Die neuen Bekanntschaften der Nora Budweis - Andrea Hensgen - E-Book

Die neuen Bekanntschaften der Nora Budweis E-Book

Andrea Hensgen

0,0

Beschreibung

Eine Frau verlässt ihre vertraute Umgebung, zieht in eine Großstadt und tritt dort eine neue Stelle an. Warum ist die Geschichte von Nora Budweis lesenswert? In großen Worten: Diese Frau sucht nach einem Platz in der Welt, der es ihr erlaubt, in der Wahrheit zu leben. Ein radikaler Anspruch, der all jene irritiert, die sich in den üblichen Kompromissen eingerichtet haben. Nora Budweis ist keine zwanzig mehr, sondern vierzig Jahre älter, und stellt sich nüchtern den Folgen ihres Auftritts in der neuen Stadt. Auf den ersten Blick vor allem Verluste: Sie verlangen eine zweite, große Entscheidung.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 342

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Andrea Hensgenwuchs in einem Dorf an der luxemburgischen Grenze auf, studierte in Saarbrücken Geisteswissenschaften und lebt heute in Frankfurt. Viele ihrer Romane, Erzählungen, Kinder- und Jugendbücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt und mit Preisen ausgezeichnet. Andrea Hensgen sucht nach immer wieder neuen Formen, wie der Reichtum der europäischen Kultur fruchtbar gemacht werden könnte, um den heutigen Herausforderungen zu begegnen. Diese Überlegungen rahmen ihre aufmerksame Zuwendung zu ihren Mitmenschen und deren Geschichten. Bei Lindemanns erschien 2013 ihr Roman „Der Papst kommt“.

Andrea Hensgen

Die neuen Bekanntschaften der Nora Budweis

Roman

Lindemanns

zum Dank, für Thomas

Vorwort

Weil sie in Frankfurt eine Arbeit fand, und die Stadt insgesamt viel versprach, war sie hierher gezogen, in der Hoffnung, dieser Umzug könnte der letzte Wechsel ihres Wohnorts werden.

Doch ihr Auftritt sollte bereits nach einem knappen Jahr die Verhältnisse in ihrem Umfeld grundlegend verändern.

Ein Kind verlor seinen bisherigen Platz in der Welt, eine Frau ihre geliebte Wohnung, zwei treue Freunde sich ganz und gar, ein Bild seinen Betrachter und ein Garten seinen Wuchs. Männer, seit Jugendjahren verbunden, verloren die Anteilnahme aneinander, ein Gewinner das Unbefragte seiner Selbstgewissheit und ein anderer die Nachsicht seiner Frau.

Nicht an allem trug sie unmittelbar Schuld, war aber doch mehr in diese Vorgänge verstrickt, als sie es leichthin mit dem Verständnis ihrer selbst in Einklang bringen konnte.

Einiges wurde am Ende festgezurrt, anderes in Zweifel gezogen, Tagebücher endgültig in Kisten verschlossen und im Verlauf des Jahres gefasste Entschlüsse wieder aufgegeben. Vor allem also Verluste, wie immer abgemildert durch die Aussicht auf einen neuen Anfang, denn was bleibt anderes, als im Rückblick mit dem Vorgefallenen seinen Frieden zu machen, und eine Geschichte daraus?

1. Tag: Am Abend

Nora Budweis

In heilen Familien gedeihen die Kinder und sind schließlich so gut ausgestattet wie ihre Eltern für die Aufgaben des Lebens. Was auf der Hand lag und ihr auf der Zunge, hätte die Mehrzahl der vor ihr versammelten Eltern mehr verwirrt als erleichtert. Denn höchstens zwei der Elternpaare hätten diese offenbare Wahrheit als Lob auffassen dürfen. Allen Anderen wäre nichts geblieben als ihr schweigend und ratlos zuzustimmen. Sollten sie denn ihr Leben ändern?

Weil nicht gesagt werden durfte, was Sache war, hatte sie mit dem üblichen Gerede begonnen, und wie immer folgte dem Ausweichen vor dem Wesentlichen ein Tänzeln um Banales.

Ihr Blick lief prüfend über die Eltern. Ob sie bemerkt hatten, wie ihr Gedanke an deren Verhältnisse daheim ihr einen Moment lang den Glauben an die eigenen Worte geraubt hatte? War ihr Redefluss dabei ins Stocken geraten?

Ihren Stichpunkten folgend, hatte sie den Vortrag fortgeführt, die Inhalte im Fach Sachunterricht aneinandergereiht und mit jedem Wort mehr das Formelhafte ihrer Rede gespürt. Es in den pflichtschuldig aufmerksamen Gesichtern ihrer Zuhörer gesehen – und abrupt innegehalten, einen Augenblick der Stille verstreichen lassen. In den nächsten Sätzen sollte nichts an Vorwurf mitschwingen.

Sie hob an, mit mehr Kraft, mehr Dringlichkeit in der Stimme und bat die Eltern darum, mit ihren Kindern zu reden und ihnen die Welt zu erklären. Tag für Tag. Ohne viel Mühe könnten sie so die Bildung ihrer Kinder am wirksamsten befördern, weit über das Fach Sachkunde, ja über alles Schulwissen hinaus. Es klang, als hätten alle hier im Raum bislang versäumt, ihrem Nachwuchs das Essen mit Messer und Gabel beizubringen und als müsste die Lehrerin sie nun, verlegen angesichts dieser Aufgabe, daran erinnern.

Und es reichte offenbar aus, damit Jonas Mutter sich nun endlich erhob.

Mit dem Eintritt dieser Frau ins Klassenzimmer, vor einer Stunde, war ihr ein Maß an Misstrauen und Abwehr entgegengeschlagen, wofür ihr jegliche Erklärung fehlte. Sie kannten einander kaum. Da Jona keinen Anlass zu Sorgen bot, hatten sich ihre Zusammenkünfte bislang auf die kurzen Gespräche an den Elterntagen beschränkt.

Sie konnte sich an keinen Konflikt, nicht einmal an einen Meinungsunterschied während dieser Gespräche erinnern.

Doch mit jedem ihrer Worte im Verlauf des Abends schien sie die Unruhe der Frau zu verstärken. Auch ohne zu diesem braunen Ledermantel rechts vor der Fensterreihe hinzusehen, spürte sie, wie deren Anspannung in den Raum hineinschwang, über ihren eigenen Platz neben dem Pult hinweg. Wenn alle es merkten, würden sie es am Ende gegen die Lehrerin wenden?

