Die Narben der Gewalt - Judith Herman - E-Book

Die Narben der Gewalt E-Book

Judith Herman

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Beschreibung

Dieses Buch ist das Ergebnis jahrzehntelanger Forschung und praktischer Arbeit mit Opfern sexueller und häuslicher Gewalt. Es spiegelt zudem die vielfältigen Erfahrungen der Autorin mit zahlreichen anderen traumatisierten Patienten wider, vor allem mit Kriegsveteranen und Terroropfern. 2015 fasste Judith Herman die neuesten Forschungen und Entwicklungen zusammen und ergänzte somit ihren Klassiker, der nie an Aktualität verloren hat. "Das Buch von Judith Herman ist eines der wichtigsten und gleichzeitig lesbarsten Bücher der modernen Traumaforschung. Es sollte in allen universitären Seminaren zum Thema psychische Traumatisierungen zur Pflichtlektüre gehören." - Dr. Arne Hofmann

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Seitenzahl: 693

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Judith Herman

Die Narben der Gewalt

Über dieses Buch

Der Klassiker in aktualisierter Fassung 

Die umfangreiche praktische Arbeit mit Opfern sexueller und häuslicher Gewalt, jahrzehntelange Forschung sowie die kritische Auseinandersetzung mit gängigen Ansätzen in der Psychotraumatologie – all dies findet Eingang in das wegweisende Grundlagenwerk für Psychologen, Psychiater und Psychotherapeuten. 2015 fasste Judith Herman die neuesten Forschungsentwicklungen in diesem Bereich zusammen und ergänzte damit ihren Klassiker, der nie an Aktualität verloren hat. 

Der erste Teil des Buches fokussiert auf das Spektrum menschlicher Reaktionen auf traumatische Ereignisse. Der zweite Teil thematisiert den Verlauf des Trauma-Heilungsprozesses und stellt ein neu entwickeltes Konzept für die Psychotherapie traumatisierter Patienten vor. 

Durch den persönlich-narrativen Schreibstil der Autorin sowie zahlreiche Fallbeispiele und Aussagen von Opfern werden die Besonderheiten traumatischer Störungen und die Prinzipien der Behandlung äußerst zugänglich. Somit kann das Buch auch für Betroffene und deren Angehörige eine große Hilfe sein, Traumafolgen besser zu verstehen und zu verarbeiten.

Judith Herman ist emeritierte Professorin an der Harvard Medical School und leitet ein Programm über Opfer von Gewalttaten am Cambridge Hospital. Seit mehr als 30 Jahren beschäftigt sie sich mit Opfern von Kindesmissbrauch, Vergewaltigung und häuslicher Gewalt.

© der deutschen Ausgabe: Junfermann Verlag, Paderborn 2003 5. aktualisierte Auflage, 2018

Copyright: © 1992, 1997 by Basic Books

Epilogue: © 2015 by Basic Books

First published in the United States by Basic Books, A Subsidiary of Perseus Books L.L.C.

Titel der Originalausgabe: Trauma und Recovery

Übersetzung der Originalausgabe aus dem Amerikanischen: Verena Koch und Renate Weitbrecht

Übersetzung des 1997 geschriebenen Nachwortes und des 2015 erschienenen Epilogs: Renate Weitbrecht

Coverfoto: © SPACEDRONE808 – iStock

Covergestaltung / Reihenentwurf: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Satz: Peter Marwitz, Kiel (etherial.de)

Layout & Digitalisierung: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsdatum dieser eBook-Ausgabe: 2018

ISBN der Printausgabe: 978-3-95571-624-0

ISBN dieses E-Books: 978-3-95571-763-6 (EPUB), 978-3-95571-765-0 (PDF), 978-3-95571-764-3 (MOBI).

Ehe ich mit meiner Erzählung begann, war sie mir als beinahe übertrieben maskulin ausgerichtet erschienen, als eine Saga von sexueller Rivalität, von Ehrgeiz, Macht, Protektion, Betrug, Tod und Rache. Doch die Frauen scheinen die Geschichte an sich gerissen zu haben; sie haben sich vom Rand der Geschichte in ihren Mittelpunkt bewegt und verlangt, dass ihre Tragödien, Erlebnisse und Komödien aufgezeichnet werden, sodass ich mich gezwungen sah, den Verlauf meiner Erzählung in allerhand verschlungene Winkelzüge zu fassen, meine „männliche“ Fabel gewissermaßen durch die Prismen ihrer entgegengesetzten „weiblichen“ Seite wahrzunehmen. Inzwischen will mir scheinen, dass die Frauen genau wussten, worum es ihnen zu tun war – dass ihre Geschichten die der Männer erklären und sogar einbeziehen. Die Repression ist ein nahtloses Gewand; eine Gesellschaft, deren gesellschaftliche und sexuelle Regeln autoritär sind, die ihre Frauen unter der unerträglichen Bürde von Ehre und Schicklichkeit zermalmt, erzeugt auch Repressionen anderer Art. Umgekehrt: Diktatoren sind immer – oder zumindest in der Öffentlichkeit mit Rücksicht auf das Volk – puritanisch. Und so sehen wir, dass meine „männliche“ und meine „weibliche“ Fabel letzten Endes dieselbe Geschichte sind.

Salman Rushdie, Scham und Schande

Einleitung

Gewalttaten verbannt man aus dem Bewusstsein – das ist eine normale Reaktion. Bestimmte Verletzungen des Gesellschaftsvertrages sind zu schrecklich, als dass man sie laut aussprechen könnte: Das ist mit dem Wort „unsagbar“ gemeint.

Doch Gewalttaten lassen sich nicht einfach begraben. Dem Wunsch, etwas Schreckliches zu verleugnen, steht die Gewissheit entgegen, dass Verleugnung unmöglich ist. Viele Sagen und Märchen berichten von Geistern, die nicht in ihren Gräbern ruhen wollen, bis ihre Geschichten erzählt sind. Mord muss ans Tageslicht. Die Erinnerung an furchtbare Ereignisse und das Aussprechen der grässlichen Wahrheit sind Vorbedingungen für die Wiederherstellung der gesellschaftlichen Ordnung, für die Genesung der Opfer.

Der Konflikt zwischen dem Wunsch, schreckliche Ereignisse zu verleugnen, und dem Wunsch, sie laut auszusprechen, ist die zentrale Dialektik des psychischen Traumas. Menschen, die ein Trauma überlebt haben, erzählen davon oft so gefühlsbetont, widersprüchlich und bruchstückhaft, dass sie unglaubwürdig wirken. Damit ist ein Ausweg aus dem Dilemma gefunden, einerseits die Wahrheit sagen und andererseits Stillschweigen wahren zu müssen. Erst wenn die Wahrheit anerkannt ist, kann die Genesung des Opfers beginnen. Doch sehr viel häufiger wird das Schweigen aufrechterhalten, und die Geschichte des traumatischen Ereignisses taugt nicht als Erzählung auf, sondern als Symptom.

Die Symptome psychischen Leidens bei traumatisierten Menschen weisen auf die Existenz eines unaussprechlichen Geheimnisses hin und lenken gleichzeitig davon ab. Besonders deutlich zeigt sich dies, wenn Opfer abwechselnd in Erstarrung verfallen und das Ereignis immer wieder neu erleben. Durch die Dialektik des Traumas entstehen komplexe, manchmal unheimliche Bewusstseinsveränderungen. George Orwell, einer der engagierten Wahrsager des 20. Jahrhunderts, sprach von „Doppeldenk“; Psychiater und Psychologen prägten den sachlich präzisen Begriff „Dissoziation“. Daraus ergeben sich die schillernden, dramatischen und oft bizarren Symptome der Hysterie, in denen Freud vor hundert Jahren versteckte Mitteilungen über sexuellen Missbrauch in der Kindheit erkannte.

Zeugen unterliegen der Dialektik des Traumas ebenso wie die Opfer. Es gelingt dem Beobachter kaum, ruhig zu bleiben, einen klaren Kopf zu bewahren, mehr als einige wenige Bruchstücke des Geschehens gleichzeitig zu erkennen, alle Einzelheiten aufzubewahren und richtig zusammenzusetzen. Noch schwieriger ist es, die richtigen Worte zu finden, um das Beobachtete überzeugend und umfassend zu schildern. Wer versucht, die Gräuel in Worte zu fassen, die er gesehen hat, setzt seine Glaubwürdigkeit aufs Spiel. Wer über Gräueltaten öffentlich spricht, zieht unweigerlich das Stigma auf sich, das dem Opfer immer anhaftet.

Das Wissen, dass schreckliche Dinge passieren, dringt zwar periodisch ins allgemeine Bewusstsein, hält sich dort jedoch selten lange. Verleugnung, Verdrängung und Dissoziation wirken auf gesellschaftlicher wie auf individueller Ebene. Auch die Erforschung psychischer Traumata hat eine „untergründige“ Geschichte. Wie unsere traumatisierten Patienten sind auch wir Therapeuten vom Wissen um unsere Vergangenheit abgeschnitten. Wie unsere Patienten müssen auch wir erst die Vergangenheit verstehen, wenn wir Gegenwart und Zukunft zurückerobern wollen. Deshalb geht die Wiederentdeckung der Geschichte der Erklärung des psychischen Traumas voraus.

Therapeuten kennen den sehr besonderen Augenblick der Erkenntnis, wenn unterdrückte Gedanken, Gefühle und Erinnerungen an die Oberfläche kommen. Solche Augenblicke gibt es in der gesellschaftlichen Geschichte ebenso wie in der individuellen. In den Siebzigerjahren hoben die Manifeste der Frauenbewegung die weitverbreitete Gewalt gegen Frauen ins öffentliche Bewusstsein. Opfer, die man zum Verstummen gebracht hatte, sprachen zum ersten Mal über ihre Geheimnisse. Als Ärztin in der Psychiatrie hörte ich von Patientinnen viele Geschichten über sexuelle und häusliche Gewalt. Aufgrund meines Engagements in der Frauenbewegung konnte ich mich gegen die Verleugnung realer Lebenserfahrungen von Frauen wehren und zu dem stehen, was ich erfahren hatte. Meinen ersten Aufsatz über das Thema Inzest verfasste ich 1976 gemeinsam mit Lisa Hirschman. Bevor er veröffentlicht wurde, zirkulierte er ein Jahr lang als Manuskript im „Untergrund“. Aus allen Teilen des Landes erhielten wir Briefe von Frauen, die nie zuvor über ihre Erlebnisse gesprochen hatten. So erkannten wir, welche Macht darin liegt, das Unsagbare zu benennen, und wir begriffen, welche kreativen Energien freigesetzt werden, wenn die Mauer aus Verleugnung und Verdrängung fällt.

