanu gemietet, um zum Picnic Point zu paddeln, am Südufer des Sees. Das Wasser ist ruhig, intensiv blau. Sie sitzt vor ihm im Bug. Hin und wieder wendet sie den Kopf und weist in die Ferne, auf eine Wolke, eine Bucht, einen springenden Fisch. Ihre Stimme ist klar, dabei sanft, ihr Rücken gerade, aber geschmeidig. Fast ist er versucht zu sagen, dass dies, ihre mühelos aufrechte Haltung, das Erste war, was ihm an ihr aufgefallen ist. Aber natürlich war der Eindruck ein gesamter, den in Worte zu fassen allenfalls einem Dichter gelänge.

Es war an einem seiner ersten Tage auf dem Campus. Er war in den falschen Seminarraum gestolpert, wo Mildred Fish vor einer Klasse von Erstsemestern stand und etwas rezitierte, was er nicht verstand. Sie nahm die Unterbrechung mit einem Nicken zur Kenntnis, ließ sich aber in ihrem Vortrag nicht stören. Eigentlich hätte er sich zu Professor Commons’ Vorlesung über die Geschichte der Arbeit in den Vereinigten Staaten begeben müssen, zögerte aber, wieder zu gehen. Sie wandte den Kopf hierhin und dorthin, hielt ihn auf diese bestimmte Weise, Sonnenlicht strömte durch die hohen Fenster, es glänzte auf ihrem hochgesteckten Haar. Was sie sagte, klang englisch, aber die Laute ergaben keine erkennbaren Wörter. Dann begriff er, dass sie altgriechisch sprach. Er war erfreut, erfüllt von plötzlicher Zuversicht: Der fremde Klang war nur Kostümierung. Er verbarg Bekanntes, Altvertrautes: die ›Ilias‹, der ihre Stimme Frische, neue Gegenwart verlieh.

Am Ende der Stunde, als die Studenten aus dem Raum strömten, trat er zu ihr, um sich für die Störung zu entschuldigen. Sie erkannte seinen Akzent und antwortete ihm in gebrochenem Deutsch, er erwiderte auf Englisch, sie entgegnete ihm auf Deutsch, bis sie beide zugleich zu lachen begannen. Er bat um die Erlaubnis, sie zu begleiten, nach Hause oder zum Lunch oder – nun ja, wo immer sie eben als Nächstes hinging.

Dies ist ihr viertes Treffen. Sie haben das Kanu an Land gezogen und ihre Decke unter einem Baum ausgebreitet. Picnic Point ist Privatbesitz, sagt sie, aber Eindringlinge wurden bislang immer toleriert, was hoffentlich so bleibt, auch wenn der neue Besitzer das alte Farmhaus drüben im Wäldchen zu einer Villa umgebaut hat. Sie erzählt unbefangen, sie plaudert lebhaft, sie spricht mit Intelligenz und Witz. Ihr Kleid ist am Ärmel gestopft, die Rosen auf ihrem Schal sind zu einem staubigen Mauveton verblichen. Offenbar ist die Familie arm. Die Eltern haben sich getrennt, als Mildred zwölf war. Dass es die Mutter war, die den Vater des Hauses verwiesen hat, hat sie fast trotzig betont, als wäre damit jemand zu schützen. Die Mutter hat die Kinder großgezogen, der Vater ist erfroren, in einem leeren Pferdestall, 1918 am Ende des Krieges.

Arvids eigener Vater ist 1914 ertrunken, einige Monate vor Kriegsbeginn, kurz vor Arvids dreizehntem Geburtstag. Nicht dass Arvid bereit ist, solch zufällige Übereinstimmungen für bedeutsam zu halten, auch wenn romantische Regungen sie natürlich ins Schicksalhafte zu verklären suchen.

Aber es gibt andere, entscheidendere Gleichklänge. Unter Professor Commons forscht Arvid über die Geschichte des utopischen Sozialismus, der vormarxistischen Arbeiterbewegung in den Vereinigten Staaten. Mildred will Literatur unterrichten, sagt sie, aber nicht, um ihren Schülern noch mehr totes Wissen aufzubürden. Das Ziel wahrer Bildung muss es sein, das Bewusstsein der Eigenständigkeit zu stärken: der Freiheit eines jeden, sich über den alltäglichen Trott zu erheben, ein sinnerfülltes Leben zu führen und am Aufbau einer Gesellschaft mitzuwirken, die jedem Einzelnen das unveräußerliche Recht nicht nur auf Arbeit, sondern auf Teilhabe an allem garantiert, was die Gemeinschaft zu bieten hat.

Sozialismus bedeutet, gewisse verfeinernde Segnungen, wie sie jetzt nur die Wohlhabenden genießen, jedem Mitglied der Gesellschaft zugänglich zu machen: Das ist von Emerson. Das reichste Land der Erde ist nicht das mit den größten Vermögen, sondern eines, in dem jeder sein bescheidenes Auskommen hat und keiner mehr besitzt als die vernünftigen, schönen Dinge des Alltags: Das ist von Walt Whitman. Was zwei Menschen aneinander lieben, ist der zukünftige Glanz, den aneinander hervorzurufen sie einer dem anderen behilflich sind: Das ist von Margaret Fuller, Mildreds Heldin seit Mädchentagen aus dem Kreis der Transzendentalisten, die als erste weibliche Auslandskorrespondentin einer amerikanischen Zeitung nach Europa gereist ist und Seite an Seite mit ihrem Geliebten für die italienische Republik gefochten hat.

Allons! after the great companions, and to belong to them!

Allons! through struggles and wars!

Die Luft riecht nach Gras und leicht blechern nach dem Wasser des Sees. In ihrem weißen Kleid, im gesprenkelten Schatten, ist Mildred ein Gemälde, dessen Name Arvid gerade nicht einfallen will. Wahrscheinlich ein Monet. Im Baum über ihnen sitzen Vögel in kühnen Farben: Cardinal, sagt sie, Blue Jay, American Goldfinch. Wie diese Vögel auf Deutsch heißen könnten, fragt er sich schon gar nicht mehr. Er weiß, sie findet, sie wären einander zu einem ungünstigen Zeitpunkt begegnet: Sie sucht gerade über einen Kummer hinwegzukommen, über irgendeinen Narren, der sie für eine andere verlassen hat. Er hält es nicht für nötig, allzu lang bei diesem Thema zu verweilen. Mühelos kann er sich Mildred Fish vorstellen, wie sie mit seiner Mutter und seinen Schwestern plaudert und lacht.

Wie ist es möglich, den tiefsten Seelenfrieden zu empfinden und zugleich überwältigt zu sein von geradezu wilder Freude?

Er wird sie heiraten. Die Absicht, erwogen und noch einmal erwogen in der nächtlichen Stille seines Zimmers, offenbart sich ihm hier in der Sonne als Tatsache. Sie muss nur noch zustimmen. Er muss sie nur noch fragen, und das wird er, heute, hier, im nächsten Moment: Willst du mich heiraten? Und sie wird Ja sagen.

Ja, ja, ja, ja!

Er holt tief Luft, überwältigt von glücklicher Dringlichkeit. Mildred wendet sich ihm zu. Sie hält ihm ihr Gesicht entgegen.

7. August,Hasenheide 61, Berlin-Neukölln

Dû bist mîn, ich bin dîn · des solt dû gewis sîn·

Das Gedicht hat sie heute Morgen auf ihrem Schreibtisch gefunden, neben einem Strauß Rosen, den Arvid in eine Blechdose für Scheuersand gestellt hat. Die Vasen sind noch nicht ausgepackt, so wenig wie die Bücherkisten, die die Männer vorgestern hier herauf in den vierten Stock geschleppt haben. Wann fühlt man sich an einem Ort zu Hause? In ihrer letzten Bleibe, der winzigen, idyllischen Wohnung in der Waldsiedlung Zehlendorf, sangen morgens vor dem Fenster die Vögel, und jeden Abend haben sie miteinander einen Waldlauf gemacht, aber wenn man zurückkehrte, musste man damit rechnen, dass Schulze aus seinem Bau fahren und Arvid anfallen würde, weil der kein Hehl daraus macht, dass er Adolf Hitler nicht für den Heilsbringer hält.