Gegen ihren Willen sprang ihr Blick immer wieder zu der Frau hin. Wie der Kopf eines mageren Huhns, verängstigt und gefangen in dem viel zu großen, klobigen Mantel, ragte der schmale, hagere Kopf daraus hervor. Die Hände flatterten hin und her, und der Kopf zuckte auf, ohne dass sie begriff, worauf dieser Körper wie aufgeschreckt reagierte. Um dieser Willkür zu entgehen, zwang sie sich, ihren Blick fest auf die Mitte des Klassenraums zu richten – bis er ihr doch entwischte hin zu der Bank zwischen ihr und der Fensterreihe.

Nun stand Jonas Mutter aufrecht da, wenig mehr als eine Armeslänge von ihr entfernt. Beide Seiten des wuchtigen Mantels zog sie eng um den knochigen Körper. Ihre dünnen Arme und die mädchenhaft feinen Handgelenke ragten seltsam nackt aus dem schweren Leder hervor. Die Finger fest darum angespannt, die Knöchel in hellem Weiß unter der Haut – eine noch junge, zartgliedrige Frau. Die straff nach hinten gebundenen Haare ließen den kleinen Kopf noch härter, fast ausgezehrt wirken.

Jonas Mutter zwang sich dazu, jetzt vor allen Eltern zu sprechen. Dieser Auftritt musste etwas beweisen, das spürten alle hier im Raum. Aber allein ihr galt der drohende Angriff. Wie sollte sie sich davor schützen, kannte sie doch weder dessen Grund noch das Ziel?

Jonas Mutter setzte an zu ihrer Rede, in dem nun völlig stillen Klassenraum.

„Vielen Dank, Frau Budweis, für diesen Überblick der Themen des Sachunterrichts. Vielleicht habe ich es ja überhört, aber mir fehlte die Nennung der Verkehrserziehung. Gehört es nicht auch in dieses Schuljahr, die Kinder in die Regeln des Straßenverkehrs einzuweisen?“

Sie wusste nichts zu antworten – so wenig stimmten Inhalt und Inszenierung dieser Frage überein. Da stand ihr diese Frau gegenüber, gewappnet gegen jede Gefahr in ihrem unförmigen, schweren Mantel, voller Angriffseifer in dem blassen Gesicht und mit so viel Grimm in der Stimme, als hätte sie ihrem Sohn ein schlimmes Unrecht angetan – und fragte, ob sie als Lehrerin den Kindern gezeigt habe, wie man eine Straße überquere. Es gelang ihr, allen Eltern mit freundlichen Worten ruhig Auskunft darüber zu erteilen, dass alle Kinder die für sie relevanten Verkehrsregeln verlässlich kannten.

Herr Winter und Nora Budweis

Schon seit einer halben Stunde saßen alle zusammen. Klar, sie kam als Letzte ins Lehrerzimmer. Kein Wunder, den Neuen fehlte es an Erfahrung. Da reichten ein paar banale Einwände. Schon nahmen die Eltern das Heft in die Hand, bevor so eine überhaupt begriff, was lief. Einen Elternabend führte man straff und mit klarem Plan. Fragen wurden nur begrenzt zugelassen und Beschwerden am besten ignoriert.

Vor Ablauf einer Stunde war alles abgehandelt. Für den Rest gab es den Verweis auf die wöchentliche Sprechstunde.

Er stand auf und ging ihr entgegen.

„Und, haben Sie es gut überstanden?“

„Ja, danke, ich glaube, es lief ganz gut.“

„Hat aber ziemlich lange gedauert, oder?“

„Ja, ich habe ihnen gesagt, dass sie mit ihren Kindern reden, ihnen die Welt erklären sollen.“

„Na, das klingt nach Konflikt!“

„Muss man wohl ab und zu mal riskieren.“

„Wenn es denn was nützt.“

„Hört sich ziemlich resigniert an, Herr Winter.“

„Oder nach Erfahrung, nach fünfunddreißig Jahren im Schuldienst.“

„Haben Sie eigentlich nie daran gedacht, mal etwas anderes auszuprobieren?“

Das war keine Frage, sondern ein Urteil über seinen Werdegang. Es lag ihr nichts daran, es abzumildern, herausfordernd sah sie ihn an. Fuhr sich mit der Hand durch die strubbeligen Haare, als bräuchte es das jetzt noch, um ihm zu zeigen, wie flott und jung sie ihm gegenüberstand, dem trögen, biederen Beamten. Er hatte es nachgelesen, sie waren tatsächlich gleich alt.

In diesem Moment trat Fronz auf sie zu. Als Schulleiter hielt er es wohl für seine Aufgabe, sich bei der Neuen nach dem Verlauf ihres ersten Elternabends zu erkundigen.

Er ging zurück zu seinem Platz und packte seine Unterlagen zusammen. Sie brauchte keine Hilfe, das zeigte sie allen deutlich genug, drehte es sogar noch um. Von der Lebenserfahrung der Neuen konnten doch alle hier, die nichts anderes als Schule kannten, nur profitieren. So gewann man keine Freunde. Es war nicht seine Sache, ob sie es noch früh genug merkte.

Nora Budweis

Zwei Stunden später, zuhause am Küchentisch, schob sich Jonas Bild über den Auftritt seiner Mutter. Kleiner und zarter als seine Altersgenossen, weckten der Körper des Sohnes und der der Mutter den gleichen Eindruck. Auch die oft ziellosen, unruhigen Bewegungen, die ständig beschäftigten Hände, das Rutschen auf dem Stuhl, und wie sein Kopf da und dorthin schnellte, um bloß nichts davon zu verpassen, was hinter seinem Rücken in der Klasse passierte – es fügte sich nun wie von selbst an die Eigenarten der Mutter.

Jona lag nichts daran, sich seinen Anteil am Gespräch in der Klasse zu erkämpfen. Die anderen antworteten eh meist schneller, vor allem auf jene Fragen, die in Jona Gedanken zu entlegenen Feldern weckten. Selten gelang es ihm, die anderen mit seinen Überlegungen zu beeindrucken, mit Bemerkungen, die ein verblüffend kluges Denken verrieten. Und die zeigten, dass Jona in seinem Nachdenken nach allem griff, was ihm die Erwachsenen dazu Nützliches boten. Denn um sich verständlich zu machen, gebrauchte er oft ganze Sätze, oder Redewendungen, wortwörtlich von einem Großen übernommen, so wie man Steine in eine große Pfütze wirft, um trocknen Fußes hinüberzukommen.