Die Narben der Gewalt ist die Frucht von zwanzig Jahren Forschung und praktischer Arbeit mit Opfern von sexueller und häuslicher Gewalt. Das Buch spiegelt auch die vielfältigen Erfahrungen mit zahlreichen anderen traumatisierten Patienten wider, vor allem mit Kriegsveteranen und Opfern von politischem Terror. Es ist ein Buch über die Wiederherstellung von Verbindungen: Verbindungen zwischen öffentlichen und privaten Welten, zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Mann und Frau. Es ist ein Buch über Gemeinsamkeiten: zwischen Vergewaltigungsopfern und Kriegsveteranen, zwischen misshandelten Frauen und politischen Gefangenen, zwischen den Überlebenden der riesigen Konzentrationslager, errichtet von Tyrannen, die über Völker herrschten, und den Überlebenden der kleinen, versteckten Konzentrationslager, errichtet von Tyrannen, die über ihre Familie herrschen.

Wer Furchtbares durchlebt hat, leidet unter bestimmten vorhersehbaren psychischen Schäden. Das Spektrum traumatischer Störungen reicht von den Folgen eines einzigen, überwältigenden Ereignisses bis zu den vielschichtigen Folgen lang anhaltenden und wiederholten Missbrauchs. Gängige diagnostische Kategorien, insbesondere die häufig bei Frauen diagnostizierten schweren Persönlichkeitsstörungen, berücksichtigen im Allgemeinen zu wenig, was es bedeutet, wenn ein Mensch zum Opfer geworden ist. Im ersten Teil des Buches wird das Spektrum menschlicher Reaktionen auf traumatische Ereignisse beschrieben, die psychische Störung, unter der die Opfer lang anhaltenden und wiederholten Missbrauchs leiden, bekommt einen neuen diagnostischen Namen.

Da zwischen traumatischen Syndromen grundlegende Gemeinsamkeiten bestehen, verläuft auch der Heilungsprozess auf ähnliche Weise. Wichtige Phasen der Genesung sind die Herstellung von Sicherheit, die Rekonstruktion der Geschichte des Traumas und die Wiederherstellung der Verbindung zwischen Opfer und Gemeinschaft. Im zweiten Teil des Buches wird der Verlauf des Heilungsprozesses geschildert und ein neues Konzept für die Psychotherapie von traumatisierten Patienten entwickelt. Aussagen von Opfern und Fallbeispiele aus der umfangreichen Literatur illustrieren die Besonderheiten traumatischer Störungen und die Prinzipien der Behandlung.

Zu den wissenschaftlichen Grundlagen dieses Buches zählen meine früheren Untersuchungen über Inzestopfer und meine neuere Untersuchung zur Bedeutung von Traumatisierungen in der Kindheit für die Herausbildung von sogenannten Borderline-Persönlichkeitsstörungen. Die klinischen Erfahrungen, auf die sich dieses Buch gründet, konnte ich in zwanzigjähriger Tätigkeit in einer feministisch orientierten psychiatrischen Klinik und in zehnjähriger Tätigkeit als Dozentin und Supervisorin in einem Lehrkrankenhaus der Universität sammeln.

Im Mittelpunkt des Buches stehen die Berichte von traumatisierten Menschen. Um die Vertraulichkeit zu wahren, habe ich die Namen aller meiner Gesprächspartner verändert – mit zwei Ausnahmen: Erstens erscheinen alle Therapeuten und Ärzte, die ich zu ihrer Arbeit interviewt habe, unter ihrem richtigen Namen sowie zweitens alle Opfer, die bereits in die Öffentlichkeit gegangen sind. Die Fallschilderungen sind fiktiv, in jede Schilderung sind die Erfahrungen vieler Patienten eingeflossen, nicht nur die eines einzelnen.

Die Opfer fordern uns auf, Bruchstücke zusammenzusetzen, Geschichten zu rekonstruieren, ihren gegenwärtigen Symptomen im Lichte vergangener Erlebnisse Bedeutung zu verleihen. Ich habe versucht, die medizinischen und gesellschaftlichen Aspekte traumatischer Ereignisse zu verknüpfen, ohne die Komplexität individueller Erfahrungen oder die Vielfalt des politischen Umfelds preiszugeben. Ich habe versucht, Kenntnisse aus scheinbar unterschiedlichen Bereichen zusammenzufügen und Konzepte zu entwickeln, die auf die Erfahrungen von Familien- und Sexualleben, der traditionell weiblichen Sphäre, ebenso anwendbar sind wie auf die Erfahrungen von Krieg und Politik, der traditionell männlichen Sphäre.

Dieses Buch erscheint zu einem Zeitpunkt[1], an dem die Frauenbewegung eine öffentliche Diskussion der weitverbreiteten Gewalt im sexuellen und familiären Leben und die Menschenrechtsbewegung eine öffentliche Diskussion der weitverbreiteten Gewalt im politischen Leben ermöglichte. Das Buch wird sicher Diskussionen auslösen; einmal weil es aus feministischer Perspektive geschrieben ist, zum Zweiten weil es gängige diagnostische Kategorien infrage stellt, zum Dritten – und das ist der vielleicht wichtigste Punkt – weil es grauenhafte Dinge beim Namen nennt, Dinge, über die eigentlich niemand etwas hören will. Ich habe versucht, meine Gedanken in eine Sprache zu kleiden, die Verbindungen aufrechterhält, eine Sprache, die sowohl der leidenschaftslosen, vernunftbetonten Haltung meines Berufsstandes Rechnung trägt als auch den leidenschaftlichen Forderungen der verletzten und empörten Menschen. Ich habe versucht, eine Sprache zu finden, die den Versuchungen des „Doppeldenks“ widersteht und es uns allen erlaubt, die Konfrontation mit dem Unsagbaren etwas besser auszuhalten.

[1] Die Erstauflage der englischen Originalausgabe erschien 1992 (Anm. d. Vrl.).

TEIL 1: TRAUMATISCHE STÖRUNGEN

1. Eine vergessene Geschichte

Die Erforschung psychischer Traumata hat eine eigenartige Geschichte – immer wieder gibt es Phasen der Amnesie. Auf Zeiten intensiver Forschungstätigkeit folgten immer wieder Zeiten, in denen das Thema in Vergessenheit geriet. In den letzten hundert Jahren gab es wiederholt vergleichbare Forschungsansätze, die aber jeweils abrupt abgebrochen und erst sehr viel später wieder aufgenommen wurden. Klassische Studien, die vor fünfzig oder hundert Jahren entstanden sind, lesen sich oft wie zeitgenössische Arbeiten. Obwohl das Forschungsgebiet eine reiche Tradition besitzt, vergaß man die Ergebnisse immer wieder, sodass sie jeweils neu erarbeitet werden mussten.

Der Grund für diese periodische Amnesie ist nicht der übliche Wechsel der gerade aktuellen Themen, dem jede geistige Arbeit unterliegt. Dass die Erforschung psychischer Traumata nur schleppend Fortschritte macht, liegt nicht an mangelndem Interesse. Das Thema provoziert vielmehr so starke Kontroversen, dass es periodisch tabuisiert wird. Bei der Erforschung psychischer Traumata stieß man wiederholt in Bereiche des Undenkbaren vor und kam zu grundlegenden Glaubensfragen.

Die Untersuchung psychischer Traumata konfrontiert den Forscher mit der Verwundbarkeit des Menschen in seiner natürlichen Umwelt und mit der Fähigkeit zum Bösen als Teil der menschlichen Natur. Wer psychische Traumata untersucht, muss über furchtbare Ereignisse berichten. Bei Naturkatastrophen oder Ereignissen, die auf „höhere Gewalt“ zurückzuführen sind, ist es für den Berichterstatter leicht, Mitleid für das Opfer zu empfinden. Ist das traumatische Ereignis jedoch Ergebnis menschlichen Handelns, ist der Berichterstatter im Konflikt zwischen Opfer und Täter gefangen. Es ist moralisch unmöglich, in diesem Konflikt neutral zu bleiben. Der Zuschauer muss Stellung beziehen.

Die Versuchung, sich auf die Seite des Täters zu schlagen, ist groß. Der Täter erwartet vom Zuschauer lediglich Untätigkeit. Er appelliert an den allgemein verbreiteten Wunsch, das Böse nicht zu sehen, nicht zu hören und nicht darüber zu sprechen. Das Opfer hingegen erwartet vom Zuschauer, dass er die Last des Schmerzes mitträgt. Das Opfer verlangt Handeln, Engagement und Erinnerungsfähigkeit. Der Psychiater Leo Eitinger, der mit Überlebenden aus Konzentrationslagern gearbeitet hat, beschreibt den grausamen Interessenkonflikt zwischen Opfer und Zuschauer: „Die Gesellschaft will Krieg und Kriegsopfer vergessen; alles Schmerzhafte und Unangenehme wird unter dem Schleier des Vergessens begraben. Die beiden Gruppen stehen sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber; auf der einen Seite die Opfer, die vielleicht vergessen wollen, aber nicht vergessen können, und auf der anderen Seite all jene, die aufgrund starker, oft unbewusster Motive unbedingt vergessen wollen und auch vergessen können. Der Kontrast [...] ist oft für beide Seiten sehr schmerzvoll. In diesem stummen und ungleichen Dialog verliert immer der Schwächere.“1

Um sich der Verantwortung für seine Verbrechen zu entziehen, fördert der Täter auf jede ihm mögliche Weise das Vergessen. Die ersten Verteidigungstaktiken des Täters sind Geheimhaltung und Schweigen. Wenn Geheimhaltung nicht mehr möglich ist, greift der Täter die Glaubwürdigkeit des Opfers an. Wenn er das Opfer nicht ganz und gar zum Schweigen bringen kann, sorgt er so weit wie möglich dafür, dass dem Opfer niemand zuhört. Zu diesem Zweck bietet er ein erstaunliches Arsenal an Argumenten auf, von offenkundiger Ableugnung der Tat bis hin zu ausgefeilten und feinsinnigen Rationalisierungen. Nach jeder Gewalttat sind die gleichen Ausreden zu erwarten: Es ist nie geschehen; das Opfer lügt; das Opfer übertreibt; das Opfer ist selber schuld; und es ist ohnehin an der Zeit, dass man die Vergangenheit ruhen lässt und in die Zukunft blickt. Je mächtiger der Täter, desto umfassender ist sein Vorrecht, Realität zu benennen und zu definieren, und desto vollständiger kann er seine Argumente durchsetzen.