Dagegen die Nachbarn hier in Neukölln grüßen mit der Faust wie ordentliche Menschen. Mildred steht vor ihrem Kleiderschrank. Nicht dass es eine Frage von großer Bedeutung wäre, welches ihrer abgetragenen Gewänder sie anzieht, aber auch Nebensächlichkeiten wollen entschieden sein, und heute ist immerhin ihr sechster Hochzeitstag. Ein singulärer Moment der Ausgewogenheit, wie Arvid heute Morgen angemerkt hat: Sie haben nun ziemlich genau drei Jahre ihrer Ehe in ihrem, drei in seinem Heimatland verbracht, ab jetzt werden sich die Proportionen unaufhaltsam zu Ungunsten Amerikas verschieben.

Mildred hat eifrig widersprochen. Es stand doch niemals in Zweifel, dass sie miteinander in Deutschland leben würden. Mildred empfindet keinerlei Heimweh. Sie ist Amerikanerin durch und durch, eine Pilgerin, eine Nachfahrin der Pioniere, die einst aufbrachen, um einen unbekannten Kontinent zu besiedeln: Und nie hat sie sich diesem Erbe näher gefühlt als an jenem Junitag 1929, als sie in Bremerhaven selbst zum ersten Mal ihren Fuß auf den Boden eines unbekannten Landes gesetzt hat.

Dass Arvid am Kai stand, nach den langen Monaten, die er in Deutschland, sie noch in Amerika zugebracht hatte, drehte den Pfeil der Reise um; es verwandelte ihre Fahrt in die Fremde in eine Heimkehr. Auch hatte er sich etwas Besonderes für sie ausgedacht: Bevor sie in Jena ihre Studien wieder aufnehmen würden, würde er mit ihr in den Schwarzwald fahren.

Dies war Deutschland, wie es sich ihr in Märchen und Dichtungen offenbart hatte: Abendnebel über den Wiesen, Burgruinen, sonnenwarme Himbeeren auf Waldlichtungen. In Landgasthöfen tranken sie Bier aus Steinkrügen. Sie schliefen in Zimmern mit Geranien am Fenster. In einem Dorf entdeckten sie ein Museum voll Uhren, aus denen zu unterschiedlichen Zeiten Kuckucke heraussprangen und mit mechanischen Rufen die vollen Stunden anzeigten. Jeden Tag überreichte Arvid ihr ein neues, wundersames Wort wie ein Zaubergeschenk: Mondenglanz. Morgenfrische. Fernweh. Weltschmerz.

In Amerika war er manchmal hochfahrend gewesen, wenn er die ihm selbstverständliche kulturelle Überlegenheit des Europäers infrage gestellt sah. Hier, in seinem Heimatland, war er gelassener, weniger schneidend. Den Schwarzwald hatte er oft mit seinem Vater durchstreift, dem Literaturwissenschaftler und Goetheforscher Professor Otto Harnack. Wenn er an ihn dachte, sah er ihn immer vor sich wie damals: in seinem dunklen Regenmantel, der sich hinter ihm bauschte, mit dem weichen schwarzen Hut eines Künstlers, den ihm seine Frau gekauft hatte. Otto und Clara waren einander in Italien begegnet. Clara hatte sich in Florenz als Erzieherin verdingt, um von ihren Eltern unabhängig zu sein. Sie war fest entschlossen, Malerin zu werden, auch gegen den Wunsch der Familie. Otto war zwanzig Jahre älter als sie, ein Idealist und Melancholiker, der mit der Wirklichkeit haderte.

»Meine Mutter hat ihn einmal eine Tassonatur genannt«, sagte Arvid. »Ich glaube, das trifft es ganz gut. Frei will ich sein im Denken und im Dichten! / Im Handeln schränkt die Welt genug uns ein. Die Erleichterung war ihm jedes Mal anzumerken, wenn wir auf unseren Wanderungen die letzten Häuser hinter uns ließen. Wenn der Wald sich endlich um uns schloss.«

Von der Bank, auf der sie rasteten, ging der Blick über grüne Wipfel bis zur Gipfelkuppe des Feldbergs. Mildred nahm Arvids Hand. Er drückte ihre Finger.

»Ich möchte gern glauben, dass es am Ende so für ihn war«, sagte Arvid. »Als er dort stand, am Ufer des Neckar. Als er beschlossen hatte, sich das Leben zu nehmen. Dass er nicht verzweifelt war, sondern froh, die Last endlich abzulegen. Immerhin musste er den Krieg nicht mehr erleben. Unsere katastrophale Niederlage. Mein Vater hat Deutschland über alles geliebt.«

Sie ließ einen Moment verstreichen, dann sagte sie: »Und eure Mutter hat euch durch den Krieg gebracht.«

»Nicht nur uns.« Er lachte auf, schüttelte den Kopf. »Sie hat auch noch ständig bedürftige Fremde mit nach Hause gebracht. Ledige Mütter, verarmte Witwen. Kinder, die im Wäschekorb schliefen, in den Schubladen ihrer Kommode. Als hätte sie mit uns vieren nicht genug gehabt. Aber wie du sagst, Frauen verfügen wohl über eigene Kräfte. Vielleicht schöpfen sie aus Quellen, die uns Männern gar nicht zur Verfügung stehen. Na, du wirst meine Mutter ja bald kennenlernen.«

»Ich hoffe so sehr, dass sie mich alle mögen«, sagt Mildred. »Dass sie nicht im Stillen doch damit hadern, dass ich Amerikanerin bin.«

In Clara Harnacks Gartenhaus in Jena war die Kaffeetafel gedeckt. Arvids Schwestern waren gekommen, um die Schwägerin zu begutachten, und auch der sechzehnjährige Falk war von seinem Internat in Weimar beurlaubt. An seinen Vater hatte er keine Erinnerung. Immer und in allem hatte er zu Arvid aufgeblickt, den er sich nun bemühte nach Kräften leuchten zu lassen.

»Weißt du übrigens, Mildred, dass Arvid schon einmal verhaftet worden ist? In Kroatien. Man hat ihn für einen ungarischen Spion gehalten. Er hatte sich auf einem Floß die Drau hinuntertreiben lassen, um Stjepan Radić zu treffen. Den kroatischen Volks- und Bauernführer. Hast du schon einmal von Radić gehört?«

Inge, die ältere von Arvids Schwestern, legte Falk die Hand auf die Schulter.

»Vielleicht ist Mildred gar nicht so entzückt davon, dass ihr Mann ein ehemaliger Häftling sein soll.«

Alle lachten. Aber der Junge ließ sich nicht beirren.

»Wieso, was ist daran? Arvid ist doch freigekommen. Er hat sich mit Waffenschmugglern über das Schwarze Meer in die Türkei durchgeschlagen.«

»Nun, ganz so dramatisch war es vielleicht nicht«, sagte Arvid. »Und Mildred kennt all diese Geschichten natürlich, Falk. Aber es stimmt, ich habe damals tatsächlich auf eine Begegnung mit Radić gehofft. Er hat mir imponiert. Ich dachte, ich könnte vielleicht etwas von ihm lernen, was sich auf die deutschen Verhältnisse anwenden lassen würde. Er hat gegen die Zwangseingliederung in die serbische Monarchie und für ein unabhängiges republikanisches Kroatien gekämpft, unter Berufung auf Wilsons Selbstbestimmungsrecht der Völker. Und nun ist er letztes Jahr von einem serbischen Faschisten ermordet worden.«

»Arvid hat auch für Deutschland gekämpft«, sagte Falk. »In Oberschlesien. Er ist von zu Hause weggelaufen und in ein Freikorps eingetreten.«

»Wobei er kaum die Chance gehabt haben dürfte, große Heldentaten zu begehen«, sagte Clara Harnack. »Er wurde gleich gefangen genommen und wieder zu mir nach Hause geschickt. Er war ja noch keine achtzehn. Den ganzen schönen Krieg hatte er verpasst.«

»Unsere Mutter ist Pazifistin«, sagte Inge. »1915 ist sie zum Frauenfriedenskongress nach Den Haag gereist, mitten im Krieg. Um ein Haar hätte man sie ebenfalls eingesperrt, als Vaterlandsverräterin.«

»Hast du Remarques Roman gelesen, Mildred?«, sagte die jüngere der beiden Schwestern. »›Im Westen nichts Neues‹? Ich kann dir das Buch leihen. Freilich nur auf Deutsch.«

Im Weiteren sprach man über Brechts ›Dreigroschenoper‹, die Revolutionen von 1848 und 1918, Henry David Thoreaus Protest gegen den mexikanischen Krieg, die Bauprojekte von Bruno Taut, Mildreds von Deutschen geprägte Heimatstadt Milwaukee und das traurige Los der amerikanischen Neger, an dem die ganze Familie lebhaften Anteil nahm. War es wirklich wahr, dass diese armen Menschen separate Eisenbahnwagen und Busse benutzen mussten? Dass sie keinerlei Rechte hatten, ja sich nicht einmal mit Weißen an einen Tisch setzen durften?