Hübsch war er nicht, das Gesicht zu mager und zu spitz, zu kantig der ganze Junge. Es hatte Wochen gebraucht, bis er sich von ihr hatte in die Arme nehmen lassen, so wie sie es mit den anderen Kindern oft und gedankenlos tat. Seine Haltung und sein Blick ließen keinen Zweifel daran, wie misstrauisch er den Umgang der neuen Lehrerin mit den Kindern beobachtete. Aufmerksamer als alle anderen hörte er zu, wenn sie aus ihrer eigenen Kindheit erzählte. Noch Wochen später wusste er unbedeutende Einzelheiten dieser Erzählungen exakt zu wiederholen.

Alle Kinder liebten diese Geschichten. An langen, müden Tagen gab sie oft der Versuchung nach, diese kleinen Abenteuer als Belohnung in Aussicht zu stellen, um die Kinder in der letzten Stunde nochmals anzuspornen. Dabei schnurrte ihr Vorrat schon während der ersten Monate schnell zusammen. Absichtslos entstand Neues, kam wie von selbst hinzu, und immer öfter umschrieb sie Erlebtes mit Blick auf die Kinder neu. Was zu wenig hergab, um die Klasse zu beeindrucken, ließ sich mit ein paar Zutaten leicht wirkungsvoll ausschmücken. Bei anderen Erinnerungen strich sie im vorhinein weg, was den Kindern bloß Angst eingeflößt hätte. Da gab es genug an Situationen, in denen sie gewaltsame Übergriffe Erwachsener beobachtet oder sich selbst ihrer Haut rücksichtslos hatte wehren müssen. Die riskanten und schließlich bestandenen Abenteuer wurden gefährlicher, und was sie übermütig frech gewagt hatte, das putzte sie auf zu glänzenden Erfolgen vor den staunenden Geschwistern und Eltern.

Dieses Auswählen und inszenierte Erzählen verwandelte die Geschichten. So wie das niemals Stattgefundene die Kinder viel stärker fesselte als es das wahrhaft Erlebte jemals gekonnt hätte, gefiel es ihr selbst am Ende besser als das von der Erinnerung Beglaubigte. War es zwar tatsächlich, aber letztlich nicht doch bloß zufällig geschehen?

Ihre anfängliche Gewissenhaftigkeit, zwischen Erfindung und Erinnerung streng zu trennen, verlor sich bald und immer mehr in einem bedenkenlosen Vermischen. Vor wem galt es denn noch Rechenschaft abzulegen, die Wahrheit zu achten? Die Menschen dieser Zeit lebten entweder nicht mehr oder hatten es längst vergessen – oder die Augenblicke nie erkannt, an denen sich damals mitten im Dorf an einem gewöhnlichen Tag plötzlich ein schmaler Spalt auftat für ein Kind, das nach einem Abenteuer suchte und es schon nach einem Schritt fand.

Hatte es damals begonnen, mit dieser Neugierde, die dahin drängte, wo dem Kind zwischen den Großen etwas merkwürdig erschien und das leichthin und bedenkenlos in seiner Phantasie hinzutat, was es verpasst oder nicht verstanden hatte?

Vor ein paar Jahren hatte sich ein Gespräch mit ihrem Bruder als vollkommen fruchtlos erwiesen, als sie nach einem Einverständnis suchten, über dieses und jenes Vorkommnis der gemeinsamen Kindheit.

Zweifellos hatte es die alte Frau im Nachbarhaus gegeben, die wochenlang darauf warten musste, dass der Tod sie endlich holte – auch die Familie der langsam Sterbenden war das Warten leid. Tagsüber lag die Frau alleine in ihrem Zimmer, in dem stillen Haus, wenn alle anderen ihrer Arbeit nachgingen.

Zu zweit waren sie die knarrenden Stufen der Holztreppe hinaufgestiegen, zitternd vor Angst, weil es ihnen verboten war, das Sterbezimmer zu betreten, und ganz beklommen, weil sie doch dem Tod mit jeder Stufe näher kamen.

Hand in Hand waren sie durch den langen, dämmrigen Flur geschlichen, bis zur Tür der Alten – und es war abgesprochen, wer nach der Klinke griff und die Tür leise aufdrückte und wer als Erster bis zum Bett hinsprang –, und dann entschied es sich, ob die Mutprobe gelang und die Mädchen es wagten, ganz schnell und flüchtig über die eingefallene Wange der Alten zu streichen oder ob deren Anblick sie schon an der Türschwelle zurückweichen ließ – wie die Sterbende dalag, ein kleines Weiblein, um den Kopf wand sich ein langer, grauer Zopf, und aus dem Mund stieg ein leises Röcheln oder mattes Atmen. Es roch nach Tod, was den Kindern da an abgestandener Luft, dem Gemisch von Medikamenten und Weihrauch und dem Geruch der Todkranken entgegenschlug, und bis zum letzten Moment an dieser Schwelle wussten sie nicht, ob sie es schafften oder sogleich die Tür mit einem festen Ruck wieder zuwarfen, jetzt ohne Rücksicht auf den Zustand der Alten, durch den Flur die Treppe hinab stürmten und über den Hof rannten, ins Dorf hinein, bis zu Leuten auf der Straße, die weder die erhitzten Gesichter der Mädchen bemerkten noch aufsahen, wenn die zwei den Katzen nachjagten, um sie an den Schwänzen zu ziehen, böse über ihr feiges Zurückweichen schon an der Tür.

Und da fragte Jonas Mutter, ob sie den Kindern beigebracht habe, nach links und rechts zu schauen, vor dem Überqueren der Straße. Hatte Jona ihr von den Abenteuern seiner Lehrerin als Mädchen erzählt? Mit glänzenden Augen und voller Begeisterung? Lag darin der Grund für den Eifer der Frau, ein Versäumnis, einen Fehler zu finden, um sie vor allen bloßzustellen? Im Neid auf einen Sack voll unglaublicher Geschichten?

Unendlich fern erschien den Kindern ihr freies Aufwachsen in der kleinen Gemeinschaft des Dorfes vor fünfzig Jahren, angesichts ihres eigenen Alltags inmitten einer Stadt wie Frankfurt. Sie vergaßen, dass sie hinter ihren Bänken in der Schule saßen, wenn ihre Lehrerin zu erzählen begann.

Vieles, und das Wesentliche dieser Zeit, war in ihrem Dorf, so wie überall, längst vergangen, und wem daran lag, die damaligen Erfahrungen erinnernd und erzählend zu bewahren, gab meist, so wie sie selbst, zuviel an Sentimentalem dazu.

Bernhard

Sie jetzt unbedingt glauben lassen, er höre ihr aufmerksam zu – was nicht gelang und ihrem Unmut bloß noch mehr Futter gab. Sie griff nach seinem Arm, als hielte er darin eine andere fest und zog ihn dicht zu sich heran.