Ist der Zuschauer auf sich allein gestellt, kann er den Argumenten des Täters oft nicht widerstehen. Ohne unterstützendes soziales Umfeld kann sich der Zuschauer normalerweise nicht der Versuchung entziehen, einfach wegzusehen.2 Das gilt sogar dann, wenn das Opfer ein bewundertes und geschätztes Mitglied der Gesellschaft ist. In jedem Krieg haben Soldaten, selbst solche, die als Helden galten, bitter darüber geklagt, dass niemand sich für die ungeschönte Wahrheit des Krieges interessiert hat. Gilt das Opfer ohnehin als minderwertig (eine Frau, ein Kind), muss es häufig feststellen, dass die traumatischen Ereignisse außerhalb der gesellschaftlich anerkannten Realität stattfanden. Die Erfahrung des Opfers wird zu etwas Unaussprechlichem.

Bei der Erforschung psychischer Traumata muss man ständig gegen die Neigung ankämpfen, das Opfer als unglaubwürdig hinzustellen oder unsichtbar zu machen. Seit man sich mit den psychischen Folgen von Gewalttaten beschäftigt, hat es immer wieder heftige Diskussionen darum gegeben, ob Patienten mit posttraumatischem Leiden Fürsorge und Respekt verdienen oder Verachtung, ob sie wirklich leiden oder nur so tun, ob ihre Geschichten wahr oder erfunden sind, und wenn sie erfunden sind, ob sie einer Einbildung entspringen oder böswillig konstruiert wurden. Obwohl die Erscheinungsformen psychischer Traumata in umfangreicher Literatur dokumentiert sind, konzentriert sich die Diskussion immer noch auf die Grundsatzfrage, ob die Erscheinungen glaubwürdig und wahr sind.

Nicht nur die Glaubwürdigkeit der Patienten, auch die der Forscher, die sich mit posttraumatischen Zuständen beschäftigen, wird immer wieder infrage gestellt. Wenn sich Ärzte lange und eingehend mit traumatisierten Patienten unterhalten, gelten sie ihren Kollegen oft als verdächtig, so als ob sie durch den Kontakt infiziert wären. Forscher, die sich in der Untersuchung des Themas zu sehr von konventionellen Überzeugungen entfernen, werden häufig beruflich gewissermaßen isoliert.

Die traumatische Realität kann nur im Bewusstsein bleiben, wenn das Opfer durch sein soziales Umfeld gestärkt und geschützt wird und Opfer und Zeuge zu einem Bündnis zusammenfinden. Für das Opfer schaffen die Beziehungen zu Freunden, Partnern und Familie ein solches soziales Umfeld. Für die Gesellschaft insgesamt leisten das politische Bewegungen, die für die Ohnmächtigen sprechen.

Die systematische Erforschung psychischer Traumata braucht die Unterstützung einer politischen Bewegung. Es ist schon eine politische Frage, ob entsprechende Forschungen durchgeführt und in der Öffentlichkeit diskutiert werden können. Die Erforschung von Kriegstraumata ist nur in einem Umfeld legitim, das die Opferung junger Männer im Krieg infrage stellt. Die Erforschung traumatischer Erfahrungen im sexuellen und häuslichen Bereich ist nur legitim in einem Umfeld, das die Unterordnung von Frauen und Kindern infrage stellt. Fortschritte gibt es auf diesem Gebiet nur, wenn eine starke politische Bewegung die Wissenschaft unterstützt, indem sie das Bündnis von Wissenschaftlern und Patienten rechtfertigt und den üblichen gesellschaftlichen Prozess der Verdrängung und Verleugnung unterbindet. Wenn eine starke politische Menschenrechtsbewegung fehlt, gewinnt unweigerlich tätige Verdrängung die Oberhand über die aktive Auseinandersetzung mit dem Geschehenen. Verleugnung, Verdrängung und Dissoziation gibt es im gesellschaftlichen Bewusstsein genauso wie im individuellen Bewusstsein.

In den vergangenen hundert Jahren drangen drei Formen psychischer Traumata ins öffentliche Bewusstsein, jedes Mal förderte die Verbindung mit einer politischen Strömung die Erforschung des spezifischen Traumas. Als Erstes widmete man sich der Hysterie, der archetypischen psychischen Störung der Frauen. Dieses Forschungsgebiet entwickelte sich Ende des 19. Jahrhunderts in der republikanisch und antiklerikal geprägten politischen Atmosphäre Frankreichs. Das zweite Thema war die Schützengraben- oder Kriegsneurose. Hier begann die Forschung nach dem Ersten Weltkrieg in England und den USA und erreichte nach dem Vietnamkrieg einen Höhepunkt. Das zugehörige politische Umfeld war der Zusammenbruch des Kriegskultes und die Entstehung einer Antikriegsbewegung. Das letzte Trauma, das erst vor Kurzem in das öffentliche Bewusstsein gelangte, ist die sexuelle und innerfamiliäre Gewalt. Dieses Thema gehört in den politischen Zusammenhang der Frauenbewegung in Westeuropa und Nordamerika. Unser derzeitiges Verständnis psychischer Traumata gründet sich auf die Synthese dieser drei unterschiedlichen Forschungsrichtungen.

1.1 Das heroische Zeitalter der Hysterie

In den letzten zwanzig Jahren des 19. Jahrhunderts stand die Hysterie genannte Störung im Mittelpunkt vieler wissenschaftlich seriöser Forschungen. Der Begriff Hysterie war damals so verbreitet, dass niemand sich um eine systematische Definition bemühte. „2500 Jahre lang“, so ein Historiker, „galt Hysterie als seltsame Krankheit mit unklaren und unverständlichen Symptomen. Die meisten Ärzte hielten Hysterie für eine typisch weibliche Krankheit, deren Ursache in der Gebärmutter lag.“3 „Hysterie“ ist vom griechischen Wort für Gebärmutter, Hystera, abgeleitet. Ein anderer Historiker bezeichnete Hysterie als „anschauliche medizinische Metapher für alles, was Männern am anderen Geschlecht rätselhaft und unkontrollierbar erschien“.4

Stammvater der Erforschung der Hysterie ist der große französische Neurologe Jean-Martin Charcot. Sein Königreich war die Salpêtriére, ein riesiges altes Krankenhausgelände, in dem seit langer Zeit die erbärmlichsten Gestalten des Pariser Proletariats Zuflucht fanden: Bettler, Prostituierte und Geisteskranke. Charcot verwandelte die heruntergekommene Einrichtung in einen Tempel der modernen Wissenschaft, und die besonders begabten und ehrgeizigen Wissenschaftler der neuen Fachrichtungen Neurologie und Psychiatrie reisten nach Paris, um von dem Meister zu lernen. Unter den vielen hervorragenden Ärzten, die in die Salpêtriére pilgerten, waren Pierre Janet, William James und Sigmund Freud.5

Die Erforschung der Hysterie als große Expedition ins Unbekannte erregte die Fantasie vieler Menschen. Charcots Untersuchungen waren nicht nur in der medizinischen Fachwelt berühmt, sondern auch in Literatur und Politik bekannt. Seine „Leçons du Mardi“, die Dienstagsvorlesungen, waren regelrechte Theaterereignisse mit einem „bunt gemischten Pariser Publikum: Autoren, Doktoren, große Schauspieler und Schauspielerinnen, elegante Halbweltdamen, alle von morbider Neugier erfüllt.“6 Charcot illustrierte seine Ergebnisse in den Vorlesungen mit lebenden Beispielen. Die Patientinnen, die er vorstellte, waren junge Frauen, die in der Salpêtriére Zuflucht vor Gewalt, Ausbeutung und Vergewaltigung gefunden hatten. Die Krankenanstalt bot ihnen mehr Schutz und Sicherheit, als sie jemals erfahren hatten; einige wenige Frauen, die Charcot zu seinen Hauptdarstellerinnen machte, gelangten durch die Krankenanstalt sogar in gewisser Weise zu Ruhm.

Charcot bewies anerkanntermaßen großen Mut, indem er sich überhaupt der Erforschung der Hysterie widmete. Mit seinem guten Ruf machte er ein Gebiet hoffähig, das zuvor als Thema ernsthafter wissenschaftlicher Forschung nicht infrage gekommen wäre. Vor Charcot galten hysterische Frauen als Simulantinnen, deren Behandlung man Hypnotiseuren und Quacksalbern überließ. In einem Nachruf pries Freud Charcot als väterlichen Befreier der Geplagten: „Es hieß, bei der Hysterie ist alles möglich, und dem Hysterischen wolle man nichts glauben. Die Arbeit Charcots gab dem Thema zunächst seine Würde wieder; man gewöhnte sich allmählich das höhnische Lächeln ab, auf das die Kranke damals sicher rechnen konnte; sie musste nicht mehr eine Simulantin sein, da Charcot mit seiner vollen Autorität für die Echtheit und Objektivität der hysterischen Phänomene eintrat.“7

Charcot ging klassifizierend und systematisierend an die Hysterie heran, die „große Neurose“, wie er sie nannte. Er legte Wert auf sorgfältige Beobachtung, Beschreibung und Kategorisierung der Phänomene. Die charakteristischen Symptome der Hysterie dokumentierte er umfassend nicht nur schriftlich mit Worten, sondern auch mit Zeichnungen und Fotografien. Charcot konzentrierte sich auf die Symptome der Hysterie, die neurologische Störungen imitierten: motorische Lähmungen, sensorische Ausfälle, Krampfanfälle und Amnesien. 1880 hatte er bewiesen, dass die Symptome der Hysterikerinnen psychisch bedingt waren, denn sie konnten durch Hypnose künstlich hervorgerufen und beseitigt werden.

Charcot widmete zwar den Symptomen seiner hysterischen Patientinnen die allergrößte Aufmerksamkeit, doch für ihr Innenleben interessierte er sich nicht im Geringsten. Ihre Gefühle waren für ihn Symptome, die es zu kategorisieren galt, ihre Äußerungen bezeichnete er als „Vokalisationen“. Wie er zu seinen Patientinnen stand, wird in der wörtlichen Wiedergabe einer Dienstagsvorlesung deutlich. Mithilfe einer jungen Frau in hypnotischer Trance wollte er einen hysterischen Krampfanfall demonstrieren:

Charcot: Wir wollen noch einmal die hysterogene Stelle berühren. (Ein Assistenzarzt berührt die Patientin im Bereich der Eierstöcke.) Da haben wir es wieder. Manche Patientinnen beißen sich sogar auf die Zunge, doch das ist selten. Beachten Sie die Rückenkrümmung, die in den Lehrbüchern so genau beschrieben ist.

Patientin: Mutter, ich habe Angst.