Arvid hatte Mildred gewarnt: Es entsprach nicht deutscher Art und ganz sicher nicht der seiner Familie, heikle Themen tunlichst zu vermeiden. Er saß zurückgelehnt, zufrieden von einem Mädchenkopf zum anderen blickend: großer Bruder, Sohn und Ehemann, gehalten vom Netz der Frauen, die er liebt.

Und, ist Mildred in Deutschland angekommen? Fühlt sie sich heimisch im Land ihres Mannes?

Wie auf alle großen Fragen gibt es auch auf diese zwei Antworten: eine kurze, abwimmelnde, und eine, für die zweitausend Buchseiten nicht ausreichen würden.

Mildred sieht sich im Zimmer um. Großmütig geben Arvids Rosen dem noch unwohnlichen Raum von ihrer Schönheit ab.

Dû bist mîn, ich bin dîn · des solt dû gewis sîn ·

Das Gedicht haben sie vor einer Weile gemeinsam gelesen, zuerst in der hochdeutschen Übersetzung, dann im mittelhochdeutschen Original. Sich solch eine doppelt fremde Sprache anzueignen ist eine merkwürdige Angelegenheit. Zu Anfang sucht man sie zu beherrschen, sich ihre Fügsamkeit zu erkämpfen. Aber kaum verzeichnet man erste Triumphe, beginnt die Sprache sich aufzulehnen. Sie verweigert sich den Selbstverständlichkeiten, die der Lernende mitbringt, sie lässt ihn seine Vorstellungen nicht in ihre Kleider hüllen, und man begreift: um sie zu beherrschen, muss man sich ihr unterordnen, ihre Spielregeln zu den eignen machen.

dû bist beslozzen · in mînem herzen · verlorn ist das sluzzelîn · dû muost ouch immêr darinne sîn ·

Wenn Mildred die Verse liest, sie halblaut nachspricht, tritt geisterhaft die zärtlich-schalkhafte Kerkermeisterin vor sie hin, die diese Zeilen zur Zeit Kaiser Barbarossas verfasst hat. Sie fordert Mildred auf, mit ihr zu verschmelzen. Sie stellt sie vor die Wahl: Wandle dich! Oder bleibe auf immer eine Fremde.

Wobei Arvid und Mildred unter sich Englisch sprechen. So wird es auch heute Abend sein: Ernie und Dorothy sind in der Stadt, alte Freunde aus Madison.

»Ernest L. Meyer«, sagt Arvid Harnack, »Kolumnist der ›Capital Times‹, zu meinen Zeiten Herausgeber des ›Wisconsin Literary Magazine‹. – Dorothy, Ernie, und dies ist Dr. Zechlin. Er hat sich gerade längere Zeit in Amerika aufgehalten, dank eines Rockefeller-Stipendiums, so wie ich damals.« Mildred hat die Umzugskisten an die Wände gerückt. Auf dem Tisch stehen Arvids Rosen, eine seltene Flasche Wein, eine Platte mit feinen Schnittchen aus der Gastwirtschaft gegenüber.

»Deutscher Wein und deutscher Sang«, sagt Egmont Zechlin. »Welch unzeitgemäßer Luxus in dieser dem Genuss abholden Zeit. Ich habe seit meiner Rückkehr meist in der amerikanischen Kirche gegessen, da gibt es gebackene Bohnen und Brot für fünfzig Pfennige. Wobei man in den Zeltsiedlungen am Stadtrand und in den Parks nicht einmal das aufbringen kann. Die Leute betteln, sie stehen beim Metzger um nackte Knochen an und gießen die Brühe über altbackenes Brot. Nicht dass es in Amerika so sehr viel besser aussieht. Mildred, du gestattest?« Mit etwas verfrühter Gelöstheit wirft Egmont Zechlin sein Jackett von sich. »Es ist einfach zu warm heute. Das hat mir in Ihrem Land gefallen, Mr. Meyer. Diese gewisse Formlosigkeit. Nun, heben wir die Gläser und trinken auf die Gastgeber und ihren heutigen Jubeltag.«

Mildred reicht die Schnittchen herum. Arvid beugt sich zu Ernie Meyer herüber.

»Dr. Zechlin und ich«, sagt er, »kennen uns aus Marburg. Wir haben dort beide an unseren Habilitationsschriften gearbeitet. Ich weiß nicht, ob dir die deutschen Gebräuche noch ausreichend vertraut sind. Aber wenn man hier Professor werden will – «

»Wer spricht von wollen?«, sagt Zechlin. »Herrn Dr. Harnack bleibt schlicht nichts anderes übrig. In seiner Familie sind alle Professoren. Alles bedeutende Männer. Das Porträt seines Urgroßvaters Professor von Liebig schmückt sogar die Fenster der Kolonialwarenläden, um für die Qualität der Produkte zu bürgen.«

»Zechlin, ich bitte Sie. Doch nur, weil Liebig einen Fleischextrakt erfunden hat.«

Dorothy Meyer, schmal, dunkel, in einem Kleid amerikanischen Schnitts, das Mildred schon die ganze Zeit still bewundert, ist von Fenster zu Fenster geschwebt und nun vor der Anrichte stehen geblieben, über der Claras Panorama der Wanderdünen auf der Kurischen Nehrung hängt.

»Sehr schön, eure Wohnung. Der Blick über den Park und das Häusermeer. Und was für ein stimmungsvolles Gemälde.«

»Arvids Mutter hat es gemalt«, sagt Mildred. »Hier diese bunten Häuschen im Vordergrund sind das Dorf Preil im Memelland. Die Fischersfamilien haben sie erbaut, nachdem die Dünen ihre alten Heimstätten unter sich begraben hatten.«

»Das Memelland gehört neuerdings ja zu Litauen«, sagt Egmont Zechlin. »Der Vertrag von Versailles hat es von Ostpreußen abgetrennt, ohne Volksabstimmung, wohlgemerkt. Man sah wohl das Ergebnis voraus. West- und Ostpreußen haben schließlich mit über neunzig Prozent für einen Verbleib bei Deutschland gestimmt, dagegen konnten selbst die Siegerländer nicht angehen, ohne ihr Gerede von Demokratie und Selbstbestimmungsrecht der Völker als Staffage zu entlarven. In Oberschlesien waren es nur sechzig Prozent, die hat man ungestraft ignoriert. So viel zum Völkerbund und den Interalliierten. Aber ich will Amerika als assoziierter Macht der Entente nicht zu nahe treten. Wir halten das Gastrecht in Deutschland hoch.«

»Lieber Zechlin«, sagt Arvid, »Ernie Meyers Vater ist nicht nur gebürtiger Deutscher, er war bis Kriegsbeginn auch Herausgeber der ›Germania‹, der größten deutschsprachigen Zeitung Milwaukees. Und Ernie selbst hat als Kriegsdienstverweigerer in Amerika in Haft gesessen.«

Ernie Meyer, zurückgelehnt, die langen Beine von sich gestreckt, bohrt die Hände in die Hosentaschen.

»Warum für die Interessen des Großkapitals sterben? Niemandem sonst nützt schließlich ein Krieg, genauso wenig wie der ganze Hurrapatriotismus.«

»Harnack, Sie haben doch selbst in den Freikorps in Oberschlesien gekämpft«, sagt Egmont Zechlin.

»Nun ja«, sagt Arvid, »einige wenige Wochen lang. Es war viel romantische Verklärung im Spiel. Wir in den Freikorps sahen uns nicht als Soldaten. Wir waren Krieger, Freischärler, Geächtete, Wiedergänger der Schwarzen Schar, die noch einmal die napoleonischen Befreiungskriege ausfochten. Dagegen das Zivilleben barg damals keine großen Verheißungen.«

»Daran hat sich wenig geändert«, sagt Zechlin. »Der Magistrat lässt neuerdings in den Arbeitsämtern Tische und Bänke zum Kartenspielen aufstellen, damit die Arbeitslosen nicht mehr aus Verzweiflung die Beamten verprügeln.«

Dorothy betrachtet noch immer das Gemälde.

