Wer wir sind (3) Roman. Dritter Teil - Sabine Friedrich - E-Book

Wer wir sind (3) Roman. Dritter Teil E-Book

Sabine Friedrich

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Beschreibung

Teil 3 des Romans als eBook Rote Kapelle, kommunistische Gruppen, Weiße Rose, Kreisauer Kreis, 20. Juli: Dieser Roman vereint sie miteinander, die Frauen und Männer, die sich dem Nationalsozialismus widersetzten. Er erzählt von ihrem Sterben, vor allem aber von ihrem Leben. Dabei entrollt sich vor dem Leser ein gewaltiges Panorama. Teil drei des Romans begleitet die Bonhoeffers und Dohnanyis bis in den Juli 1944 und erzählt von den frühen Jahren der Moltkes, Yorcks, Schulenburgs, Lebers und anderer Mitglieder der Opposition gegen Hitler. Von der sechsjährigen Entstehungsgeschichte des Romans 'Wer wir sind' erzählt die Autorin in ihrem 'Werkstattbericht'.  Der vollständige Roman, die Teile 1, 2, 4, 5 und der 'Werkstattbericht' sind ebenfalls als eBook erhältlich.    

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Seitenzahl: 409

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Sabine Friedrich

Wer wir sind (3)

Roman

Deutscher Taschenbuch Verlag

Originalausgabe 2012

© 2012 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, Garbsen

Textredaktion: Frank Griesheimer, Starnberg

Quellen im Anhang

Eine ausführliche Quellen- und Literaturliste sowie die Verbindungslinien einzelner Personen (Stammbaum) finden Sie im Internet unter: www.wer-wir-sind.de

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Rechtlicher Hinweis §44 UrhG: Wir behalten uns eine Nutzung der von uns veröffentlichten Werke für Text und Data Mining im Sinne von §44 UrhG ausdrücklich vor.

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH, KN digital - die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

eBook ISBN 978-3-423-41743-3 (epub)

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website

www.dtv.de/ebooks

ERSTES BUCH

VIERTER TEIL

1

2

ZWEITES BUCH

ERSTER TEIL

1

2

3

Dank

Quellen

[Informationen zum Buch]

[Informationen zur Autorin]

ERSTES BUCH

VIERTER TEIL

1

Liane Berkowitz weint immerzu. Es ist immer noch Januar 1943 oder vielleicht schon wieder Januar 1943. Die Zeit vergeht nicht. Die Zeit hängt fest. Liane war dumm. Deswegen weint sie. Liane hat geglaubt, mit achtzehn ein uneheliches Kind zu bekommen wäre eine Katastrophe. Wenig später ist sie verhaftet worden. Das war am 26. September 1942. Wieder hat sie gedacht, nun das Schlimmstmögliche zu erleben, und wieder hat sie sich geirrt. Und nun ist Liane zum Tode verurteilt.

Meine liebste Mamotschka,

auf die Knie möchte ich fallen und Dich um Verzeihung anflehen für das schreckliche Leid, was ich Dir angetan habe.

Die Mutter hat Liane einen Rock geschickt, den man am Bund weiterstellen kann. Die Mutter hat den Stoff besorgt, und Frau Rehmer hat den Rock genäht. So etwas braucht man nun also. Man ist zum Tode verurteilt, aber bevor man umgebracht wird, braucht man einen Rock mit verstellbarem Bund. Die Verhandlung gegen Liane und ihren Remus, gegen Fritz und Hannelore Thiel, Cato Bontjes van Beek und Heinz Strelow, Professor Krauss und Ursula Goetze hat einen Tag nach dem Prozess gegen Mildred Harnack und Erika von Brockdorff vor dem Reichskriegsgericht begonnen.

Der Ankläger Manfred Roeder hat Liane ihre Aussagen bei der Gestapo vorgehalten. Liane hat sich übergeben müssen. Sie und Hannelore Thiel haben furchtbar geweint. Hannelore Thiel ist im letzten Oktober achtzehn geworden. Inzwischen blutet die Milch nicht mehr aus ihren Brüsten. Die Milch ist versiegt: Hannelore hat ihr Kind seit der Verhaftung nicht mehr gesehen. Sie und Liane haben immer wieder dasselbe gesagt,

Bitte, ich habe doch gar nicht gewusst, was ich sage, ich bin doch ganz anders, ich wollte nichts Böses.

Das hab ich nie. Davon hab ich nichts gewusst. Ja, das habe ich gelesen, aber verstanden habe ich es nicht.

Hannelore wird gar nicht vorgeworfen, sich selbst an einer strafbaren Tat beteiligt zu haben. Aber sie hat von allen Aktionen ihrer Freunde gewusst und sie nicht dafür angezeigt. Das hat ihr Mann zu Protokoll gegeben. Fritz Thiel ist auf einem Stuhl angebunden worden, und dann hat man ihn mit ultraviolettem Licht bestrahlt. Fritz hat auch Cato und Heinz Strelow verraten. Heinz Strelow hat vor der Gestapo darauf bestanden, dass Fritz Thiel lügt. Anfangs hat er vermutet, dass die Gestapo lügt, dass Fritz ihn gar nicht verraten hat. Aber dann wussten die Kommissare eben wieder so ein kleines Detail.

»Strelow, Sie haben doch den Fritz Thiel aufgefordert, die Manuskriptseiten des Flugblatts nicht mit bloßen Händen zu berühren. Sie haben gesagt: Zieh dir Handschuhe an.«

Heinz Strelow hat sofort alles zugegeben. Er sah ja alles wieder vor sich. Das Bild war so deutlich, so klar und scharf, dass auch die Kommissare es sehen mussten: Da war der Tisch. Da stand Fritz Thiel, da Harro und da Cato. »Also, Fräulein Bontjes van Beek. Haben Sie beim Verfassen des Flugblatts geholfen?«

Cato vor dem Richtertisch hebt die Hände. Sie sieht Roeder in die Augen, in hilfloser Offenheit.

»Ja! Aber das ist doch alles schon so lange her!«

Ursula Goetze hat vor der Gestapo behauptet, Professor Krauss zu der Zettelkleberei überredet zu haben. Sie hat alle Schuld auf sich genommen, um den Geliebten zu retten. Krauss selbst hat während der Verhöre konsequent Absurditäten von sich gegeben. Er hat darauf gesetzt, dass man ihn für nicht zurechnungsfähig erklärt. Nun muss er versuchen, auch Ursulas schrecklichen Heroismus ungeschehen zu machen.

»Fräulein Goetze ist süß«, sagt er am ersten Prozesstag zu Roeder. »Sie schwindelt sich die wildesten Geschichten zusammen. Sie hat sicher Angst, dass man ihr nicht glaubt, wenn sie die Wahrheit sagt. Anders kann ich mir das nicht erklären. Ich habe nämlich überhaupt nicht geklebt, und sie selbst ebenso wenig. Sie hat mir so etwas auch nie vorgeschlagen.«

Der 15. Januar 1943 ist zweiter Verhandlungstag. Liane bekommt gleich zu Anfang Nasenbluten. Remus regt sich entsetzlich auf. Die Blutung ist nicht zu stillen. Senatspräsident Dr. Kraell ist verärgert. Liane ist außer sich. Sie weint und weint, krampfgeschüttelt, während ihr das Blut immer weiter aus der Nase schießt. Remus kniet vor ihr. Er umfängt ihre Hände. Er fleht.

»Du musst stark sein, Liane. Ich bitte dich. Du musst doch unser Kind bekommen.«

Das Kind, das arme Kind! Wird Liane nun womöglich verbluten? Liane muss husten, das Blut läuft innen in ihrem Hals herab, Kraell beginnt die Fassung zu verlieren angesichts dessen, was man ihm hier zumutet, und schließlich muss ein Arzt geholt werden.

»Versprich mir, dass du unser Kind bekommst!«

Remus weint nun auch. Gleich nach seiner Verhaftung am 29. November im Lazarett in Britz hat er an Liane einen Brief geschrieben, um sie zu retten.

Du wirst sicher glatt freigesprochen, Du hast schließlich gar nichts gemacht. Du hast von überhaupt nichts gewusst.