„Eine hysterische Zicke, das hättest Du doch gedacht, wärst Du dabei gewesen, was?“

Er schüttelte bloß stumm den Kopf – für sie in diesem Moment unerträglich, ihre Streitigkeiten folgten einem erstaunlich vorhersehbaren Muster. Da war wenig, um sie jetzt zu beruhigen – was versöhnlich genug klang, galt sofort als gelogen.

„Ist es Dir eigentlich egal, ob sie den Kindern irgendwelches Schauerzeug erzählt oder ordentlichen Unterricht macht?“

„Welches Schauerzeug denn?“

„Ja, genau, so viel hörst Du Deinem Sohn zu! Wann hast Du ihn eigentlich zum letzten Mal ins Bett gebracht?“

„Heute, Du warst ja nicht da.“

„Und davor?“

„Gestern.“

„Oh, Glück gehabt, dass ich mal zwei Abende weg war.“

Er nickte.

„Das ist also ein Glück für Dich, Abende ohne mich!“

„Das sagst Du.“

„Und Du hast’s gedacht.“

„Katja, erzähl mir morgen in Ruhe, was in der Schule los war!“

„Wann? Beim Frühstück, mit Jona?“

„Okay, dann morgen Abend – oder hast Du morgen wieder was vor?“

„Du hast morgen Abend Stammtisch, und ich werde nicht warten, bis Du heimkommst.“

„Stimmt ja. Aber morgen früh, ich glaube, da ist Zeit, zwischen zehn und elf, da rufe ich Dich mal an.“

„Und Du denkst, ich sitze da und warte auf Deine Anrufe?“

„Lassen wir’s für heute, Katja.“

Bernhard stand auf, tat die paar Schritte bis zur Tür und ließ Katja in der Küche zurück, ohne sich nochmals nach ihr umzudrehen.

Katja

Sie hörte seine Schritte die Treppe hinauf bis ins Badezimmer, hörte das Fließen des Wassers ins Waschbecken, trug sein Glas zur Spüle und ließ ihres und die Flasche auf dem Tisch.

Von der Anrichte aus glitt der Blick die gesamte Straßenflucht entlang, bis zu ihrem Ende, einem jetzt im Dunkel der Nacht verborgenen, kleinen Park. Lehnte sie sich etwas über die Anrichte hinaus, konnte sie durch schmale Fensterausschnitte in die erleuchteten Wohnungen des Nachbarhauses sehen. Sie ließ ihre Augen entlang der Häuserfassaden zu beiden Seiten der Straße wandern und erfasste in Sekunden die noch hellen Fenster, die Zahl der noch wachen Nachbarn.

Ob sich Leute in den Räumen bewegten, war von keinem Platz in der Küche aus zu erkennen. Immerhin, die Flecken Licht verkündeten die Nähe von Menschen. Sie verbrachten den Abend zuhause, ebenso wie sie selbst, mit diesem und jenem beschäftigt, waren dem Getriebe da unten auf den Straßen entronnen, nach der Arbeit nach Hause gekommen und teilten hier oben, mitten in der Stadt, einen geschützten Raum miteinander. Ihre Wohnungen lagen im sechsten Stock.

Wie schön wäre es, gäben sie sich ab und zu ein Zeichen, kämen an die Fenster und winkten sich zu, und mit der Zeit wüchse ein stummes Einverständnis ihrer Gemeinschaft.

Seit sie kein Kind mehr war, hatte Katja in vielen Wohnungen zur Miete gewohnt, aber in keiner davon so gut und gerne wie in dieser hier. Gleich zu Anfang, als Bernhard sie zum ersten Mal durch diese Straßen führte, hatte das Viertel ihr versprochen, hier zur Ruhe zu kommen.

Erbaut zu Anfang des vergangenen Jahrhunderts, hatten die meisten der Häuser die Zerstörungen des Krieges unbeschadet überstanden. Die heutigen Besitzer besaßen offensichtlich genug Geld und Geschmack um zu bewahren, was den Häusern ihr Herrschaftliches gab. Die stuckverzierten Decken, die mit kleinen Fenstern versehenen alten Türen zwischen den Räumen, die Parkettfußböden, die Bordüren und Ornamente im Treppenhaus, es gefiel Katja, ganz ohne Zweck von einem Zimmer ihrer Wohnung ins nächste zu gehen.

Könnte jene Frau, die vor hundert Jahren hier lebte, ihr auf diesen Wegen folgen, würde es sie vermutlich irritieren, dass eine wie Katja müßig in ihrer Wohnung herumspazierte.

Selbst den Weg zur Arbeit genoß Katja, vorbei an den Fassaden, die sich eine an die andere reihten, jede ein kleines Kunstwerk mit ihren Verzierungen, den hohen Fenstern und den dezent abgestimmten Farben. Sie war dankbar, hier wohnen zu dürfen.

In den Jahren vor der Heirat hatte sie solche Stadtteile manchmal erkundet, war im Sommer abends ziellos durch solche Viertel spaziert und hatte es sich vorgestellt, in diese erleuchteten, hohen Räume zu gehören. Wände und Decken trennten feine, helle Simse, da gab es elegante Sessel unter weit geschwungenen Leselampen vor hohen, dicht gefüllten Bücherregalen. Wer dort seine Abende verbrachte, der hatte seinen Platz in der Welt gefunden. So dachte sie damals.

Sie wusste, dass sich Bernhard daran freute, ihr diesen großen Wunsch erfüllt zu haben. Manchmal sah er sie an, so wie Große darüber staunen, womit man Kinder glücklich machen kann.

Als es dann Jona gab, machte sie sich einen Spaß daraus, so zu reden, als sei sie selbst eine der Nannys, neben denen sie damals die Nachmittage am Rande eines Sandkastens verbrachte. Dann ging es ganz leicht, an deren Gespräche anzuschließen, zumal bei den meisten der Mädchen, aus dem Osten Europas, die Sprache kein Hindernis war. Auch nach Geburt und Schwangerschaft sah sie jung und schlank aus wie zuvor, was ein Letztes dazu tat, von den Kindermädchen arglos als ihresgleichen angenommen zu werden.

An Elternabenden ließ sich kein Elternpaar aus diesem Viertel von einem Kindermädchen vertreten. Heute war lange genug Zeit gewesen, sich vor ihrer Frage an Frau Budweis die versammelte Elternschaft gründlich anzusehen.

Niemals wäre sie aufgestanden, wäre sie sich nicht sicher gewesen, dass ihr Verweis auf den Lehrplan im Notfall genug Unterstützer fände. Obwohl Frau Budweis ihre Frage geschickt abgelenkt hatte, zeigten ihr nachher, draußen auf dem Flur, ein paar Eltern so viel Zustimmung, dass sie Katja verstohlen zunickten. Ein kleiner Sieg, genug für den Anfang.