»Wart ihr denn einmal dort, in diesem Dorf Preil?«, sagt sie.

»Nein«, sagt Mildred. »Aber wir wollen unbedingt hinfahren und diese Wanderdünen erklimmen. Sie sollen über fünfzig Meter hoch sein. Stell dir nur vor, wie das sein mag, im Schatten einer solchen Bedrohung zu leben. Tagsüber achtest du vielleicht nicht darauf, du lenkst dich ab, aber nachts hörst du den Wind, das Rieseln des Sandes. Am Morgen wischst du die Sandkörner weg. Aber der Wind weht unablässig neue heran – «

»Ich persönlich hoffe, dass das Memelland samt Dünen einmal für eine Weile zur Ruhe kommt«, sagt Arvid. Mit der Pfeife wedelt er in Richtung des Bildes. »In unserer Studentenbude in Jena wussten wir nicht wohin damit, dann in Gießen wurde es vorübergehend an meine Mutter retourniert, und auch hier in Berlin hat sein Standort bereits mehrmals gewechselt. Allmählich möchte man sich doch etwas dauerhafter einrichten.«

»Aber wo?«, sagt Ernie Meyer. »Das ist ja heute die Frage in Europa. Wie soll der Kontinent zur Ruhe kommen, solange man dieses teuflische Selbstbestimmungsrecht der Völker propagiert? Welches Volk soll es jeweils sein? Die Überreste der im Weltkrieg zerfallenen Vielvölkerreiche geben sich Namen von ehernem Klang, als könnte das den Alleinanspruch des jeweiligen Mehrheitsvolks auf dieses oder jenes Stückchen Erde zementieren. Aber in einem Landstrich wie Ostgalizien und Wolhynien haben seit jeher Ukrainer, Polen, Deutsche, Juden in Nachbarschaft gelebt. Fünf ganze Monate hat sich die Westukrainische Volksrepublik gehalten. Im Polnisch-Ukrainischen, Ukrainisch-Sowjetischen und Polnisch-Sowjetischen Krieg sind seit Ende des Weltkriegs Tausende verblutet. Und auch die Bevölkerung der westeuropäischen Staaten ist alles andere als einheitlich. Der Ruf nach Selbstbestimmung der Völker muss zwangsläufig mörderisch wirken, solange Europa aus Nationalstaaten aufgebaut und die unselige Idee der Nation nicht ganz verschwunden ist.«

»Allerdings kann sich bis dahin fast jeder Mensch im Notfall auf seine Volkszugehörigkeit berufen und an irgendeinen Nationalstaat appellieren«, sagt Dorothy. »Mit Ausnahme der Juden. In der Westukraine sind Zehntausende den Pogromen von 1918/1919 zum Opfer gefallen. Ich selbst stamme ursprünglich aus Białystok, Herr Zechlin. Im 17. Jahrhundert war Białystok eine Residenzstadt des polnischen Adels, dann wurde es preußisch, russisch, deutsch und ist nun Teil der Zweiten Polnischen Republik. Aber auf den Antisemitismus war immer Verlass. Ich war sieben, als wir vor den Białystoker Pogromen nach Amerika geflohen sind.«

»Ja, Amerika hat lange als ein gesundes Ventil für das Übermaß an Zuwanderung gewirkt, das wir hier erdulden«, sagt Egmont Zechlin lebhaft. »Aber nun stauen sich die Flüchtlinge wieder zunehmend vor verschlossenen Pforten, mit Amerikas neuem Quotensystem, das die Einwanderung aus Süd- und Osteuropa doch in erheblichem Maß zugunsten der nordischen Einwanderer beschränkt. Nun gut, man sucht das Land natürlich weiß zu erhalten. Aber ist es dazu nicht ohnehin zu spät angesichts der vielen Neger? Deren Behandlung stellt allerdings alles in den Schatten, was man in Deutschland die Judenfrage nennt. Da fragen mich meine deutschen Studenten mit einigem Recht, wie die westlichen Demokratien behaupten können, Garanten von Gleichheit und Gerechtigkeit zu sein. Immerhin gehört im Grunewald jede dritte Villa einem Juden.«

»Ich will die Missstände in Amerika nicht kleinreden«, sagt Mildred. »Aber es ist nicht annehmbar, wenn man in Deutschland die Lage der Neger dazu verwendet, sich ausländische Kritik an den eigenen Zuständen zu verbitten. Wobei ich in einem Brief an meine Mutter neulich selbst die Nazis mit dem Ku-Klux-Klan verglichen habe, um ihr verständlich zu machen, dass es Menschen wie die Nazis auch bei uns gibt. Ich verteidige Amerika gegenüber den Deutschen und Deutschland gegenüber den Amerikanern. Es ist eine unmögliche Situation.«

»Was macht ihr, wenn Hitler tatsächlich Reichskanzler wird?«, sagt Dorothy.

»Das wird er nicht«, sagt Mildred. »Die NSDAP mag stärkste Partei sein, aber die absolute Mehrheit haben sie auch bei den letzten Wahlen wieder verfehlt.«

»Die Macht könnten sie nur mit Gewalt erringen«, sagt Arvid. »Aber Hitler hat nach dem verpatzten Putsch gelobt, sich nunmehr streng an legale Mittel zu halten und Deutschland erst nach seinem Wahlsieg umzubauen. Und diesen Sieg wird die Linke verhindern.«

»Die deutsche Linke ist gespalten«, sagt Zechlin.

»Die deutsche Arbeiterbewegung ist die mächtigste und bestorganisierte der Welt«, sagt Arvid. »Sie wird nicht zulassen, dass bei uns ein Regime wie in Italien entsteht. Mir ist in dieser Hinsicht nicht bange. Das wahre Problem ist, dass die Nazis die Reichsregierung vor sich her treiben, auch ohne selbst an der Macht zu sein.«

»Die Nazis können immer auf die Polizei zählen«, sagt Mildred. »Ich habe es selbst gesehen, wie sie den Naziaufmarsch vor dem Karl-Liebknecht-Haus geschützt haben. Nur die Nazis haben sie durchgelassen, gegen die Arbeiter sind sie mit Gummiknüppeln vorgegangen. Zuletzt fuhren sie sogar einen Panzer auf.«

»Habt ihr in Amerika vom Altonaer Blutsonntag gehört?«, sagt Arvid. »Man ließ die Nazis durch Altona marschieren, und am Ende lagen sechzehn Arbeiter tot. Ermordet hatte sie aber nicht etwa die SA, sondern deutsche Polizei. Die Reichsregierung ihrerseits hat diesen Skandal zum Anlass genommen, die sozialdemokratische Regierung Preußens zu entmachten, die Grundrechte im größten deutschen Land einzuschränken und jeden Protest oder Widerstand für illegal zu erklären. Ich sage voraus, dass der 20. Juli als Schicksalstag Deutschlands in die Geschichte eingehen wird. Nichts stellt sich nach dem Preußenschlag nun noch Papens Plänen für eine autoritär-präsidiale Republik entgegen.«

»Aber was hätte die Regierung denn tun sollen?«, sagt Egmont Zechlin. »Fast hundert Tote und über tausend Verletzte, innerhalb eines einzigen Monats. So kann es doch nicht weitergehen, irgendwie muss die Ordnung wiederhergestellt werden.«

»Man hätte das Verbot von SA und SS niemals aufheben dürfen«, sagt Arvid. »Aber freilich, wie sonst hätte Papen sich Hitler gegenüber dafür erkenntlich zeigen können, dass der seine Minderheitenregierung toleriert?«

»Die Nazis brauchen gar nicht selbst an die Macht zu kommen«, sagt Mildred. »Die extreme Rechte ist auch so bereits stärkste Kraft im Staat. Die Wahlerfolge der Nazis dienen der Regierung als Legitimation, selbst extreme Positionen zu besetzen und die Republik zugrunde zu richten. Und das alles geht ja bereits bis ins private Leben. Arvids Cousin Ernst von Harnack ist seines Amtes als preußischer Regierungspräsident enthoben worden, ebenso wie der preußische Kultusminister Adolf Grimme, der letztes Jahr meinen Lehrauftrag unterzeichnet hat.«