»Bekomm unser Kind! Was bleibt denn sonst, worauf sonst kann man hoffen!«

Dieser zweite Verhandlungstag ist ein Freitag.

Am Montag in der Pause vor der Urteilsverkündung bitten Fritz und Hannelore Thiel die anderen um Vergebung. Könnten Cato, Heinz Strelow und Remus es Fritz Thiel bitte nicht nachtragen, dass sie an seinen Aussagen sterben werden? Nach der Pause wird Fritz Thiel ebenso zum Tode verurteilt wie Cato Bontjes van Beek, Heinz Strelow, Professor Krauss, Ursula Goetze, Friedrich Rehmer und Liane Berkowitz. Liane wird ohnmächtig. Hannelore Thiel erhält eine Zeitstrafe von sechs Jahren.

Cato steht in ihrer Zelle. Sie hält das Schälchen in der Hand, das ihr Vater ihr durch den Anwalt gesandt hat. Jan Bontjes van Beek ist schon Weihnachten wieder aus der Haft entlassen worden, zu Catos übergroßer Freude. Auf dem Weg zum Gericht ist die grüne Minna nun jeden Tag an der Werkstatt vorbeigefahren. Cato hat den Vater nie gesehen, aber die Waren in der Auslage des kleinen Ladens. Und nun hat sie dieses Schälchen bekommen. Seine Form erinnert an eine halbe Nussschale, seine Oberfläche an glattgespülte Flusskiesel. Cato denkt an die Winterwiesen von Fischerhude, die Wolken. Sie denkt an die Brücke über die Wümme, an die Schafe, die über die Brücke gehen, ein Schaf nach dem anderen, immer weiter in langer Reihe. Aber nun muss die Geschichte innehalten. Sie kann erst weitergehen, wenn auch das letzte Schaf über die Brücke gegangen ist.

Fräulein Janschke schreibt. Es ist ein handschriftlicher Vermerk, für ihre Vorgesetzte Frau Dr. Pfahl:

Der Beamte vom Reichskriegsgericht, der heute die Untersuchungsgefangene Hilde Coppi abgeholt hat, hat zu Frau Menz gesagt, dass Coppi, wenn sie vom Termin zurückkommt, nachts bewacht werden muss.

Hilde Coppi ist vom Termin zurück. Sie ist zum Tode verurteilt worden. Sie steht am Bett ihres Kindes. Der kleine Hans ist acht Wochen alt. Hilde hat nichts dagegen zu sterben. Sie würde freudig tausend Tode sterben, wenn sie sich ihrem Kind damit erhalten könnte: wenn immer nur Hilde stürbe, aber nicht Hänschens Mutter. Hilde darf nicht schreien, sie darf sich nicht die Haare ausreißen oder sich das Gesicht zerkratzen. Sie muss ruhig sein. Sie muss an ihr Kind denken. Sie wird ein Gnadengesuch stellen.

Die grüne Minna hat erst Mimi Terwiel, Marta Husemann und Oda Schottmüller am Alex abgeholt, dann Helmut Himpel und Walter Husemann in Spandau. Die Männer sind sehr gut aufgelegt. Sie sind sich einig: Es ist nichts mehr zu machen. Es ist alles vorüber, es ist alles vorbei. Sie sind frei, mit anderen Worten. Sie lachen, sie scherzen. Warum nicht fröhlich sein, auf der eigenen Beerdigung, wenn man es doch sogar auf der eines geliebten Menschen sein kann? Helmut Himpel schmiert Brote. Sein Kommissar hat ihm ein Fresspaket überreicht, von Helmut Himpels Schwarzwälder Verwandtschaft: Bienenhonig, Butter, Wurst, Schinken. Die Kommissare reden über den Einschluss der Sechsten Armee bei Stalingrad.

»Grauenhaft«, sagt einer. »Grauenhaft.«

Oda beißt in ihr Brot. Der rauchig-satte Geschmack des Schwarzwälder Schinkens füllt ihren Mund, erfüllt sie mit Glück und mit Wärme. Der Wagen fährt in den Hof des Reichskriegsgerichts ein.

Im Flur tritt Anwalt Behse zu Oda. Rudolf Behse, der Herr Offizialverteidiger: Er hat Oda ein einziges Mal in ihrer Zelle besucht.

»Fräulein Schottmüller? Herr Fechter lässt Sie herzlich grüßen.«

Oda betrachtet ihren Anwalt.

»Herr Fechter von der ›DAZ‹. Er sagt, er kennt Sie. Er lässt Ihnen einen Gruß bestellen, und er wünscht alles Gute.«

»Danke«, sagt Oda.

Dann dreht sie sich um und geht weg. Fechter? Der Name klingt schwach über einen Ozean herüber, aus einem Jenseits, zu dem Oda nicht mehr gehört.

Und liegt es an Ina Lautenschlägers Pillchen, dass Oda sich nicht konzentrieren kann? Ina hat Oda Parfüm in die Zelle geschickt, damit Oda duftet. Sie hat ihr ein Schinkenbrötchen geschickt, damit ihr Magen nicht knurrt, und ein paar wundersame Pillen, damit sie sich nicht aufregt. Nun liest man Oda ihre Aussagen vor, und sie kann sich dazu nicht äußern. Man stellt ihr Fragen, und sie weiß keine Antwort. Was soll diese Farce? Wozu diese hundertfünfzigste Aufführung einer Schmierenkomödie unter der Regie eines Admirals mit Dauerwelle? Oda muss immerzu lachen. Man wird sie alle zum Tode verurteilen, gut. Aber kann man nicht vorher die Beisitzer wecken? Der eine schläft tief und fest, mit dem sanften Säuseln des Rotweintrinkers. Der andere kippt immer so allmählich nach vorn und zuckt dann empor, kurz bevor er mit dem Kopf auf den Tisch schlägt. Oda muss sich auf die Zunge beißen, um es nicht in den Saal zu rufen.

So wecken Sie doch Ihren Herrn Kollegen!

»Nehmen Sie die Sache hier gefälligst ernst!«

»Durchaus.« Oda sieht Roeder an, lachend. »Das tue ich. Es ist für mich ernster als für Sie.«

Sie lesen schon eine Weile aus ihrer Vernehmung vor. Und da kommt es wieder.

Ich leugne, dass mit dem bei mir abgestellten Gerät gefunkt worden ist.

Nun wird Oda munter. Dies ist der entscheidende Punkt.

»Ich leugne es gar nicht«, sagt sie. »Ich weiß nichts davon. Ich wusste überhaupt nicht, dass es so ein Gerät gibt.«

»Sie leugnen also schon wieder. Jetzt bestreiten Sie sogar Ihre Kenntnis des Geräts.«

»Moment«, sagt einer der Beisitzer. Er reibt sich die Augen, er beugt sich vor, »was steht denn in den Aussagen des Coppi und des Schulze-Boysen? Da steht doch in der Tat etwas Entsprechendes. Der Coppi bestätigt doch, dass die Schottmüller von dem Gerät nichts wusste.«

– behaupte ich, das Gerät in Abwesenheit der Schottmüller in ihrer Wohnung aufgestellt zu haben, ohne dass sie Kenntnis davon erlangt hat

»Ja, aber warum haben Sie das denn nicht gesagt? Warum steht das denn nicht in Ihrem Vernehmungsprotokoll?«

»Ich habe es ja gesagt«, sagt Oda. »Ich habe es wieder und wieder gesagt. Es hat nur keiner aufgeschrieben.«

»Natürlich nicht«, sagt Roeder. »Eine Lüge macht die andere nicht zur Wahrheit. Der Coppi hat in diesem Punkt doch auch wieder gelogen. Der hat nur gelogen. Der hat gelogen, dass sich die Balken gebogen haben.« Dann kommt der zweite Verhandlungstag. Oda wünschte, er wäre schon vorüber. Sie muss über sich selbst lachen: Sie ersehnt das Ende der Unannehmlichkeiten, obwohl an ihrem Ende das Todesurteil steht.

»Sagen Sie mal, kennen Sie eigentlich Schürmann-Horster?«

Das fragt Roeder in der ersten Verhandlungspause. Er hat ein kleines Heftchen aufgeschlagen. Odas Notizbuch. Sie deutet darauf.

