Die neuen Großmächte - Erich Follath - E-Book

Die neuen Großmächte E-Book

Erich Follath

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Beschreibung

Die Global Player der Zukunft

Derzeit erleben wir ein wirtschaftspolitisches Erdbeben – die Zukunft findet bei den Gobalisierungsgewinnern in Asien und in Lateinamerika statt. China wird im nächsten Jahrzehnt die USA überholen und zur Volkswirtschaft Nummer eins werden. Indien investiert längst mehr in der EU als umgekehrt und kauft in Afrika riesige Ländereien. Der Boom-Staat Brasilien, der 2014 die Fußballweltmeisterschaft und 2016 die Olympischen Spiele ausrichtet, lockt Arbeitskräfte aus dem Westen an. Was bedeutet diese gewaltige Machtverschiebung für uns?

Erich Follath, langjähriger Fernostkorrespondent des SPIEGEL, kennt China, Indien und Brasilien seit Jahrzehnten aus erster Hand. Den radikalen Wandel der BRIC-Staaten hat er eng begleitet und weiß, wer die Gewinner und Verlierer sind. In seinem neuen Buch, für das er mit Politikern, Künstlern und religiösen Führern ebenso gesprochen hat wie mit den Menschen auf der Straße, zeigt er, was es für uns bedeutet, dass China, Indien und Brasilien erwachen.

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ERICH FOLLATH

Die neuen Großmächte

Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern

Deutsche Verlags-Anstalt

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Inhalt

VORWORT

TEIL I Traumstädte

1 BOMBAY Die Kunst zu überleben

2 SCHANGHAI Das Labor der Zukunft

3 RIO DE JANEIRO Die wunderbarste Katastrophe

TEIL II Machtzentren

4 CHINA Geheimbund hinter hohen Mauern

5 INDIEN Mythos und Moderne

6 BRASILIEN Die Samba-Rebellen

TEIL III Wurzeln

7 CHINA Wenn Konfuzius das wüsste

8 INDIEN Wo die Götter wohnen

9 BRASILIEN Bekehren, betrügen, befreien

BRASILCHINDIA und wir: Ein Ausblick

LITERATUR

PERSONENREGISTER

BILDTEIL

VORWORT

Der Drache, der Elefant und die Piranhas

Als ich zum ersten Mal als Journalist in China, in Indien und in Brasilien war, wusste ich, dass ich dorthin immer wieder zurückkehren wollte – in diese Länder voller Zauber, voller Geheimnisse. Es war faszinierend, in Peking im Strom der Fahrräder dahinzugleiten, umschlossen vom Einheitsblau der Arbeiter, vorbei an Hutongs, vor denen Berge von Kohlköpfen aufgetürmt waren. Es war anrührend, abends in einem der Hinterhöfe auf dringenden Wunsch der Neugierigen, die selten eine »Langnase« zu Gesicht bekamen, deutsche Volkslieder zu singen. Es war aufregend, in Haridwar am Ganges das heilige Holi-Fest mit Hindus zu feiern, nach der Tradition beworfen mit zinnoberrotem Pulver, immer den scharfen Chili-Geschmack auf der Zunge, und dann am nächsten Tag mit Indira Gandhi in den Wahlkampf zu ziehen, quer durchs Land, bis sie sich endlich für ein Interview bereitfand. Es war erschütternd, in Rio de Janeiro vor dem Weiterflug ins Amazonas-Gebiet im Geheimen einen Regimegegner zu treffen, den die herrschenden Generale hatten foltern lassen: Wut, Tränen und Trauer vor der schönsten Kulisse der Welt.

Ich habe China, Indien und Brasilien schon vor über vierzig Jahren bereist, als ich für meine Dissertation über den Einfluss der Politik auf die Massenmedien und die politische Propaganda recherchierte. Dabei hielt ich mich oft an wissenschaftlichen Instituten auf, doch allein schon wegen des sehr begrenzten Budgets lernte ich, mit dem Rucksack auf dem Rücken, auch das Leben der »normalen« Menschen kennen. Meine ersten beruflichen Besuche fanden dann Mitte der Siebzigerjahre statt. Sie führten mich in die Amtsstuben von Ministern, Wirtschaftsbossen und Religionsführern wie zu denen, die unter ihnen litten: Reisen, die immer geprägt waren von sehr widersprüchlichen Eindrücken, oft anziehend und abstoßend zugleich. So freundlich die Menschen waren, so erdrückend empfand ich die Armut und die politische Repression. Die Geschichten, die ich von dort an die Heimatredaktionen schickte, musste ich telefonisch durchgeben, was oft 24 Stunden Wartezeit bedeutete. Oder per Telex, was auch nicht viel besser war, weil das gestanzte Band häufig riss und die Apparate in der Dritten Welt die Tendenz hatten, während der Sendung ihren Geist aufzugeben. Es waren banale Probleme. Angesichts der für die Menschen vor Ort herrschenden existenziellen Sorgen war es eher beschämend, sich darüber aufzuregen. Oft atmete ich vor Erleichterung durch, als das Flugzeug wieder Richtung Heimat abhob – und begann mich schon nach der zweiten Stunde in der Luft wieder zurückzusehnen nach den Farben, Gerüchen und Geräuschen. In innerer Vorbereitung auf den nächsten Trip.

Vieles hätte ich damals für möglich gehalten, aber nicht, dass diese drei problematischen Traumländer eines Tages so viel Zukunftsträchtiges verbinden würde. Und schon gleich gar nicht, dass sie einmal in den Augen vieler Experten für Aufbruch stehen könnten, für den Beginn einer neuen wirtschaftlichen und politischen Weltordnung.

Vergesst Europa, diesen zerstrittenen, in seinem eigenen Sud schmorenden Kontinent der Schuldenlasten und skandalösen Jugendarbeitslosigkeit! Und verabschiedet euch gleichzeitig von der Vorstellung, dass die Vereinigten Staaten, dieses Land der unbegrenzten Schulden, kaputten Infrastruktur und inneren Spannungen, dem in Krisenzeiten nicht viel mehr einfällt, als die Notenpresse anzuwerfen, weiter an der Weltspitze stehen werden – das nacheuropäische, das postamerikanische Zeitalter hat begonnen! »500 Jahre lang hat der Westen mit seinen Institutionen und Ideen geherrscht. Damit ist es jetzt vorbei«, schreibt der britische Historiker Niall Ferguson 2013 lapidar.

So denken und reden und argumentieren in diesen Tagen viele. Sie schieben die negativen Nachrichten aus China, Indien und Brasilien zur Seite, die Berichte über die Umweltskandale von Lanzhou, die Vergewaltigungsorgien von Neu-Delhi, die Serie von Polizistenmorden von São Paulo. Und sie tun so, als gingen da nicht Hunderttausende Unzufriedene in Brasilien auf die Straße, als demonstrierten nicht fast täglich Chinesen und Inder gegen Korruption und für bessere Arbeitsbedingungen. Als zeigte nicht auch das Wirtschaftswunder der Schwellenländer erhebliche Risse.

Man wird dennoch kaum behaupten können, dass die Propheten des westlichen Niedergangs keine Argumente hätten. Sie haben, ganz im Gegenteil, besorgniserregend gute Argumente. Nehmen wir nur zwei neue Wirtschaftsstudien. Beide verheißen für Europa und die USA nichts Gutes. Auf den ersten Blick auch nicht für Deutschland, das manche Experten für eine Insel der Seligen halten.