»Der wird nun nicht mehr verlängert«, sagt Arvid. »Das heißt, Mildred wird im nächsten Semester nicht mehr an der Berliner Universität unterrichten.«

»Nun ja«, sagt Egmont Zechlin. »Man ist in konservativen Kreisen allgemein der Ansicht, dass es ein Unding ist, wenn eine Frau eine Universitätsstellung bekleidet, wo so viele Männer ohne Arbeit dastehen.«

»Deutsche Männer, lieber Zechlin, nicht wahr, und meine Frau ist Ausländerin. Aber ihre Vorlesungen waren ein großer Erfolg. Ihre Studenten haben Hunderte von Unterschriften für sie gesammelt. Offiziell ist die Petition aus fiskalischen Gründen abgelehnt worden, aber tatsächlich steht Schönemann dahinter, der neue Leiter des amerikanischen Instituts. Ein überzeugter Nazi. Ihm ist zu Ohren gekommen, dass Mildred ihren Studenten empfohlen hat, Marx zu lesen.«

»Marx gehört nun allerdings wirklich nicht zum Kanon der amerikanischen Literatur«, sagt Egmont Zechlin, »auch wenn sich Walter Duranty in der ›New York Times‹ bemüht, den Amerikanern die Vorzüge des Stalinismus näherzubringen. Das wird ihm hoffentlich nicht gelingen. Liebe Frau Harnack, verzeihen Sie, wenn es vielleicht klang, als wollte ich Ihr Land bekritteln. Lassen Sie mich sagen, ich fand Amerika großartig. Ich habe Cowboys und Indianer besucht, ich kann jetzt im Galopp Lasso werfen, nein wirklich, auch mit nur einem Arm. Wissen Sie, Mr. Meyer, der andere ist im Weltkrieg geblieben. Ich habe auch den Führerschein gemacht und ein Auto gekauft. Ein sehr netter Jude hat mir bei den Verhandlungen geholfen, entsprechend günstig war nachher der Preis. Ich bin kreuz und quer durch das ganze Land gefahren, und überall bin ich auf liebenswerte Menschen gestoßen. Sie können ja nichts für ihr verkommenes Gesellschaftssystem.«

»Was glauben Sie, Zechlin«, sagt Arvid, »wer die Wahlen gewinnt?«

»Nun ja. Roosevelt scheint keine besonders klare Vorstellung davon zu haben, was er meint, wenn er der Öffentlichkeit einen New Deal verspricht. Womöglich könnte Hoover es trotz allem noch einmal schaffen.«

Ernie Meyer beugt sich vor.

»Niemals. Hoover ist erledigt, spätestens seit er die Armee mit Gas und Panzern gegen die Kriegsveteranen und ihre Familien hat vorrücken lassen, nur weil die die Boni einforderten, die ihnen rechtmäßig zustehen. Die Bilder der brennenden Hütten wird man ihm niemals verzeihen.«

»Na, wahrscheinlich haben Sie recht«, sagt Egmont Zechlin. »In Zeiten wie den unseren erscheint den Leuten ja alles besser als der Status quo, nur deswegen wählen sie einen wie Hitler. Nicht dass ich die politischen Ansichten von Hitler und Roosevelt für vergleichbar halte. Allerdings verfügen beide über das Talent, heterogene Massen zu begeistern und von ihren Gegnern mit großer Vehemenz gehasst zu werden.«

»Aber, Mildred«, sagt Dorothy. »Was wirst du nun tun, wenn du deine Arbeit verloren hast, in dieser schrecklich schwierigen Zeit?«

»Zuerst war ich einigermaßen erschüttert«, sagt Mildred. »Aber tatsächlich hatte ich Glück im Unglück. Zum 1. September fange ich am Städtischen Abendgymnasium an. Es ist eine Anstalt für Erwachsenenbildung, ähnlich unseren Evening High Schools. Vielleicht kann ich dort sogar mehr zur Veränderung der Gesellschaft beitragen als an der Universität. Der einzige Wermutstropfen ist, dass Arvid und ich nun nicht zusammen nach Russland fahren können, weil ich Ende des Monats bereits anfangen muss. Ich werde also vor ihm fahren. Es ist ja auch wichtig für eine Frau, hin und wieder etwas ohne ihren Mann zu planen. Die Fahrkarte habe ich schon gekauft.«

»Du fährst in die Sowjetunion?«

»Wusstet ihr das nicht? Ich dachte, Arvid hätte es euch erzählt. Ich reise mit Intourist, der sowjetischen Agentur. Arvid fährt natürlich mit der Arplan.«

»Mit wem?«

»Der Arbeitsgemeinschaft zum Studium der sowjetischen Planwirtschaft. Arvid ist Erster Sekretär. Meine Güte, Dorothy, wir haben uns wirklich lange nicht gesehen.«

»Mein Freund Bessonow von der sowjetischen Handelsvertretung hat die Reise arrangiert«, sagt Arvid. »Wir werden Gelegenheit haben, Fabriken und Musterfarmen zu besichtigen und einigen hochrangigen Intellektuellen zu begegnen. Es sollte hochinteressant werden. Die Sowjetunion ist schließlich die einzige Volkswirtschaft, die nicht unter der Depression leidet. Dnjepr-Staudamm, Weißmeerkanal, der Eisenbahnbau – im Osten geht es bergauf, im Westen bergab.«

»Aber warum kommen sie dann alle zu uns?«, sagt Zechlin. »Schauen Sie sich in Charlottenburg um! Was sehen Sie? Blinis, Balalaikas, russische Zeitungen. Man könnte meinen, in Leningrad zu sein.«

»Arvids Großvater ist in Leningrad geboren«, sagt Mildred. »Oder in Sankt Petersburg, wie es damals noch hieß. Er war Professor an der Universität von Dorpat in Livland, wobei Livland damals natürlich ebenfalls zum kaiserlichen Russland gehörte. Ach, sich das alles einmal anschauen zu können! Habt ihr die großen russischen Filme gesehen, Dorothy? ›Oktober‹, ›Erde‹, Eisensteins ›Panzerkreuzer Potemkin‹?«

»Es tut mir leid«, sagt Dorothy, »aber ich kann an Russland nur mit Schrecken denken. Mildred, die Schwarzen Hundert und der Bund des Russischen Volkes wollten die Juden in Russland ausrotten. Die sogenannten ›Protokolle der Weisen von Zion‹, auf die sich die antisemitischen Hetzer so gern berufen, sind ursprünglich in einer Petersburger Zeitung erschienen, das werde ich nicht vergessen.«

»Ich weiß, Dorothy. Aber heute ist dort doch alles anders. In der Sowjetunion sind alle antisemitischen Beschränkungen aufgehoben. Dafür hat die Revolution gesorgt.«

»Du meinst wirklich, die Revolution hat die Menschen verändert? Ich glaube das nicht. Die jüdische sozialistische Intelligenz setzt sich so gern für die Massen der Ungebildeten ein, für die ausgebeuteten Bauern und Arbeiter, aber genau in diesen Schichten kocht die blinde Volkswut, und nimmst du den Deckel vom Topf, brechen die Pogrome hervor.«

»Reisen Sie denn allein, Frau Harnack?«, sagt Egmont Zechlin. »Ich halte das für nicht ungefährlich. Haben Sie gar keine Bedenken?«

»Absolut keine. Ich werde vollkommen sicher sein. Dorothy, gerade für die Frauen hat die Sowjetunion doch unbestreitbare, riesige Fortschritte erzielt. Geburtenkontrolle, Abtreibung, das Recht, in jedem gewünschten Bereich zu arbeiten, auch nach einer Geburt. Scheidung ist eine Sache von Minuten. Männer tragen zur Unterstützung ihrer Kinder bei, der ehelichen wie der außerehelichen. Wo sonst gibt es so etwas? Du sagst jetzt sicher, ich sitze der Propaganda auf. Aber ebendeswegen fahre ich ja. Um mich vor Ort von den Verhältnissen zu überzeugen.«