»Natürlich kenne ich ihn. Er steht ja offenbar in meinem Notizbuch.«

»Ich kann diesen Namen nicht unterbringen«, sagt Roeder.

Oda auch nicht. Sie kennt den Namen, erinnert sich aber nicht an seinen Träger. Etwas Eisiges berührt sie. Geht jetzt alles wieder von vorn los? Wird man sie wieder zu vernehmen beginnen? Wird man wieder nach Intimem forschen, wieder ihre Seele beschmutzen? Und immer unterstellen sie Lügen, und immer gilt ihnen gerade die Wahrheit als unwahrscheinlich. Hätte Oda doch die Protokolle nicht unterschrieben.

Wäre sie doch nie weich geworden, hätte sie eisern geschwiegen! Sie hätte eher sterben sollen, als ihr Leben von diesen Leuten befingern zu lassen. Oda erträgt es nicht, wenn jetzt alles von vorn losgeht. Sie war so heiter, so gelassen. Kann man sie nicht einfach umbringen?

Und wo hat sie den Namen Schürmann-Horster gehört?

Oda grübelt noch, während Roeder für alle die Todesstrafe fordert. Sie grübelt in der Pause, sie grübelt, während ihr Anwalt sein Plädoyer beginnt. Behse gibt sich große Mühe. Oda hätte das nicht erwartet. Fast ist sie gerührt.

Die Angeklagten sprechen die Schlussworte. Walter Husemann spricht sehr gut, tief überzeugend. Er spricht von einer Welt der Gerechtigkeit, des Friedens und der Freiheit. Dann spricht Marta. Sie spricht nicht: Sie weint herzzerreißend. Sie sieht so wunderbar nordisch aus. Sie spricht von der Liebe und Treue zu ihrem Mann, der Liebe und Treue zu ihren Freunden. Sie beteuert schluchzend, aufgewühlt ihre Unschuld. Mimi Terwiel bringt kaum einen Ton heraus, so sehr weint sie. Es irritiert Helmut Himpel, es bringt ihn aus dem Konzept. Er stolpert durch zwei, drei Sätze, dann gibt er auf, und nun stottert Oda los und weiß mitten im Satz nicht mehr weiter.

Sie ist tief erschüttert von den Schlussworten der anderen.

So also war es. Das sind sie gewesen: eine Widerstandsgruppe, Kämpfer für Recht und Freiheit und Menschlichkeit. In der Pause umarmen sie einander. Dann betreten sie wieder den Saal. Sie werden alle zum Tode verurteilt, alle außer Marta Husemann, die fassungslos, untröstlich zu weinen beginnt. Sie weint auf der ganzen Rückfahrt. Auch einer der Kommissare ist tief verstört. Er seufzt wieder und wieder, er wischt sich die Stirn.

»Bitte beruhigen Sie doch die Frau«, sagt er. Er schüttelt den Kopf, er wirft die Hände hoch. »Diese Fuhren sind nichts für mich. Es geht mir an die Nieren. Es belastet mich zu sehr, es schlägt mir aufs Gemüt.«

Oda lacht ihm ins Gesicht. Sie isst schon wieder ein Schinkenbrot. Sie prustet los, sie sprüht Krümel vor Lachen. Mit Ausnahme von Marta sind sie alle ganz heiter.

Im Treppenhaus des Gefängnisses am Alexanderplatz ist kaum noch ein Durchkommen. Alles steckt voll mit sowjetischen Kriegsgefangenen. Sie drängen und schieben sich in den Gängen dicht an dicht, in Wolken schweren sauren Gestanks, die Füße mit Lappen umwickelt, Hungergeschwüre an den Beinen. Dann werden Polen hereingetrieben, auf dem Weg von Irgendwo nach Nirgendwo. In der großen Sammelzelle jammern und schreien die Zigeunerinnen Tag und Nacht: Sie warten auf den Transport in den Osten. Die Wachtmeisterinnen schieben ein Häuflein junger Frauen durch das Gedränge. Sie schließen ihnen ihre Zellen auf, schieben sie einzeln in die Zellen hinein. An den Zellentüren sind Schilder angebracht, schwarze Buchstaben auf rotem Grund.

TU

»Hast du ihn gesehen?«

Frieda Husemann hat voll Bangen auf ihren Mann gewartet.

»Ja, ich habe ihn gesehen.«

»Er hat dich auch gesehen?«

»Ja.«

Walter Husemanns Vater hat eine Ruine nahe der Spandauer Gefängnismauer gefunden, von der aus man Walter Husemanns Zellenfenster sieht.

»Woher weißt du, dass er dich gesehen hat?«

»Er hat gewunken.«

»Du gehst nun jeden Tag?«

»Ich gehe jeden Tag.«

»Kann ich mitkommen?«

»Ja. Obwohl. Besser vielleicht nicht.«

Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Die Urteile sind noch nicht bestätigt. Ihr könnt noch Gnadengesuche stellen.

Das schreibt Ina Lautenschläger an Oda.

Es ist möglich, dass man das Urteil widerruft. Es ist möglich, dass der Krieg noch vor der Vollstreckung zu Ende geht.

Geliebtes Katzentier. Aber sie versteht nicht. Oda wünschte, sie hätte es hinter sich. Warum haben sie nicht gleich nach dem Urteil Schluss gemacht? Die blöde Warterei geht einem auf die Nerven. Die Gedankenmühle: Ich hätte, ich sollte, ich müsste. Marta Husemann ist nicht zum Tode verurteilt. Marta hat vier Jahre bekommen, wegen Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens. Oda ist zum Tode verurteilt, wegen Beihilfe zur Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens und Feindbegünstigung.

Welche Feindbegünstigung? Und wie kann Beihilfe zur Vorbereitung härter bestraft werden als Vorbereitung? Oda mag sich den Kopf nicht mehr länger zerbrechen. Es ist heute ein besonders kalter Tag gewesen. Oda trägt fünf Lagen Wollzeug. Sie hat den ganzen Tag gelesen, nun klingen die letzten Sätze noch in ihrem Geist nach. Oda macht ihre Gymnastik gegen die Kälte: Kniebeugen, Armdrehen. Es mag fünf Uhr sein. Die Sonne steht winterlich schräg und tief. Oda denkt an eine Winterwanderung, vor dem Krieg. Sie denkt an den Schnee, an den violetten Hauch der Kälte im Grunewald. Sie hat es beinahe hinter sich. Sie muss nun wirklich der Mutter schreiben.

Aber sie kann nicht. Sie kann der Mutter nicht mitteilen, wie es ausgegangen ist. Und Madonna ist nicht da, und die Heizungen gehen nicht, und die Klappe ist auf, weil es drinnen kälter ist als draußen, Oda hat keine Angst vor dem Tod. Sie hat nur die endlosen Mühen satt.

Sie hat nur davor Angst, dass alles wieder losgeht, wegen dieses Namens in ihrem Notizbuch: Schürmann-Horster.

»Alles, nur nicht sterben!«

Das weint, das betet Liane Berkowitz.

Mama, Mamotschka, ich will ja alles ertragen, aber ich will nicht sterben.

»Es ist furchtbar«, sagt Gerichtspräsident Neuroth zu seiner Frau. »Ich hatte heute eine achtzehnjährige Schwangere bei mir, die zum Tode verurteilt ist. Ich habe ihr das Begnadigungsgesuch direkt in die Feder diktiert. Sie soll sagen, sie sei verführt worden, sie soll alle Schuld auf die schieben, die in ihrem Zusammenhang schon hingerichtet sind. Aber ich habe wenig Hoffnung. Und die arme Mutter des Mädchens. Wo hat das Leben einen hingestellt.«

Maria hat heute keine rechte Arbeitslust. Sie und Anni Hille stehen im Gesundheitsamt des Stadtkreises Weimar und heften Post ab. Die Hille ist viel älter als Maria. Ihr Sohn steht bei Stalingrad. Erwin Hilles letzter Brief ist vom Silvesterabend datiert. Die Hille hat ihn Maria vorgelesen.