Charcot: Beachten Sie den Gefühlsausbruch. Wenn das unvermindert anhält, bekommen wir bald wieder epileptisches Verhalten zu sehen ... (Die Patientin schreit wieder: „Oh, Mutter.“)

Charcot: Beachten Sie wieder diese Schreie. Man könnte sagen, viel Lärm um nichts.8

Charcots Nachfolger setzten allen Ehrgeiz daran, sein Werk zu perfektionieren und der Ursache der Hysterie auf die Spur zu kommen. Besonders groß war die Rivalität zwischen Janet und Freud, beide wollten als Erste die bahnbrechende Entdeckung machen.9 Die Forscher erkannten bald, dass sie ihr Ziel nur erreichen konnten, wenn sie sich nicht damit zufrieden gaben, die Hysterikerinnen zu beobachten und zu klassifizieren. Sie mussten mit ihnen sprechen. Ein kurzes Jahrzehnt lang lauschten Männer der Wissenschaft mit vorher wie später unbekannter Hingabe und Respekt auf das, was Frauen zu sagen hatten. Tägliche, oft stundenlange Zusammenkünfte mit hysterischen Patientinnen waren nichts Ungewöhnliches. Die Fallstudien aus dieser Zeit lesen sich fast wie gemeinsame Arbeiten von Arzt und Patientin.

Die Untersuchungen trugen Früchte. Mitte der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts waren Janet in Frankreich und Freud zusammen mit seinem Kollegen Josef Breuer in Wien unabhängig voneinander zu verblüffend ähnlichen Ergebnissen gekommen; Hysterie ist ein Zustand, der durch ein psychisches Trauma verursacht wird. Unerträgliche Gefühlsreaktionen auf traumatische Ereignisse verursachen Bewusstseinsveränderungen, die wiederum hysterische Symptome hervorrufen. Janet nannte diesen veränderten Bewusstseinszustand „Dissoziation“,10 Breuer und Freud sprachen von „doppeltem Bewusstsein“.11

Janet und Freud stellten übereinstimmend fest, dass durch psychische Traumata und durch Hypnose weitgehend die gleichen Bewusstseinsveränderungen hervorgerufen wurden. Janet hielt die Fähigkeit zu Dissoziation oder hypnotischer Trance für ein Zeichen psychischer Schwäche und Suggestibilität. Breuer und Freud argumentierten dagegen, Hysterie und die damit verbundenen Bewusstseinsveränderungen finde man auch unter den „geistig klarsten, willensstärksten, charaktervollsten und kritischsten Menschen“.12

Außerdem erkannten Janet wie Freud, dass die somatischen Symptome der Hysterie in verschleierter Form jene höchst verstörenden Ereignisse darstellten, die aus dem Gedächtnis verbannt werden mussten. Janet beschreibt seine hysterischen Patienten als beherrscht von „unbewussten fixen Ideen“, den Erinnerungen an traumatische Ereignisse.13 Breuer und Freud fassen in einprägsamer Formulierung zusammen, „der Hysterische leide größtenteils an Reminiszenzen“.14

Die Forscher fanden gegen Ende des 19. Jahrhunderts überdies heraus, dass die hysterischen Symptome zurückgingen, wenn der Patient die traumatischen Erinnerungen und die damit verbundenen intensiven Gefühle wiederentdecken und in Worte fassen konnte. Diese Behandlungsmethode wurde die Grundlage moderner Psychotherapie. Janet nannte die Technik „psychologische Analyse“, Breuer und Freud sprachen von „Abreaktion“ oder „Katharsis“, Freud später von „Psychoanalyse“. Doch den einfachsten und vielleicht besten Namen erfand eine Patientin von Breuer, eine begabte, intelligente und schwer gestörte junge Frau, der Breuer das Pseudonym Anna O. gab. Sie verwendete für den intensiven Dialog mit Breuer die englische Bezeichnung „talking cure“ [Gesprächskur; A. d. Ü.].15 Die Zusammenarbeit zwischen Arzt und Patient glich mehr und mehr einer Suche. Die Lösung des Rätsels Hysterie konnte in einer mühsamen Rekonstruktion der Vergangenheit des Patienten gefunden werden. In den Aufzeichnungen über seine Arbeit mit einer Patientin vermerkt Janet, im Verlauf der Behandlung habe die Aufdeckung traumatischer Ereignisse aus jüngerer Zeit zur Erforschung weiter zurückliegender Ereignisse geführt. „Indem ich die oberflächliche Schicht der Täuschungen beseitigte, ermöglichte ich das Auftauchen alter fixer Ideen, die sich hartnäckig auf dem Grund ihrer Seele hielten. Als auch diese verschwanden, besserte sich ihr Zustand gewaltig.“16 Breuer spricht in der Beschreibung seiner Arbeit mit Anna O. davon, er müsse den Faden der Erinnerung zurückverfolgen.17

Am weitesten zurück verfolgte Freud den Faden, und das führte ihn unweigerlich zur Erforschung der weiblichen Sexualität. Obwohl die Ärzte seit Jahrhunderten überzeugt waren, dass hysterische Symptome etwas mit weiblicher Sexualität zu tun hatten, zweifelten Freuds Lehrer Charcot und Breuer daran, dass die Sexualität tatsächlich eine so große Rolle für den Ausbruch der Hysterie spielte. Anfänglich widerstrebte dieser Gedanke auch Freud selbst: „Als ich die zweite Kranke [...] zu analysieren begann, lag mir die Erwartung einer Sexualneurose als Boden für die Hysterie ziemlich ferne; ich war frisch aus der Schule Charcots gekommen und betrachtete die Verknüpfung einer Hysterie mit dem Thema der Sexualität als eine Art von Schimpf – ähnlich wie die Patientinnen selbst es pflegen.“18

Die empathische Identifikation mit den Reaktionen seiner Patientinnen ist typisch für Freuds frühe Schriften zur Hysterie. Aus den Fallgeschichten spricht ein von leidenschaftlicher Neugier besessener Mann, der bereit ist, seine eigene Abwehr zu überwinden und zuzuhören. Was er zu hören bekam, war furchtbar. Viele Patientinnen berichteten von sexuellen Übergriffen, Misshandlungen und Inzest. Wenn Freud und seine Patientinnen den Faden der Erinnerung zurückverfolgten, entdeckten sie oft schwerwiegende traumatische Ereignisse in der Kindheit, verborgen unter neueren, meist relativ trivialen Erfahrungen, die den Ausbruch hysterischer Symptome ausgelöst hatten. Im Jahr 1896 glaubte Freud schließlich, die Ursache der Hysterie gefunden zu haben. Sein Bericht über achtzehn Fallstudien unter dem Titel Zur Ätiologie der Hysterie enthält den dramatischen Satz: „Ich stelle also die Behauptung auf, zugrunde jedes Falles von Hysterie befinden sich – durch die analytische Arbeit reproduzierbar, trotz des Dezennien umfassenden Zeitintervalls – einoder mehrere Erlebnisse von vorzeitiger sexueller Erfahrung, die der frühesten Jugend angehören. Ich halte dies für eine wichtige Enthüllung, für die Auffindung eines caput Nili der Neuropathologie.“19

Auch hundert Jahre später[2] gibt es kaum bessere Beschreibungen der Auswirkungen sexuellen Missbrauchs in der Kindheit. In der brillant geschriebenen, einfühlsamen Darstellung argumentiert Freud überzeugend und zieht konsequente Schlussfolgerungen. Der triumphierende Titel und der jubilierende Ton lassen vermuten, dass Freud seinen Beitrag als die krönende Leistung seines Fachgebiets betrachtete.

Tatsächlich markiert die Veröffentlichung von Zur Ätiologie der Hysterie jedoch das Ende dieses Forschungsansatzes. Kaum ein Jahr später verwarf Freud insgeheim die Theorie vom Trauma als Ursache der Hysterie. Aus seinen Briefen geht hervor, dass ihn die drastischen sozialen Konsequenzen, die seine Hypothese nahelegte, zunehmend beunruhigten. Weibliche Hysterie war weitverbreitet. Wenn seine Patientinnen die Wahrheit gesagt hatten und seine Theorie stimmte, blieb nur die Folgerung, dass das, was er „Perversion gegen Kinder“ nannte, weitverbreitet war. Solche Dinge kamen demnach nicht nur im Pariser Proletariat vor, wo er die Hysterie zuerst erforscht hatte, sondern auch unter geachteten bürgerlichen Familien in Wien, wo er mittlerweile praktizierte. Dieser Gedanke war schlichtweg unannehmbar. Er überstieg das Vorstellungsvermögen.20

Konfrontiert mit dem Dilemma, gab es Freud auf, seinen Patientinnen zuzuhören. Der berühmte Fall Dora dokumentiert den Wendepunkt. Der Fall, Freuds letzte Fallstudie über Hysterie, liest sich eher wie ein geistreiches Wortgefecht und nicht wie die Frucht eines gemeinsamen Unterfangens. Die Interaktion zwischen Freud und Dora ist als „emotionaler Kampf“ beschrieben worden.21 Freud erkennt die Erfahrungen seiner Patientin zwar noch als Realität an – der Vater setzte die heranwachsende Dora als Schachfigur bei seinen ausgefeilten sexuellen Ränkespielen ein; im Grunde genommen bot er sie seinen Freunden als Sexspielzeug an. Doch Doras Gefühle der Wut und Demütigung wollte Freud nicht mehr anerkennen. Stattdessen bestand er darauf, ihre Gefühle sexueller Erregung zu erkunden, als ob in der Missbrauchssituation ihre Sehnsüchte erfüllt worden wären. Dora brach die Behandlung ab, was Freud als Akt der Rache betrachtete.