»Die dynamischsten Städte der Welt im Jahr 2025« heißt die erste Untersuchung, ihr Kernsatz lautet: »Wir sind Zeugen der größten ökonomischen Transformation, welche die Welt je gesehen hat.« Der Report ist in Kooperation des McKinsey Global Institute mit der amerikanischen Fachzeitschrift Foreign Policy entstanden und erforscht anhand von Hochrechnungen des Wirtschaftswachstums, der voraussichtlichen Bevölkerungszunahme und anderer sozialer Faktoren, welche urbanen Zentren künftig die Welt beherrschen. Was sich in den Großstädten abspielt, zähle schon heute mehr denn je, führen die Autoren aus. Derzeit werden nach den Erkenntnissen dieser Experten etwa 60 Prozent des globalen Bruttosozialprodukts (GDP) in den Ballungsräumen erwirtschaftet, in Zukunft dürfte dieser Anteil noch wachsen. »Die Menschen in den Metropolen der aufstrebenden Mächte steigern ihren Lebensstandard wie nie zuvor. Die Welle neuer Konsumenten und ihrer Kaufkraft wird alles durcheinanderwirbeln, was an Geschäftsverhalten und Investitionsbereitschaft bisher bekannt war«, schreibt das Team um Richard Dobbs, den Direktor des Instituts. »Aber besonders bemerkenswert: Die Elitegruppe der Superstädte wird eine andere Zusammenstellung haben, das Gravitätszentrum sich Richtung Süden und vor allem Richtung Osten verändern.«

Welche Metropolen also werden in zwölf Jahren weltweit führend sein, die vorwärtsdrängenden, bahnbrechenden, richtungweisenden?

Schanghai vor Peking und Tianjin – allesamt in China gelegen, allesamt mit prognostizierten GDP-Wachstumsraten von deutlich über 300 Prozent. Dann São Paulo, Brasilien, als Nummer vier; und mit Guangzhou (Kanton) und Shenzhen hat die Volksrepublik noch zwei Zukunftsmetropolen unter den führenden Sechs. London findet sich als erste westeuropäische Stadt auf Platz 21. Davor sind noch New York und Los Angeles, aber auch weitere neun chinesische Megacities, darunter einige, deren genaue Lage wohl nur Sinologen geläufig sein dürfte: Foshan, Dongguan, Shenyang. Deutschland wird nur ein einziges Mal erwähnt, auf Platz 51 steht der »Rhein-Ruhr-Ballungsraum«. In solchen Studien wie auch in UNO-Statistiken wird die Region oft als Großstadt geführt; prophezeiter GDP-Zuwachs für die nächsten zwölf Jahre: vergleichsweise bescheidene 29 Prozent. Weit und breit kein Berlin, Hamburg, München oder Frankfurt.

Natürlich hat eine solche Rangfolge bei aller Seriosität der Verfasser und ihres wissenschaftlichen Ansatzes auch etwas Spekulatives. Es liege »in der Natur der Sache«, dass nicht jede ihrer Prognosen für 2025 genau zutreffen werde, gesteht Dobbs. Er weiß, dass das Schicksal der Weltmetropolen wesentlich auch von politischen Schwankungen und schwer vorhersehbaren Business-Trends wie dem Rückgang der globalen Güternachfrage bestimmt wird. Und dass Spekulationsblasen auf dem Wohnungsmarkt, für die gerade die Volksrepublik China besonders anfällig ist, das Gesamtbild verändern können. Aber der Direktor des McKinsey Global Institute sieht keinen Grund, den jetzigen Erkenntnissen zu misstrauen. »Mal abgesehen von einer unvorhersehbaren Katastrophe wird die Zukunft der Weltmetropolen hauptsächlich in Mandarin geschrieben.« Und noch in Hindi und Portugiesisch, ließe sich hinzufügen. Denn unter den Top 75 der dynamischsten Großstädte der Zukunft sind neben dem übermächtigen China auch Indien (Delhi, Bombay, Bangalore) und Brasilien (außer São Paulo auch Rio de Janeiro, Brasília, Belo Horizonte) prominent vertreten.

Die zweite Studie ist etwas sperrig mit »2013 Global Manufacturing Competitiveness Index« betitelt. Sie enthält nicht weniger Dynamit. Den Report hat die einflussreiche Unternehmensberatungsfirma Deloitte Touche Tohmatsu erarbeitet und gemeinsam mit der regierungsnahen Washingtoner Agentur für Wettbewerbsfähigkeit herausgegeben. Dabei wurden weltweit 550 führende Manager großer Firmen befragt, in welchen Staaten die industrielle Herstellung von Gütern derzeit am besten funktioniere und wie sich das ihrer Meinung nach künftig verändern werde. Auf den ersten Blick sieht es nach einem gemischten Ergebnis aus. Nach einer Melange alter und neuer Spieler – so in etwa, wie man es erwartet. Die Rangliste der konkurrenzfähigsten Industriestaaten für das Jahr 2012 führt die Volksrepublik China an, gefolgt von Deutschland, den USA und Indien. Auch noch unter den Top Ten, allerdings auf den hinteren Plätzen, werden Brasilien und Japan genannt.

Ganz anders urteilen die Vorstandschefs, wenn sie in die Zukunft blicken und eine solche Liste für das Jahr 2017 aufstellen sollen. China bleibt vorn, aber Deutschland und die USA sinken auf die Plätze vier und fünf. Japan, bis vor Kurzem noch die zweitgrößte Handelsmacht weltweit, fällt gar ganz aus den ersten Zehn. Die Aufsteiger kommen aus Mittelasien und Südamerika. Ein Erfolg versprechender europäischer Staat ist nicht in Sicht, Großbritannien beispielsweise sackt ab auf Platz 19. Die führenden Industriestandorte in fünf Jahren heißen nach Ansicht der bedeutendsten westlichen Wirtschaftsbosse: China vor Indien (das zwei Plätze nach oben steigt) und Brasilien (das fünf Plätze hinzugewinnt).

»Amerika und Europa mussten mitansehen, welche Reifungsprozesse die aufstrebenden Staaten durchmachten und wie sie sich zu mächtigen Gegenspieler entwickelten«, sagt Craig Giffi, Vizechef von Deloitte in den USA. »Der Trend verstärkt sich rapide.« Und das trotz einiger Faktoren, die für die weitere Wettbewerbsfähigkeit der traditionellen westlichen Machtzentren sprechen. »Nichts war den Top-Managern wichtiger als die Qualität und Produktivität gut ausgebildeter Arbeitnehmer, die Förderung eines Talent-Pools«, referiert Giffi. 85 Prozent der befragten CEOs sind der Meinung, dass diese Voraussetzungen Deutschland und die USA noch eine Weile im Wettlauf um die Spitze halten werden. Sie sehen auch in Sachen Rechtssicherheit, Steuersystem und Gesundheitswesen bei den »Alten« noch erhebliche Vorteile, ebenso bei der Infrastruktur. Aber das Erstaunliche an dem Bericht: Die allermeisten Wirtschaftsführer glauben, dass diese Pluspunkte in den nächsten Jahren schnell dahinschwinden oder eine nicht mehr so entscheidende Rolle spielen. Die neuen Mächte sind ihrer Meinung nach dabei, Wettbewerber ersten Ranges zu werden. China, Indien, Brasilien auf der Überholspur und 2017 schon unter sich auf dem Siegertreppchen – und das trotz der gegenwärtigen Rückschläge, der deutlichen Verlangsamung ihrer ökonomischen Zuwachsraten.