Was mich tröstet, ist das Gefühl, dass ich all das für euch ertrage. Ich will es auch alles gern auf mich nehmen, wenn nur ihr heiter und gesund bleibt und euer friedliches Leben weiterführen könnt. Dann will ich gern bis zum Sieg durchhalten.

Der liebe Junge. Der liebe liebe Junge. Anni Hille locht und heftet ab, locht und heftet ab. Sie hat schon seit Wochen nicht mehr von ihrem Sohn gehört. Tag und Nacht muss sie daran denken, was er durchmacht.

Maria schlägt einen neuen Ordner auf. Der Briefwechsel mit dem Landesgericht. Das Gesuch des Gesundheitsamtes, im Auftrag der Universität Jena.

Das Pathologische Institut der Universität benötigt zur Klärung einer wichtigen wissenschaftlichen Frage frische menschliche Augen. Wäre es möglich, durch Obduzenten des Instituts Enthaupteten die Augen zu enucleiern bzw. könnte man den ganzen Kopf alsbald nach der Dekapitation dem ärztlichen Obduzenten der Pathologie übergeben?

Maria sucht die Antwort des Oberstaatsanwalts am Landesgericht heraus.

Über Maßnahmen aus Anlass von Todesurteilen bezeichne ich im Vollstreckungsauftrag für die im Gerichtsgefängnis Weimar in der nächsten Zeit zu erwartenden Hinrichtungen wunschgemäß das Pathologische Institut der Universität Jena.

Was für ein Deutsch, denkt Maria. Was für ein grausames Deutsch. Das hätten wir uns mal in der Schule leisten sollen. Die Hille locht, heftet ab, locht, heftet ab. Maria denkt: Die würde die ganze Welt abheften. Lochen, abheften, lochen, abheften, das ist doch kein Leben. Die Hille weint. Maria ist zornig. Der Krieg hängt Maria zum Halse heraus. Ihre Jugend verstreicht, die Zeit, in der Maria schön gewesen sein wird.

»Ich fürchte das Schlimmste«, sagt Frau Hille leise. »Der Untergang von Stalingrad ist nicht mehr aufzuhalten. Und mein Junge ist dort mittendrin.«

Maria sehnt sich nach einer Garnitur Wäsche. Es verlangt sie brennend nach einem neuen Kleid, einem Paar Schuhe ohne schiefgetretene Absätze. Aber vor allem nach Wäsche.

Und wenn man schon sterben muss, kann man es dann bis dahin nicht halbwegs komfortabel haben? Warum gab es heute keine Zeitung? Wo ist Madonna? Die Heizung zischt und dampft, ohne Wärme abzugeben. Hunger, Kälte, Dunkelheit herrschen. Heimlich schiebt man sich unter den Kleidern Sockenschäfte über die Arme. Man verfällt, bevor sie den Körper billig entsorgen. Und draußen der Lärm. Niemals herrscht Ruhe. Es gibt Streit zwischen Wärterinnen und Insassinnen in anderen Zellen, das Telefon schrillt, weil jemand zum Verhör soll, Oda geht immer öfter aus der Wirklichkeit.

Sie reist gen Süden. Sie riecht den Geruch von Hitze, sie hört die Wellen, die über das Muschelgeröll lecken. Oda träumt sich ein Stück Ton herbei, an dem sie arbeitet. Alles gelingt. Darum tut es Oda wirklich leid: um die ungetane Arbeit, das unvollendete Werk, die nicht eingesammelten Jahre der Tätigkeit, Ähren, die auf dem Acker zurückbleiben. Oder keimt gerade aus diesen verschütteten Körnern das Leben neu? Sind sie eine Saat? Aber das ist sentimentales Geschwafel. Oda kann aufhören, sich zu zermartern. Sie ist nicht wieder zum Verhör gerufen worden: Dieser Kelch ist an ihr vorübergegangen. Sie knetet eine Katze aus Brot für Ina nebenan.

Geliebtes Katzentier

Und vielleicht kann sie nun doch noch ihrer Mutter schreiben. Sie muss. Zu so später Stunde muss man noch müssen? Aber auch wenn die Mutter ihr keine Mutter war, muss man ihr doch sagen, dass die Geschichte ihrer Tochter zu Ende ist. Oda schreibt aber nicht. Sie schreibt an Ina Lautenschläger. Das geht ihr schön und leicht von der Hand. Ina schmuggelt Odas Kassiber hinaus in die Freiheit. Das also wird von Oda bleiben: nicht ihre Kunst, sondern ihre Briefe aus der Haft. Oda hat nun doch einen Brief an die Mutter geschrieben. Der Antwortbrief war ominös.

Jetzt hast Du Dein Leiden ja bald hinter Dir.

Oda hat geantwortet:

Wie nett, von Dir zu hören. Wie geht es denn so, wie steht es zu Hause?

Und dann schleicht sich Madonna zu Oda herein. Die dienstverpflichtete Hilfswachtmeisterin Anneliese Kühn kommt, wenn die Luft rein ist, und dann singen sie zusammen und walzen miteinander im Takt durch die Zelle. Sie lachen, sie umarmen einander. Sie tun, als wären sie in der Freiheit, und alles hier wäre völlig normal.

Eva-Maria Buch nutzt die Zeit. Sie lernt jetzt Tschechisch und Slowakisch. Zu den Verhören ist sie oft zusammen mit ein paar polnischen Mädchen gebracht worden, so dass sie inzwischen schon recht ordentlich Polnisch spricht. Diese Haftzeit schafft also auch Schönes. Das Gefängnis leistet einen großen Beitrag zur Völkerverständigung: Eva-Maria hat nie zuvor so viele Ausländer kennengelernt, und sie sind freundlich und nett zu ihr gewesen, obwohl sie doch eine Deutsche ist. Mehr als das Gefängnis quält Eva-Maria die Außenwelt.

Der erste Brief der Eltern enthielt nichts als Vorwürfe an Paul Guddorf, bittere Schuldzuweisungen, zornige Tiraden über den schlechten Einfluss, den Paul auf sie ausgeübt hat. Aber wissen die Eltern denn nicht, dass die Briefe gelesen werden? Wissen sie nicht, wie sehr sie Paul schaden, wenn sie ihm alle Schuld in die Schuhe schieben? Eva-Maria hat sofort zurückgeschrieben.

Sie hat erklärt, dass Paul an allem ganz unschuldig ist. Sie hat von den Eltern christliche Haltung, christliches Vergeben gefordert, Wahrhaftigkeit: Paul hat Eva-Maria Buch nicht verführt. Was Eva-Maria getan hat, hat sie freiwillig getan. Und warum ist dieser Brief nie bei den Eltern angekommen? Wo ist er gelandet?

Eva-Maria hat nach diesem Brief lange nichts von den Eltern gehört. Das hat sie unsagbar gequält. Sie hat den Eltern geschrieben, dass sie außer sich sei vor Sorge, die Eltern könnten zornig auf sie sein. Sie hat geschrieben, dass sie Pauls Unschuld in einem langen Brief erklärt hat. Die Eltern haben zurückgeschrieben, einen solchen Brief hätten sie nie erhalten.

Sie haben geschrieben, Eva-Maria solle gefälligst nicht lügen und behaupten, sie selbst hätte freiwillig gegen Gesetze verstoßen. Aber warum unterstellen sie Paul weiterhin alle Schuld? Warum lenken sie nicht ein, so kurz vor Verhängung der äußersten Strafe? Warum sind sie nicht gütig? Ach wenn man nur einen Tag Urlaub aus dem Gefängnis nehmen könnte, um die Dinge draußen zu klären. Wenn man sich nur einmal zusammensetzen könnte, einen Tag lang Urlaub von der Verständnislosigkeit, der Kälte, den Missdeutungen und Missverständnissen nehmen könnte, einen Tag, um zu heilen, zu lieben, in Ruhe und Liebe alle Wunden aus der Welt zu schaffen.

Und nun sind sogar die Schreibmöglichkeiten sehr eingeschränkt worden: Der Prozess gegen Eva-Maria Buch und Wilhelm »Paul« Guddorf, Greta und Adam Kuckhoff, die Grimmes und Guddorfs Freunde Heinz Verleih und Heinrich Schrader hat begonnen.