»Was mich interessiert, ist die Planwirtschaft«, sagt Arvid. »Der Kapitalismus hat abgewirtschaftet, das ist offensichtlich. Selbst wenn der Westen diesmal wieder auf die Beine kommt, ist die nächste Krise unvermeidbar. Der Kapitalismus muss zwangsläufig nach Phasen der Hochkonjunktur immer wieder Zeiten extremen Niedergangs und Elends produzieren. Das ist es, was wir jetzt erleben und immer wieder erleben werden, wenn wir nicht Alternativen entwickeln.«

»Aber sich dazu ausgerechnet nach Russland wenden?«, sagt Egmont Zechlin. »Deutschland zu einem Staat nach Stalinschem Muster umbauen?«

»Davon kann doch gar keine Rede sein«, sagt Arvid. »Deutschland ist geografisch dazu berufen, eine wirtschaftliche und geistige Mittlerrolle zwischen Ost und West zu spielen. Dazu muss es sich von der Bevormundung durch die Weststaaten lösen. Dabei kann das sowjetische Modell helfen. Ich stelle mir einen Staat vor, der planwirtschaftlich organisiert ist, ansonsten aber ein Höchstmaß an individueller Freiheit bietet. Genau dazu haben wir ja die Arplan ins Leben gerufen, mein Doktorvater Professor Lenz, Bessonow und ich. Die Mitglieder sind mitnichten alle Kommunisten. Viel nationalrevolutionär gesinnte Intelligenz ist dabei, alle Sorten von Intellektuellen von links bis rechts. Die Debatten sind lebhaft und fast immer erhellend.«

»Im Grunde ist das Ganze eine Art Fortsetzung unserer Friday Niters«, sagt Mildred zu Ernie.

»So nannte sich eine Gruppe von Studenten, die sich in Wisconsin um Professor Commons gebildet hatte«, sagt Arvid zu Egmont Zechlin. »Ich verdanke ihm einiges an Einsicht.«

»Commons hat den Glauben an eine harmonische Selbststeuerung der Wirtschaft ebenfalls niemals geteilt«, sagt Ernie Meyer. »So wenig wie La Follette, der herausragendste Gegner der großen Konzerne und ihrer wachsenden Macht über die Regierung. Wobei mich diese Grenzverwischungen zwischen rechts und links, von denen Arvid gerade gesprochen hat, eher beunruhigen. Ich fürchte, sie dienen nur Hitler. Er kann sich als den guten Deutschen hinstellen, der seine Anhänger nach allen Seiten hin beschützt, nach oben und unten, nach rechts wie nach links, vor gierigen Bankiers und korrupten Eliten gleichermaßen wie vor dem Neid der proletarischen Massen. Er ist der Retter der Nation, der dem internationalen Finanzjudentum Einhalt gebietet, das genau wie der Kommunismus kein Vaterland kennt.«

»Entschuldigung, Ernie«, sagt Mildred. »Aber das ist nichts als eine weitere Unterstellung der Rechten. Ich habe gerade die Biografie von Wera Figner gelesen. Sie war am Anschlag der Narodnaja Wolja auf Zar Alexander II. beteiligt. Wofür sie kämpfte, waren freie Wahlen, Meinungsfreiheit, eine Verfassung. Zwanzig Jahre lang war sie in der russischen Bastille eingekerkert. Diese mutige Frau musste es erleben und ertragen, wie alle ihre Kameraden starben, einer nach dem anderen, und als sie schließlich selbst in Freiheit kam, konnte sie sich an das Leben gar nicht mehr gewöhnen. Was für eine Willenskraft müssen diese Menschen gehabt haben. Was für eine Liebe zu ihrem Land! Darum fahren wir in die Sowjetunion, Arvid und ich. Die Sowjetunion ist das einzige Land, das sich bemüht, allen Arbeit und Brot zu geben und alle Menschen gleich zu behandeln. Es ist ein außerordentliches Experiment der Nächstenliebe, und wer das abstreitet, dem kann ich in einigen Wochen entgegenhalten: Warst du da? Nein. Aber ich. Ich habe alles gesehen, mit meinen eigenen Augen.«

7. November,Sowjetische Botschaft, Berlin

»Na, Salomon, das ist doch mal was.« Der Verleger Ernst Rowohlt steht mit seinem Erfolgsautor im Roten Salon der Sowjetischen Botschaft Unter den Linden. »Rote Smyrnateppiche. Weißer Marmor. Schickt sich das eigentlich für den fünfzehnten Jahrestag der Oktoberrevolution?«

Ernst von Salomon lässt seinen Blick durch den Raum schweifen. »Was hätten die Russen tun sollen? Die Wandverkleidungen herausreißen, weil sie aus der Zarenzeit stammen?«

»Da haben Sie allerdings recht, Salomon. Dann wären sie wahrhaft Barbaren gewesen. Die Pagen sind jedenfalls aus dem ›Esplanade‹ ausgeliehen. Was glauben Sie, wie viele Gäste sind da?«

»Tausend. Vielleicht mehr. Ich muss sagen, die sowjetischen Diplomatengattinnen haben alle Register gezogen. Ich sehe Nerzstolen. Dagegen die Genossinnen und Genossen wirken etwas karg.«

»Nun sicher, Salomon. An ihren Straßenanzügen sollst du sie erkennen. Schließlich müssen sie sich irgendwie von den Militärs und Wirtschaftskapitänen abheben, mit denen sie im Kampf um die Macht am Büfett vereint sind.«

»Welch schönes Beispiel für die demokratisch-kapitalistische Ordnung. Kaviar und Krimsekt für alle! Ob man den Löwenanteil erobert, hängt von der persönlichen Skrupellosigkeit ab.«

Rowohlt traktiert den massigen Jüngeren mit einem hallenden Schlag auf den Rücken. »Kommen Sie, Salomon. Da drüben stehen die Harnacks. – Lieber Doktor, sehr verehrte gnädige Frau, darf ich Ihnen Herrn von Salomon vorstellen. Der Autor der ›Geächteten‹. Sie mögen von ihm gehört haben.«

»Selbstverständlich«, sagt Mildred. »Der Roman über die Freikorps im Baltikum und in Oberschlesien. Ein großartiger Erfolg.«

Salomon deutet eine Verneigung an.

»Herr Dr. Harnack hat ebenfalls zu unserem Haus gefunden«, sagt Rowohlt. »Er ist ein Kenner der Sowjetunion und ein Wirtschaftsfachmann, der gerade von einer Reise nach Russland zurückgekehrt ist. Ich habe angeregt, er möge doch ein Handbuch über die Sowjetunion schreiben.«

»Ja, das tut Rowohlt«, sagt Salomon. »Was hat er mir zugesetzt mit seiner Anregerei. Salomon, bringen Sie Ihre Erlebnisse in Romanform! Aber erst in Moabit fand ich endlich die nötige Ruhe und Muße.«

Salomon macht kein Hehl daraus, dass er für den provokatorischen Scheinanschlag auf das Reichstagsgebäude eine Gefängnisstrafe verbüßen musste. Es war nicht seine erste: Für seine Beteiligung an der Ermordung von Außenminister Walther Rathenau ist er zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt worden, die er allerdings nicht absitzen musste.

»Immerhin der Sünde der Bigotterie kann man mich nicht zeihen. Ich habe niemals verborgen, dass ich den liberalen Staat für unfähig halte, sich über die Parteibildungen zu erheben, die ideologische Spaltung der Nation zu überwinden und ein neues Kollektiv zu erzwingen, wie es bitter nötig wäre. Und die gestrige Wahl hat mir kaum Anlass gegeben, meine Meinung zu revidieren.«

»Der Aufstieg der NSDAP scheint immerhin gestoppt«, sagt Sergei Bessonow, der zu den Harnacks herangetreten ist. »Die Nazis haben 35 Sitze verloren.«

»So ist es, Herr Bessonow!« Rowohlt reibt sich die Hände. »Wenn die Komintern nicht all ihre Kräfte auf die Vernichtung der gemäßigten Linken wenden würde, würden wir vielleicht demnächst von einer Koalition aus Kommunisten und Sozialdemokraten regiert. Pardon, Sozialfaschisten natürlich. Na, trinken wir auf den Jahrestag der Revolution.«

Bessonow, unverändert höflich, winkt einen Pagen mit einer Wodkakaraffe heran. »Und darf ich fragen, wie es Ihnen bei uns gefallen hat, Frau Harnack? Ihre Reise in die Sowjetunion liegt ja nun schon eine Weile zurück, aber ich glaube fast, wir haben einander seitdem nicht mehr gesehen.«

»Frau Harnack hat sich allein ins wilde Sibirien hinausgewagt«, sagt Rowohlt zu Salomon.

