Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Der vierzehnjährige Gymnasiast Michael lebt in Hamburg. Ein harmloser Familienbesuch bei Verwandten auf Sizilien verändert das Leben des Sohnes eines deutschen Kriminalbeamten und einer Sizilianerin nachhaltig. Der Junge verliebt sich in seine Cousine Elena und deckt durch Computerwissen einen Betrug auf, den drei Mitarbeiter seines sizilianischen Onkels, eines Mafiapaten, begangen haben. Sein sechzehnjähriger italienischer Freund und er werden maßgeblich an der Vollstreckung der Todesurteile gegen die Verräter beteiligt: Mit gravierenden Folgen für die seelische Entwicklung und das weitere Leben der Jungen. Doch den beiden gelingt Grandioses. Die berüchtigte Jugendanstalt Malaspinas wird das erste Knastinternat der Welt und die Mafiaspiele von Palermo entstehen. Auch die Mädchen müssen zwei Wochen im Kloster Agrigent in Arrest verbringen. Dort herrschen allerdings Handy- und Internetverbot! Ob Elena (14) das überlebt?
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 346
Veröffentlichungsjahr: 2016
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Manuel Magiera
Die neue Generation der Cosa Nostra
Zwei Teenager im Bann der Mafia
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Aufbruchsstimmung
Sizilien
Gefährliches Wissen
Auf dem Liebesfelsen
Die Höhle
Verrat
Ungetrübte Ferien
Amerika
Der Piratenschatz
Rache
Pula
Die letzte Ferienwoche bricht an
Besuch in Malaspinas
Gespräche
Verrückte Ideen
Dauerarrest
Pater Ravienno
Familienzuwachs
Auf der Flucht
Jugendstrafe
Wahrheiten
Ein gerechtes Urteil
Neue Erfahrungen
Klosterleben
Hintergrundwissen: Die sonderbare Reise des Commissario Perroni
Verhöre
Verworrene Wege
Impressum neobooks
Die neue Generation der Cosa Nostra
Ein frischer Wind wehte über die Dächer der Hansestadt und ließ die Blätter der Bäume sanft rascheln, währenddessen sich vorwitzige Sonnenstrahlen ihren Weg zur Erde hinab bahnten. Es war Anfang Juli, doch wie so oft, ließ der Sommer wieder einmal auf sich warten. Die Hamburger Bürger waren allerdings, was das Wetter anging, Kummer gewohnt, vor allem zur Ferienzeit.
„Was macht ihr denn so in den Sommerferien?“ Der fünfzehnjährige Sven Maler stand auf dem Schulhof des Albert Schweizer Gymnasiums und hielt seine Frühstücksbanane wie ein Mikrofon vor die umstehenden Mitschüler. „Wir haben Teneriffa gebucht“, antwortete Leonie mit kokettem Augenaufschlag und machte keinen Hehl daraus, dass sie den kräftigen blonden Jungen anhimmelte. „Auf den Kanarischen Inseln scheint wenigstens jeden Tag die Sonne und übermorgen bin ich mit meiner Mutter für drei Wochen weg.“ Ihre beste Freundin Maja blickte währenddessen verliebt zu dem dunkelhaarigen Burschen an Svens Seite. „Und was wird aus meinem Computergenie? Fährst du auch weg, Mike, oder kann ich in den Ferien ausgiebig mit dir flirten?“, fragte sie den erklärten Schwarm der meisten Mädchen aus ihrer Schule und fuhr mit der Hand zärtlich durch dessen Haarschopf.
Michael lachte auf. Geschmeichelt legte er seinen Arm um die Freundin. „Leider nicht, mein Schatz, aber du kannst mir mailen. Wir sind von der Cousine meiner Mutter nach Sizilien eingeladen worden. Hab ich dir das etwa noch nicht erzählt? Am 17. Juli feiern mein Onkel Tonio und Tante Maria in Palermo Silberhochzeit. Wir fliegen auch in drei Tagen.“ Eine leicht gebräunte Haut und der geheimnisvolle Ausdruck tiefgründiger dunkelbrauner Augen ließen keine Zweifel an seiner südeuropäischen Abstammung aufkommen. Er erwiderte den verliebten Blick des Mädchens, das sich zärtlich an ihn schmiegte. Deren Freundin Leonie schrie zum Schein entsetzt auf und entfernte sich einen Schritt von den beiden. „Sizilien? Bist du wahnsinnig? Da ist doch die Mafia zu Hause!“ Es kam Stimmung in der kleinen Gruppe auf. „Au ja, Meiki wird Mafiaboss und verschafft uns in Zukunft kostenlose Pizza vom Italiener.“ Michaels Freund Christian hatte sich unbemerkt anschleichen können und trat im nächsten Augenblick hinter seinen besten Kumpel. Er rüttelte mit beiden Händen an dessen Schultern. Michael reagierte prompt und wehrte die vermeintliche Gefahr mit einem angedeuteten Taekwondotritt souverän ab. Sein Trainingspartner wich sofort geschickt aus und startete seinerseits einen neuen Scheinangriff. Lachend lagen sie die Jungen einen Moment später in den Armen.
„Ich habe vier Großcousinen, soll ich dir eine davon reservieren? Dann musst du später aber auch in meine Organisation kommen und mir die Hand küssen!“, meinte Michael großspurig. Dabei begannen seine Augen voller Vorfreude zu glänzen, als er weiter sprach. „Auf die Sonne und das Mittelmeer freue ich mich sehr. Endlich kann ich mal zwei Wochen am Stück baden. Mein Onkel besitzt eine Villa am Stadtrand von Palermo. Ich bin sogar auf Sizilien geboren.“ „Du siehst auch aus, wie ein kleiner Sizilianer. Dein dunkler Teint und deine braunen Augen verraten dich, mein süßer Mafioso.“ Maja gab ihm einen Kuss. „Von den Großcousinen lässt du aber die Finger, mein Guter. Ich werde dich jeden Tag auf Skype anrufen“, erklärte sie mit selbstbewussten Lächeln.
Abrupt beendete ein zweimaliger Schulgong die angeregte Unterhaltung der Jugendlichen. Automatisch drehten sich die Freunde und Schüler der 9b des Hamburger Gymnasiums in die Richtung um, in der ihr Schulgebäude lag. Ihre letzte Stunde stand auf dem Programm und nach Vergabe der Zeugnisse durften sie den Lehrern endlich den Rücken kehren. Einige von ihnen konnten der Hansestadt für ein paar Wochen entfliehen. Als Michael Carstensen frohgelaunt in sein gewohntes Klassenzimmer zurückkam, ahnte er noch nicht, in welcher Weise sich die Ereignisse für ihn in den kommenden Wochen überstürzen würden.