Der Bruch ihrer Beziehung bedeutete gleichzeitig das bittere Ende der Ära, in der ehrgeizige Wissenschaftler und hysterische Patientinnen vertrauensvoll zusammengearbeitet hatten. Fast ein Jahrhundert lang wurden die Patienten wieder verachtet und zum Schweigen gebracht. Freuds Anhänger pflegten einen besonderen Groll gegen die rebellische Dora. Einer seiner Schüler bezeichnete sie später als „eine der widerlichsten Hysterikerinnen“, die ihm je begegnet seien.22

Aus den Trümmern seiner Theorie zur Entstehung der Hysterie durch frühe Traumatisierung schuf Freud die Psychoanalyse. Die maßgebliche psychologische Theorie des 20. Jahrhunderts basiert also auf der Leugnung weiblicher Realität.23 Die Sexualität stand weiterhin im Mittelpunkt des Forschungsinteresses, doch das ausbeuterische soziale Umfeld, in dem sexuelle Beziehungen letztlich stattfinden, verschwand völlig aus dem Gesichtsfeld. Die Psychoanalyse beschäftigte sich von nun an mit dem inneren Wandel der Fantasien und Sehnsüchte, losgelöst von den realen Erfahrungen. Im Jahr 1910 war Freud dann zu dem Schluss gekommen, dass die Berichte seiner hysterischen Patientinnen über sexuellen Missbrauch in der Kindheit nicht der Wahrheit entsprachen, obwohl er nie eine klinische Dokumentation falscher Anklagen vorlegte: „Als ich dann doch erkennen musste, diese Verführungsszenen seien niemals vorgefallen, seien nur Fantasien, die meine Patienten erdichtet, die ich ihnen vielleicht selbst aufgedrängt hatte, war ich eine Zeit lang ratlos.“24

Mit Freuds Widerruf ging das heroische Zeitalter der Hysterie zu Ende. Nach der Jahrhundertwende geriet der gesamte Forschungsansatz, den Charcot erdacht und seine Schüler weiterverfolgt hatten, in Verruf. Hypnose und Bewusstseinsveränderungen wurden wieder in den Bereich des Okkulten verwiesen, die Erforschung psychischer Traumata kam zum Stillstand. Einige Zeit später hieß es dann, die Krankheit Hysterie sei praktisch ausgestorben.25

Die radikale Umkehr war allerdings nicht das Werk eines einzigen Mannes. Warum die Hysterieforschung so vollständig zusammenbrach und wichtige Entdeckungen so schnell in Vergessenheit gerieten, wird nur verständlich, wenn man sich vor Augen führt, in welchem geistigen und politischen Klima die Forschungen zunächst hatten entstehen können.

Der zentrale politische Konflikt im Frankreich des 19. Jahrhunderts war der Kampf zwischen den Verfechtern einer Monarchie mit religiösem Fundament und den Verfechtern einer laizistischen Republik. Seit der Französischen Revolution von 1789 hatte dieser Konflikt bereits siebenmal eine Regierung zu Fall gebracht. Nach Gründung der Dritten Republik im Jahr 1870 eröffneten die Gründerväter der neuen und labilen Demokratie eine aggressive Kampagne mit dem Ziel, ihre Machtbasis zu konsolidieren und die Macht ihres stärksten Gegners, der katholischen Kirche, zu Fall zu bringen.

Die damaligen republikanischen Führer kamen aus dem aufstrebenden Bürgertum und hatten sich aus eigener Kraft hochgearbeitet. Ihrem Selbstverständnis nach standen sie in der Tradition der Aufklärung und fochten einen erbitterten Kampf gegen die reaktionären Kräfte Aristokratie und Klerus. Zentrales Feld ihrer Auseinandersetzungen war die Kontrolle des Bildungswesens. Ihre ideologischen Kämpfe hatten den Zusammenhalt der Männer und die Herrschaft über die Frauen zum Ziel. Jules Ferry, einer der Gründerväter der Dritten Republik, formulierte es so: „Frauen müssen der Wissenschaft gehören, sonst gehören sie der Kirche.“26

Charcot, Sohn eines reich und berühmt gewordenen Geschäftsmannes, war ein herausragendes Mitglied dieser neuen bürgerlichen Elite. In seinem Salon trafen sich Minister und andere prominente Vertreter der Dritten Republik. Wie seine Kollegen in der Regierung trat er vehement für die Verbreitung wissenschaftlicher Ideen ohne Rücksicht auf die Religion ein. Mit der Modernisierung der Salpêtrière in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts wollte er die Überlegenheit weltlich geprägter Lehre und Verwaltung in der Medizin demonstrieren, und mit den Untersuchungen zur Hysterie wollte er die Überlegenheit eines säkularen Forschungsansatzes über religiöse Gedankengebäude beweisen. Seine Dienstagsvorlesungen waren politisches Theater mit dem Auftrag, den Anspruch der Wissenschaft auf hysterische Frauen geltend zu machen.

Charcots Thesen zur Hysterie boten wissenschaftliche Erklärungen für Phänomene wie Besessenheit durch Dämonen, Zauberei, Exorzismus und religiöse Ekstasen. Ein Vorhaben, das Charcot besonders am Herzen lag, war der diagnostische Rückblick auf die Hysterie, wie sie seit Jahrhunderten in der Kunst dargestellt wurde. Zusammen mit seinem Schüler Paul Richer veröffentlichte er eine Auswahl mittelalterlicher Kunstwerke zur Illustration der These, dass sich in der Kunst dargestellte religiöse Erlebnisse als Erscheinungsformen der Hysterie deuten lassen.27 Charcot und seine Anhänger mischten sich auch in erbittert geführte Diskussionen über aktuelle mysteriöse Phänomene ein wie etwa über Menschen mit Stigmata, Erscheinungen und Gesundbeterei. Charcot beschäftigte sich insbesondere mit den Wunderheilungen, die angeblich in der neu errichteten Wallfahrtsstätte von Lourdes geschahen. Janet beschäftigte sich vor allem mit der in Amerika verbreiteten „Christian Science“, einer von Mary Baker-Eddy begründeten Lehre des „geistigen Heilens“. Charcots Schüler Desire Bourneville versuchte anhand der neu aufgestellten Diagnosekriterien nachzuweisen, dass eine damals berühmte Stigmatisierte, eine fromme junge Frau namens Louise Lateau, in Wirklichkeit eine Hysterikerin war. Derartige Phänomene sollten von nun an in den Bereich der medizinischen Krankheitslehre gehören.28

Im ausgehenden 19. Jahrhundert beflügelte somit ein höheres, politisches Motiv das leidenschaftliche Interesse an der Hysterie und die Forschungen von Charcot und seinen Anhängern. Mit der Lösung des Rätsels Hysterie wollte man den Sieg säkularer Aufklärung über reaktionären Aberglauben ebenso demonstrieren wie die moralische Überlegenheit säkularer Weltanschauung. Wissenschaftler stellten ihre wohlwollende Sorge um die Hysterikerinnen den schlimmsten Auswüchsen der Inquisition gegenüber. Charcots Schüler Charles Richer schrieb 1880: „Unter den Patienten, die in der Salpêtrière eingesperrt sind, gibt es viele, die früher verbrannt worden wären, deren Krankheit man als Verbrechen betrachtet hätte.“29 Ähnlich äußerte sich zehn Jahre später William James: „Unter allen Opfern der medizinischen Ignoranz, die sich hinter Autorität versteckten, hatten die armen Hysterikerinnen bislang am meisten zu leiden. Ihre allmähliche Rehabilitierung und Rettung wird zu den großen philanthropischen Leistungen unserer Generation zählen.“30

Die Wissenschaftler sahen sich zwar als wohlmeinende Retter, die Frauen aus ihrer Erniedrigung heraushalfen, erwogen jedoch keine Sekunde lang eine gesellschaftliche Gleichstellung von Mann und Frau. Frauen sollten Objekte wissenschaftlicher Untersuchung und menschlicher Zuwendung sein, aber nicht selbstständige Subjekte. Dieselben Männer, die für eine aufgeklärte Betrachtung der Hysterie kämpften, wehrten sich oft heftig gegen die Zulassung von Frauen zu weiterführenden Bildungseinrichtungen oder akademischen Berufen oder gegen das Wahlrecht für Frauen.

In den Anfangsjahren der Dritten Republik war die Frauenbewegung relativ schwach. Bis Ende der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts durften feministische Organisationen nicht einmal allgemein zugängliche Veranstaltungen abhalten oder ihre Literatur veröffentlichen. Beim ersten Internationalen Kongress für die Rechte der Frau 1878 in Paris durften Frauen sich nicht öffentlich für das Frauenwahlrecht einsetzen, weil das als revolutionär galt.31 Einige Frauenrechtlerinnen erkannten, dass ihr Schicksal vom Überleben der labilen neuen Demokratie abhing, und stellten ihre Eigeninteressen hinten an, um den Konsens der republikanischen Koalition nicht zu gefährden.

Eine Generation später war die Regierung der Gründerväter fest etabliert. Die republikanische, weltlich geprägte Regierung hatte überlebt und gewann immer mehr an Einfluss. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war der Kampf gegen den Klerus praktisch gewonnen. Inzwischen war es jedoch für die aufgeklärten Männer immer schwieriger geworden, sich als Streiter für die Frauen zu gebärden, denn die Frauen wagten nun selbst, den Mund aufzumachen. Die Ideen der radikalen Frauenrechtlerinnen in den alten Demokratien England und USA breiteten sich allmählich auch auf dem Kontinent aus, und französische Feministinnen traten im Hinblick auf die Frauenrechte sehr viel selbstbewusster auf. Einige übten gezielt Kritik an den Gründervätern und stellten die wohlwollende Beschützerrolle der Wissenschaftler infrage. Eine feministische Autorin spottete 1888 über Charcot, weil er „unter dem Vorwand, eine Krankheit zu suchen, Vivisektionen an Frauen“ vorgenommen habe und Frauen, die Ärztinnen werden wollten, abgelehnt habe.32

Um die Jahrhundertwende waren die politischen Ideen, die das heroische Zeitalter der Hysterie möglich gemacht hatten, in Vergessenheit geraten. Es gab keinen zwingenden Grund mehr, einen Forschungsansatz zu verfolgen, der die Wissenschaft so weit von ihrem ursprünglichen Ziel abgebracht hatte. Bei der Erforschung der Hysterie waren die Wissenschaftler in eine Unterwelt geraten, in der Trance, starke Gefühle und Sexualität lauerten. Sie hörten Frauen länger zu, als sie jemals beabsichtigt hatten, und sie erfuhren sehr viel mehr über das Leben von Frauen, als sie jemals hatten wissen wollen. Sicher hatten sie niemals vorgehabt, sich mit den traumatischen sexuellen Erfahrungen im Leben von Frauen zu beschäftigen. Solange die Hysterieforschung Teil eines ideologischen Kreuzzuges war, fanden Entdeckungen auf diesem Gebiet weithin Beifall, und die Forscher wurden für ihren Mut und ihre Menschlichkeit gelobt. Doch als der politische Schwung dahin war, mussten die Forscher feststellen, dass die Art ihrer Entdeckungen und ihre engen Beziehungen zu den weiblichen Patientinnen sich nachteilig für sie auswirkten.