Bernhard

Sie hatte Recht mit ihrem Vorwurf, was kein Grund war, ihr zuzustimmen.

Keiner hatte Schuld daran, dass sie zum ersten Mal erlebte, was er nach dem dritten Kind endgültig hinter sich gelassen hatte. Die Erleichterung nach Judiths Abitur. Trotzdem Jona ein guter Vater, ohne einen Gedanken an den täglichen Schulkrempel.

Sich Ausstrecken im Bett, das kühle Laken über die nackten Beine, den Bauch, bis zur Brust.

Wie immer ein Fehler, aus Trägheit den Abend lang im Wohnzimmer zu sitzen und auf sie zu warten, wie immer kam sie zurück, verbohrt in den Gedanken, als Einzige die Missstände erkannt und benannt zu haben, die alle anderen aus Bequemlichkeit übersahen. Keine Ahnung, warum und seit wann ihr Selbstverständnis vor allem darin bestand, am Rande zu stehen und mehr und klarer zu sehen als der ganze Rest.

Vertane Zeit, nach einer Antwort darauf zu suchen. Auch ohne Antwort, ohne Erklärung war sie ihm mittlerweile ganz geheimnislos geworden. Nach knapp neun Jahren der seltsame Eindruck, schon seit Ewigkeiten klar zu sehen, wie sich da verdichtete und gegenseitig bestärkte, was wahrscheinlich schon prägend für den Anfang gewesen war. Ihre Familie hatte ihn nie groß interessiert.

Wahrscheinlich zahlte er nun dafür – für zu wenig an Interesse und an Menschenkenntnis, hätte es sonst von Anfang an klarer eingeschätzt, ihren zähen Willen, unbedingt das Eigene durchzusetzen, selbst wenn sie sich damit nur Abwehr einhandelte. Ein Trotz, aus der Angst heraus, einer könnte entdecken, was sich hinter ihren Auftritten versteckte. Einfache Muster, sicher tat er ihr Unrecht, aber sie gab ihm auch keinen Anlass, seine Einschätzung zu ändern.

Im Radio eine sonore Männerstimme, es ging um die ersten Siedlergruppen, deren Aufbau des jungen Staates Israel gegen alle Widerstände, und um den tiefen Glauben der Exilierten, endlich eine Heimat gefunden zu haben, und um ihren Eifer, mit dem sie die steinige Erde umgruben.

Karl

Am ersten Abend alleine in der Wohnung ging er von einem Zimmer ins andere. Es brauchte Zeit, bis er endlich einen Platz oder besser eine Beschäftigung fand. Etwas, so leicht, dass es keine gedankliche Mühe verlangte. Zugleich musste es so angenehm oder doch interessant sein, dass er dabei Mia zwar nicht vergaß, aber etwas hinzukam, zu der Angst um sie.

Auf dem Tisch im Wohnzimmer lag der Artikel. Ein früherer Kollege hatte ihn um eine Korrektur gebeten ohne zu wissen, wie es um ihn stand. Was er wusste, schöpfte er aus dem Vergangenen. Die Diskussionen in seinem Fach verfolgte er schon lange nicht mehr.

Bevor er mit der Arbeit begann, kehrte er zurück in die Küche. Mia hat es ihm gesagt, er solle den kleinen Dingen und Verrichtungen mehr Aufmerksamkeit schenken. Er hätte sich sonst keinen Tee gekocht, so spät am Abend. Beim Lesen und Schreiben trank er nie etwas.

Mia wollte ihn beschäftigen, mit Kleinkram seine Tage füllen. Sie selbst hatte eine andere Strategie gehabt, für die Tage, wenn er auf Dienstreise gewesen war. Dann zog sie eines seiner Hemden aus dem Wäschekorb an und trug den Abend und die Nacht lang seinen Geruch und ihre Traurigkeit mit sich herum, ihn für ein paar Tage nicht bei sich zu haben.

2. Tag: Am Nachmittag

Nora Budweis

Noch immer gab es diese Sorte Russinnen, die auftraten, als sei eben erst der Eiserne Vorhang gefallen und als müssten sie mit dunklen Wimpern, gefärbten Haaren und engen Blusen einen Westler für sich gewinnen. Damit fing Valentinas Unglück an. Bunte Stifte, rosa Hefte und glitzernde Mäppchen füllten Valentinas Ranzen, und jeden Morgen brachte die Mutter ihr Kind bis vor die Klassentür, wollte alles gut machen, Valentina sollte hinter keinem anderen zurückstehen.

Sie konnte ihren Blick kaum lösen von den langen, dunkellila lackierten Fingernägeln. Die Lernziele im Fach Deutsch erklärend, schienen ihr mit jedem Moment mehr ihre Worte völlig vergeblich, angesichts dieses Kunstwerks von Nägeln, an deren Spitzen silberne Sternchen glänzten. Immer wieder entschuldigte Valentinas Mutter die fehlende Zeit, die Tochter angemessen zu unterstützen, mit der großen Anstrengung, die es verlangte, als alleinerziehende Mutter einen Kosmetiksalon zu führen.

Und dies als Russin – wobei Nora Budweis nicht wusste, wie sie die wiederholte Betonung dieses Umstands deuten sollte, zumal sich ihr der Eindruck aufdrängte, als schöpfte Valentinas Mutter bereitwillig andere als ihre begrenzten verbalen Mittel aus, um es zu beschleunigen, ihre Vorhaben umzusetzen. Von einer solchen Art des Frauseins, wie sie es zu nutzen schien, hatten sich ihre deutschen Altersgenossinnen aus guten Gründen schon vor Jahrzehnten verabschiedet, trotz seiner unbestreitbaren Vorteile. Sie schätzte ihr Gegenüber auf Ende vierzig ein.

Umso mehr irritierte der Gedanke – und er kehrte hartnäckig wieder im Verlauf des Gesprächs –, dass es da unverhofft viel Gemeinsames gab zwischen ihnen beiden, sah man ab vom Unterschied im Alter und dem ungleich höheren Aufwand, den die Pflege ihres Äußeren von Valentinas Mutter verlangte.

Vor allem Valentina, ihr Wohl lag ihnen beiden am Herzen. Beide setzten sie viel daran, dem Mädchen dabei zu helfen, sich aus der Welt der Mutter zu befreien. Denn das spürte selbst diese Frau, dass Valentinas Neugierde auf das Leben, ihr wacher, klarer Geist und ihre Freude am Lernen zwischen Körperlotionen und Waxing-Sets ins Leere lief.