Der Junge war sich anfangs nicht sicher gewesen, ob er lachen oder weinen sollte, als ihm die Mutter voller Freude von der Einladung nach Sizilien berichtet hatte. Seine italienische Herkunft interessierte ihn eigentlich nicht so sehr. Er war in Hamburg zu Hause. Seit früher Kindheit nahm er am Taekwondo-Training teil und erhielt nebenher Eislaufunterricht. Fast alle seine Freunde wohnten in der Nachbarschaft. Mit Sizilien verband er in seiner Vorstellung nur eine Insel im Mittelmeer und die Heimat seiner Mutter Carlotta. Ihre Familie lebte seit Generationen in der Hauptstadt Palermo. Michaels Vater Werner Carstensen hatte seine Frau vor vielen Jahren während des Urlaubs dort kennen und lieben gelernt. Deren Eltern waren damals nicht gerade erfreut über Carlottas Wahl gewesen. Aber die junge Frau konnte sich durchsetzen und folgte dem angehenden Kriminalkommissar in seine Heimat nach Hamburg. Als Carlotta ein Kind erwartete, fuhr sie zu ihrer Mutter zurück und brachte ihren Sohn auf Sizilien zur Welt. Mehr Einzelheiten über seine Familie wusste Michael nicht. Tante Maria war eine Cousine seiner Mutter und mit einem palermitanischen Unternehmer verheiratet. Michael sollte das erste Mal in seinem jungen Leben den Ort seiner Geburt kennen lernen. Auf jeden Fall, dass hatte er im Internet recherchiert, würde es am Mittelmeer zu dieser Jahreszeit um die 30 Grad warm sein. Drei seiner bisher noch unbekannten Cousinen waren zwischen zwölf und sechzehn Jahre alt. So schlecht erschienen ihm die Aussichten mittlerweile doch nicht mehr und mit der Zeit besserte sich seine Laune, obgleich er auch gerne mit den Freunden Christian und Sven ins Zeltlager nach Dänemark gefahren wäre. Dort hätte er größere Freiheiten von den Eltern gehabt, welche ja nun leider, zumindest für die nächsten vierzehn Tage, ständig um ihn herum scharwenzeln würden. Vielleicht konnte er sie zeitweilig mal abschütteln, hoffte er insgeheim und verließ am Unterrichtsende mit einem recht passablen Zeugnis die Schule.
*
„Schatz, hast du meine braunen Sandalen eingepackt und meine beiden blauen Lieblings T-Shirts? Mike, bist du endlich fertig? Das Taxi kommt gleich!“
Hauptkommissar Werner Carstensen lief wie ein aufgescheuchtes Hühnchen durch sämtliche Zimmer seines Einfamilienhauses im Stadtteil Barmbek, während er verzweifelt versuchte, den Kollegen Klaus auf dessen Handy zu erreichen. Hoffentlich werden sie in der Dienststelle ohne ihn klarkommen, dachte er. Er hasste Urlaube und musste sich seiner Frau dennoch geschlagen geben, als sie ihn mit der Einladung nach Sizilien konfrontiert hatte. Die Familie war ihr so wichtig und sie freute sich sehr auf das Wiedersehen mit ihren Verwandten. Werner konnte ihr nicht im Weg stehen und musste schweren Herzens zusagen. Das Morddezernat sollte nun ganze zwei Wochen auf ihn verzichten. Er dachte gerne an die Zeit vor fünfundzwanzig Jahren zurück, als er seine Frau auf Sizilien kennengelernt hatte. Sie stand damals mit ihrer Cousine Maria am Hafen von Palermo und unterhielt sich mit einem jungen Mann. Plötzlich fuhr ein Auto auf die Gruppe zu und der junge Begleiter der beiden Frauen stellte sich noch schützend vor sie, doch Carlotta verlor den Halt und fiel hinten über ins Wasser. Werner hatte nicht eine Sekunde lang gezögert, seine Sandalen abgestreift und war mit einem eleganten Kopfsprung ins Hafenbecken gesprungen. Als Tonio Andretti, der Begleiter der jungen Frauen, handeln konnte, schwamm Werner bereits mit Carlotta im Arm auf einen Ponton zu. Rasch war Tonio damals die Kaimauer hinab geklettert. Der junge Sizilianer nahm die durchnässte Frau samt ihrem Retter glücklich in Empfang. Werner bat die bildhübsche Carlotta um ein Wiedersehen. Im Gegensatz zu Carlottas Familie, die der Beziehung sehr skeptisch gegenüberstand, gratulierte Tonio den beiden ein Jahr später herzlich zur Verlobung. Maria und er heirateten noch im selben Jahr. Beide Paare verband seitdem eine tiefe Freundschaft und Werner mochte den ruhigen Sizilianer sehr, der sich als Bauunternehmer einen guten Namen gemacht hatte. Leider beschränkte sich der Kontakt aufgrund ihrer beider Berufstätigkeit seit damals auf gelegentliche Telefonate. So freute sich nun auch Werner darauf, Tonio und Maria endlich wieder sehen zu dürfen. „Es ist alles eingepackt. Das Taxi wartet. Fenster und Türen sind zu und wenn meine beiden Männer jetzt die Rucksäcke und Koffer nehmen würden, stünde unserer Abfahrt nichts mehr im Wege. Avanti, meine Herren!“, lachte Carlotta und schob Ehemann und Sohn resolut aus dem Haus. Glücklich schloss sie ihre Haustür ab, währenddessen der Taxifahrer das Gepäck im Kofferraum verstaute.
„Zum Flughafen, bitte“, befahl die temperamentvolle Wahlhamburgerin und setzte sich zu ihrem Sohn in den Fonds des Wagens. „Es wird dir auf Sizilien gefallen, mein Schatz. Onkel Tonio und Tante Maria sind wundervolle Menschen und ihre Töchter werden sich lieb um dich kümmern. Du bist in Palermo geboren. In deinen Adern fließt sizilianisches Blut. Das ist dicker als Wasser, auch wenn es dein Vater nicht wahr haben will.“ Zärtlich streichelte sie ihrem Mann über die Wangen. „Die anderen haben gesagt, in Palermo regiert die Mafia und ich werde als Pate zurückkommen“, antwortete Michael mit einem provokanten Seitenblick auf seinen Vater. Erschrocken wollte dieser etwas entgegnen, doch Carlotta kam ihm zuvor. „Papperlapapp, das gibt es nur in drittklassigen Krimis. Onkel Tonio ist seit Jahren in der Baubranche tätig, genau wie sein Vater vor ihm. Er entstammte einer alt eingesessenen ehrbaren Familie. Du wirst ihn mögen. Papa kehrt nur gerne den Commissario heraus. Er und Tonio sind sehr gute Freunde.“ „Ich habe mir jedenfalls vorsorglich alles Wissenswerte über die Cosa Nostra im Internet durchgelesen!“, rief Michael selbstsicher aus und erntete dafür einen leicht gequälten Blick seines Vaters. Das Taxi stand inzwischen vor dem Flughafeneingang. „Wir setzen die Diskussion später fort“, meinte Werner und drückte seinem Sohn Koffer und Rucksack in die Hand.