Die heftige Gegenreaktion begann noch vor Charcots Tod im Jahr 1893. Immer häufiger musste er die Glaubwürdigkeit der öffentlichen Auftritte von Hysterikerinnen verteidigen, zu denen die Pariser Gesellschaft einst begeistert geströmt war. Es ging das Gerücht, dass bei den Vorführungen leicht beeinflussbare Frauen auf der Bühne standen und – bewusst oder unbewusst – Regieanweisungen folgten, die ihnen ihr Beschützer unter Hypnose diktiert hatte. Gegen Ende seines Lebens bereute Charcot offensichtlich, dass er dieses neue Forschungsgebiet begründet hatte. 33

Während Charcot die Welt der Hypnose und Hysterie verließ, zog sich Breuer aus der Welt weiblicher emotionaler Zuneigung zurück. Die erste „talking cure“ endete mit Breuers überstürzter Flucht vor Anna O. Möglicherweise brach er die Beziehung ab, weil seine Frau ihm die intensive Beschäftigung mit der faszinierenden jungen Frau verübelte. Abrupt beendete er die über zweijährige Behandlung, während der er seine Patientin über längere Zeiten fast täglich gesehen hatte. Das plötzliche Ende führte nicht nur bei der Patientin zu einer Krise – sie musste ins Krankenhaus eingewiesen werden –, sondern offensichtlich auch bei ihrem Arzt, der mit Schrecken erkannte, dass seine Patientin leidenschaftliche Zuneigung für ihn empfand. Er verließ seine letzte Sitzung mit Anna O. „von kaltem Schweiß überströmt“.34

Breuer publizierte zwar später zusammen mit Freud diesen außergewöhnlichen Fall, blieb jedoch ein vorsichtiger und misstrauischer Forscher. Dass er häufig auf sexuelle Erfahrungen als Ursache hysterischer Symptome stieß, bereitete ihm Sorgen. So klagte Freud einmal gegenüber seinem Vertrauten Wilhelm Fliess: „Unlängst im Doktorenkollegium hat Breuer eine große Rede auf mich gehalten und sich als bekehrten Anhänger der Sexualätiologie vorgestellt. Als ich ihm privatim dafür dankte, zerstörte er mir das Vergnügen, indem er sagte: ‚Ich glaub’ es ja doch nicht‘“.35

Freud stieß mit seinen Forschungen insgesamt am weitesten in die unbekannte Wirklichkeit weiblichen Lebens vor. Mit der Entdeckung, dass sexueller Missbrauch in der Kindheit eine Wurzel der Hysterie war, überschritt er die äußersten Grenzen gesellschaftlicher Glaubwürdigkeit. Die totale Ächtung durch seine Berufskollegen war die Folge. Auf die Veröffentlichung der Arbeit Zur Ätiologie der Hysterie, von der er sich Ruhm und Ehre erhofft hatte, reagierten ältere wie gleichaltrige Kollegen mit eisernem Schweigen. Kurz darauf schrieb er an Fliess: „Isoliert bin ich, dass Du zufrieden sein kannst. Es sind irgendwelche Parolen ausgegeben worden, mich zu verlassen, denn alles fällt ringsum von mir ab.“36

Dass Freud daraufhin die Erforschung psychischer Traumata aufgab, wird heute häufig als ein Skandal gesehen,37 sein Widerruf wurde als Akt persönlicher Feigheit kritisiert.38 Doch solche Angriffe gegen die Person wirken wie ein seltsames Relikt aus der Zeit von Freud, als man wissenschaftliche Fortschritte für prometheische Akte einsamer männlicher Genies hielt. Wie überzeugend seine Argumentation oder wie richtig seine Beobachtungen auch gewesen sein mögen, Freuds Entdeckung konnte keine Anerkennung finden, solange ein politisches und gesellschaftliches Umfeld fehlte, das die Erforschung der Hysterie unterstützte, gleichgültig zu welchen Ergebnissen man dabei kam. Ein solches Umfeld hatte es in Wien nie gegeben, und in Frankreich löste es sich rasch auf. Freuds Rivale Janet, der seine Traumatheorie der Hysterie nie aufgab und immer zu seinen hysterischen Patientinnen hielt, musste erleben, wie seine Arbeiten vergessen und seine Ideen missachtet wurden.

Im Lauf der Zeit nahm Freuds Zurückweisung der Traumatheorie immer mehr eine seltsam dogmatische Qualität an. Der Mann, der die Untersuchungen am weitesten getrieben und ihre Ergebnisse am tiefsten durchdrungen hatte, zog sich im späteren Leben auf eine Position striktester Ablehnung zurück. Damit ging er auf Abstand zu seinen Patientinnen. Zwar konzentrierte er sich weiterhin auf das Sexualleben seiner Patientinnen, doch glaubte er den Frauen die reale Erfahrung des Missbrauchs nicht mehr. Mit unbeirrbarer Hartnäckigkeit, die ihn zu immer verwickelteren Theorien zwang, bestand er darauf, dass Frauen sich die missbräuchlichen sexuellen Begegnungen, über die sie klagten, einbildeten und wünschten.

Freud sah sich einer extremen Herausforderung gegenüber, und insofern ist sein weit über das Ziel hinausschießender Widerruf vielleicht verständlich. Hätte er an seiner Theorie festgehalten, hätte er die Abgründe sexueller Unterdrückung von Frauen und Kindern erkennen müssen. Lediglich in der sich formierenden Frauenbewegung hätte er intellektuellen Rückhalt und Unterstützung für seine Position finden können, doch die Frauenbewegung stellte das von Freud hochgeschätzte patriarchalische Wertgefüge infrage. Mit einer solchen Bewegung hätte sich ein Mann von Freuds politischen Überzeugungen und beruflichen Ambitionen niemals verbünden können. Dies widerstrebte ihm heftig, und so sagte er sich gleichzeitig von der Erforschung psychischer Traumata und von den Frauen los. Zwei wesentliche Pfeiler seiner neuen Theorie der menschlichen Entwicklung sind Minderwertigkeit und Verlogenheit der Frauen.39

Unter allen Pionieren der Hysterieforschung zog nur Breuers Patientin Anna O. die logischen Schlüsse aus den neuen Erkenntnissen. Nachdem Breuer sie aufgegeben hatte, war sie anscheinend mehrere Jahre krank. Doch dann erholte sie sich. Die stumme Hysterikerin und Erfinderin der „talking cure“ fand durch die Frauenbewegung ihre Stimme und ihre geistige Gesundheit wieder. Unter dem Pseudonym Paul Berthold übersetzte sie die klassische Abhandlung von Mary Wollstonecrafts Verteidigung der Rechte der Frauen und schrieb das Theaterstück Frauenrechte. Unter ihrem richtigen Namen Bertha Pappenheim wurde sie eine bekannte feministische Sozialarbeiterin und Intellektuelle. Im Lauf ihrer langen und fruchtbaren Karriere leitete sie ein Waisenhaus für Mädchen, gründete eine feministische Organisation für jüdische Frauen und bereiste auf ihrem Feldzug gegen die sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern ganz Europa und den Nahen Osten. Ihr Engagement, ihre Energie und Hingabe waren geradezu legendär. Eine Kollegin formulierte es so: „In dieser Frau brodelte ein Vulkan. [...] Ihr Kampf gegen den Missbrauch von Frauen und Kindern war wie ein fast körperlich spürbarer Schmerz.“40 Bei ihrem Tod sagte der Philosoph Martin Buber: „Ich bewunderte sie nicht nur, ich liebte sie und werde sie bis zu dem Tag lieben, an dem ich sterbe. Es gibt Menschen, die Geist haben, und Menschen, die Leidenschaft haben, beides Eigenschaften, die seltener sind als allgemein angenommen wird. Noch seltener sind Menschen mit Geist und Leidenschaft. Doch am seltensten ist ein leidenschaftlicher Geist. Bertha Pappenheim war eine Frau mit eben diesem Geist. Geben Sie das Andenken daran weiter. Sorgen Sie dafür, dass es weiterlebt.“41 In ihrem Testament schrieb sie den Wunsch nieder, jeder Besucher an ihrem Grab möge einen kleinen Stein zurücklassen „als stummes Versprechen [...] der Sache weiblicher Pflichten und weiblicher Freuden mutig und unerschütterlich zu dienen“.42

1.2 Traumatische Kriegsneurosen

Mit der Katastrophe des Ersten Weltkriegs drang die Realität psychischer Traumata noch einmal in das öffentliche Bewusstsein. In diesem zermürbenden Stellungskrieg starben innerhalb von vier Jahren mehr als acht Millionen Menschen. Als das Gemetzel zu Ende ging, waren vier europäische Reiche vernichtet und viele hochgeschätzte Prinzipien abendländischer Kultur zusammengebrochen.

Auch die Illusion von ehrbarer Mannhaftigkeit und Ruhm in der Schlacht fiel den Verwüstungen des Krieges zum Opfer. In erschreckend hoher Zahl brachen die Männer zusammen, die in den Schützengräben die Schrecken des Krieges erlebt hatten. Eingepfercht und zu hilflosem Abwarten verdammt, ständig in Angst vor dem Tod, gezwungenermaßen Zeugen von Verwundung und Tod der Kameraden und ohne Hoffnung auf eine Atempause, benahmen sich viele Soldaten auf einmal wie hysterische Frauen. Sie schrien und weinten unkontrolliert, sie erstarrten und konnten sich nicht mehr bewegen, sie wurden stumm und reagierten nicht mehr. Sie verloren ihr Gedächtnis und die Fähigkeit, Gefühle zu empfinden. Die Zahl der Opfer, die psychiatrischer Behandlung bedurften, war so groß, dass rasch Krankenhäuser für ihre Unterbringung vorbereitet werden mussten. Nach einer Schätzung machten psychische Zusammenbrüche bei den Briten 40 Prozent der Kriegsverletzungen aus. Die Militärbehörden versuchten, Berichte über die psychisch geschädigten Opfer zu unterdrücken, da sich solche Berichte demoralisierend auf die öffentliche Meinung auswirkten.43

Zunächst schrieb man die Symptome psychischen Zusammenbruchs physischen Ursachen zu. Der britische Psychologe Charles Myers, der einige der ersten Fälle untersuchte, führte die Symptome auf die erschütternde Wirkung von Minenexplosionen zurück und nannte die entsprechende nervöse Störung „Schützengrabenneurose“.44 Die Bezeichnung blieb, obwohl man bald erkannte, dass dieselben Symptome auch bei Soldaten auftraten, die keine physischen Traumata erlebt hatten. Schließlich mussten die Militärpsychiater anerkennen, dass die Symptome des Granatenschocks auf psychische Traumatisierungen zurückzuführen waren. Die emotionale Belastung, die es bedeutete, über lange Zeit gewaltsames Sterben miterleben zu müssen, konnte bei Männern ein der Hysterie sehr ähnliches neurotisches Syndrom hervorrufen.