Einen Moment lang ließ sie ihren Blick über die Bänke in der Klasse gleiten. Kaum eines der Kinder trat in die Welt hinein, ohne dass ihm seine bisherigen Jahre mehr Last auflegten als ihm das nötige Zutrauen dafür zu geben.

Das Mobiltelefon klingelte. Valentinas Mutter zuckte zusammen, griff in ihre Tasche und schaltete es unbesehen ab.

Ebenso wie bei dieser Frau gab es keinen Mann an ihrer Seite. Und beide lebten sie als Zugezogene in dieser Stadt, ohne den Beistand einer Familie oder alter, langjähriger Freunde. Valentinas Mutter war vor fünf Jahren einer groß geglaubten Liebe hierher gefolgt. Nora Budweis war aus profaneren Gründen nach Frankfurt gekommen, der Arbeit wegen, und hatte zuvor ebenfalls als Selbstständige ihr Auskommen alleine bestritten, wenn auch mit bescheidenem Erfolg. Und Valentinas Mutter hatte keine Scheu zu bekennen, was sie mit der Erfahrung von heute nur unbedacht nennen konnte, die Fehlschläge der Jugend eben. Ja, am Ende ließ sie für Sekunden ihre Hand auf dem Arm von Valentinas Mutter ruhen, um sie im Vertrauen in die Zukunft der einzigen Tochter zu bestärken, und in den Erfolg ihres Nagelstudios.

Eine kurze, wortlose Stille zwischen den beiden Frauen, und ihre faltig-trockne, schmucklose Hand auf dem glänzenden Leder der grünen Jacke, die Valentinas Mutter während des Gesprächs anbehalten hatte. Wahrscheinlich hätte sie weniger Gemeinsamkeiten gefunden, wäre es ihr in den Sinn gekommen, sich mit der nun so unverhofft netten Lehrerin zu vergleichen.

Valentinas Mutter verabschiedete sich, stand auf, ging bis zur Tür und hielt nochmals inne. Drehte sich um und setzte mit fast ängstlicher Miene zu einer Frage an.

„Also jeden Abend zusammen die Hausaufgaben anschauen, das wäre gut?“

„Ja, aber nicht nur anschauen. Lassen Sie sich von Valentina erklären, was die Aufgabe war. Dann sehen Sie ja, ob sie auch alles verstanden hat.“

„Ja, ja, so werde ich es machen.“

Da gab es noch etwas, wozu es Valentinas Mutter drängte. Ihr Blick sprang zu Valentinas leerem Stuhl, als könnte die abwesende Tochter ihr dabei helfen.

„Nochmals vielen Dank, dass Sie sich so viel Zeit genommen haben, und Danke für alles, was Sie für Valentina machen.“

„Das ist doch meine Aufgabe.“

Nora Budweis gab ihrer Stimme einen festen Klang, gegen die scheue, fast unterwürfige Haltung, in der Valentinas Mutter da in der Tür stand.

„Trotzdem, Sie machen es sehr gut. Valentina mag sie sehr.“

„Ich mag sie auch.“

Die Tür schloss sich hinter der Frau. Sie hörte dem hellen, tippenden Klang der Schritte auf den Dielen des Flurs nach.

Allen schenkte sie die Zeit, die es brauchte, bis die Väter oder Mütter – selten erschien ein Elternpaar zu zweit – schließlich nach der Türklinke griffen, um sich zu verabschieden. Die meisten hielten an der Schwelle nochmals inne, um in ein paar Sätzen zu wiederholen, was zuvor im Gespräch erschöpfend und lange ausgelotet worden war.

Der Kinder wegen ließ sie die Eltern reden. Getragen von deren Vertrauen, schlenderten die Kinder frühmorgens über den Hof, die Treppe hinauf, während der paar Minuten, die zwischen dem Abschied von den Eltern und den Worten lagen, mit denen ihre Lehrerin sie begrüßte.

Während sie ihre Papiere ordnete und in ihre Tasche packte, klopfte es an der Tür. Wahrscheinlich ein Schüler, der etwas vergessen hatte.

Herr Fronz steckte den Kopf in das Klassenzimmer, die Tür schob er nur einen schmalen Spalt nach innen.

„Frau Budweis, hätten Sie noch einen Moment Zeit für ein Gespräch in meinem Zimmer?“

„Muss es jetzt sein? Ich wollte gerade gehen.“

„Es wird nicht lange dauern.“

Im Ton seiner Stimme mischten sich Dringlichkeit und Sorge. Sie nickte ihm zu.

„Gut, ich komme gleich.“

„Danke.“

Der Kopf des Schulleiters verschwand.

Nach dem Unterricht verbrachte sie gerne noch eine Weile alleine in dem leeren Klassenzimmer. Sie rief sich Szenen des Vormittags zurück und sah sich dabei zu, wie sie zwischen den Bänken hin- und herging und sich zu diesem oder jenem Schüler hinabbeugte.

Am Abend

Bernhard

Keine Zeit, um Katja anzurufen, weder am Morgen noch im Verlauf des Nachmittags – nach der letzten Sitzung, ergebnislos in die Länge gezogen, vom Büro aus gleich in die Stadt zum Stammtisch.

Freunde seit dem Studium, und noch vor ein paar Jahren eine witzige Kegelrunde, mittlerweile bloß noch ein treuer Debatierclub. An ihrem Alter lag es nicht, sondern am Verschwinden der alten Gasthäuser mitsamt ihren Kegelbahnen, seit Langem nicht mehr rentabel. Kegeln lief nur noch bei großen Gruppen, die ordentlich tranken und aßen. Kleine Altherrenrunden, mit drei, vier Flaschen Wein einen ganzen Abend lang, waren kein Geschäft.

Ihre Arbeit war kein Thema mehr, trotz des gleichen Studiums und ähnlicher Aufgaben ihr Leben lang, kein Feld mehr, für das noch einer Ehrgeiz aufbrachte. Bei Johannes und Robert, in Vorbereitung auf den Ruhestand, die entscheidende Frage, wie sie die kommenden Jahre sinnvoll füllen sollten. Felix kannte die Freiheit des Rentners, Annes Tod hatte ihm die Freude daran verdorben. Jona eine gute Entschuldigung, solchen Gesprächen noch eine Weile bloß still zuzuhören. Ebenso wie Anton bekam er den Spott der Runde ab, vor dem Alter abzuhauen, mit einer jungen Frau und einem kleinen Jungen an der Seite. Antons Zwillinge nur ein Jahr älter als Jona, für seinen zweiten Anlauf hatte Anton anscheinend die Richtige gefunden. Robert fehlte, wie oft in letzter Zeit, hatte das Segeln entdeckt und die dazu passenden fernen Länder.