„Dann wünsche ich Ihnen einen schönen Urlaub, Herr Kommissar“, grinste der rundliche Taxifahrer, bedankte sich kopfnickend für sein Trinkgeld und war im nächsten Augenblick auch schon im dichten Flughafenverkehr verschwunden. Die Familie gab als erstes ihr Gepäck auf. Carlotta steuerte danach zielstrebig auf die Zollabfertigung zu und nach den üblichen Formalitäten konnten sie diese Hürde erfolgreich nehmen. Michael blickte sich in der Abflughalle um. Das Boarding sollte erst in einer guten Viertelstunde beginnen. Geflogen war er bereits, so dass die Vorbereitungen nicht etwas so gänzlich Neues für ihn darstellten. Die meisten Fluggäste schienen Italiener zu sein. Als er noch klein war, fand er es lästig, dass sich seine Mutter in frühen Kindertagen die Zeit genommen hatte, ihm Italienisch nicht nur in Wort, sondern auch in der Schrift beizubringen. Aber nun erinnerte er sich an ihren Unterricht und bemerkte stolz, dass er die Sprache der anderen Menschen verstand. Das Sprechen fiel ihm noch schwer, aber das würde sich in Palermo sicher schnell ändern, dachte er. Michaels Blick fiel auf einen dunkelhaarigen, sehr schlanken Mann. Er trug einen tiefblauen Seidenanzug und auffällige Schuhe aus Lackleder, die vorne schwarz und dahinter weiß abgesetzt waren. Der Fremde hatte einen Aktenkoffer bei sich und lächelte Michael freundlich an. Der Junge lächelte zurück und bemerkte, wie dem Mann ein Schlüsselbund aus der Jackentasche fiel, als der ein Taschentuch daraus hervorzog. Michael bückte sich rasch und nahm den Bund, an dem sich zwei Schlüssel befanden, die von einem sehr seltsam gebogenen Ring zusammengehalten wurden, in die Hand. Der Mann bedankte sich beinahe überschwänglich, als er sein Eigentum zurückerhielt. Auf einem Teil des Schlüsselanhängers war eine Gravur zu sehen gewesen, die einem Drachen ähnelte. Der Junge fühlte sich von dem Emblem merkwürdig berührt und drehte sich zu seiner Mutter um. Carlotta führte ihn energisch weg zu dem Platz, an dem sein Vater mit den Flugtickets wartete. Das Boarding begann. Michael musste wegen der zusammenhängenden Sitzplatzkarten bei den Eltern bleiben. Später suchte sein Blick im Flugzeug nach dem Fremden. Aber er konnte ihn nicht mehr ausmachen.
Er wurde müde und merkte gar nicht, wie er langsam einschlief. Er sah im Traum eine kleine Insel auf sich zukommen und betrachtete verzückt das in der Sonne glitzernde blaue Meer davor, auf dem sich unzählige winzige weiße Punkte zu tummeln schienen, die bei näherer Betrachtung zu wiederum unzähligen weißen Segeln gehörten, welche Teile von Yachten waren. Ob der Onkel auch ein Boot besaß? , fragte er sich. Wie gerne würde er einmal über diese im gleißenden Sonnenlicht auf und nieder blinkenden, mit geheimnisvoller Leichtigkeit in der Bewegung ausgestatteten herrlichen Wellen gleiten, das Salz aus der Luft auf seinen Lippen schmecken und den warmen subtropischen Wind auf der Haut spüren können. Der afrikanische Kontinent lag nur einen Flügelschlag weit entfernt und dort begann der Zauber einer fremden Welt, die gleichzeitig in schicksalhafter Weise blutgetränkt die alte und die neue Welt miteinander verband. Von Sizilien aus wurde im zweiten Jahrhundert vor Christi die Stadt Karthago durch die Römer zerstört. Zwei Jahrtausende waren seitdem vergangen und nichts hatte sich an der atemberaubenden Schönheit der Insel geändert. Ein eisiges Frösteln durchzuckte den Vierzehnjährigen plötzlich, und Gänsehaut bildete sich auf seinen Armen. Etwas in ihm verlangte die anhaltende Berührung durch die warmen Sonnenstrahlen und bestärkte ihn, jedes einzelne, auch noch so kleine Detail des Fremdartigen gierig in sich aufzusaugen. Etwas animalisch Schönes und Faszinierendes hatte von ihm Besitz ergriffen und war nun im Begriff, seine junge Seele in so genialer Weise durchzurütteln, dass ihm beim Gedanken daran Tränen in die Augen schossen. Michael fühlte sich, wie noch nie zuvor in seinem Leben. Dann kam eine andere Kraft auf ihn zu und zog ihn in ihren Bann. Er hörte tief in seinem Inneren eine warnende Stimme. Jede Medaille besitzt zwei Seiten, das Gute das Schlechte, das Schöne das Hässliche, die Liebe den Hass. Der Zauber, der ihn so sanft einhüllte und hoch in den Himmel zu tragen schien, würde seinen Preis haben und er musste sich entscheiden. War er bereit, diesen zu bezahlen? Für die Hoffnung auf ein einmaliges Glücksgefühl? Niemand konnte ihm helfen. Er musste seinen Weg allein finden. Ein tiefes Geheimnis würde sich ihm offenbaren, für immer an sich binden und sein Leben verändern. Ein erneuter Schauer lief über den Rücken des Jungen. Erst brachte er ein wohliges Frohlocken mit, doch im nächsten Moment schien es, als würden Blitz und Donner auf den Schlafenden herniederfahren, ihn verschlingen und in die offene heiße Flamme der Hölle stoßen. Dort stand er einem nach Schwefel stinkenden und grässlich anzuschauenden Teufel gegenüber. Sollte er den Weg des Bösen einschlagen, würde es für ihn kein Entrinnen mehr geben. Schreckliche Fratzen, Bilder von blutgetränktem Boden, Leichname, in grausamer Weise zerstückelt, die kaum erkennen ließen, dass sie vor kurzer Zeit noch lebendige menschliche Wesen gewesen waren, Tod und Verderben, zogen vor seinem inneren Auge vorbei. Danach trat das Frösteln erneut auf und er spürte etwas Liebliches auf seiner Zunge zergehen. Die Zuckerwaren hießen: Macht, Ansehen und unermesslicher Reichtum. Michael öffnete erschrocken die Augen und dachte einen Moment lang an seinen geheimnisvollen Traum. Verwundert schüttelte er darüber den Kopf. Währenddessen zog das Flugzeug routinemäßig kleinere Kreise über Palermo, um langsam in den Sinkflug überzugehen und schließlich ganz sacht zur Landung anzusetzen. Fasziniert betrachtete der gebürtige junge Sizilianer die Landschaft neben dem Rollfeld. Eine wundervolle Ferienzeit lag vor ihm. Er freute sich auf die Begegnung mit den unbekannten Verwandten und auf ein herrliches Abenteuer, welches er in diesem Sommer auf Sizilien, wo sich in einmaliger Weise landschaftliche Schönheiten mit dem Feuer der Erde verbanden, erleben durfte. Hier hatte die Geschichte Jahrtausende überdauert und war längst selbst wieder zur Geschichte geworden. Himmel und Hölle existierten in mehrfacher Hinsicht gleichzeitig nebeneinander.