»Die Sowjetunion unterstützt nachdrücklich die Gleichheit der Geschlechter und die Rechte der Frauen«, sagt Bessonow. »Ich bin sicher, dass sich Frau Harnack immer und überall hat sicher fühlen können.«

»Unbedingt«, sagt Mildred. »Ich war sehr beeindruckt von den großartigen Erfolgen Ihres Landes. Natürlich bleibt noch viel zu tun.«

»Selbstverständlich. Russland unter den Zaren war ein unendlich rückständiges Land, verarmt und unterdrückt. Zeit, Geduld und harte Arbeit sind nötig, um unser kulturelles Niveau auf das von Ländern zu heben, die in der Vergangenheit glücklicher waren.«

»So hat man es mir erklärt. Ich muss zugeben, dass ich zuerst ein bisschen verstört war. Diese Frauen an den Bahnhöfen, in der Ukraine. Wir haben dort ja immer nur kurz gehalten, aber sie standen in Scharen an den Zügen, klagend und weinend, und hielten uns ihre Kinder hin, als ob sie uns bitten würden, sie mitzunehmen. Solch elende Gestalten, und die armen Kleinen zu schwach, um die Köpfe aufrecht zu halten. Man hätte auf die Idee kommen können, sie stünden im Begriff zu verhungern.«

Bessonow seufzt, er hebt die Hände. »Da sehen Sie es. Diese Menschen scheuen vor nichts zurück. In ihrer Hartnäckigkeit geben sie lieber ihr eigenes Fleisch und Blut an Fremde weg, als zum Aufbau unseres neuen Staates beizutragen. Sehen Sie, liebe Frau Harnack, unter den Zaren waren diese Kulaken reich. Sie waren Großgrundbesitzer, die sich vom Schweiß ihrer schuftenden Leibeigenen nährten. Wir haben sie im Namen der Gerechtigkeit enteignet, um ihr Land unter den ausgebeuteten Massen der Landlosen zu verteilen. Aber bis heute weigern sie sich zu kooperieren.«

»Das haben uns unsere Führer von Intourist ebenfalls erklärt. Ich verstehe, all diese Übel sind ein Vermächtnis der Vergangenheit. Die Samen der Zukunft brauchen Zeit zu sprießen. Und das werden sie auch. Überall im Land ist mir der fröhliche Tatendrang der Menschen aufgefallen, die Zuversicht, der Optimismus. Und uns ist man nie anders als offen und gastfreundlich begegnet.«

»Wie schön, das von Ihnen zu hören, gnädige Frau. Ich vertraue darauf, dass unsere beiden Länder einen Ausweg finden werden aus den großen Nöten dieser Zeit.«

»Und auf den 7. November folgt zwangsläufig der 8. Der Jahrestag des Hitlerputschs. Jedes Land hat die Jubiläen, die es verdient. Heute wählen die Amerikaner. Lass uns zu Bett gehen, Liebes, es ist nach Mitternacht.«

Arvid hantiert mit seiner Pfeife. Mildred steht auf, um die Gläser wegzuräumen. Die Harnacks haben noch ein wenig zusammengesessen, wie Paare das nach einer Veranstaltung tun.

»Sind wir nicht heute Abend bei den Bonhoeffers eingeladen? Ich will einmal mit Klaus sprechen. Vielleicht kann er mir ja eine Position bei der Lufthansa verschaffen.«

Klaus Bonhoeffers Frau Emmi ist Arvids Cousine. Arvid hat die Hoffnung aufgegeben, in die Reihen seiner professoralen Ahnen aufzusteigen. Die politischen Verhältnisse stehen ihm entgegen, die schiere Menge der Anwärter, die gesinnungsmäßig eher entsprechen.

»Und man will doch etwas erreichen. Ich bin von morgens bis abends auf den Beinen, im Bund der Geistesarbeiter, in der Arplan, in einem Dutzend Diskussionszirkeln, aber Geld oder Stellung bringt das alles nicht ein. Und du hast entschieden mehr Komfort und Bequemlichkeit verdient, als ich dir bisher habe bieten können.«

»Aber Lieber! Wir haben einander. Ich habe meine Arbeit, meine Schüler, die Theatergruppe, die Lesungen im American Women’s Club. Ich habe alles, was ich mir wünschen könnte. Ich bin in Paris gewesen, in London, in Moskau und Leningrad. Ich, das kleine Mädchen aus der Prärie. Wer hätte das für möglich gehalten?«

Das Leben ist so, wie man es sich erzählt. Anspruchsvoll denken, anspruchslos leben: Das ist das Motto, unter das Mildred das ihre zu stellen gedenkt. Mildred tritt ans Fenster. Hinter ihr sind Arvids Schritte zu hören, wie er das Zimmer verlässt, den Flur überquert. Mildred öffnet beide Fensterflügel, um den Pfeifenrauch hinauszulassen. In der Luft liegt eine erste Ahnung von Schnee. Vom Lokal gegenüber dringt noch immer Musik herauf. Einen Moment überwältigt sie die Wirklichkeit: Hier steht sie, mitten im Herzen dieser pulsierenden Stadt, im Zentrum der Weltgeschichte, eine freie Frau, verheiratet, dreißig Jahre alt, gesund, tatkräftig, voll Zuversicht, während sich dort draußen im dunklen Land ganz nebenbei ein Bürgerkrieg zusammenbraut.

2

9. November 1932, Berlin

Europa war die Uhr der Welt. Sie steht.

Ein großartiger Satz. Er ist Harro eingefallen, als er vorhin bei Rosenbaums Uhren- und Juwelenhandel aus dem Bus gesprungen ist. Der Satz ist wahr, man könnte ihn in Erz meißeln, aber vor allem hat er Schwung. Er hat Rhythmus, er hat Pep, ein regelrechter Ohrwurm ist dieser Satz, zu dem man frohgemut voranmarschieren kann, da-DA-da-DA da-DA-da-DA – da-DA!, bis zu dem kleinen Tusch am Ende. Wer Eingebungen sucht, muss in Bewegung bleiben. Harro Schulze, übrigens in Smoking und Abendschuhen, obgleich es erst später Nachmittag ist, ist unterwegs zum Café Adler am Dönhoffplatz. Er denkt an sich in der dritten Person, in klassischer Erzählform: Harro Schulze, groß gewachsen, schlank, trainiert, überquerte mit federnden Schritten die Leipziger Straße, um sich zu einem Treffen mit den Anhängern und Lesern seiner Zeitschrift zu begeben.

Jawohl, hochverehrte Damen und Herren, sehr geehrtes Publikum, Sie haben richtig vernommen: Harro Schulze ist Zeitschriftenherausgeber, im Alter von gerade mal 23 Jahren. Mag man es Zufall nennen, Schicksal oder göttliche Fügung, Fakt ist, er war zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort. Er stand bereit, als der Initiator und Herausgeber des ›Gegners‹ Deutschland eiligst verlassen musste: Der politische Aktivist, Schriftsteller, Expressionist, Ökonom und Gründer einer Zündholzfabrik in der Sowjetunion Franz Jung hatte ein Problemchen mit einem illegalen Transfer von Reichsmark nach Frankreich, zum Zweck der Errichtung einer Gartenstadtsiedlung nach Entwürfen von Le Corbusier.

Womit einmal mehr erwiesen ist, wozu das System allenfalls taugt: zur Verhinderung alles Neuen, zur Erstickung persönlicher Initiative und Blockierung der Kühnheit. Harro jedenfalls erbot sich sofort, einzuspringen, sein Studium abzubrechen und den ›Gegner‹ am Leben zu erhalten, um der Freundschaft und der Beförderung politischer Wahrheit willen.

Die Juristerei war ohnehin nicht das Richtige für ihn, und wie auch angesichts des geltenden Rechtssystems? Harro hat nun seine Berufung gefunden. Er wirft sich ganz auf die Politik: ein schreibender Revolutionär und Führer von Menschen. Seine Eltern sollten stolz auf ihn sein. Aber natürlich halten sie einen akademischen Abschluss für unabdingbar.