Maria Grimme wird freigesprochen.

Es ist der erste Freispruch. Und über Adolf Grimme wird nur eine Zuchthausstrafe verhängt. Ist der Blutdurst der Richter nun endlich gestillt? Aber Adam und Greta Kuckhoff sind zum Tode verurteilt, ebenso Guddorf und Eva-Maria Buch. Eva-Maria ist nun ein Subjekt. Sie ist ein gefährliches Subjekt, verschlagen wie eine Katholikin und staatsfeindlich wie eine Kommunistin: Das hat Roeder gesagt. Er hat sie noch einmal angesprochen, als im Grunde schon alles vorbei war. Er hat sich noch einmal zu ihr gewandt, wie einem Nachgedanken folgend.

»Fräulein Buch. Noch etwas. Sie haben sich doch im Grunde nur verleiten lassen, von Ihrem älteren Freund.«

»Nein«, hat sie gesagt. »So war es nicht.«

Paul hat gestöhnt. Roeder hat genickt.

»Dennoch. Sie haben ja jetzt erst von all den Ungeheuerlichkeiten erfahren, die Ihre Freunde begangen haben. Wenn Sie davon gewusst hätten, wenn Sie die ganze Tragweite erkannt hätten, hätten Sie sie dann angezeigt?«

Eva-Maria hat sich aufgerichtet.

»Niemals. Dann wäre ich ja wirklich so niederträchtig, wie Sie mich hier hinstellen wollen.« Adam Kuckhoff hat Greta noch ein Gedicht überreicht, bevor sie für immer voneinander getrennt worden sind. Greta hält das Blatt in der Hand.

Sie denkt an den ersten Winter mit Adam, draußen im Pichelsdorfer Bootshaus. Sie denkt an das Feuer im Ofen, an das Gelächter in der Wärme. Sie denkt an die Winterwanderungen durch die Wälder. Die kleinen Uferrestaurants entlang der Scharfen Lanke waren im Winter geschlossen. Aber wenn man klopfte, bekam man dennoch ein Butterbrot und ein Bier, auf wintersonnenwarmen Veranden, wo die frischgewaschenen Tischtücher des Sommers zum Stärken bereitlagen.

Immer war Adam ein Entdecker. Er war ein Schenkender. Er hielt ihr seine Fundsachen hin wie bunte Steine: ein neuentdecktes kleines Lokal, eine Kahntour, einen Wanderzirkus. Aber er hat nie zuvor für sie ein Gedicht geschrieben, in all den Jahren ihrer Liebe nicht.

Denkst du an das Blut in deinen Lungen?

Sprichst du von der Luft, die dich umgibt?

Nein, ich hab dich nicht besungen.

Nur geliebt

Im nächsten Prozess werden Walter Küchenmeister und Philipp Schaeffer zum Tode verurteilt. Philipp Schaeffer lächelt. Seine Ilse hat nur drei Jahre bekommen.

»Drei Jahre, Kiz. So lange hält das Reich nicht mehr.«

Er kann jetzt sagen, was er will.

Aber er hat ja immer gesagt, was er wollte. Er hat immer genau das getan, was er tun wollte.

»Philipp.«

Sie kann ihm nichts übelnehmen, sie kann nicht.

»Ja, liebes Kiz. Nun sage mir noch einmal auf Wiedersehen. Weine nicht, Kiz, es war schön, aber man muss ohne Gier aufhören können. Du kennst deinen alten Buddha. Ich wünschte, ich hätte dir das Glück gebracht, das ich dir bringen wollte. Na, immerhin, das Häuschen in Tiefwerder.«

Es lag direkt am Wasser. Es war winzig, mit Ilses Atelier im Parterre, einer steilen Treppe hinauf in Philipps Türmchen. Früh um vier sangen die Vögel, wenn er am Schreibtisch saß. Baumkronen rauschten. Morgendunst stieg über den Wiesen und dem Wasser auf. Das Ruderboot lag unter Weidenzweigen, lange Strähnen, die der Wind kämmte. Im Winter standen die Reiher auf den überschwemmten Wiesen wie auf den zusammengerollten chinesischen Tuschebildern in der Truhe, die er nicht aufhängte, um sie vor gleichgültigen Blicken zu schützen.

»Kiz. Bleib tapfer.«

Den Männern werden Handschellen angelegt, allen außer Philipp. Er humpelt auf seinen Krücken davon.

So lass’ ich laufen ab die Zeit

Mit leichter Mühe, Tag um Tag

Im ungemischten Glücke gleich

Elfriede Paul ist zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt. Sie liegt in der Zelle, den Arm über dem Kopf. Sie hört die Bomben, das Heulen des Alarms. Mag es sie treffen. Mag kommen, was will. Sie wird Walter Küchenmeister nie wiedersehen. Er ist als Kommunist verurteilt worden. Er stirbt für seinen Glauben: Er hat sich ja an keiner Aktion beteiligt. Er ist nur der geblieben, der er vor 1933 war: der Sohn eines Schuhmachers, von Beruf Eisendreher, dann Inseratenwerber, dann Schriftsteller, 1921 in die KPD eingetreten und 1926 wieder ausgeschlossen, arbeitsloser Vater von drei Söhnen und Elfriedes Geliebter.

Er hatte kein Geld, aber er hat für die Familien Inhaftierter Spenden gesammelt. Und noch in der Spandauer Abteilung 9 hat Guddorf gegen ihn Front gemacht. Noch im Gefängnis hat Guddorf darauf beharrt, einem Mann, der vor siebzehn Jahren aus der KPD ausgeschlossen worden war, sei als Mensch niemals zu trauen. Nun wird Guddorf gemeinsam mit Küchenmeister am 15. Februar von Spandau nach Plötzensee verlegt, und dort werden sie beide sterben, am 13. Mai, im Abstand von wenigen Minuten.

Warum habe ich so lange keine Zeile von euch? Seit dem letzten Nachtangriff bin ich außer mir vor Sorge und Angst,

Eva-Maria schreibt. Sie hat immer noch keine Post von den Eltern.

So schreibt mir doch. Ich habe solche Sehnsucht nach euch, und ein Brief würde mir sehr helfen, heiter zu bleiben.

Und das muss Eva-Maria. Sie muss heiter bleiben: Das verlangt Gott von ihr. Gott verlangt ihr Vertrauen. Es wäre eine Sünde zu verzweifeln. Es besteht auch kein Grund. Eva-Maria und Paul können Gnadengesuche stellen. Und sicher wird aus den Hafterfahrungen noch viel Positives entstehen. Eva-Maria Buch schreibt an die Eltern.

Mamale, Vaterle,

Sie schreibt und schreibt.

Bitte schreibt, wie es euch geht. Ihr dürft den Mut nicht sinken lassen, es wird ja alles wieder gut. Ihr müsst mich liebhaben, wie ich euch liebhabe.

Der Baum im Hof ist noch immer kahl. Das ist gut. Die Zeit muss langsam vergehen, langsam, damit das Hänschen Zeit hat zu wachsen. Wie lange wird man Hilde Coppi noch leben lassen? Früher, in gewissen angstvollen Momenten, hat sie sich manchmal ihre Hinrichtung vorgestellt. Sie hat sich dann immer gedacht, man würde sie alle in einer Reihe aufstellen, die Freunde, die Ehepaare und die Liebenden, und dann würden sie alle zusammen erschossen. Aber sie sterben jeder allein. Der große Hans ist tot. Hilde darf leben, solange sie den kleinen Hans weiter nähren kann. Sie darf ihn im Kinderwagen draußen auf dem Hof herumfahren, genau wie die anderen Mütter. Wenn eine der Frauen die Milch verliert, was häufig passiert, nimmt man ihr das Kind weg und gibt es nach draußen. Aber Hilde bekommt zum Glück Extrarationen.

Hildes und Hans Coppis Mütter versorgen Hilde, und Hilde versorgt das Hänschen. Es gurrt, brabbelt, hebt die Händchen, dreht sie wie im Tanz. So viele Kinder verlieren in diesen Tagen die Eltern. So viele Kinder wachsen bei den Großeltern auf. So viele Kinder wachsen nicht auf, sondern sterben in den Lagern. Der kleine Hans ist kein Unglückswurm.