Der Fremde war nach der Landung durch die Zollabfertigung geeilt. Keiner der Zöllner kam auf die Idee ihn zu fragen, ob er etwas anzumelden hätte, geschweige denn, in seinen Aktenkoffer zu schauen. Der Weg des Anwalts und Beraters von Don Tonio Andretti führte geradewegs in seine Kanzlei, wovon er ein kurzes Telefonat mit seinem Boss führte.
Heiß brannte die Sonne Italiens auf Michaels Haut, als er aus dem Flugzeug stieg und seinen Eltern zur Zollabfertigung folgte. Das Gepäckband im Gebäude brachte innerhalb weniger Minuten die Koffer der kleinen Familie aus dem Bauch der Maschine wieder zum Vorschein. Als Michael in der Eingangshalle des Flughafens stand, spürte er plötzlich, wie sich zwei dicke Arme um seinen Körper legten. Unzählige feuchte Küsse bedeckten sein Gesicht, so dass er sich nach der ersten Schrecksekunde angewidert aus der Umklammerung löste und erst einmal heftig durchatmen musste. Die Arme gehörten zu einer Frau, welche jetzt in genau derselben Art und Weise seinen Vater abschmatzte, der diese barbarische Behandlung allerdings sichtlich zu genießen schien. Maria Andretti hatte es sich nicht nehmen lassen, ihre Cousine und deren Familie persönlich vom Flughafen in Palermo abzuholen. Maria war begeistert, als sie Michael sah. Ihr Plan müsste aufgehen und sie betete in Gedanken zur Heiligen Jungfrau, dass diese die angestrebte Verbindung segnen möge. Ein Mitarbeiter des Don nahm Werner die Koffer ab und verstaute sie im schwarzen Luxuswagen. Carlotta und Maria lagen sich in den Armen und sprachen so schnell italienisch, dass sich selbst Michael anstrengen musste, um auch nur die Hälfte davon zu verstehen. Werner lachte. Er unterhielt sich mit dem jungen Fahrer, der sich als Tommaso vorstellte und gebrochen deutsch sprach.
Die Fahrt in der klimatisierten Limousine führte an unzähligen Weinbergen vorbei und ließ Michaels Augen vor Verzücken glänzen. Immer weiter schob sich das Auto in langen gewundenen Serpentinen den Berg hinauf, um vor einem riesigen schmiedeeisernen Tor zu warten. Einen Moment später öffnete es sich wie von Geisterhand und der Junge blickte in eine weitläufige Parkanlage, an dessen Ende sich die in weiß gehaltene Villa seines Onkels erhob. Michael musste unwillkürlich schlucken. Ein kleines Mädchen von ungefähr zwölf Jahren rannte auf sie zu. In der Einfahrt stand ein junger Mann, welcher kurz in Tommasos Richtung nickte. Der Wagen hielt an. Das Mädchen riss stürmisch die Autotür auf und wurde von seiner Mutter schmunzelnd begrüßt. „Carlotta, der Wildfang hier, das ist meine jüngste Tochter, Christina“, lächelte Maria Andretti. Artig gab Christina der Tante und dem Onkel aus Deutschland die Hand. Sie musterte Michael dabei mit abschätzendem Blick, so dass sich dieser erst unangenehm berührt fühlte. „Sprichst du Italienisch?“, fragte sie. „Si, Bella“, antwortete der Junge etwas überheblich und wurde ohne Umschweife von ihr untergehakt.
„Bene, dann stell ich dich jetzt meiner Schwester Elena vor. Sie ist Vierzehn, sieht aber jünger aus und ist nicht ganz so hübsch wie ich!“, meinte sie beiläufig. Der gutaussehende Cousin gefiel Christina und sie spürte etwas wie Neid in sich aufkommen. Wenn es nach ihrer Mutter ging, sollten sich Michael und Elena nämlich näher kennenlernen. Ihr Vater hatte keinen Sohn und somit musste einer der Schwiegersöhne eines Tages das Baugeschäft übernehmen. Die älteste Schwester, Constanza, war mit Alfonso verheiratet. Alfonso und Constanza waren beide Lehrer von Beruf und hatten mit dem Geschäft nichts am Hut. Carmen, ihre sechzehnjährige Schwester, ging mit dem gleichaltrigen Stefano, der eigentlich sehr geeignet für die Nachfolge des Don Tonio, wie alle ihren Papa nannten, schien. Stefanos Vater arbeitete schon seit sie denken konnte für ihren Vater und der Junge wollte gerne nach seinem Abitur in die Firma eintreten. Christina hatte vor einiger Zeit ein merkwürdiges Gespräch ihrer Eltern mit angehört. Sie kam gerade aus ihrem Zimmer, weil sie sich aus der Küche etwas zu trinken holen wollte. Es ging bei dem Gespräch um irgendwelche Geschäfte, von denen Mama Maria nichts wissen sollte. Papa meinte damals, Stefano wäre gut, aber ihm fehle es an Durchsetzungskraft und wenn Carmen mit ihm zusammen bliebe, dann müsste man später sehen, für wen sich Elena und sie, die kleine Christina, entscheiden würden. Mama hatte angestrengt nachgedacht und plötzlich gesagt: „Lass mich nur machen, ich weiß da jemand!“ Papa nahm sie in den Arm und erwiderte: „Schatz, wir feiern unsere Silberhochzeit und nicht unsere Beerdigung. Wir wollen uns jetzt nicht den Kopf zerbrechen. Gott hat mir fünf wunderbare Frauen geschenkt und er allein wird wissen, wozu das gut sein sollte!“ Danach war er aufgestanden und hatte die Schlafzimmertür geschlossen. Ein paar Tage später erzählte Mama von ihrer Cousine, Tante Carlotta, die in Hamburg mit einem Deutschen verheiratet wäre und einen Sohn namens Michael hatte. Er war Vierzehn und würde sicher gut zu Elena passen. Die ganze Familie wäre bereits zur Silberhochzeit eingeladen und käme, wenn die Schulferien in Hamburg begännen, nach Sizilien.