Auch bei dieser Studie mag es den einen oder anderen Einwand geben. Entscheidend ist der Trend, auf den sich die überwältigende Mehrheit der Ökonomen weltweit festgelegt hat: China wird schon im nächsten Jahrzehnt die USA hinter sich lassen und zur führenden Wirtschaft weltweit werden; Exportnation Nummer eins, größter Devisenbesitzer und Eigentümer amerikanischer Schuldverschreibungen – in Hillary Clintons Worten »unser Banker« – ist die Volksrepublik bereits. Indien investiert längst mehr in der EU als umgekehrt, kauft in Afrika riesige Ländereien, besitzt Top-Universitäten sowie einige der führenden Softwarefirmen und gilt inzwischen als mit Abstand größter Waffenimporteur der Welt. Der langjährige Boom-Staat Brasilien, Gastland der Frankfurter Buchmesse 2013, richtet 2014 die Fußballweltmeisterschaft, 2016 die Olympischen Spiele aus und könnte den europäischen Problemländern mit Krediten aushelfen. Brasilien lockt auch nach den jüngsten Unruhen Jobsucher aus dem Westen an. Besonders für die Arbeitslosen der ehemaligen Kolonialmacht Portugal ist das rohstoffreiche und in der Agrarproduktion wie in der Agrarforschung führende südamerikanische Land zur letzten Hoffnung geworden. Alle drei neuen Großmächte haben sich auch längst Sahnestücke aus dem industriellen Repertoire des Westens herausgesucht: China kontrolliert den Hafen von Piräus und die Londoner Taxis, kauft sich bei Daimler ein und sponsert die Münchner Sicherheitskonferenz. Der Jaguar fährt indisch, der deutsche Windanlagenbauer Repower wurde von einer Firma aus Maharashtra übernommen. Und Brasilien beherrscht nach der Übernahme von Anheuser den Biermarkt der Welt.

Der Drache, der Elefant, die Piranhas – diese Symbole bestimmen das Bild. Die Welt ordnet sich um, die Gewichte der Macht verschieben sich dramatisch. Eine tektonische Erschütterung, weg von der Mitte Europas, weg von den Vereinigten Staaten. Es gab keine solche Zeitenwende mehr seit damals, als das chinesische Reich der Mitte, bis weit ins 17. Jahrhundert die einzige ökonomische Supermacht, sich von den technischen Entwicklungen der restlichen Staaten abzukoppeln begann und beschloss, sich selbst genug zu sein. Seit damals, als sich der Westen in Naturwissenschaft,Technik und Handel mit der Industriellen Revolution an die Spitze kapitulierte und dann seine Vorherrschaft festigte, herausgefordert nur von einer kommunistischen Ideologie, die trotz einiger wissenschaftlicher und machtpolitischer Erfolge letztlich für den Absturz bestimmt war. Für viele schien nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion »das Ende der Geschichte ausgebrochen«. Der Siegeszug des Westens, seines Wirtschafts- und Finanzsystems, sei unaufhaltsam, schrieb der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama. Doch spätestens seit dem skandalösen Ende der Investmentbank Lehman Brothers in New York 2008, der größten und schwerwiegendsten Pleite einer Firma, verbunden mit dem Wanken anderer tragenden Säulen der Bankenlandschaft, änderte sich das Bild.

Für den Westen geht mit diesem Einschnitt ein goldenes Zeitalter zu Ende. Auch wenn es mit staatlichen Billionenspritzen einigermaßen gelang, wieder ein fragiles ökonomisches Gleichgewicht herzustellen, bleibt die Zäsur unübersehbar. Verloren gegangen ist die Gewissheit in die eigene Überlegenheit, der feste Glaube, dass der Kapitalismus in seinen westlichen Spielarten für alles und immer eine Antwort hat. Den Abstieg der Alten setzen viele gleich mit dem Aufstieg der Neuen. Und der Gewinner heißt angeblich: BRASILCHINDIA.

Was aber bedeutet der relative Niedergang Amerikas und Europas für uns? Müssen wir Löhne kürzen, mehr arbeiten, unseren Lebensstandard zurückschrauben? Wandern die Jobs zwangsläufig zu den billigeren Globalisierungsgewinnern ab – und wenn ja, wirklich alle, oder nur diejenigen, von denen wir uns zur Not trennen können, und wo wir hoffen, diese Verluste durch überlegene Forschungseinrichtungen und höher stehende Technologien auszugleichen? Wer hat recht, der deutsche Manager, der sich bei einem Hintergrundgespräch für dieses Buch ganz gelassen gibt und erzählt, die ersten deutschen Firmen seien längst von China und Indien frustriert und kämen mitsamt einer ganzen Reihe hochrangiger Beschäftigungsverhältnisse wieder zurück in die Heimat – oder der Wirtschaftsführer, der im Interview vom unvermeidlichen Abbau spricht, ganze Berufszweige schwinden sieht und in Panik macht? Ist die Zeit des Lernens von den anderen angebrochen? Oder eher die Zeit, unsere Wertevorstellungen zu verteidigen, ein neues Selbstbewusstsein zu zeigen?

Es geht ja erkennbar um mehr als nur um neue Superlative. Für die Entwicklung kommender Generationen ist vor allem die Entwicklung von Patenten entscheidend. Auch da holen nach den Zahlen der World Intellectual Property Organization die Neuen rapide auf: Chinas Patentanmeldungen stiegen im vergangenen Jahr um 33 Prozent, die Brasiliens um 17, Indiens um 11, die USA und Deutschland legten nur im einstelligen Bereich zu. Bei den Firmen verdrängte Chinas Telekommunikationsausrüster ZTE das japanische Unternehmen Panasonic vom Spitzenplatz der weltweit angemeldeten Erfindungen, Chinas Huawei Technologies folgen auf Platz drei.

Und es geht auch um einen Kampf der politischen Systeme, der von den Schwellenländern mit immer größerer Selbstsicherheit, manchmal sogar Arroganz, geführt wird. Peking punktet mit einem politisch autoritären und ökonomisch liberalen Modell. Die Mischung aus KP-Alleinherrschaft plus Manchester-Kapitalismus, verbunden mit einer zunehmend brachialen Militärpräsenz, stößt viele der asiatischen Nachbarn ab, gewinnt in Afrika aber auch Anhänger (und löst bei manchem deutschen Unternehmer wie Architekten eine mehr als klammheimliche Bewunderung aus). Neu-Delhi steht für das kreative Chaos der weltgrößten Demokratie, für Spitzenleistungen in der Biotechnologie wie für eine immer noch skandalöse Rückständigkeit weiter Bevölkerungsschichten: eine barfüßige IT-Großmacht. Brasília heißt für viele Glaube an einen starken Staat, enormes ökonomisches Aufbruchspotenzial, aber auch Protektionismus, weitverbreitete Stagnation und der Fluch der Favelas.

Alle drei Staaten entwickeln sich über ihre große wirtschaftliche Bedeutung hinaus auch zu wichtigen Akteuren der internationalen Politik. China verfügt als ständiges Mitglied des Weltsicherheitsrats über ein Veto, Indien ist eine Atommacht und wird – wie Brasilien, dem man auch Kernwaffen-Ambitionen nachsagt – immer wieder genannt, wenn die Vereinten Nationen eine Erweiterung ihres entscheidenden Gremiums diskutieren. Nicht alles geht in der Weltpolitik mit den Großen der Schwellenländer. Aber ohne sie geht nur noch ganz wenig.