Das sagt sich Hilde.

Sie sagt sich, dass das Kind ein Hänschen im Glück ist: Es wird sich seines Vaters nicht schämen müssen. Es wird von seinen Großmüttern geliebt. Hilde stillt ihr Kind, dann wickelt sie es. Sie hat ihm sein Leben gegeben, und nun ist es sein Leben, das das ihre erhält. Hilde liegt nachts wach, in ihrer Zelle. Sie hat das Kind zu sich geholt, in ihr Bett, und es schläft in ihrem Arm. Hilde liegt im Dunkeln, mit weit aufgerissenen Augen. Sie atmet. Sie atmet tief, ein, aus, ein, aus, sie atmet. Sie wird sich nicht aufregen. Das Kind liegt in ihrem Arm. Hilde sagt sich, dass alles einen Sinn hat. Sie kann sich nicht vorstellen, dass die Welt einsam durch die Weiten des Alls treibt, sinn- und nutzlos, die Menschen darauf nichts als Ameisen, die unter den schweren Schritten der Zeit zerquetscht werden, ohne dass ihre Existenz je von Bedeutung gewesen wäre. Man darf nicht so denken. Es erscheint ihr wie eine andere Version des Hitlerismus, so etwas zu denken. Ihr Herz rast. Die Haft scheint Dr. John Rittmeister wenig zu beeindrucken. Er arbeitet viel. Wenn der Gefängnisgeistliche Harald Poelchau ihn in seiner Zelle in Plötzensee besucht, erhebt sich Rittmeister und kommt Poelchau entgegen, als empfinge er ihn in seinem Studierzimmer. Rittmeister ist am 26. Februar von Spandau nach Plötzensee gebracht worden. Er ist zum Tode verurteilt. Harald Poelchau war sehr berührt. Dies ist das erste Mal, dass er im Gefängnis auf einen ihm persönlich Bekannten trifft: Harald Poelchau hat regelmäßig Vorträge Rittmeisters an der Poliklinik von Matthias Heinrich Görings Deutschem Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie besucht. Er hat sich davon praktischen Nutzen für seine Arbeit versprochen.

»Und nun begegnen wir einander hier.«

»Ja, Herr Poelchau. Und sind Sie verblüfft?«

»Natürlich habe ich damit gerechnet, Sie übermorgen am Institut vorzufinden.«

»Wo man sich wiederfindet, ist letztlich wohl nicht von uns zu bestimmen. Nicht in dieser Zeit. Womöglich in keiner Zeit. Ich denke gerade darüber nach. Sagen Sie, wäre es Ihnen möglich, mir einen Bleistiftstummel zukommen zu lassen? Man verweigert mir hier Stift und Papier. Ich muss aber arbeiten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich es sonst lange ertrage.«

Natürlich hat Harald Poelchau für Schreibzeug gesorgt. Seitdem scheint Rittmeister nicht mehr viel zu fehlen.

»Man ist hier doch ganz von der Außenwelt abgeschlossen. Man kommt zur Ruhe. Man hat Raum zu einer Ausführlichkeit, die draußen nicht möglich ist. Ich denke hier viel über Probleme nach, die mich schon immer beschäftigt haben.«

Der Tod. Das Leid. Die Liebe. John Rittmeister denkt über die Frauen nach, die er in seinem Leben geliebt hat. Er denkt an seine Frau Eva, er denkt an Dunja, die Cousine von Alexander Schmorell, in die er 1926 in München verliebt war. Er denkt ohne Groll, ohne Verzweiflung.

Tatsächlich ist er erstaunt, wie gut er die Haft verkraftet. Er schläft hervorragend, besser als in Freiheit. Er zermartert sich weniger, er ist sorglos und ruhig. Der Gedanke an die Freiheit erfüllt ihn durchaus nicht mehr nur mit Begeisterung. Alle Nöte würden von vorn beginnen: die schwierige Beziehung mit seiner Frau Eva, die er Mackie nennt, die leeren Tage.

Und ohnehin ist alles über den Haufen geworfen. John Rittmeister müsste von vorn anfangen. Er müsste um die Wiedergewinnung von Wirkungsmöglichkeiten kämpfen, um die verlorene berufliche Geltung. Er würde wohl wieder an den vielen Aufgaben verzweifeln. Er würde sich wieder verzetteln, wie in der Zeit unmittelbar vor der Haft.

Andererseits könnte er Verpasstes nachholen.

Ihm ist erst jetzt klargeworden, dass er schon längst mit seinem Bruder Wolfgang über früher hätte reden müssen, über die Mutter, über die Zwillingsschwester des Bruders, die beide sehr früh gestorben sind.

»Wenn ich jetzt hier herauskäme, könnte ich es«, sagt Rittmeister zu Poelchau. »Aber ohne die Hafterfahrungen wäre ich nie in der Lage gewesen, die Verhärtungen aufzubrechen. So gesehen sind Reue und Hader doch eigentlich fehl am Platz. Eher sollte man froh und dankbar sein, dass man überhaupt reinen Tisch macht, wenigstens mit sich selbst. Dass man die verpassten Gelegenheiten wenigstens noch als solche erkennt.«

Poelchau sagt nichts. Er hört zu.

»Wenn ich freikäme, müsste ich mich selbst sehr hart an die Kandare nehmen«, sagt Dr. Rittmeister. »Ich müsste ein diszipliniertes Leben führen, ein Leben wie in einer Zelle. Was meinen Sie, aus Ihrer Erfahrung? Gibt es noch irgendeine Hoffnung für mich?«

»Hoffnung gibt es immer«, sagt Harald Poelchau. »Hoffnung besteht, solange der Mensch lebt. Zur juristischen Seite der Sache kann ich allerdings eher weniger sagen als Sie.«

Rittmeister nickt langsam.

»Ich muss sagen, auch eine lange Haft wäre natürlich schwer erträglich«, sagt er. »Vielleicht ist demgegenüber wirklich der Tod vorzuziehen. Glauben Sie an Wiedergeburt?«

»Glauben Sie daran?«, sagt Harald Poelchau.

»Am meisten bedrückt es mich, so viel Halbfertiges zu hinterlassen«, sagt Rittmeister. »Da wäre es natürlich tröstlich zu glauben, man bekäme eine weitere Chance. Es wäre schön, wenn sich im nächsten Leben die Läuterungs- und Erkenntnisstufen fortsetzen würden. Wenn man diese Gewissheit hätte, wäre alles andere unerheblich, sogar das eigene Leiden. Überhaupt, das Leiden. Ich kann es akzeptieren. Das Leiden der Welt ist überall, und in dieser Unendlichkeit des Leidens ist auch mein Leiden aufgehoben. Jetzt, im Leiden, gehöre ich vielleicht zum ersten Mal wirklich dieser Welt an.«

John Rittmeister geht in der Zelle auf und ab.

»Ich denke viel an das Leiden«, sagt er. »Aber an schöne Dinge kann ich nicht denken. Das ist mir ganz unerträglich. Es liegt nicht daran, dass ich die Sehnsucht nicht ertrage. Also, was ist es? Ich kann auch keine Bilder meiner Frau ansehen. Ich breche dann sofort in Tränen aus. Ich muss Ihnen gestehen, Herr Poelchau, ich war ganz froh, als Mackie Anfang Januar verhaftet worden ist. Ich habe mir gesagt, nun machen wir dieselbe Erfahrung, nun gehen wir durch dieselbe Hölle, und wenn wir wieder frei sind, werde ich nicht von ihr abgespalten sein als ein ganz anderer.« John Rittmeister bleibt stehen. »Nun scheint es allerdings, dass sie freikommt und ich hingerichtet werde«, sagt er. »Dann ist dieser Lebensabschluss vielleicht doch der richtige, vom Unbewussten gewollte und gemeinte. Ich habe bei den Vernehmungen nicht gelogen. Mein Freund Werner Krauss war der Ansicht, der Gestapo gegenüber in keiner Weise zur Wahrhaftigkeit verpflichtet zu sein. Das ist sicher richtig. Aber mir selbst gegenüber war ich es. Ich fühle, ich bin verpflichtet, dieses besondere Schicksal abzuleisten. Ich habe mein Leben als ein Ringen um Sinn und Erkenntnis aufgefasst und darüber oft das simple Genießen zu kurz kommen lassen. Das bereue ich ein wenig. Aber so war es nun, mein Leben. Und es darf nicht durch eine falsche Handlung am Ende entwertet werden.«

Oda wird verlegt. Alle, die ihren Prozess hinter sich haben, werden verlegt. Die Hilfswachtmeisterin Anneliese Kühn hat Oda und Ina Lautenschläger nach Einschluss noch einmal zueinander gelassen, um voneinander Abschied zu nehmen.