Christina hatte ihre Schwester beiseite gezogen und ihr von dem belauschten Gespräch erzählt. Elena tat sofort entrüstet. Die Mutter hätte wohl einen Knall, meinte sie. Sie ließe sich nicht verkuppeln und mit einem Deutschen, den sie noch nie gesehen hat und der vielleicht noch nicht einmal ordentlich Italienisch spricht, schon gar nicht. Und überhaupt, sie würde nur einen Sizilianer heiraten, wie alle anständigen Frauen hier. Als Christina jetzt den fremden Jungen ins Haus führte, stand Elena sprachlos mit offenem Mund am Fenster ihres Zimmers. Sie wusste inzwischen, dass Michael in Palermo geboren und somit Sizilianer war. Beim Anblick des schlanken, durchtrainierten Jugendlichen mit seinen dunkelbraunen Locken wurden dem jungen Mädchen spontan die Knie weich. Ihre Mutter hatte ihr den süßesten Boy Italiens ausgesucht und Elena stand im nächsten Moment völlig verzweifelt vor ihrem Kleiderschrank. Das Wesen, welches sie im Spiegel erblickte, konnte diesem Gast unmöglich gefallen. Sie riss sich rasch die alten verwaschenen Jeans vom Leib und wählte ein paar knallenge gelbe Shorts. Dazu zog sie sich ein weißes T-Shirt an, das ihr etwas zu klein geworden war und deshalb ihre zarten Brüste besonders betonte. Sie setzte sich schnell an den Schminktisch und zauberte ein dezentes Rouge auf die vor Aufregung bereits von selbst glühenden Wangen. Noch etwas Lidschatten über die strahlenden blauen Augen verteilt und die Lippen mit rosa Glos nachgezogen. Die Haare! Oh, wenn sie doch nicht so störrisch gewesen wäre! Nun würde ihr Lover sie in diesem unmöglichen Zustand zu sehen bekommen. Sollte sie sich vielleicht krank melden lassen? Elli zitterte, als sie ihre dunkelblonden langen Haare mit heftigen Bürstenstrichen bearbeitete. Dann stellte sie sich vor den Spiegel, drehte sich einmal herum und atmete tief ein und aus. Doch, es ging! So konnte sie sich sehen lassen, dachte sie erleichtert.
Die Familie stand noch vollzählig in der Eingangshalle und bewunderte den imposanten Bau. Werner war sehr beeindruckt. Tonio besaß ein gutgehendes Bauunternehmen. Da gehörte ein so prachtvolles Anwesen natürlich auch zum Beruf. Michael, der noch immer von Christinas fest gehalten wurde, fühlte sich überwältigt. Doch noch etwas anderes nahm von ihm Besitz. Es war das tiefe Empfinden, hier her zu gehören und ein Teil dieses Hauses zu sein. Der Junge spürte deutliche Heimatgefühle in seinem Inneren. Er drehte sich um und erblickte eine weit ausladende Treppe aus weißem Marmor. Auf den oberen Stufen stand die leuchtende Gestalt einer wunderschönen Fee, welche sich nun anschickte, langsam, grazil und anmutig, diesen Treppenaufgang hinab zu schreiten. Michael wurde augenblicklich rot im Gesicht. Er wusste, was in dem Moment geschehen war, als er das Antlitz der blonden Prinzessin, deren feste Brüste sich prall unter dem T-Shirt abzeichneten und deren lange Beine in viel zu knappen Shorts steckten, erblickt hatte. „Hoffentlich bemerkt niemand die Erektion“, schoss es ihm durch den Kopf. „Oh Gott, wie ist das peinlich, aber diese Braut gibt es kein zweites Mal auf der Welt!“
Elena genoss derweil ihren Auftritt. Sie sah geradewegs in die Augen des jungen Mannes und ihr Blick blieb einen Augenblick auf seiner Hose haften. Zufrieden hob sie den Kopf und setzte ihr schönstes Lächeln auf. Maria atmete erleichtert, als sie ihre Tochter endlich in einem halbwegs vernünftigen Aufzug sah. Zugegeben, die Shorts waren etwas gewagt, aber Maria hatte selbst vor vielen Jahren ihre gesamten weiblichen Reize eingesetzt, um sich Tonio zu angeln. Und das war angesichts der Konkurrenz gar nicht so einfach gewesen. Ihre Eltern besaßen nicht viel Vermögen. Ihr Vater war Fischer und hielt die Familie mit etwas Alkoholschmuggel über Wasser. Von der Fischerei allein konnte die Familie nicht leben. Dann biss Tonio an und auch der Vater brachte es dank Tonios Kontakten zu Wohlstand. „Elena, musst du dich so aufreizend kleiden? Das schickt sich doch nicht für ein anständiges Mädchen aus gutem Hause!“, schalt Maria. „Carlotta, Werner, hier präsentiere ich euch die Zweitjüngste. Elena ist Vierzehn, genau wie euer Michael. Ich hoffe, ihr beiden werdet euch gut verstehen. Am besten, du zeigst unserem Gast gleich mal sein Zimmer, Elli!“ Wohlwollend schmunzelnd ebnete Maria den beiden den Weg. Den Rest müssen sie jetzt selbst erledigen, dachte sie. Der Junge ist intelligent, spricht Italienisch, sieht gut aus und könnte Tonios Erwartungen entsprechen. Maria wandte sich zufrieden ihrer Cousine und deren Mann zu. „Dann wollen wir mal der Jugend ihren Lauf lassen und uns auf die Terrasse begeben. Ihr werdet nach der anstrengenden Reise sicher hungrig und vor allem durstig sein“, erklärte sie und schob die Erwachsenen durch das riesige Wohnzimmer nach draußen, wo Carlotta und Werner der schönste Ausblick empfing, den sie beide je genießen durften. Der Hafen und die Bucht Palermos lagen in ihrer ganzen Pracht und Schönheit vor dem begeisterten Paar aus Deutschland.