Als die Existenz der Kriegsneurose nicht länger zu bestreiten war, konzentrierte sich die medizinische Diskussion – genau wie in dem früheren Streit um die Hysterie – auf Persönlichkeit und Charakter der Patienten. Konservative Mediziner vertraten die Ansicht, ein normaler Soldat müsse bereitwillig in den Krieg ziehen und dürfe keinerlei Gefühle zeigen. Auf keinen Fall durfte er an den Gräueln zerbrechen. Ein Soldat, der eine traumatische Kriegsneurose entwickle, sei bestenfalls ein konstitutionell minderwertiger Mensch, schlimmstenfalls ein Simulant und Feigling. In medizinischen Schriften jener Zeit wurden solche Patienten als „moralische Invaliden“ bezeichnet.“45 Aus manchen Militärbehörden verlautete, solche Männer verdienten es nicht, als Patienten behandelt zu werden, sondern sollten vor ein Kriegsgericht gestellt oder unehrenhaft aus der Armee entlassen werden.

Ein prominenter Vertreter des konservativen Standpunkts war der britische Psychiater Lewis Yealland. In seiner 1918 erschienenen Abhandlung Hysterical Disorders of Warfare befürwortete er eine Behandlungsstrategie, die auf Demütigung, Drohung und Bestrafung basierte. Hysterische Symptome wie Stummheit, Ausfall von Sinnesorganen oder Bewegungsstörungen behandelte man mit Elektroschock. Die Patienten wurden heftig angegriffen und als faul und feige beschimpft. Wer Zeichen des „abscheulichen Feindes namens Negativismus“ zeigte, dem drohte man mit dem Kriegsgericht. Yealland berichtet über einen Fall, bei dem ein verstummter Patient auf einen Stuhl gebunden und an der Kehle mit Elektroschocks behandelt wurde. Nach pausenloser Behandlung über Stunden hinweg sprach der Patient schließlich wieder. Während der Patient die Elektroschocks über sich ergehen lassen musste, ermahnte Yealland ihn; „Denk daran, du musst dich wie ein Held verhalten, das erwarte ich von dir [...] Ein Mann, der so viele Kämpfe mitgemacht hat, sollte sich besser unter Kontrolle haben.“46

Anerkannte Fortschrittliche hielten ihren konservativen Kollegen entgegen, die Kriegsneurose sei eine echte psychiatrische Krankheit und könne auch mutige Soldaten treffen. Sie befürworteten eine humane Behandlung auf der Grundlage psychoanalytischer Prinzipien. Ein wichtiger Vertreter dieser liberaleren Meinung war W. H. R. Rivers, ein vielseitig gebildeter Arzt und Professor für Neurophysiologie, Psychologie und Anthropologie. Sein berühmtester Patient war ein junger Offizier namens Siegfried Sassoon, der Auszeichnungen für hervorragende Tapferkeit im Kampf und für seine Kriegsgedichte bekommen hatte. Sassoon wurde weithin bekannt, als er sich noch in Uniform öffentlich den Pazifisten anschloss und den Krieg verurteilte. Der Text seiner Soldier’s Declaration (Erklärung eines Soldaten), verfasst 1917, liest sich wie ein zeitgenössisches Manifest gegen den Krieg:

„Meine Aussage ist ein vorsätzlicher Akt der Auflehnung gegen die Behörden, weil ich glaube, dass dieser Krieg von denen, die die Macht haben, ihn zu beenden, bewusst in die Länge gezogen wird.

Ich bin Soldat und ich bin überzeugt, dass ich im Namen der Soldaten handele. Ich glaube, dass dieser Krieg, den ich bei meiner Meldung für einen Verteidigungs- und Befreiungskrieg hielt, inzwischen zu einem Angriffs- und Eroberungskrieg geworden ist [...] Ich habe das Leiden der Truppen gesehen und miterlebt, und ich kann nicht länger an der Verlängerung des Leidens beteiligt sein, weil damit Ziele verfolgt werden, die ich für böse und ungerecht halte.“47

Ein Kriegskamerad von Sassoon, der Dichter und Offizier Robert Graves, fürchtete, man könnte seinen Kameraden vor ein Kriegsgericht stellen, und sorgte deshalb dafür, dass Sassoon in ein Krankenhaus eingewiesen und unter Rivers Obhut gestellt wurde. So konnte man die Antikriegserklärung mit seinem psychischen Zusammenbruch erklären. Sassoon hatte zwar keinen vollständigen Nervenzusammenbruch erlitten, war aber, so Graves, „in schlechter nervlicher Verfassung“.48 Er war unruhig und reizbar und litt unter quälenden Albträumen. Dass er spontan Risiken einging und sich unbekümmert der Gefahr aussetzte, hatte ihm schon den Spitznamen „Mad Jack“ (Verrückter Jack) eingetragen. Angesichts solcher Symptome hätte man heute zweifellos eine posttraumatische Störung bei ihm diagnostiziert.

Rivers wollte anhand der Behandlung Sassoons die Überlegenheit einer humanen, aufgeklärten Therapie gegenüber dem eher strafenden traditionellen Ansatz demonstrieren. Behandlungsziel war, wie immer in der Militärmedizin, den Patienten wieder kampftauglich zu machen. Auch Rivers stellte dieses Ziel nicht infrage. Er hielt jedoch bei Sassoon eine „talking cure“ für angebracht. Sassoon wurde nicht beschämt, sondern mit Würde und Achtung behandelt. Er wurde nicht zum Schweigen gebracht, sondern dazu ermutigt, frei über die Schrecken des Krieges zu schreiben und zu sprechen. Sassoon war dafür dankbar: „Er gab mir sofort ein Gefühl der Sicherheit und schien alles über mich zu wissen [...] Ich würde viel für ein paar Aufnahmen meiner Gespräche mit Rivers geben. Das Wichtigste ist meine Erinnerung an den großen und guten Mann, der mir Freundschaft und Hilfe anbot.“49

Sassoons Psychotherapie wurde als ein Erfolg angesehen: Er widerrief seine pazifistische Erklärung öffentlich und kehrte zur Truppe zurück. Doch seine politischen Überzeugungen hatte er nicht aufgegeben. Er kehrte zurück aus Loyalität gegenüber seinen kämpfenden Kameraden, aus Schuldgefühlen angesichts ihrer Leiden, die ihm erspart geblieben waren, und aus Verzweiflung über seinen wirkungslosen, einsamen Protest. Rivers hatte mit der konsequenten Anwendung einer humanen Therapie zwei Grundregeln eingeführt, die sich amerikanische Militärpsychiater im nächsten Krieg zu eigen machten. Erstens hatte er bewiesen, dass auch ausgewiesen tapfere Männer von unkontrollierbarer Angst überwältigt werden konnten, und zweitens hatte er gezeigt, dass das Motiv zur Überwindung der Angst stärker sein musste als Patriotismus, abstrakte Prinzipien oder Hass auf den Feind: Das wirkungsvollste Motiv war die Zuneigung der Soldaten untereinander.

Sassoon überlebte den Krieg, war jedoch wie viele andere Opfer von Kriegsneurosen bis an sein Lebensende dazu verdammt, den Krieg immer wieder zu durchleben. Er widmete sich der Abfassung und Überarbeitung seiner Kriegserinnerungen, kümmerte sich darum, dass der Gefallenen gedacht wurde, und setzte sich für pazifistische Ideen ein. Obwohl sich seine „schlechte nervliche Verfassung“ so weit besserte, dass er ein erfülltes Leben führen konnte, quälte ihn die Erinnerung an jene, die nicht so viel Glück gehabt hatten:

„Granatenschock. Wie oft zeigte ein kurzes Bombardement sehr viel später Nachwirkungen in den Seelen der Überlebenden, von denen viele lachend ihre Kameraden ansahen, während das Inferno sie mit aller Kraft zu vernichten suchte. Das war noch nicht ihre Unglücksstunde; aber heute, heute, mit dem Schweiß beklemmender Albträume, mit Gliederlähmungen und stammelnden, verwirrten Worten. Das Schlimmste ist die Zerstörung jener Eigenschaften, die sie so ritterlich, selbstlos und geduldig gemacht hatten – bei den besten Männern ist das die unsägliche Tragödie des Granatenschocks [...]. Diese Soldaten wurden im Namen der Zivilisation geopfert, und die Zivilisation muss nun beweisen, dass ihr Märtyrertum kein dreckiger Schwindel gewesen war.“50

Schon wenige Jahre nach Kriegsende schwand das medizinische Interesse für psychische Traumata wieder. Zwar waren in den abgelegenen Stationen der Veteranenhospitale viele Männer mit schweren psychischen Schäden untergebracht, doch ihre Existenz bedeutete für die zivile Gesellschaft inzwischen eine Peinlichkeit, die man gerne vergaß.

Im Jahr 1922 kehrte ein junger amerikanischer Psychiater, Abram Kardiner, nach einjähriger Pilgerreise aus Wien, wo er sich von Freud hatte analysieren lassen, nach New York zurück. Ihn beflügelte der Traum von einer großen Entdeckung. „Was konnte mehr Abenteuer bieten, als ein Kolumbus auf dem relativ neuen Gebiet der Wissenschaft von der Seele zu sein?“51 Als Kardiner seine Privatpraxis für Psychoanalyse eröffnete, gab es in New York höchstens zehn Psychoanalytiker. Er arbeitete außerdem in der psychiatrischen Klinik einer Veteranenorganisation, dem Veterans’ Bureau, wo er viele Männer mit Kriegsneurosen sah. Die Schwere ihrer Leiden und seine eigene Hilflosigkeit bekümmerten ihn sehr. Besonders ein Patient, den er ein Jahr lang ohne erkennbaren Fortschritt behandelte, blieb ihm im Gedächtnis. Als der Patient ihm später dankte, protestierte Kardiner: „Aber ich habe ja gar nichts für Sie getan. Ich habe Sie gewiss nicht von Ihren Symptomen befreit.“ „Aber, Herr Doktor“, antwortete der Patient, „Sie haben es wenigstens versucht. Ich kenne die Heimkehrerbehörde schon lange, und ich weiß, dass sie es nicht einmal versuchen und dass sie in Wirklichkeit gar keinen Anteil nehmen. Aber Sie haben es getan.“52

Der „unaufhörliche Albtraum“, den Kardiner selbst in früher Kindheit erlebt hatte – Armut, Hunger, Verwahrlosung, Gewalt in der Familie und der frühe Tod seiner Mutter –, hatte, wie er später erkannte, seine geistigen Interessen in eine bestimmte Richtung gelenkt. Deshalb konnte er sich auch mit den traumatisierten Soldaten identifizieren.53 Kardiner bemühte sich lange Zeit sehr, eine Theorie des Kriegstraumas auf der Grundlage der Psychoanalyse zu entwickeln, gab dieses Vorhaben jedoch schließlich als undurchführbar auf. Als Wissenschaftler fand er zunächst in der Psychoanalyse und später – wie sein Vorgänger Rivers – in der Anthropologie große Anerkennung. 1939 veröffentlichte er zusammen mit der Anthropologin Cora du Bois das grundlegende anthropologische Werk The Individual and His Society (Das Individuum und seine Gesellschaft).