»Geliebtes Katzentier. Es war so schön, dass ich dich hier am Ende noch gefunden habe.«

»Auf Wiedersehen, meine Oda, du.«

»Du Dumme. Es gibt kein Wiedersehen.«

Morgen früh verliert Oda, was sie sich an Heimat noch einmal geschaffen hat. Morgen früh geht es in den Tod: Da ist Oda sicher.

Cato ist fort. Die Zelle über Rainer Küchenmeister ist leer. Rainer hat nun nichts mehr. Er würde jetzt gern sterben. Cato hat ihm in einem letzten Brief geschrieben, dass er unbedingt malen soll.

Ich weiß nicht, warum ich sterben muss, aber sicher hat das alles seinen Sinn,

Das hat Cato ihm geschrieben.

Lebe Du weiter, lieber Rainer, suche das Schöne in der Kunst und in jedem Menschen.

Schon gut. Malen soll er? Ihn beeindruckt nichts mehr. Nichts. Rainer Küchenmeister wird es Gott nie verzeihen, dass Cato zum Tode verurteilt ist.

Es ist nicht der Tod. Es ist das Leben. Sie sind ins Gerichtsgefängnis Kantstraße verlegt worden, alle zusammen, und sie dürfen hinaus auf den Hof. Sie dürfen ins Freie, hinaus in die Sonne, zum ersten Mal seit sechs oder sieben Monaten. Es ist der 1. April 1943. Es ist Frühling. Es ist ein Tanz. Die Frauen heben die Arme, sie recken sich. Sie breiten die Arme aus wie Schwingen. Sie lachen, sie werfen die Köpfe zurück und blicken in den frühlingshellen Himmel. Sie sind in der Kantstraße, mitten in Charlottenburg. Sie hören die Straße, sie hören vertraute Geräusche. Sie dürfen gehen, laufen, sie wirbeln durcheinander. Sie umarmen einander: Greta Kuckhoff, Erika von Brockdorff, Oda Schottmüller, Mimi Terwiel, Eva-Maria Buch, Marta Husemann, Martha Schulze, Rose Schlösinger, Lotte Schleif, Ursula Goetze, Cato Bontjes van Beek. Die Gefängnisvorsteherin Änne Weider steht oben am Fenster und blickt in den Hof.

Sie wird sich um diese Frauen kümmern. Sie wird sie eine nach der anderen zu sich holen, sie wird herausfinden, was sie brauchen, wonach sie verlangen. Ist das dort unten nicht Oda Schottmüller? Ist das nicht Hanna Berger, auch eine Tänzerin?

Jetzt dürfen die Frauen regelmäßig schreiben und Briefe empfangen. Bücher sind ihnen gestattet, Stifte, Papier zum Zeichnen. Sie müssen nun auch arbeiten. Eva-Maria koloriert Postkarten: Blumen, Kätzchen, ein Liebespaar im Boot unter einer Trauerweide. Elfriede Paul näht Knöpfe an Trauerbekleidung. Oda faltet Orchideen aus Seidenpapier: Dekorationsobjekte für Kameradschaftsabende. Erika von Brockdorff und die Ärztin Elfriede Paul teilen eine Zelle. Sie singen, sie pfeifen, sie lachen viel. Sie kochen vor dem Einschlafen wunderbare Fantasiemenüs, mit drei, vier, fünf Gängen. Greta sitzt draußen im Hof in der Sonne, damit ihr Rheuma sie nicht so plagt. Ilse Schaeffer putzt Möhren in der Gefängnisküche und schiebt ihr hin und wieder ein Stück durchs Küchenfenster zu. Odas Zellengenossin ist eine alte herzkranke und furchtbar depressive Dame.

Oda versucht sie zu trösten und zum Lachen zu bringen. Das ist schwer. Aber Oda lacht. Oda will leben. Sie wird leben, es kann ja nicht anders sein. Sie liest ›Wilhelm Meister‹. Die Mutter schreibt, dass sie an Oda denkt. Das ist sehr schön. Die Mutter schickt Oda Shampoon, das man mit kaltem Wasser nicht aus den Haaren spülen kann. Oda bittet, und die Mutter schickt ihr Seifenpulver in Tütchen. Sie schickt ihr winzige Modellierstäbchen, etwas Ton. Das Leben ist ihnen wiedergegeben, in diesem April.

Auch Franz Alfred Six ist erleichtert. Natürlich hat niemand insinuiert, es wäre sein Fehler gewesen, dass seine Auslandswissenschaftliche Fakultät sich zu einem Nest des Widerstands entwickelt hat. Aber es war auch so scheußlich genug. Harro Schulze-Boysen war in Wirklichkeit ein Feind. Six versteht es immer noch nicht. In so vielen Positionen schienen sie miteinander im Einklang. Und beide Harnacks sind Gegner gewesen, ebenso Eva-Maria Buch, Ursula Goetze, Horst Heilmann, Herbert Gollnow. Wie war das möglich? Was für Nattern hat Six an seinem Busen genährt?

Aber er hat diesen Staub von seinen Füßen gestreift. Am 22. März hat er seine neue Stelle angetreten, in der Informationsabteilung des Auswärtigen Amtes. Hilde Coppi geht mit ihrem Kind im Hof des Frauengefängnisses Barnimstraße spazieren. Sie erzählt ihm von der Welt. Sie erzählt ihm von Reisen, Festen, Arbeit, von Mahlzeiten und dem Zubereiten von Mahlzeiten, vom Wetter, vom Hausbauen und vom Spazierengehen im Botanischen Garten in Dahlem, wo man an einem Nachmittag durch alle Landschaften der Welt wandern kann. Sie erzählt von der Stadt, dem Land, dem Meer und von seinem Vater. Sie erzählt dem Kind von der Liebe seiner Eltern zueinander und davon, wie sehr man es willkommen geheißen hat. Sie erzählt dem kleinen Hans von ihm selbst. Sie blättert in dem schon prall gefüllten Erinnerungsalbum, auf dem der Name des kleinen Hans steht und das mit jedem neuen Tag praller wird. Und dann ist ihre Freistunde zu Ende, und sie muss sich wieder auf die Wöchnerinnenstation begeben, wo sie sich um die Mütter der Neugeborenen kümmert. Am 12. April 1943 ist dort Irina Berkowitz geboren worden.

Liane Berkowitz hält ihre Tochter im Arm. Hilde Coppi steht an ihrem Bett. Das Schlimme ist, dass Liane keine Milch hat. Das Kind muss von Anfang an zwei Flaschen bekommen, weil es von Liane nicht satt wird.

»Was, wenn sie abnimmt?« Liane starrt Hilde an. »Was dann?«

Dann muss Liane damit rechnen, dass das Kind abgeholt wird. In der Nacht schüttelt Liane das Grauen. Sie umklammert die kleine Ikone, zu der die Mutter ein Leben lang gebetet hat, sie fürchtet, vor Angst verrückt zu werden. Remus ist um ihretwillen ganz verzweifelt. Liane kann ihm aber nichts Beruhigendes schreiben. Sie will nicht sterben. Sie ist bereit, im Gefängnis zu bleiben, ihr ganzes Leben, aber sie will nicht sterben,

Meine Mamotschka!