Christina bemerkte traurig, wie gekonnt sich ihre ältere Schwester in Szene gesetzt hatte. Schade, dachte sie. Dann ist der neue Cousin wohl vergeben. Aber das macht nichts, ich heirate sowieso nur Luca. Den gleichaltrigen Freund und Sohn eines engen Vertrauten ihres Vaters kannte sie schon aus ihrer Sandkastenzeit. Damals hatten sich ihre Mutter und Lucas Mama darüber unterhalten, dass die beiden Kinder sicher einmal ein hübsches Paar abgeben würden. Luca gehörte seitdem zu Christinas Leben wie Elli und die anderen Schwestern. Sie ließ Michaels Arm los und legte seine Hand auf Elenas. Diese zuckte bei der ersten Berührung zusammen und wollte ihre Finger schon ängstlich zurückziehen, als sie Michaels festen Druck auf ihren Handwurzelknochen spürte. „Ciao! Mi chiamo Michael, du bist sehr hübsch!“ Er sah ihr dabei direkt in ihre schönen Augen. „Grazie, mi chiamo Elena!“ Sie senkte leicht errötend den Kopf. Das werden die besten Ferien meines Lebens, dachte Michael. Whow! Wenn ich mich jetzt auch noch mit Onkel Tonio verstehe, ist mein Glück perfekt. Christina stand grinsend neben den beiden Jungverliebten und tippte ihre apathisch wirkende Schwester an. „Hallo, bist du noch da, Elli? Du sollst unserem Gast sein Zimmer zeigen!“ Elena schrak auf. Mein Gott, ist der süß! , dachte sie zitternd. Ich vergesse mich gleich. „Si, natürlich. Komm! Dein Gepäck ist sicher schon oben. Du hast ein sehr schönes Zimmer und es liegt nicht weit weg von meinen Räumen“, erklärte sie wie selbstverständlich und hielt erneut erschrocken inne. Mein Gott, was sag ich denn da? „Ja, ja, die Macht der Liebe!“, lachte Christina geheimnisvoll. „Ich glaube, ich überlasse euch beiden Turteltauben mal eurem Schicksal.“ Und zu Michael gewandt: „Du wirst es hier sicher nicht schwer haben, dein Italienisch scheint auch ganz gut zu sein. Ich bin dann mal am Pool, wenn mich jemand sucht.“
Elena und Michael waren allein. Er hielt noch immer ihre Hand und ließ auch nicht los, als das Mädchen ihn über die Treppe hinauf nach oben führte. Einen Moment später standen die beiden Jugendlichen auf dem zum Gästezimmer gehörenden Balkon und schauten über die Bucht Palermos. „Gefällt es dir?“ Elena blickte ihren Begleiter verliebt an. „Sehr, allein dieser Ausblick ist fantastisch und dann das hübscheste Mädchen, das es auf der Welt gibt, an der Hand halten zu dürfen! Was kann es Schöneres für einen Mann geben?“ Michael lächelte. Ich bin wirklich ein Glückspilz. Er dachte an seinen Onkel. „Wo ist dein Vater und wie ist er so?“ „Also, erstens, du flirtest schon wie ein richtiger Italiener und zweitens, der arbeitet in seinem Büro. Er ist ganz nett, eben mein Papa!“
Don Tonio hatte seinen Computer herunter gefahren, als er Tommaso mit dem Auto die Einfahrt hinaufkommen sah. Er führte noch einige wichtige Telefonate, stand von seinem Bürostuhl auf, ordnete seine Kleidung und schloss die Tür hinter sich. Sein Weg führte ihn am inzwischen geöffneten Gästezimmer vorbei. Er lächelte wohlwollend, als er die beiden jungen Menschen bereits Hand in Hand auf dem Balkon stehend bemerkte. Der Junge wandte ihm nur den Rücken zu, doch er schien kräftig und sportlich zu sein. Die Art, wie er Elenas Hand hielt, verriet dem erfahrenen Mann, dass sich hinter diesem Charakter Entschlusskraft und Selbstbewusstsein verbargen. Der Junge weiß, was er will, dachte Tonio. Gut, so. Vielleicht hat Maria tatsächlich eine richtige Wahl getroffen. Mal sehen, was er sonst noch kann! „Ganz nett, so, so. Dann kann ich ja dein Pferd gleich wieder verkaufen und deinen Kleiderschrank dazu auch. Ganz nett! Von meiner Lieblingstochter habe ich aber wirklich mehr Begeisterung erwartet!“, entrüstete sich der vierfache Vater schmunzelnd.
Elli und Michael drehten sich um. Einen Augenblick lang lasen Michael und Tonio einander in den Augen. Dann war das Eis gebrochen. Wie selbstverständlich ließ der Junge die Hand des Mädchens los, ging ein paar Schritte auf den Onkel zu und umarmte den Mann, den er noch bis vor wenigen Minuten nur aus den Erzählungen seiner Eltern kannte. Einen Moment lang verharrten die beiden in ihrer Position und ließen ihren Empfindungen freien Lauf. Ein tiefes Gefühl von Seelenverwandtschaft und der Funke einer besonderen Form von Liebe übertrugen sich von dem einen auf den anderen. Tonio drückte seinen vielleicht künftigen Nachfolger und Schwiegersohn fester an sich. Michael sah ihm dabei in die Augen und lächelte. Die Verbindung war hergestellt und würde von nun an auch über den Tod hinaus bestehen. „Oh, Papa, du bist nicht nur ganz nett, sondern natürlich sehr nett und dazu der liebste Papa auf der ganzen Welt. Aber lass das mit der Lieblingstochter nicht Christina hören. Sie ist sowieso schon eifersüchtig auf mich. Ich glaube, sie hätte Michael auch gerne gehabt. Das muss ein ziemlicher Schlag für sie gewesen sein!“, lachte Elli und gab ihrem Vater einen liebevollen Kuss.