Sie kämpfen gemeinsam gegen Umweltauflagen, die ihnen, wie sie meinen, ungerechtfertigterweise vom Westen aufgedrückt werden sollen. Sie haben sich zur Kooperation entschlossen, wo sich ihre jeweiligen Interessen überschneiden. Obwohl die Rohstoffhungrigen in Peking und Neu-Delhi um Energiequellen weltweit konkurrieren, haben sie schon vor 2007 einen erstaunlichen Pakt geschlossen – sie wollen bei Erdöl-Investitionen in Drittländern einander informieren. Sie kennen die gegenseitigen Stärken. Kreatives Chaos und perfektionierte Planwirtschaft könnten sich ergänzen, im Idealfall zu einer Arbeitsteilung zwischen den beiden bevölkerungsreichsten Staaten der Erde führen. »Ihr seid führend in Software, wir sind führend in Hardware«, hat der frühere Pekinger Premier Zhu Rongji einmal zu einem indischen Kollegen gesagt: »Wer soll uns aufhalten, wenn wir uns zusammentun?« Und immer häufiger wird Brasilien als dritter Partner in dieses Denken einbezogen. Die neuen Mächte fördern den gegenseitigen Handel, um von den Schwankungen des Westens unabhängiger zu werden; China hat gerade die USA als größter Wirtschaftspartner Brasiliens abgelöst.

Vor allem aber arbeiten die drei in der losen Föderation der BRICS-Staaten zusammen, sie bilden das Rückgrat dieses Staatenbunds, dem außerdem noch Russland und neuerdings Südafrika angehören. Die BRICS sind ein seltsames Kunstprodukt ohne jeden historischen Zusammenhalt, dem erst die Realpolitik Leben eingehaucht hat. Jim O´Neill, langjähriger Chefvolkswirt von Goldman Sachs und als schillernder »Rockstar« der Branche bekannt, war im Jahr 2001 auf die Idee gekommen, die seiner Meinung nach besonders aufstrebenden Staaten unter diesem Akronym zusammenzufassen und ihren gemeinsamen Wirtschaftsaufstieg zu prognostizieren. »Nach den Terroranschlägen von 9 /11 wurde mir klar, dass die westliche Dominanz durch irgendetwas anderes abgelöst oder zumindest ergänzt werden müsste. Wenn die Globalisierung weiter Erfolg haben sollte, durfte sie nicht unter amerikanischer Flagge daherkommen«, sagte mir O´Neill im Februar 2013 in London.

Die Idee verfing bei Politikern wie Investoren in aller Welt, auch und gerade in den geadelten Staaten – und führte schließlich dazu, dass sich ihre Spitzenpolitiker regelmäßig zu BRICS-Konferenzen zu verabreden begannen. Um eine koordinierte Außenpolitik konnte es dabei nicht gehen, da stehen sich die großen Drei in vielen Fragen diametral gegenüber. China stimmt in Sachen Wachablösung von Assad kontinuierlich für das diktatorische Regime und steht dabei nicht nur gegen den Westen, sondern auch gegen Indien und Brasilien. Brasilien sieht sich als Führungsmacht der lateinamerikanischen Welt, mit guten Beziehungen zum Westen wie zum Fernen Osten. Indien legt Wert darauf, enger Verbündeter der USA zu sein, Chinas Partner Pakistan gilt als Erzfeind. Und zwischen Neu-Delhi und Peking sind seit dem Waffengang 1962 die Grenzen umstritten. Als die chinesische Führung kürzlich Pässe mit einer integrierten Asien-Karte ausstellte, in der Kaschmir einfach »eingemeindet« war, kam es zu einem scharfen indischen Protest.

Aber unterhalb der ganz großen Weltpolitik näherte man sich an. Beim Treffen Ende 2011 sagte der Politikwissenschaftler Sanjay Joshi, der von der indischen Regierung mit der Ausarbeitung der Agenda beauftragt war: »Als wir vor drei Jahren mit diesen Meetings anfingen, hatten wir uns noch wenig zu sagen, da war alles reine Symbolik. Heute aber eint uns eine neue Erkenntnis: Unsere jeweiligen Erfahrungswerte sind für unsere politischen Entscheidungsfindungen wertvoller als westliche Konzepte.« Die BRICS beschlossen, eine Entwicklungsbank zu gründen, die nur mit Krediten in den Währungen der angeschlossenen Staaten handelt, als Alternative zu der weitgehend von Washington bestimmten Weltbank gedacht. Ein gemeinsames Sekretariat soll gemeinschaftliche städtebauliche Konzepte für die Metropolen erarbeiten. Bald soll jeder Chinese Aktien in den übrigen BRICS-Staaten kaufen können, ohne seine Renminbi in Dollar oder Euro tauschen zu müssen. Für die anderen gilt das im Gegenzug ebenso.

Joshi schwärmt davon, dass die BRICS das erste große Weltforum ohne amerikanische und europäische Beteiligung seien, seine wahre historische Geburtsstunde sei die Finanzkrise von 2008. Vielleicht ließen sich ja sogar Rezepte zur Armutsbekämpfung koordinieren: »Bald holen wir die nächsten hundert Millionen unserer Bürger aus dem Elend und führen sie in die Mittelklasse.« Beim jüngsten Treffen der BRICS im südafrikanischen Durban Ende März 2013 wurden diese Ideen noch einmal vertieft.

Was der euphorische Inder, Chef des Thinktank Observer Research Foundation in Neu-Delhi, aber nicht sagte: China, Indien und Brasilien haben zwar in der Tat in den vergangenen Jahren große Teile ihrer Bevölkerung aus der absoluten Armut befreit (oder besser gesagt: die Menschen politisch nicht mehr daran gehindert, sich selbst aus dieser Lage zu befreien). Aber ihre Rezepte dafür waren doch sehr unterschiedlich; sie standen sogar in Konkurrenz zueinander. Schwer denkbar, dass sich die großen Drei auf ein gemeinsames Entwicklungskonzept einigen könnten. Zumindest im selbstbewussten Peking dürften wenige bereit sein, sich für fremde Ideen zu begeistern, geschweige denn sie umzusetzen. Die BRICS – in Wirklichkeit also nur ein Versuchsballon? Jim O’Neill, der Erfinder des Konzepts, sah das bei unserem Treffen weitaus optimistischer – von diesem Besuch und seiner Rolle als ökonomischer Chefdenker und Zukunftsguru soll noch ausführlich die Rede sein. Und warum Russland und Südafrika eher zu vernachlässigende Sonderfälle sind.

Der Fortschritt bringt unbestreitbar auch negative Folgen: China ist inzwischen der größte Energieverbraucher der Welt und hat 2011 die USA auch beim Ausstoß gefährlicher CO2-Emissionen abgelöst. Die Volksrepublik ist Klimakiller Nummer eins, in Peking musste im Januar 2013 wegen extremer Luftverschmutzung und akuter Feinstaubgefährdung gar der umweltpolitische Notstand ausgerufen werden. Auch Indien und Brasilien sehen ihr Wirtschaftswachstum durch abgeholzte Wälder, verseuchte Flüsse und gesundheitsschädliche Umweltgifte gefährdet. Die Probleme sind erkannt, was allerdings nicht bedeutet, dass sie auch entschieden genug bekämpft werden. In allen drei Staaten verlangt die wachsende Mittelschicht zunehmend ungeduldig nach good governance, sie will mehr eingebunden sein in politische, wirtschaftliche und juristische Entscheidungsprozesse. Die Schwellenländer müssen sich drängenden Fragen stellen: Wie kann man ein hohes Wirtschaftswachstum über Jahre hinaus stabilisieren, wie lassen sich soziale Errungenschaften nachhaltig durchsetzen? Welche demografischen Voraussetzungen helfen der Entwicklung einer Gesellschaft? Sind demokratische Wahlen, unabhängige Institutionen des Rechts, Presse- und Versammlungsfreiheit ein eher lästiger Luxus oder eine auf die Dauer unabdingbare Voraussetzung für Fortschritt? Und wie bekommt man die endemische Korruption, das extreme Auseinanderdriften von Arm und Reich, von Stadt und Land in den Griff, diese bitteren Phänomene, die alle aufstrebenden Mächte wie Krebsgeschwüre befallen haben?