Sie umklammert die kleine Ikone. Es wird besser. Es ist schon besser. Gleich wird es besser,

Ich will nicht sterben

Oda will nicht sterben. Sie hat eine neue Zellengenossin bekommen, eine liebe kleine Tschechin. Der Frühling braust übers Land, und die Kriegsnachrichten sind beglückend: Deutschland verliert, es verliert, es verliert. Odas Mutter besucht Oda für eine Viertelstunde und bringt Oda Kuchen mit. Oda bittet die Mutter, Handwerkszeug und Plattensammlung in Odas Wohnung zusammenzupacken und gut aufzubewahren, weil die Wohnung untervermietet werden soll.

Bildet sie sich ein, zu ihrer Plattensammlung zurückzukehren?

Oda versucht auszurechnen, wie viele Kilometer sie in den neun Monaten ihrer Haft gelaufen ist. Bis wohin wäre sie in Freiheit marschiert, bis Rom? Sie stellt sich die Freiheit vor. Sie beginnt von der Freiheit zu träumen. Sie weiß, womit die Freiheit beginnt: damit, dass sie ihre Türen selbst auf- und zumachen dürfte.

Das am 20. Januar durch den 2. Senat des Reichskriegsgerichts ergangene Urteil gegen Hilde Coppi, geborene Rake, ist durch den Gerichtsherrn bestätigt und damit rechtskräftig geworden. Anliegende Mitteilung ist der Gefangenen gegen die abzutrennende Empfangsbescheinigung auszuhändigen,

gez. Frau Dr. Pfahl, Regierungsrätin

Es ist Hilde Coppi von Kommissar Habecker gestattet worden, die Briefe ihres Ehemannes sowie ihren Trauring ihrer Mutter zu übergeben. »Ich bin mir meines Todes beinahe gewiss.«

Harald Poelchau steht in John Rittmeisters Zelle in Plötzensee.

»Ich muss aber sagen, ich habe eine Perspektive gewonnen, aus der heraus betrachtet der Tod gar nicht so grässlich aussieht«, sagt John Rittmeister. »Ich nenne es die Unendlichkeitsperspektive. Wo etwas war, wird irgendwann einmal nichts mehr sein, so will es die Zeit. Vor diesem Wissen schrumpft das gegenwärtige Leiden aufs Winzigste zusammen, und die Misere wird zu nichts. Nichts dauert länger als einen Moment. Dieser Moment ist Gewinnen und Verlieren, er ist Sein und Nichtsein, und in dem Trotz und in der Demut, mit der man beides akzeptiert, berührt man doch vielleicht die Ewigkeit. Seit ich die Dinge von dieser Todesperspektive betrachte, denke ich ganz Unerhörtes. Ich fühle mich innerlich reicher als je zuvor. Was einem alles nimmt, macht einen reich. Das ist ein Widerspruch, aber es ist so. Ich würde natürlich gern leben bleiben. Aber auch wenn ich sterbe, nehme ich nun alle diese Dinge, die ich vorher gar nicht besessen habe, mit in den Tod hinein. Ich bin sehr dankbar dafür. Meinen Sie, dass ich am Leben bleibe?«

»Stellen Sie sich jedenfalls unbedingt auf den Tod ein«, sagt Harald Poelchau. »Tun Sie es, um den Unendlichkeitsstandpunkt zu behalten.«

»Bitte, wo komme ich hin?«

Oda will hierbleiben. Sie sind seit fünf Wochen in der Kantstraße, warum können sie nicht hierbleiben? Oda ahnt, wo man sie hinbringen will.

»Barnimstraße.«

Oda schwindelt es. Ihr wird übel. Sie tritt vor ihre Zelle und sieht die anderen. Da stehen sie auf dem Flur: Erika von Brockdorff, Cato Bontjes van Beek, Rose Schlösinger. Die Todeskandidatinnen. Oda hat Angst zu fallen. Sie fällt.

Im Wagen kommt sie wieder zu sich, eingekeilt zwischen Eri und Cato. Der Wagen hält. Die Tür wird geöffnet. Duftende Luft schwappt herein: Frühlingsluft, Freiheitsluft, durchsonnt und himmelblau. Sie stolpern auf den Hof. Über ihnen leuchtet einen Moment lang das Licht, dann geht es durch die Pforte ins Innere. Das Frauengefängnis Barnimstraße ist für 415 Häftlinge ausgelegt. In diesem Mai 1943 befinden sich 1507 Insassinnen hier. Der riesige Komplex ist durchwabert von einem schweren, dicken Geruch nach Fäkalien, Lysol, Kohl. Sie werden einen Gang entlanggeführt, dann einen anderen. Von irgendwo dünn das Geschrei von Säuglingen. Im Duschsaal entkleiden sie sich unter den Augen der Aufsicht, die mit verschränkten Armen an der Wand steht. Die Gefangenen sind mager. Sie haben stumpfgraue Häftlingshaut, Schuppen und Pusteln. Man händigt ihnen graue Kittel aus, Holzpantinen. Es geht die Eisentreppe hinauf, den Gang entlang, in dem die Stimmen tot klingen, ohne Nachhall.

»Da rein.«

Die Zelle.

Die Ärztin Elfriede Paul sitzt in ihrer Zelle in der Kantstraße. Erika ist fort. Sie ist heute Morgen abgeholt worden: Man hat sie in die Barnimstraße verlegt. Elfriede ist zurückgeblieben. Bisher sind sie gemeinsam marschiert. Aber jetzt trennen sich die Wege der Lebenden und der Toten. Gegen Abend öffnet sich die Zellentür. Marta Husemann stolpert herein, tränenüberströmt. Ihr hat man Cato weggenommen.

Seit die Zahnschmerzen am Ostersonntag den Höhepunkt erreichten, ist Eri Brockdorff bereit zu sterben. Es hat ja gar keinen Sinn zu leben. Das Leben hält nichts bereit als Zorn, Schmerz und Schrecken. Und hätte ihr Tod Sinn? Die Frage ist kindisch. Sie ist anmaßend: Erwartet Erika, dass Gevatter Tod der Gräfin von Brockdorff eine Sonderrolle zuweist, inmitten des Sterbens ringsum? Man stirbt, fertig. Erika muss sich davon befreien, ihr einzelnes kleines Schicksal wäre von Bedeutung in einer Zeit, in der überall gestorben wird.

Sie muss sich davon befreien, das Leben des Einzelnen hätte Bedeutung. Aber wenn das Leben des Einzelnen keine Bedeutung hat, wofür stirbt sie dann? Wenn es egal ist, wie viele sterben, wofür haben sie dann gelebt, wofür gekämpft, wofür sich gequält? Das Leben jedes Einzelnen zählt.

Nur das Leben Erika Brockdorffs zählt nicht. Denn wenn ihr Leben wichtig wäre, wie ertrüge sie dann ihren Tod? 1953 wäre sie entlassen worden, wenn der Führer das Urteil nicht annulliert hätte. 1953 wird sie zehn Jahre tot sein. Alles in Erika empört sich dagegen. Alles empört sich gegen die philosophische Gelassenheit, gegen die ganze geistreiche und blödsinnige Art, mit der manche ihrer Mitgefangenen das Jenseits und die Ewigkeit betrachten. Erika Brockdorff will leben. Sie brennt vor Zorn auf den selbstmörderisch fahrlässigen Harro Schulze-Boysen, auf die eigensüchtige, selbstverliebte blöde Kuh Libs. Am Donnerstag, dem 13. Mai, ertönt der Befehl.

»Fertigmachen zum Verlegen.«

»Bitte, wo komme ich hin?«

Plötzensee.

Am selben Tag sitzt Harald Poelchau wieder einmal mit Mimi Terwiels Eltern in seinem kleinen Dienstzimmer im Gefängnis Tegel. Herr Dr. Terwiel ist hoher Jurist, seine Frau ist Jüdin. Sie bemühen sich verzweifelt darum, ihre Tochter arisieren zu lassen. Poelchau hat versprochen, sich um eine arische Geburtsurkunde für Frau Terwiels Mutter zu kümmern, womit Mimi nicht mehr Mischling ersten, sondern nur noch zweiten Grades und damit einer Arierin gleichgestellt wäre.

»Verraten Sie es ihr aber bitte noch nicht«, sagt Frau Terwiel. »Damit sie sich nur nicht falschen Hoffnungen hingibt.«