Es ist ihr Alter. Sie sind dem Tempo, der Turbulenz, der heiteren Herzlosigkeit der modernen Zeit nicht gewachsen. Harro ist aber geduldig mit ihnen, er erklärt: Nenne man es die Stimme Gottes, des Gewissens oder wie auch immer, jeder vernimmt doch in sich den Ruf seines eigenen Müssens und Wollens, das ihm eigene Gebot. Freilich, Harros Mutter ist nicht vertraut mit den Schriften Nietzsches, Bergsons oder José Ortega y Gassets. Man kann kaum erwarten, dass sie versteht, mit welcher Grandezza ein Mann dazu bereit sein kann, die Chance, alles zu wagen, einzutauschen gegen das Risiko, nichts zu werden.

Wobei sich Harros Zeitschrift hervorragend entwickelt. Natürlich wirft das Blatt noch nicht allzu viel ab, das war auch kaum zu erwarten angesichts der Wirtschaftslage, aber überall in Deutschland schießen ›Gegner‹-Gruppen aus dem Boden. Harro ist zuversichtlich, dass gegen Ende des Monats wieder etwas hereinkommen wird. Wenn ihm die Eltern bis dahin noch einmal fünfundvierzig Mark für Telefon und Miete vorstrecken würden? Vielleicht noch fünf für die Stadtbahnkarte. Fünfzig für Essen wären höchst willkommen.

Ab mit dem Brief in den Kasten am Dönhoffplatz, mit wehenden Mantelschößen vorbei an der bereits frostgeschützten Fontäne und die Tür aufgestoßen zum Café Adler, wo im warmen, rauchgeschwängerten Dunst die ›Gegner‹-Runde schon auf ihn wartet: ein gutes Dutzend meist junger Leute, Studenten, Künstler, utopische Dichter, Aktivisten der Jugendbewegung, die an Teegläsern nippen, ihr kleines Helles warm werden lassen und Harro mit großem Hallo begrüßen.

Regine Schütt hat ihm den Platz zu ihrer Rechten freigehalten. Das Räubermädel, hübsch, klug und ein prima Kumpel: Nur hat sie den Fehler gemacht, sich in Harro zu verlieben. Gerechterweise muss Harro sich eingestehen, dieser Entwicklung nicht früh und entschieden genug Einhalt geboten zu haben. Andererseits, warum sind die Frauen so töricht? Verstehen sie nicht, dass eine fröhliche Fechterin unendlich viel reizvoller ist als ein trübsinniger Erdkloß?

Nun, es gibt Wichtigeres zu bedenken. Das Thema des heutigen Abends lautet: Volk oder Gesellschaft? Harro hat es einer der Bibeln der Jugendbewegung entnommen: dem Hauptwerk Ferdinand Tönnies’, seines Großonkels mütterlicherseits. Was entscheidet darüber, wohin ein Mensch gehört: Blut, Geburtsort, innere Einstellung, Reisepass? Was ist eine Nation: ein Volkskörper, gemeinsamer Wurzel entwachsen, zusammengeschweißt durch Sprache, Tradition und vor allem Ursprung, Blut aus einem einzigen Quell, oder eine Bevölkerung ohne traditionelle Werte, locker zusammengehalten von veränderlichen Normen, praktischen Interessen, unsentimentalen Beziehungen?

»Und was sagst du zum Ergebnis der Wahl, Harro?«

So Kurt Schumacher, der Holzschnitzer und Bildhauer mit eigenem Meisteratelier an den Vereinigten Staatsschulen für freie und angewandte Kunst, der soeben mit der Prämie des Großen Staatspreises der Akademie der Künste ausgezeichnet worden ist. Er sitzt Harro gegenüber. Harro hat keinen besten Freund, natürlich nicht, er ist schließlich kein Schulmädchen. Aber warum nicht Kurt das Thema des heutigen Abends bestimmen lassen und über die Reichstagswahl reden?

»Von der ich mir keine Veränderung der Verhältnisse erwartet habe«, sagt Harro. »Was ändert es, wenn die Nazis ein paar Stimmen verlieren oder diese oder jene Partei ein paar gewinnt? Das Weimarer System ist uns von den Siegern diktiert. Die sogenannte Demokratie ist nicht organisch aus dem Volk erwachsen, entsprechend sind auch die Parteien keine organische Volksvertretung, sondern nur Repräsentanten wirtschaftlicher Interessengruppen. Ein Haufen alter Männer, die sich um Geld, Positionen, persönliche Macht keilen. Keiner von ihnen ist fähig, die großen Probleme unserer Zeit zu erfassen. Sie sind wie Hausfrauen, die auf den Abwasch schimpfen, während über ihnen das Dach brennt.«

»Aber die KPD ist auch eine Partei«, sagt Werner Dissel, einer der Jüngsten der Gruppe. »Und Kurt Schumacher ist Mitglied, oder nicht?«

»Immerhin versteht Marx etwas von Ökonomie«, sagt Harro, »im Gegensatz zu dem vertrottelten Gottfried Feder, auf den sich die Nazis berufen. Übrigens habe ich mich letzte Woche auf einer NSDAP-Versammlung zu Wort gemeldet. Ich habe erklärt, dass ich persönlich weder vom Nationalsozialismus noch vom Kommunismus etwas halte und schon gar nicht von den bürgerlichen Parteibuchtrotteln. Ob Linke oder Rechte, sobald sie mit ihren Führern fertig sind, werden wir zusammen weitermarschieren, in einer Front, die quer durch alle Lager geht.«

Kurt stößt einen Pfiff aus. »Wie bist du lebend herausgekommen?«

»Ich gebe zu, es wurde recht munter. Die Polizei bot mir an, mich bis nach Hause zu begleiten. Aber ich habe abgelehnt. Courage beeindruckt immer, so meine Erfahrung. Das ist es, worauf es ankommt, persönliche Disposition. Faschismus, Nationalsozialismus, Kapitalismus, Kommunismus, alle ignorieren sie die Bedeutung des freien Willens. Alle liefern sie den Einzelnen unüberschaubaren und geistlosen Mechanismen aus. Alle fordern, dass man seine Kreativität, seine Freiheit, sein Selbst auf dem Altar des persönlichen Komforts und eines spießigen Ideals des Friedens um jeden Preis opfert. Aber ich glaube an einen permanenten Prozess der Selbsterschaffung. Ich will werden, wer ich wirklich bin. Ich hungere nicht nach Bestätigung, mir ist egal, ob ihr meine Meinungen teilt, ich brauche keine Jasager, sondern Menschen, die bereit sind, mit mir zu wachsen. Die findet man nicht in den Altherrenparteien. Die findet man nur unter uns, unter den Jungen. Und die Jungen sind nicht in Parteien organisiert, sondern in Bünden.«

Nun wird die Debatte lebhaft. Harro winkt der Bedienung und bestellt Kamillentee. Um ihn brandet die Vielzahl der Ansichten, die Vielzahl der Stimmen.

»Diese ganze sogenannte Wirtschaftskrise ist in Wirklichkeit eine Krise der westlichen Zivilisation.«

»Der Osten ist auch nicht besser. Die Situation Deutschlands ist einzigartig, weshalb wir nach einzigartigen Lösungen suchen müssen.«

»Deutschland zuerst! Unsere nationalen Interessen müssen Vorrang haben vor allem anderen.«

»Ja, aber was heißt das praktisch? Wie befördern wir das Wohl Deutschlands am besten? Nicht nur Deutschland, die ganze Welt ist doch heute bereit, das Joch der transnationalen Unternehmen und der Londoner City abzustreifen. Das Kapital kennt keine nationalen Interessen. Allein die Arbeiter sollen an ihre Herkunftsländer gefesselt sein als ausbeutbares Vieh.«

»Weshalb wir den Nationalismus überwinden müssen. Die Zukunft liegt im Sozialismus, und Sozialismus und Nationalismus sind unvereinbar. Die Interessen der Arbeiter sind in allen Ländern die gleichen.«

»Genau wie die Interessen des Raubtierkapitals. Diese Herren verachten jeden, der so primitiv ist, seine Heimat zu lieben. Ihre einzige Loyalität gilt ihren Abnehmern, selbst wenn sie jemandem Waffen verkaufen, die gegen ihr eigenes Land gerichtet sind. Und wenn sie ihre Heimat ruiniert haben, schaffen sie ihre Konten ins Ausland und machen den Arbeiter und seine unmäßigen Forderungen dafür verantwortlich.«