„Ciao, Onkel Tonio. Ich freue mich, dich endlich kennenzulernen. Meine Eltern haben mir schon so viel von dir erzählt. Vor allem Papa brüstet sich immer wieder mit seinem heldenhaften Sprung ins eiskalte Hafenbecken und das er Mama damals das Leben gerettet hat“, erklärte Michael. Tonio hüstelte etwas. „Ich weiß nicht, ob ich das sagen darf, aber die Wassertemperatur betrug zu der Zeit so annähernd 25 Grad und deine Mutter war eine ausgezeichnete Schwimmerin!“ „Ich dachte es mir. Väter übertreiben gerne. Aber, lassen wir ihn in dem Glauben, ein Held zu sein.“ Michael zwinkerte Tonio zu. Ein geheimnisvoller Bund zwischen Onkel und Neffe war geschlossen. „Komm, mein Sohn, lass uns zu deinen Eltern gehen. Es gibt sicher auch gleich Essen. Ich freue mich auf das Wiedersehen!“ Tonio legte zufrieden einen Arm um Michael und nahm seine Tochter an die Hand.
Elena erwies sich als ausgezeichnete Fremdenführerin. Michael und das junge Mädchen setzten sich immer wieder von der übrigen Familie ab und genossen ihre ungestörte Zweisamkeit. Carmen, Elenas Schwester, bekam kurz Besuch von ihrem Freund Stefano. Einen Augenblick lang wechselten die beiden Jungen ein paar Worte, bevor Michael wieder ganz und gar Elena gehörte. Diese führte ihn auf dem großen Anwesen herum, welches weit abgelegen auf einer Bergkuppe hoch über Palermo im Naturschutzgebiet am Monte Pellegrino lag. Die Liebenden ließen sich unterwegs dann und wann ins hohe Gras fallen, lauschten dem Meeresrauschen und den Vogelstimmen und vergaßen dabei die übrige Welt. „Das ist also dein Lieblingsplatz?“, fragte Michael. Sie standen auf dem kleinen Felsen und setzten sich im Schatten einer Akazie nieder. Unter ihnen wand sich ein sandiger Weg, welcher allenfalls einem einzigen Auto Platz bieten konnte. An Gegenverkehr war nicht zu denken, führte der nicht abgesicherte Seitenstreifen doch geradewegs einige hundert Meter weit in die Tiefe. Wer dort hinabstürzte, war verloren. Elena hatte den Platz in respektvoller Entfernung von der Abbruchkante gewählt und zeigte mit ausladender Hand auf das vor ihr in der Sonne glitzernde Meer. „Ja, ich komme immer hierher, wenn ich einmal ganz allein sein will. Der Ausblick ist traumhaft und diese Stelle liegt am weitesten vom Haus entfernt. Von den Männern kommt niemals jemand soweit herauf. Siehst du den Felsen da unten am Strand?“ Michael nickte mit dem Kopf. „Bei Ebbe kann man von See aus dort hinein klettern. Es ist eine alte Schmugglerhöhle und sie führt tief unter den Berg. Früher trieben dort Seeräuber und Banditen ihr Unwesen. Die Leute erzählen sich auch Geschichten über einen Schatz, der irgendwo versteckt sein soll. Von hier oben kommt man nicht hin. Der Abstieg ist zu gefährlich. Aber mit einem Motorboot kann man von der Seeseite hingelangen. Im zweiten Weltkrieg hatten sich auch von den Nazis verfolgte Juden in der Höhle aufgehalten. Auf der anderen Seite des Berges gibt es einen inzwischen verschütteten Landzugang. Die Leute sollten von einem Boot abgeholt werden und waren zu weit hinunter ans Meer geklettert. Als die Flut kam, ertranken alle. Nur ein einziger Junge konnte sich retten. Stefanos Opa hatte ihn nach der Tragödie lange Zeit bei sich im Keller versteckt. Der Junge lebt noch, ist natürlich jetzt ein sehr alter Mann und er ist seitdem auch nicht mehr ganz richtig im Kopf. Aber seine Geschichten sind unglaublich spannend. Angeblich hat er den Zugang zum Seeräuberschatz gefunden. Die Polizei hat den Berg vor ein paar Jahren an der Stelle, wo der Eingang zur Höhle liegt, auf Wunsch meines Vaters gesperrt. Es gab schon zu viele Unfälle mit unvorsichtigen Schatzsuchern.“
„Dann kennt Stefano die Höhle wohl auch?“, fragte Michael und dachte nach. Er erwartete keine Antwort, lag sie doch nahe. Natürlich musste Carmens Freund als Sizilianer von den Geschichten um die Höhle wissen. Michaels Abenteuerlust war schnell geweckt worden. Er musste mit Stefano reden. Vielleicht könnten sie mittels einer Kletterausrüstung doch den Abstieg wagen und sich dort unten einmal umsehen. Elli antworte wider Erwarten sehr bestimmt, als wenn sie seine Gedanken erraten hatte. „Natürlich, er besitzt auch ein kleines Boot. Wir können ja mal gemeinsam hinfahren. Es ist ein Treffpunkt für Liebespaare. Jeder, der dort seinen Partner geküsst hat, ritzt seinen Namen in den Fels. Es ist ein hübscher Brauch. Die Jungen müssen dazu eine enge Spalte hochklettern.“ „Das können wir mit Stefano besprechen, wenn wir wieder zu Hause sind. Ich liebe dich, meine schöne Prinzessin“, entgegnete Michael und küsste Elena zärtlich auf den Mund. Sie lag nun auf dem Rücken im Gras, schlang ihre Arme um ihn und erwiderte seinen Kuss leidenschaftlich. Plötzlich hielt Michael inne. Im Gebüsch knackte es laut. Das Geräusch war sehr heftig und ähnelte dem Tritt eines Elefanten. Auch Elli horchte erschrocken auf. Beide sahen sich fragend an. Vorsichtig hob Michael den Kopf, während er seine Hand sachte auf Ellis Mund legte. Sie hatte verstanden und verharrte regungslos unter ihm. Das Stampfen kam immer näher, Zweige knackten bedrohlich und ein lautes Keuchen sagte ihnen, dass sie nicht mehr allein waren. Dann mussten beide auflachen. Es handelte sich weder um einen Elefanten noch um ein verärgertes Nashorn. Nur der schwergewichtige Mario, ein Mitarbeiter des Don, kämpfte sich prustend den Berg hinauf. Er wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß ab und brach erleichtert vor Elli und Michael zusammen. „Mario, was machst du hier?“, blinzelte Elli und sah den Mitvierziger mit böse funkelnden Augen an. „Spionierst du uns etwa nach?“
„Uff, ich kann nicht mehr. Ich kündige! Ach, Kind, um nichts in der Welt würde ich euch bei dieser Hitze freiwillig hier herauf folgen. Nein, nein, der Don schickt mich. Michael, du kennst dich doch mit Computern aus? Oder? Der Chef hat versucht ein neues Programm auf das vermaledeite Ding zu spielen, und nun ist alles hinüber. Er ist völlig verzweifelt. Kannst du das wieder in Ordnung bringen, Junge?“ Elli schämte sich. Wie konnte sie glauben, dass der arme fette Mario böse Absichten mit ihnen gehabt hätte. „Natürlich kann Mike das. Lasst uns rasch gehen, bevor Vater noch der Schlag trifft. Er hasst Computer und ich weiß gar nicht, warum er überhaupt versucht hat, das Officeprogramm selbst zu installieren!“, meinte das Mädchen und wischte sich etwas Gras von seinen Shorts ab. „Ja, Onkel Tonio und PC’s vertragen sich nicht. Er hat von Technik so gut wie keine Ahnung“, ergänzte Michael grinsend. Sie halfen dem erschöpften Mario auf die Beine.