Auch zu diesen Fragen gibt es bemerkenswerte Forschungsergebnisse. Alljährlich etwa stellt die unabhängige, in Berlin beheimatete Nichtregierungsorganisation Transparency International mithilfe weltweit anerkannter Experten einen Korruptionsindex aller Staaten auf. Deutschland nimmt im Jahr 2012 hinter den Spitzenreitern Dänemark, Finnland und Neuseeland einen unspektakulären 13. Rang ein. Die fortschrittlichen Drei aber finden sich auf ziemlich unrühmlichen Plätzen. Am besten schneidet noch Brasilien auf Platz 69 ab. China ist 80. und Indien landet gar nur auf Nummer 94 – es befindet sich damit auf trauriger Augenhöhe mit Griechenland, dem am schlechtesten platzierten europäischen Land.

Noch alarmierender für die neuen Mächte ist der nach dem Bemessungsverfahren eines italienischen Statistik-Experten benannte Gini-Index. Er bewertet die Ungleichheit in der Vermögensentwicklung innerhalb einzelner Länder über längere Zeiträume. Kein Staat hat dabei eine so dramatische Entwicklung genommen wie China. Parallel zu den zweistelligen wirtschaftlichen Wachstumsraten in den vergangenen Jahrzehnten stieg auch der Gini-Koeffizient – allerdings bedeutet hier die höhere Zahl eine Verschlimmerung. Die Volksrepublik, von Mao Zedong 1949 als Staat der Gerechten und Gleichen proklamiert, hat jetzt mit ihren Negativwerten sogar Indien überholt, den Staat, der nach allgemeiner Auffassung für die schlimmsten sozialen Verwerfungen steht.

Auch in Russland und in den großen westlichen Staaten einschließlich des von der sozialen Marktwirtschaft geprägten Deutschlands klafft die Arm-Reich-Schere immer weiter auseinander – aber nirgendwo so wie in dem einstigen Reich der Mitte. Einzige positive Ausnahme unter den relevanten Staaten bei diesem Trend ist Brasilien. Südamerikas Musterland schafft es, die Unterschiede zwischen ganz oben und ganz unten leicht zu verringern, kommt dabei allerdings von einem sehr unerfreulichen Verteilungslevel. Und sieht sich derzeit mit wütenden Bürgern konfrontiert, denen das alles zu spät kommt und zu wenig ist.

Es sind wichtige Erkenntnisse, die sich aus den Studien und Statistiken gewinnen lassen – aber es sind für mich nicht unbedingt die wichtigsten. Persönliche Eindrücke können genauso entscheidend sein. Sie fügen sich, so zufällig sich manchmal die einzelnen Mosaikstücke auch aneinanderreihen, zu einem Gesamtbild. In den vergangenen Jahrzehnten bin ich immer wieder in die Metropolen am Meer gereist, Schanghai, Bombay, Rio, natürlich in die Hauptstädte Peking, Neu-Delhi, Brasília, aber auch in die Armenprovinzen fernab der Glitzermetropolen wie Guizhou, Bihar und Pará. Ich konnte in allen drei Staaten immer wieder mit wichtigen Politikern sprechen. In der Großen Halle des Volkes von Peking interviewte ich den weitsichtigen Außenminister Qian Qichen, ein eher steifes, zeremonielles Treffen; in dem privaten Regierungspavillon von Neu-Delhi den damaligen Hoffnungsträger Rajiv Gandhi, der dann 1991 einem Mordanschlag zum Opfer fiel, ein lebhafter, kontroverser Meinungsaustausch; Anfang 2013 José Genoíno, umstrittener Senator und Ex-Chef der brasilianischen Regierungspartei, im Juli darauf den immer noch höchst einflussreichen Ex-Präsidenten Lula da Silva. Ich habe einige der chinesischen Milliardäre wie Li Ka-shing kennengelernt, die »neuen Maharadschas« in Indien um Lakshmi Mittal und Azim Premji und Brasiliens Super-Unternehmer Eike Batista beobachtet – alle vier haben es zwischenzeitlich unter die zehn reichsten Männer der Welt geschafft. Sie zu porträtieren und ihre Zukunftsvisionen kennenzulernen, war mir für dieses Buch sehr wichtig. Vielleicht aber lässt sich Entscheidenderes zum Aufstieg und Fall von Nationen auch über die Geschichte erklären, über den kulturell-religiösen Kontext, aus dem sich das Selbstverständnis der Menschen und ihr Selbstbewusstsein speist.

Im Gespräch mit führenden Intellektuellen ging es immer wieder um die Frage, ob es einen besonderen Kitt gibt, der die Völker zusammenhält. Unter ihnen war der in Kalkutta gebürtige Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen, ein Weltbürger, der in Harvard lehrt, China wie Europa bestens kennt und deshalb so wunderbar Vergleiche zwischen den neuen und alten Mächten ziehen kann. Ich war zu Gast bei Religionsführern wie dem brasilianischen Befreiungstheologen und Papst-Gegenspieler Leonardo Boff, bei dem führenden Hindu-Priester Veer Bhadra Mishra im heiligen Varanasi am Ganges – und öfter im Exil des Dalai Lama, buddhistischer Friedensadvokat der Tibeter und Hassfigur der chinesischen Machthaber. Von ihnen allen und den starken Eindrücken, die sie hinterlassen haben, will ich erzählen.

Es war bei den Reisen ermutigend zu sehen, wie sich die Lebensverhältnisse verbesserten. Gerade zwischen 1980 und 1985, meiner Korrespondentenzeit in Hongkong, hat sich in China atemberaubend viel verändert. In Indien kamen die positiven wirtschaftlichen Veränderungen fast ein Jahrzehnt später, ebenso in Brasilien. Die Fortschritte spiegelten sich in den Millionärsmessen wider, die hier stattfanden. Sie zeigten sich in den mondänen Boutiquen der Luxuswaren-Hersteller, die ihre Hoffnungen primär auf diese neuen Mächte und Märkte setzen. Auch in den Vorstädten der drei neuen Großmächte entstanden überall Cafés und Restaurants. Aber am Rande der Metropolen, wo sich die Wanderarbeiter für Fronarbeit verpflichten, und vor allem auf dem weiten Land fernab der Zentren des Wirtschaftswunders herrschen bis heute Verzweiflung, Armut und Ungerechtigkeit; oft führen sie zu Sklaven-Abhängigkeit, manchmal zum Selbstmord. Die Schattenkrieger des Aufschwungs am Jangtse, am Ganges, am Amazonas: Auch von diesen Verlierern des Booms, von ihren Träumen und Kämpfen, muss berichtet werden, soll ein korrektes Gesamtbild entstehen. Welcher Staat schafft am ehesten Aufstiegschancen auch für die schwächsten seiner Bürger? Welcher Staat garantiert Zugang zu funktionierenden Institutionen, zu Rechtssicherheit und dem freien Austausch von Informationen?

Natürlich ist die Verbreitung neuer sozialer Medien in China, Indien und Brasilien ein gewaltiger Sprung nach vorn. Kaum irgendwo sonst ist die Zahl neuer Handys so explosionsartig gestiegen wie in diesen drei Ländern. »Frauen interessieren sich mehr für Mobiltelefone als für Toiletten und Zugang zu sauberem Wasser«, konstatierte im Februar 2012 Jairam Ramesh, der indische Minister für ländliche Entwicklung. Natürlich bedeute der Zugang zu solchen Kommunikationsmitteln auch in seinen Augen »Progress«, aber es sei nun einmal eine Tatsache, dass es mehr Handy-Besitzerinnen gebe als Inderinnen mit Möglichkeiten, auf ein Klo mit Wasserspülung zu gehen. Ramesh erntete für seine Äußerung wütende Proteste, sie sei frauenfeindlich und unangemessen formuliert. Nur die Tatsache – mehr Handys als Toiletten – mochte keiner bestreiten.