Erst nach Fertigstellung dieses Buches konnte er sich wieder dem Thema Kriegstrauma widmen. In der Anthropologie hatte er einen theoretischen Hintergrund gefunden, in dem der Einfluss gesellschaftlicher Wirklichkeit anerkannt war und psychische Traumata verständlich wurden. 1941 veröffentlichte Kardiner unter dem Titel The Traumatic Neuroses of War (Traumatische Kriegsneurosen) eine umfassende klinische und theoretische Untersuchung. In seinem Buch klagte er auch über die periodisch auftretende Amnesie, die die Forschungen auf diesem Gebiet immer wieder unterbrochen hatte:

„Neurotische Störung als Folge von Kriegen ist ein Thema, das in den letzten fünfundzwanzig Jahren vielen Auf- und Abschwüngen des öffentlichen Interesses und allerlei psychiatrischen Launen ausgesetzt war. In der Öffentlichkeit hält das Interesse, das nach dem Ersten Weltkrieg sehr groß war, nicht vor, und in der Psychiatrie ist es dasselbe. Daher werden diese Krankheiten nicht fortlaufend erforscht [...], sondern man bemüht sich nur periodisch um das Thema, und die Untersuchungen können nicht als sehr sorgfältig gelten. Das liegt auch daran, dass der gesellschaftliche Status der Veteranen nach dem Krieg sinkt [...]. Zwar trifft das nicht generell für die Psychiatrie zu, doch ist es schon ein beklagenswerter Umstand, dass jeder Forscher, der sich dieser Krankheit widmet, es für seine heilige Pflicht hält, von ganz vorne zu beginnen und das Problem anzugehen, als hätte sich noch nie jemand damit beschäftigt.“54

Im Folgenden beschreibt Kardiner die klinischen Grundlagen des traumatischen Syndroms, wie wir es heute verstehen. Seine theoretischen Überlegungen ähneln über weite Strecken dem, was Janet Ende des 19. Jahrhunderts zur Hysterie schrieb. Kardiner erkannte, dass Kriegsneurosen eine Form der Hysterie waren, doch er wusste auch, dass dieser Begriff inzwischen wieder sehr negativ besetzt war und seine Verwendung die Patienten diskreditierte. „Wenn das Wort „hysterisch“ [...] fällt, hat es in der Umgangssprache die Bedeutung, dass ein Mensch ausbeuterisch ist, dass er etwas umsonst haben will. Das Opfer einer solchen Neurose findet daher vor Gericht wenig Sympathie [...] und auch nicht bei den Ärzten, weil für sie „hysterisch“ oft heißt, dass ein Patient an einer hartnäckigen Form von Boshaftigkeit, Perversität oder Willensschwäche leidet.“55

Mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs lebte das medizinische Interesse an Kriegsneurosen wieder auf. Da die Militärpsychiater hofften, eine schnelle und wirksame Behandlungsmethode zu finden, versuchten sie, Stressreaktionen auf das Kampfgeschehen von ihrem Stigma zu befreien. Erstmals wurde anerkannt, dass jeder Soldat zusammenbrechen konnte; psychiatrische Erkrankungen waren vorhersagbar in Relation zur Heftigkeit der Kämpfe, die ein Soldat mitgemacht hatte. Man gab sich sogar beträchtliche Mühe, ein genaues Maß dafür zu finden, wie viel Kampfbeteiligung mit Sicherheit zu einem psychischen Zusammenbruch führte. Ein Jahr nach Kriegsende kamen die beiden amerikanischen Psychiater J. W. Appel und G. W. Beebe zu dem Schluss, dass nach 200 bis 240 Tagen im Kampf selbst der stärkste Soldat zusammenbrach: „Es gibt keine ‚Gewöhnung an den Krieg‘ [...] Im Kampf bedeutet jeder Augenblick eine so hohe Belastung, dass die Zusammenbrüche der Männer in direktem Verhältnis zu der Intensität und Dauer stehen, mit denen sie dem Kampfgeschehen ausgesetzt waren. Daher sind psychiatrische Erkrankungen ebenso unvermeidlich wie Schusswunden und Verletzungen durch Granatsplitter.“56

Die amerikanischen Psychiater konzentrierten sich hauptsächlich darauf, Faktoren zu bestimmen, die vor dem akuten Zusammenbruch schützen oder eine rasche Genesung bewirken konnten. Sie entdeckten dabei, was Rivers schon bei der Behandlung Sassoons festgestellt hatte: die Kraft der emotionalen Bindungen zwischen den Soldaten. 1947 überarbeitete Kardiner sein klassisches Werk zusammen mit Herbert Spiegel, einem Psychiater, der gerade von der Behandlung von Soldaten an der Front zurückgekehrt war. Nach Kardiner und Spiegel boten enge Bindungen zwischen dem Soldaten, seiner Kampfeinheit und ihrem Führer am ehesten Schutz davor, dass er von Angst überwältigt wurde. Zu ähnlichen Ergebnissen kamen die Psychiater Roy Grinker und John Spiegel. Nach ihren Beobachtungen entwickelten Soldaten, die ständig großer Gefahr ausgesetzt waren, eine extreme emotionale Abhängigkeit von Kampfgefährten und Vorgesetzten. Grinker und Spiegel zufolge schützten vor allem Moral und gute Führung der kleinen Kampfeinheiten wirksam vor psychischen Zusammenbrüchen.57

Die Behandlungsstrategien, die im Zweiten Weltkrieg entwickelt wurden, waren darauf angelegt, einen erkrankten Soldaten möglichst nur kurzzeitig von seinen Kameraden zu trennen. Man favorisierte kurze Therapien, die in größtmöglicher Nähe zur Front vorgenommen werden sollten, damit der Soldat schnell wieder zu seiner Kampfeinheit zurückkehren konnte.58 Bei der Suche nach schnellen und effektiven Behandlungsmethoden bei psychischen Traumata stießen die Militärpsychiater wieder auf die Bedeutung der veränderten Bewusstseinszustände als vermittelnde Instanz. Mithilfe künstlich herbeigeführter Bewusstseinsveränderungen konnte man – so ihre Erfahrungen – einen Zugang zu traumatischen Erinnerungen finden. Kardiner und Spiegel versetzten ihre Patienten durch Hypnose in veränderte Bewusstseinszustände; Grinker und Spiegel arbeiteten mit Amobarbital, einer Methode, die sie „Narkosynthese“ nannten. Wie in früheren Arbeiten zur Hysterie beschäftigte man sich im Zusammenhang mit den Kriegsneurosen wieder stärker mit der „talking cure“ und der kathartischen Wirkung, die ein nochmaliges Durchleben der traumatischen Erfahrung mit allen dazugehörigen Gefühlen von Angst, Wut und Trauer haben konnte.

Die Psychiater, die zuerst mit diesen Methoden arbeiteten, wussten, dass ihre Patienten nicht allein dadurch dauerhaft geheilt waren, dass sie sich von der Last ihrer traumatischen Erinnerungen befreien konnten. Die Hypnose erleichtere zwar das Wiederauffinden traumatischer Erinnerungen, so warnten Kardiner und Spiegel, doch eine kathartische Erfahrung allein sei sinnlos. Die Hypnose schlage fehl, wenn „darauf kein ausreichendes Durcharbeiten folgt“.59 Auch Grinker und Spiegel beobachteten, dass eine Behandlung erfolglos blieb, wenn der Patient die Erinnerungen, die er unter dem Einfluss von Amobarbital wiederfinden und aussprechen konnte, nicht in das Bewusstsein integrierte. Die Wirkung des Kampfes, so Grinker und Spiegel, „gleicht nicht der Schrift auf einer Schiefertafel, die man abwischen kann, und dann sieht die Tafel wieder wie vorher aus. Der Krieg hinterlässt dauerhafte Spuren in den Seelen der Männer und verändert sie ebenso radikal wie jede andere entscheidende Erfahrung, die sie in ihrem Leben durchmachen müssen.“60

Die klugen Warnungen wurden jedoch weithin ignoriert. Die neue, schnelle Behandlung psychiatrischer Erkrankungen galt damals als äußerst erfolgreich. Einem Bericht zufolge nahmen 80 Prozent der amerikanischen Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg unter akuten Belastungen zusammenbrachen, irgendeine Form von Dienst wieder auf, und zwar meist schon nach einer Woche. 30 Prozent kehrten zu ihren Kampfeinheiten zurück.61 Wie es den Männern nach ihrer Rückkehr zum aktiven Dienst erging, wurde kaum noch beachtet, und um ihr Schicksal als Kriegsheimkehrer kümmerte sich erst recht niemand. Solange sie auf minimaler Ebene funktionierten, galten sie als genesen. Mit Kriegsende setzte der inzwischen bekannte Verdrängungsprozess wieder ein, das psychische Befinden der Heimkehrer fand kaum medizinisches oder öffentliches Interesse. Die nachhaltigen Folgen des Kriegstraumas gerieten wieder in Vergessenheit. Systematische, groß angelegte Untersuchungen zu langfristigen psychischen Kriegsfolgen wurden erst nach dem Vietnamkrieg durchgeführt. Der Anstoß dazu kam diesmal nicht von militärischen oder medizinischen Fachkreisen, sondern von dem gemeinsamen Engagement kriegsmüder Soldaten.

Im Jahr 1970, auf dem Höhepunkt des Vietnamkrieges, trafen sich die beiden Psychiater Robert Jay Lifton und Chaim Shatan mit Vertretern einer neuen Organisation, die sich „Vietnamveteranen gegen den Krieg“ (Vietnam Veterans Against the War) nannte. Dass Veteranen gegen einen Krieg mobil machten, an dem sie selbst teilgenommen hatten, während die Kämpfe noch andauerten, war einmalig in der Geschichte. Viele Soldaten dieser kleinen Gruppe waren für besondere Tapferkeit ausgezeichnet worden. Sie alle gaben ihre Medaillen zurück und boten an, öffentlich über ihre Kriegsverbrechen auszusagen. Ihre Arbeit verlieh der wachsenden Antikriegsbewegung ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit. „Sie hinterfragten weitverbreitete Auffassungen zum sozialisierten Krieger und dem Kriegssystem“, schrieb Lifton, „und enttarnten die Behauptung ihres Landes, einen gerechten Krieg zu führen, als Heuchelei.“62