Auch Karl war nicht da, teilte wahrscheinlich bald Felix Schicksal.

„Geht es Mia wieder schlechter.“

„Ja, sie ist wieder im Krankenhaus. Sie wissen nicht, ob eine weitere Operation noch lohnt.“

Bald der dritte Witwer in der Runde, Robert und Felix hatten ihre Frauen schon vor ein paar Jahren verloren. Er sah zu Felix hin, der erriet sofort seine Gedanken.

„Vier Jahre ist es jetzt her, und oben auf der Garderobe liegt noch immer ihr Hut.“

„Der blaue Hut, mit dem dunkelroten Band dran, auf unserem letzten Ausflug zu dritt zum Matternsee hatte sie ihn auf.“

„Daran kannst Du Dich noch erinnern, Bernhard ?“

Eben wieder der Gedanke an einen alten, kleinen Vogelkopf, die spitze Nase, die kleinen Augen, die schlecht rasierte, stopplige, faltige Haut – glitt jetzt weg und Felix sah zu ihm hin, munter wie früher, und Bernhard dankbar dafür, wem auch immer.

„Und um ihren Fahrradkorb hatte sie knatschgelbe Plastikrosen gebunden. Steht das Rad noch bei Dir im Keller?“

Felix nickte, und ihm fiel bloß einer der üblichen Sprüche ein.

„Immer trifft es die Falschen, Anne war ’ne tolle Frau.“

Felix lächelte, nahm es ihm nicht krumm – ein Bruder hätte ihm nicht lieber sein können als der Freund.

Wie immer am Ende sie beide allein, und noch ein Glas Wein zu zweit, als die anderen längst heimgegangen waren. Auf Felix wartete keiner mehr, und Katjas Vorwürfe von gestern Abend musste er heute nicht wieder haben.

Was sie alles schon gesammelt hatten, um Monate oder Jahre später den ganzen Krempel einfach wegzuwerfen.

„Eine Zeit lang waren wir alle scharf auf die Motive der Streichholzschachteln.“

„Habt Ihr auch die Bananenaufkleber gesammelt und in den Atlas geklebt, auf die Weltkarte?“

Er schüttelte den Kopf. Ein Gespräch über Bananenaufkleber, zu nichts anderem gut, als noch eine halbe Stunde zusammenzubleiben, ohne viel Aufwand zu treiben – wem konnte man so was erzählen!

Auf dem Tisch das runde Messingschild mit der Aufschrift „Stammtisch“, und die Glocke daran, an der Kette aus kleinen Metallkugeln. Nach Roberts Einfall, die Glocke loszuschrauben, um mit den glatten Kügelchen zu spielen, den ganzen Abend lang hatte er sie zwischen den Fingern gerieben, war die Glocke mitsamt ihren Kugeln durch die Hände der ganzen Runde gewandert.

Als Junge immer ein paar Murmeln in der Hosentasche, brauchte jeden Tag was zum Tauschen.

3. Tag: Am Morgen

Katja

Jona glich seinem Vater. Wie Bernhard löffelte er schweigend sein Müsli und ließ Katjas Fragen an sich abgleiten. Wie Bernhard kümmerte es ihn kaum, worum ihre Gedanken tagelang kreisten. Suchte Katja nach einem Heft in seinem Ranzen, stand ihr Bernhards Aktentasche vor Augen. Und sie kippte den Inhalt des Ranzens auf den Boden und stopfte verbissen altes Butterbrotpapier und bekritzelte Blätter in den Abfalleimer.

„Soll ich Dir das Gedicht nochmal vorlesen, zur Sicherheit?“

Jona winkte stumm ab.

„Bist Du sicher, dass Du es kannst, alle drei Strophen?“

Jona nickte, griff nach seiner Vesperbox und glitt vom Stuhl. Auf dem Boden kniend, versuchte er sie zwischen Mäppchen und Hefte in seinen Ranzen hineinzuquetschen.

„Ich komme Dich heute schon nach dem Essen holen.“

„Wieso?“

Sein ganzer Unwillen floss in dieses kleine Wort. Sein Kopf schnellte hoch, nichts als Misstrauen schlug ihr entgegen.

„Weil ich um zwei Uhr einen Termin in der Schule habe. Da passt es doch gut, wenn Du gleich mitkommst. Wäre doch blöd, zwei Mal hin- und herzufahren.“

Jona stand auf, griff nach dem Ranzen und verschwand stumm nach draußen in den Flur. Katja hörte ihn langsam die Treppe hochsteigen. Genauso kampflos fügte sich Bernhard Katjas Entscheidungen. Bei beiden lag die Schwelle hoch, unterhalb derer ein Aufbegehren die Mühe nicht lohnte.

Es blieben ein paar Minuten hier am Tisch, bis zu Jonas Rückkehr.

Und wieder fing der Gedanke sie ein, mit einem kleinen Mädchen glücklicher geworden zu sein. Der Wunsch nach einem Kind war der Wunsch nach einem Mädchen gewesen, gleich nach Jonas Geburt hatte sie auf ein zweites Kind gedrängt. Am Ende wurde es zu einem Gemisch aus den stets gleichen Klagen und Vorwürfen. Stur wie selten, hatte Bernhard bloß wiederholt, dass nicht alle Mädchen redselig und anschmiegsam seien.

Mit einem Mädchen hätte sie erzählen können und eine Freundin fürs Leben gewonnen. Einem Mädchen hätte sie schöne Kleider gekauft und mit ihm stundenlang gemalt und gebastelt. Jona brachte schwarze, globige Kisten zustande und nannte sie Raketen oder Panzer. Seine Männchen sahen nicht viel besser aus. Da klebten streichholzdünne Ärmchen und Beinchen an den gleichen Kisten dran, nur bunt statt schwarz angemalt.

Sie hatte ein Buch gekauft, zum Zeichnen-Lernen mit Grundschulkindern. Heute Mittag war Zeit genug, um es mal wieder auszuprobieren.

Nora Budweis

Erst als die Kinder schon nach draußen drängten, in die Pause im Hof, begriff Nora Budweis, warum sie eben unverhofft zu erzählen begonnen hatte.

Gegen die Sorge hatte sie geredet, dass da von außen etwas hineingetrieben werden könnte, in ihre Verbundenheit mit den Kindern.

Einmal hatte der Nachbar ihr fünf Mark in die Hand gedrückt, weil sie ihm geholfen hatte, Äpfel aufzusammeln, kleine Äpfel, die tief im feuchten Gras lagen und eh nur dazu taugten, Most daraus zu pressen.