China, Indien, Brasilien: In diesen Staaten leben zusammengenommen 2,7 Milliarden Menschen, etwa 40 Prozent der Weltbevölkerung, weit mehr als fünfmal so viele wie in ganz Europa. Verglichen mit den Zukunftsmächten ist Deutschland nicht nur, was die Bevölkerung betrifft, sondern auch in Sachen Landmasse ein Zwerg: Neun Deutschlands passten nach Indien, 23 nach Brasilien, 27 nach China. Aber das allein erklärt nicht die Faszination, die hierzulande gerade für diese Länder herrscht. Sie hat wenig mit Im- und Export, mit Investitions-Chancen und Job-Angst, sondern viel mit Emotionalität und historischen Bindungen zu tun. Brasilien, Indien und China sind allesamt Traumziele der Deutschen, und sie zählten dazu schon zu Zeiten unserer Väter, Großväter und Urgroßväter.

Eine Habsburgerin war sogar einmal Kaiserin von Brasilien: Die Erzherzogin Maria Leopoldine, Tochter von Kaiser Franz I. und Maria Theresa, herrschte von 1822 bis 1826 über das Reich am Amazonas. Sie war weitaus beliebter als ihr häufig betrunkener und herumhurender Mann, der portugiesische Kronprinz Dom Pedro. »Was für ein herrlicher Himmelsstrich, welch gesegnetes Land mit gutmütigen Bewohnern«, schwärmte sie in Briefen an die Wiener Verwandtschaft. Sie hat sich nach Ansicht von Historikern mehr als andere Kolonialherrscher vor ihr und nach ihr für Brasilien eingesetzt, hatte einen guten Überblick über die Probleme und Chancen, die das Land bot. Zwar gab es auch schon vor ihrer Zeit deutsche Einwanderer – als einer der ersten der Astronom Johannes Varnhagen (»Meister Johann«) im 16. Jahrhundert. Aber erst »Poldl«, wie sie von ihren Untertanen liebevoll genannt wurde, ermutigte Europäer ausdrücklich zur Einwanderung. Ganze Landstriche im Süden haben heute noch deutschen Charakter, Namen wie Blumenau, Frankenthal oder Santa Leopoldina, benannt nach der mit 29 Jahren an einer Fehlgeburt verstorbenen Kaiserin, verraten die Nähe. São Paulo ist die letzte Ruhestätte der Habsburgerin, sie erhielt auf Wunsch der Brasilianer ein eigenes Mausoleum. Fast jeder Zehnte in Südamerikas größtem Staat hat heute nach Schätzungen von Historikern deutsche Wurzeln.

In der Nazizeit wurde Brasilien dann für manche Verfolgte zur Zufluchtstätte, der jüdische Schriftsteller Stefan Zweig war unter ihnen; er bedankte sich bei seinem Gastland mit einem prophetischen Buch: Brasilien. Ein Land der Zukunft, 1941 in Stockholm erschienen. Nach dem Zweiten Weltkrieg versteckten sich allerdings auch Nazigrößen hier. Der KZ-Arzt Josef Mengele lebte nach seiner Zeit in Argentinien und Paraguay von 1960 bis zu seinem Tod im Jahr 1979 in der zum Bundesstaat São Paulo gehörenden Kleinstadt Betrioga, wohl von hohen Herren gedeckt – ein düsteres Kapitel, bis heute von beiden Seiten nicht vollständig aufgearbeitet. Aber längst steht Brasilien nicht mehr für Verrat und Vertuschung, die Diktatur hat abgedankt: Fußball und Karneval, Samba und Strände sind Anziehungspunkte für einen wachsenden Strom von deutschen Touristen.

Indien ist für deutsche Geistesgrößen von Goethe bis Grass mehr als nur ein Thema ihres Schaffens, es ist ein Mythos. Schon Ende des 18. Jahrhunderts glaubten viele prominente Dichter und Denker wie Arthur Schopenhauer und Friedrich Schlegel, am Ganges »den wahren Geist« und die »neue Quelle der Poesie« entdeckt zu haben, Georg Wilhelm Friedrich Hegel nannte Indien das »Land der Sehnsucht« – keiner der Schwärmer kannte die Region damals aus eigener Anschauung. Erst mit Hermann Hesse, der 1911 zu einer Indien-Reise aufbrach und elf Jahre später seinen Roman Siddharta veröffentlichte, gelangte ein prominenter deutscher Autor wirklich vor Ort. Die romantische Indien-Begeisterung ließ dann auch deutsche Philosophen wie Hermann Graf Keyserling Anfang des 20. Jahrhundert auf den Subkontinent ziehen, in Deutschland bereiteten die Menschen dem indischen Dichter Rabindranath Tagore einen begeisterten Empfang. Selten, so schien es, fühlten zwei Völker so viel geistige Verwandtschaft.

Dazu kam eine politische Nähe – was Subhash Chandra Bose betraf, den Gegenspieler des Mahatma Gandhi, sogar eine Nähe zu den Nazis. Der Freiheitskämpfer aus Bengalen gehört bis heute zu den umstrittensten Persönlichkeiten des Subkontinents. Seine Verdienste um die Unabhängigkeit, die er, anders als der Mahatma (»Große Seele«), auch mit Waffengewalt erreichen wollte, sind weitgehend unbestritten, seine Wege dazu aber sind es um so mehr. Bose traf in Deutschland Ribbentrop und Hitler, er unterstellte seinen Kampfverband Indische Legion der deutschen Waffen-SS und gründete später die National Army, die im Zweiten Weltkrieg an der Seite der Japaner kämpfte, nachdem ihn die Deutschen im U-Boot über Madagaskar in den Fernen Osten geschleust hatten. Ebenso geheimnisvoll wie sein Leben war auch sein Tod. Bose soll bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen sein. Doch Wrackteile wurden nie gefunden und manche Historiker glauben, er habe in sowjetischer Kriegsgefangenschaft überlebt und sich später in Sibirien niedergelassen. Für die deutsch-indische Politik der Nachkriegszeit aber stehen eher das Lavieren des Sozialisten Jawaharlal Nehru zwischen Bundesrepublik und DDR sowie das heutige gute Verhältnis zwischen Angela Merkel und Manmohan Singh. Die Kanzlerin hat in Hintergrundgesprächen mehrfach erzählt, dass sie den indischen Premier wegen dessen Klugheit und Weitblick höher achte als jeden anderen Staatsmann. Ein außergewöhnliches Urteil, bedenkt man, wie ausgebrannt Singh in diesen Tagen wirkt.

In Sachen Sympathie stehen die Völker ihren politischen Führern jedenfalls auch heute nicht nach: Deutschland belegt regelmäßig Spitzenplätze unter den Ländern, die von Indern gemocht werden; Yoga, Ayurveda und Sitar-Klänge haben hierzulande weit über Hippie-Zeiten hinaus ihre Faszination behalten, von allseits begehrten Reisezielen wie dem Taj Mahal, den Palästen von Rajasthan und den Hausbooten Keralas ganz abgesehen. Und immer noch haben seltsame Gurus wie der Bhagwan Shree Rajneesh, später »Osho« genannt, bei deutschen Sinnsuchenden Hochkonjunktur. Ich interviewte ihn, im Ashram von Poona und später im Exil. Ein seltsamer Heiliger, der nicht Askese predigte, sondern Dutzende Rolls Royces besitzen wollte und sie als »Gastgeschenke« seiner oft schwerreichen Klientel gerne annahm.