Michael wandte sich kurz um und blickte noch einmal zu dem kleinen Felsvorsprung hinunter. Die gerade einsetzende Flut umspülte die steinige Küste und erlaubte ihm keine weiteren Einblicke mehr in die Umgebung des Strandes. Er wollte sich ein Fernglas besorgen und würde bei Ebbe allein wieder her kommen. Ihm war plötzlich, als wäre er schon einmal hier gewesen. Nachdenklich folgte er Elena und Mario zur Villa.
Der Junge schmunzelte, als er das Chaos auf dem Computer des Onkels sah. Onkel Tonio verstand von diesen Sachen tatsächlich noch weniger als sein Vater Werner. Der hatte sich wenigstens beruflich schon mit dem Internetzeitalter auseinandersetzen müssen und kam auch zu Hause einigermaßen mit den Geräten zurecht. Den Fehler auf dem PC des Onkels hatte Michael schnell gefunden und die Software erst einmal wieder deinstalliert um sie dann noch einmal von vorne auf den Rechner zu spielen. Das Programm schien ihm für die Zwecke des Don völlig ungeeignet zu sein. Michael erkannte rasch den sensiblen Charakter der Daten und war sich bewusst, dass ein Mann wie sein Onkel nicht nur für die palermitanische Polizei interessant sein würde, sondern neben anderen Familienclans auch ausländische Geheimdienste sehr dankbar dafür wären, könnten sie seine Konten ausspähen. Er erklärte dem verdutzten Tonio, dass alle, die es wollten, in seinem PC lesen konnten, wie in einem Buch. Tonio reagierte nervös. Er ahnte, dass die neue Technik ihre Tücken haben würde und sträubte sich nicht umsonst vehement dagegen, seine altbewährten Methoden der Mitteilung von Ohr zu Ohr aufzugeben. Doch seine Geschäfte wurden bereits über den Steuerberater per Computer bilanziert und nun suchte er verzweifelt eine elegante Lösung, wie er den nicht ganz so legalen Bereich seines Unternehmens der modernen Zeit anpassen konnte, ohne dabei gleich mitsamt aller Mitarbeiter hinter Gittern zu landen. Aber Michael wusste Rat. Er war seit vier Jahren Mitglied eines Hamburger Computerclubs und kannte sich auch mit dem Hacken von brisanten Daten gut aus. Außerdem hatte sich auf diese Weise auf der ganzen Welt ein geheimer Freundeskreis aufgebaut. Die Mitglieder aus aller Herren Länder tauschten nicht nur neues Wissen aus, sondern beteiligten sich auch an legalen und leider auch nicht ganz erlaubten Aktionen der anderen Clubs, die teilweise, wie sein Freund Igor in Russland, schon für die eigenen Geheimdienste arbeiteten. Natürlich wussten die jungen Leute nicht nur, wie man an fremde Daten herankam, sondern auch, wie man sich vor dem Datenklau anderer effizient schützte. Nachdem er sich ein Bild vom Umfang der Geschäftstätigkeiten seines Onkels machen konnte, baute Michael eine Firewall, kopierte die Dateien auf die eigene mitgebrachte leere externe Festplatte und schrieb dem kleinen Igor eine mehrfach verschlüsselte Mail nach Russland. Mithilfe der zusätzlich eingeschalteten Freunde aus Hamburg und eines Servers auf Kuba, gelangte eine Stunde später ein recht passables Schutzprogramm mit freundlichen Grüßen aus Moskau auf den Rechner des sizilianischen Paten Tonio Andretti. Der Versuch des amerikanischen Geheimdienstes, den Code zu knacken und Zugriff auf die seltsame Mail, die um die halbe Welt unterwegs gewesen war, zu erhalten, misslang kläglich. Michael lachte mehrmals laut auf, als er die verzweifelten Aktionen eines US Mitarbeiters, des Inhalts der anonymisierten Mails habhaft zu werden, auf seinem Rechner bemerkte.
Gegen den erst elfjährigen Igor kam keiner an. Der Kleine war der Sohn eines russischen Generals und als der KGB durch die eigenen Computerclubs auf Igors Fähigkeiten aufmerksam wurde, bekam dieser sofort von seinem Vater alles an Gerät, was der russische Geheimdienst aufzubieten hatte. Was Igor sonst noch brauchte, erhielt er von den Freunden aus Deutschland und Amerika, die ihm gegen kleine Gegenleistungen gerne die neuesten westlichen Filme und Musikhits, die in Russland nicht so einfach zu bekommen waren, sandten. Auch kleine Päckchen mit westlicher Hardware und Unmengen an Gummibärchen wurden auf dem simplen Postweg über eine KGB Adresse direkt in Igors Kinderzimmer verschickt. Da die hohen Beamten und Politiker im Kreml natürlich auch Kinder und Enkel in Igors Alter hatten, ahnte von den Erwachsenen niemand von den Geschäften, die unbemerkt hinter ihrem Rücken abliefen. Igors beste Freundin hieß Tamara, zählte acht Lenze und besuchte ihren Opa regelmäßig im Regierungspalast. Dort saß das kleine Mädchen zufrieden auf dem Schoß des russischen Ministerpräsidenten und lauschte desinteressiert den langweiligen Gesprächen der Großen. Tamara durfte dabei an Opas PC spielen und hatte von diesem schnell eine Verbindung zu Igors Rechner hergestellt, welcher so stets im Bilde und up to date in der russischen Politik war. Michael gab seinem Clubkameraden Christoff in Deutschland die neue russische Gegenbestellung in Auftrag und begann, die Geschäfte des Onkels richtig zu ordnen. Er hatte gar nicht bemerkt, wie viel Zeit schon vergangen war, als Tonio um kurz vor sechs Uhr abends erfreut und nahezu sprachlos sah, welche Arbeit sein Neffe zwischenzeitlich geleistet hatte.