Fünf Mark waren ungeheuer viel Geld für ein sechsjähriges Mädchen gewesen, und doch ein gerechter Lohn, im Gras griff man nicht bloß nach Äpfeln. Es konnte auch der glitschige Körper einer Schnecke sein oder ein kalter, glatter Wurm, über den die Finger streiften. Ganz still wurde es in der Klasse, als sie aufzählte und beschrieb, welche Tiere sich in einer hohen Wiese am Ende des Herbsts versteckt halten konnten.

„Dann rannte ich mit dem Fünf-Mark-Stück in der Hand los, zum Platz vor der Kirche, wo Jahrmarkt war und in der Mitte das große Karussell stand, mit weißen Pferden, roten Feuerwehrwagen und einer goldenen Kutsche.“

Sie hielt inne und sah die Kinder an.

„Was meint Ihr, womit wollte ich fahren, wo bin ich drauf gestiegen?“

Slava sprang auf.

„Auf das Pferd, auf das weiße Pferd!“

„Ja, Slava, ich wollte bloß reiten. Und ich wusste, dass es verboten war, so viel Geld nur fürs Karussell auszugeben, ich musste mich ganz furchtbar beeilen. An der Kasse saß eine dicke Frau mit vielen bunten Tüchern um den Kopf. Ich schob ihr das Geldstück hin, und sie sagte: »Dafür gibt’s zwölf Fahrten, und weil Du’s bist, noch eine dazu.«“

Sie drückte mir einen langen rosa Streifen in die Hand, da hing ein Kärtchen am nächsten dran, und ich stieg auf den Schimmel und hielt mich fest an seinem Hals, und der Sattel war aus rotem, weichen Leder und ein kräftiger Mann mit einem buschigen Bart über den Lippen kam und ich streckte ihm den langen Streifen hin und er riss das erste Kärtchen ab. Und gerade, als er vor mir stand und ich auf seine Hand starrte – da war ein blauer Fisch gemalt, es war das erste Mal, dass ich eine Tätowierung sah –, kam hinter seinem Rücken einer angerannt, und ich wusste, dass es mein großer Bruder war. Er wollte mir mein Geld wegnehmen – da schob ich dem Mann schnell alle Kärtchen in die Hand, und die Musik begann, und das Karussell fing an, sich erst langsam und gleich immer schneller und schneller zu drehen und ich saß am höchsten von allen Kindern und flog mit meinem Pferd über den Kirchplatz und schaute auf meinen Bruder hinab, wie er mir nachsah, wütend und hilflos, und ich wusste, dass ich nachher viel Schimpfe bekam und es war mir ganz egal.“

„Bist Du alle Runden auf dem Pferd geblieben?“

Sophia wagte als Erste, in die gespannte Stille zu sprechen, mit leisem Flüstern.

„Ja, denn garantiert hätte mein Bruder mich vom Karussell gezogen, wäre ich von meinem Schimmel heruntergeklettert. Sogar die Beine klemmte ich unter den Sattel, damit er mich auf keinen Fall zu fassen bekam. Aber er hat’s trotzdem gemacht und sprang darauf, als das Karussell zum Stehen kam. Sofort kam der Karussellmann an und hat ihn weggejagt. Ich hatte ja für alle meine Fahrten bezahlt und gegen den Kerl kam mein Bruder nicht an.“

„Und Du warst echt erst sechs? Und keiner hat auf Dich aufgepasst?“

Sascha konnte es nicht glauben.

„Sascha, es gab ja kaum Autos auf den Straßen, da waren alle Kinder den ganzen Tag lang draußen, überall im Dorf. Nach der Schule liefen wir heim zum Essen, machten schnell unsere Hausaufgaben und rannten draußen herum, spielten, bis es dunkel wurde und unsere Eltern nach uns pfiffen.“

Es blieb ihnen unbegreiflich, so oft sie auch von jener Zeit erzählte. Dass ihre Lehrerin als kleines Mädchen Nachmittage lang im Wald verschwand, ohne dass es einem der Großen überhaupt aufgefallen war, lag zu weit außerhalb der Welt ihrer Vorstellung.

Im Lehrerzimmer schob Herr Winter seinen Stuhl dicht an sie heran.

„Und, wie geht’s?“

„Danke, gut.“

„Wirklich?“

Sie lehnte sich zurück und ließ ihre Augen prüfend über ihn gleiten, begann bei der breitrandigen Brille, streifte hinab, über das straff gespannte Hemd bis zu seinen wurstigen Händen und kehrte endlich zurück zu seinem Gesicht.

Lauerte hinter diesen insistierenden Fragen nach ihrem Wohlergehen die erhoffte Befriedigung zu hören, dass alle Weltkenntnis einer Quereinsteigerin nie und nimmer mit jenen Erfahrungen konkurrieren konnte, wie man sie am stets selben Platz über Jahrzehnte hin gewann?

„Haben Sie denn Grund, daran zu zweifeln, Herr Winter?“

„Frau Budweis, nichts findet schneller und verlässlicher seinen Weg als Gerüchte, in unserer Schule so wie überall.“

„Und, was hat man Ihnen zugetragen?“

„Dass es in Ihrer Klasse unzufriedene Eltern gibt.“

„Das gilt wohl für die meisten Klassen, oder?“

„Und warum wollen Sie sich nicht helfen lassen?“

Sie hielt seinem Blick stand und suchte in seinen Augen danach, wem mehr zu trauen war, dem Inhalt seiner Worte oder dem Klang seiner Stimme.

„Bislang habe ich leider aus Ihrem Interesse an mir kein Angebot der Hilfe herausgehört, Herr Winter.“

Am Abend

Bernhard

Mittlerweile eine unausgesprochene Vereinbarung, er übernahm zwei Abende pro Woche, selbst wenn Katja zuhause war. Jona im Bett, die Decke bis zu den Schultern gezogen, die Arme fest um seinen Seehund geschlungen. Jedes Wort, das er ihm vorlas, war ihm unerschütterliche Wahrheit – keine Ahnung, warum Jona so viel auf ihn hielt.

Die beste Zeit am Tag, er strich ihm die Haare aus der Stirn, aus der Schläfe, fuhr über seine Wange, kraulte ihn im Nacken.

„Was hat Dir heute am besten gefallen, was war das Beste an Deinem Tag?“

„Frau Budweis war schneller als ihr Bruder, und das ganze Geld schon weg, fürs Karussell, dreizehn Runden ritt sie auf einem Schimmel.“

„Was, wann war das denn?“

„Ganz lange her, achtzig Jahre oder so, Frau Budweis war sechs.“

„Ach so, sie hat Euch von früher erzählt. Macht sie das eigentlich oft?“