»Wenn China erwacht, erzittert die Welt«, soll Napoleon Bonaparte einmal gesagt haben, ein vom Inhalt wie von der Herkunft her umstrittenes Zitat. Wenn er es nicht so formulierte, war es wahrscheinlich ein Politiker oder Philosoph von diesseits des Rheins. Denn in ihrer Mischung aus Respekt und Bewunderung standen die Deutschen dem französischen Kaiser nie nach, im Gegenteil, sie waren ihm voraus. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts herrschte unter den großen deutschen Denkern geradezu eine China-Euphorie. Gottfried Wilhelm Leibniz, Universalgelehrter und Moralphilosoph, steht beispielhaft für diese Bewegung. Er traf in Rom mit Jesuitenpatres zusammen, die Reiseeindrücke aus erster Hand besaßen. Nicht die Seidenstraße, der Handel mit Gewürzen über Wüsten und Pässe gegen Edelmetalle aus Europa sollte seiner Meinung nach die Beziehungen prägen, sondern der Austausch von Kultur und Wissen. Allein China, die älteste ununterbrochen blühende Kulturnation, schien Leibniz dafür relevant. Und liest man, wie zentral der deutsche Gelehrte die »Harmonie« ins Zentrum seines Denkens gestellt hat, lässt sich die gegenseitige Beeinflussung erahnen – »Harmonie« ist heute, neben dem »chinesischen Traum«, der Lieblingsbegriff der regierenden KP.

In den ersten Tagen des 20. Jahrhunderts nahmen die Beziehungen zwischen dem Deutschen Reich und dem Reich der Mitte erheblich unfreundlichere Formen an. Nach Übergriffen auf deutsche Diplomaten und Missionare hielt Kaiser Wilhelm II. seine berühmt-berüchtigte »Hunnenrede«, in der er mit kaum verhohlenen rassistischen Untertönen seine Truppen zur blutigen Rache anstachelte: »Pardon wird nicht gegeben, Gefangene werden nicht gemacht … Wie sich vor tausend Jahren die Hunnen einen Namen machten, der sie noch jetzt in der Überlieferung gewaltig erscheinen lässt, so möge der Name Deutschland in China in einer solchen Weise bestätigt werden, dass niemals wieder ein Chinese wagt, etwa einen Deutschen nur scheel anzusehen.« Tatsächlich kam es durch die internationalen Truppen auch unter deutscher Beteiligung vor Ort zu Massakern. Schon vor den Strafexpeditionen hatten sich die Preußen an der chinesischen Küste einen Stützpunkt zur Sicherung ihres Handels eingerichtet. In der Kolonialbesitzung Tsingtao (heute Qingdao) entstanden protestantische Kirchen, Fachwerkhäuser und eine berühmte Brauerei. Trotz der Übergriffe ist das Deutschland-Bild weder in dieser Stadt noch sonstwo in China negativ getrübt, was vielleicht damit zu tun hat, dass andere fremde Mächte wie die Briten und vor allem die Japaner bei der Unterdrückung der einheimischen Bevölkerung noch viel umfassender und brutaler vorgegangen sind. Oder damit, dass die Deutschen mit Karl Marx und Friedrich Engels den chinesischen Revolutionären ihren ideologischen Überbau geliefert haben, dass der bayerische Kommunist und Militärstratege Otto Braun an der Seite Mao Zedongs den Langen Marsch mitorganisierte.

Nur mit wenigen Staaten hat Deutschland derzeit einen so intensiven Austausch wie mit der Volksrepublik. Dutzende Städtepartnerschaften, 500 Kooperationsprojekte von Universitäten, regelmäßige Regierungskonsultationen – zuletzt war die deutsche Kanzlerin mit ihrem halben Kabinett in Peking zu Gast, Erwiderung eines Besuchs, bei dem der chinesische Premier 13 seiner Minister nach Berlin mitgebracht hatte. Der Kern der Beziehung ist die Wirtschaft – Deutschland ist Chinas wichtigster Handelspartner in Europa; die EU der wichtigste Handelspartner Chinas in der Welt. Jenseits dieser alles überstrahlenden und überdeckenden ökonomischen Beziehungen versuchen sich die Länder auch ideologisch zu beeinflussen: China hat in Deutschland schon 14 Konfuzius-Institute eingerichtet, Teil einer neuen Soft-Power-Strategie der Regierung; mit Goethe-Instituten und dem Beginn eines Rechtsdialogs versucht Berlin gegenzuhalten. Neben den offiziellen Kontakten hat der Tourismus in den vergangenen Jahren stark zugenommen, und zwar in beide Richtungen. Chinesische Reisegruppen schwärmen aus nach Berlin, München, Heidelberg (und so überholte die Volksrepublik die Bundesrepublik erstmals auch beim Geldausgeben in der Fremde und wurde zum Reiseweltmeister); deutsche Gäste drängen sich an der Großen Mauer, im Pekinger Himmelspalast und am Bund, der Schanghaier Prachtstraße.

China, Indien, Brasilien: Kein Zweifel, drei neue Giganten spielen jetzt mit auf der Weltbühne, und zwar ganz weit vorne. Aber die Zeiten ihrer Rekordzuwachsraten sind vorbei. Verglichen mit 2007 werden diese sich 2013 halbieren: in Peking von 14 auf etwa 7 Prozent, in Neu-Delhi von 10 auf 5, in Brasília von 6 auf 3. Nach dem phänomenalen Höhenflug eine vorhersehbare Entschleunigung, eine notwendige Korrektur – oder der Beginn eines Absturzes? Sind die BRICS brüchig geworden, Opfer eines womöglich zu schnellen Fortschritts? Wird der Boom zum Bumerang, weil den Regierungen die Kompetenz und die moralische Legitimität fehlen, um den gewachsenen Ansprüchen einer selbstbewusst demonstrierenden neuen Mittelklasse zu genügen?

Und wenn das alles so sein sollte: Steht Europa, so es sich denn zusammenrauft, vor einem Comeback?

TEIL I Traumstädte

1 BOMBAY Die Kunst zu überleben

Es gibt Städte, die sind steingewordene Langeweile. Nichts entzündet die Phantasie, man wandert zwischen ihren modernen Hochhäuserfluchten, austauschbaren Glaspalästen und Luxuskaufhäusern wie sinnenbetäubt, wie leer, und das, obwohl sie vom Lebensstandard her doch weltweit zur Spitzengruppe gehören: die Denvers und Den Haags dieser Welt.

Andere Städte klingen schon nach Versprechen, wenn man ihre Namen nur leise vor sich hersagt, sie bündeln Sehnsucht und Spannung, sie wecken Erinnerungen an Kindertage und den ersten Globus zu Hause, die Landkarte, an der die Finger erwartungsvoll entlangstrichen. Faszination mit Geschichte und Geschichten: Sagen wir Samarkand an der legendären Seidenstraße oder Timbuktu in der südlichen Sahara, Wegmarken und Schnittpunkte der Kulturen. Weltherrscher wie Alexander der Große und Tamerlan, Weltreisende wie Ibn Battuta und Heinrich Barth haben hier Spuren hinterlassen; wer wollte da nicht immer schon mal hin, sich auf ihre Fährten setzen, ihren Beobachtungen nachspüren. Wenn man es dann nach Usbekistan und Mali geschafft hat, dann stellt sich Enttäuschung ein, ja fast so etwas wie Trauer. Nicht wegen der Sehenswürdigkeiten. Der Registan-Platz und die Sankoré-Moschee sind großartig. Aber es lässt sich kaum übersehen: Diese Städte haben ihre besten Zeiten hinter sich, sie sind teils museal und überrestauriert, teils zerfallen und vernachlässigt. Nur noch Schatten früheren Glanzes, schwaches Echo strahlender Epochen.

Und dann gibt es noch diese wenigen Städte, die eine besondere Melodie haben, eine besondere Lage, eine besondere Geschichte, ein besonderes Flair – und die sich über ihre interessante Historie hinaus weiterentwickelt haben, zu wahren Weltstädten geworden sind. Drei dieser Metropolen des 21. Jahrhunderts prägen die neuen Weltmächte, sie gehören zu den Sehnsuchtsorten schlechthin: Bombay, Schanghai, Rio de Janeiro. Erstaunlich, wie vieles sie schon auf Anhieb verbindet: Sie liegen alle am Meer und haben bemerkenswert schöne Aussichtspunkte. Sie haben alle eine ausgeprägte Kolonialgeschichte. Sie sind alle Wirtschaftszentren, Kulturmetropolen und Zukunftslaboratorien. Sie brachten alle bemerkenswerte Politiker, Wirtschaftsführer und Filmemacher hervor. Und sie sind alle nicht die Hauptstädte ihrer Staaten. Dennoch werden die drei neuen Großmächte mehr mit ihnen identifiziert als mit irgendwelchen anderen Orten. Neben der Schönheit von Indien, China und Brasilien, die sie repräsentieren, stehen Bombay, Schanghai und Rio aber auch für deren schlimmste Probleme: Slums, Korruption, Vetternwirtschaft. Und für die Verwundbarkeit durch Klimawandel.

In einer Studie der amerikanischen Columbia University nehmen sich die Wissenschaftler Alex de Sherbinin, Andrew Schiller und Alex Pulsipher gezielt das Trio vor. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass keine der Metropolen über eine nachhaltige Umweltpolitik und adäquate Katastrophen-Vorkehrungen verfügt. Am vernichtendsten fällt ihr Urteil über Bombay aus: »Unglücklicherweise ist die Innenstadt mit ihren weitläufigen Slums durch ihre Lage auf einer aufgeschütteten Halbinsel besonders anfällig für Klimakatastrophen, wie es sich beim extremen Monsun im Juli 2005 zeigte, als über tausend Einwohner ums Leben kamen. Diese Verwundbarkeit wird durch die verschiedenen Erdbeben-Gräben, auf denen sie sich befindet, sowie durch den ungesunden Umgang mit industriellen Kloaken und die Luftverschmutzung noch bedenklich verstärkt.«

Die drei vergleichen sich ganz bewusst auch selbst miteinander, sie sehen sich im Wettbewerb – dabei geht es ihnen nicht um Katastrophenschutz, sondern um wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt. Und um Rekordzahlen. Im Oktober 2004 etwa forderte der indische Ministerpräsident Manmohan Singh in einer Grundsatzrede seine Landsleute auf, die chinesische Konkurrenz auszustechen: »Wenn wir über ein aufstrebendes Asien sprechen, dann denken die meisten an die riesigen Veränderungen, die sich in Schanghai ereignet haben. Ich habe den Traum, Bombay so zu verändern, dass die Menschen in wenigen Jahren Schanghai vergessen und stattdessen Mumbai in aller Munde ist.« In der indischen Megacity finden 2013 gleich zwei Ausstellungen von höchstem internationalen Format statt: Die Chemtec und die Pharma Bio World Expo. Trotzdem müssen die Stadtväter anerkennend in die chinesische Metropole schauen: Die dortigen Führungskräfte haben 2012 schließlich die prestigereichste aller industrieller Leistungsshows veranstalten dürfen, die Weltausstellung. Und die Inder müssen zähneknirschend akzeptieren, dass Rio de Janeiro den Vogel abgeschossen hat – als Austragungsort des Fußball-Weltmeisterschaftsendspiels im Sommer 2014 und Olympiastadt 2016.

Aber die Bombayer lassen sich grundsätzlich nicht unterkriegen, superlativsüchtig und selbstbewusst, wie sie sie sind: Hat nicht der amerikanische Nachrichtensender CNN ihre Stadt im Dezember 2012 zur »World’s Greatest City« erklärt und immerhin fünfzig Gründe dafür angeführt, »warum Bombay Nummer eins ist«? Verheißt der Bestseller des preisgekrönten Autors Suketu Mehta nicht, dass es sich bei Indiens größter Stadt um die »Maximum City« schlechthin handelt? Steht hier nicht neuerdings auch das teuerste Privathaus der Welt, Objekt des Neids für Konkurrenten aus Rio und Schanghai – von den anderen, abgehängten Rekordjägern in den sogenannten entwickelten Staaten wie New York, London und Dubai mal ganz zu schweigen?

Antilia heißt das Anwesen. Der Hausherr hat es nach einer mythischen Insel im Atlantik benannt, die in Urzeiten Verfolgte zu ihrer Fluchtburg ausgebaut haben sollen, uneinnehmbar und geheimnisvoll. Ein Märchenschloss ist auch das neue Antilia geworden. Auf über eine Milliarde Dollar hat das US-Wirtschaftsmagazin Forbes die neue Bleibe des indischen Tycoons Mukesh Ambani geschätzt – sie steht gerade mal ein paar Steinwürfe von einigen der größten Slums der Welt entfernt. Eine Stahl- und Glaskonstruktion der Superlative. 27 Stockwerke, drei Helikopterlandeplätze auf dem Dach, neun Aufzüge, Swimmingpool, Multiplex-Kino. Kristalllüster nicht nur im Ballsaal, sondern sogar in den Garagen. 168 Stellplätze gibt es in den unteren sechs Etagen für die Luxusautos des Besitzers, neben den Filmen gilt auch das vornehme Ausfahren als ein Hobby des Hausherrn. Und natürlich das Geldmachen. Mukesh Ambani, Mitte fünfzig, genannt »Mister Big«, ist Chef des indischen Mischkonzerns Reliance Industries mit Beteiligungen an Erdölfeldern, Firmen für Solarzellen, Pharmaprodukten und Textilien. Er ist der reichste Inder, in den letzten Jahren regelmäßig unter den reichsten Männer der Welt zu finden – Nummer vier war er schon mal. Einer, der seiner Frau Nita zum Geburtstag einen Airbus A319 geschenkt hat. Kein nachgebautes Mini-Modell, sondern das Original, das Interieur etwas individuell aufgemöbelt, versteht sich. Mit vergoldeten Wasserhähnen. Passend, denn der Beiname dieser Stadt, die doch so viel Elend kennt, lautet seit alters her »City of Gold«.

Die Housewarming-Party mit Politikern, Wirtschaftsbossen und Bollywood-Filmstars wurde Ende 2012 gefeiert. Anschließend galt es noch die Götter zu befrieden. Hindupriester verlangten kleinere bauliche Korrekturen, um alles gemäß ihrer Riten einweihen zu können, eine Segnung, auf die der sonst sehr weltlich eingestellte Hausherr nicht verzichten wollte. Deswegen stand das Prachtgebäude einige Monate leer, bevor es dann bezogen wurde: 37000 Quadratmeter für das Paar, seine drei Kinder und die Mutter Ambani. Ob von den 600 Angestellten einige dauerhaft in der Villa übernachten dürfen, gilt als Geheimnis. Gedacht ist Antilia jedenfalls als Einfamilienhaus. Für sechs Menschen. Auf einem vergleichbaren Raum hausen in den Armenvierteln von Dharavi und Shivaji Nagar, jeweils kaum eine viertel Autostunde entfernt, geschätzte 5000 Menschen, die meisten ohne fließendes Wasser, ohne Toiletten, ohne durchgehende Elektrizität. Nach offiziellen Angaben leben etwa 60 Prozent der über 20 Millionen Einwohner von Bombay in Slums. Doch abgesehen von einem leichten Grummeln in der lokalen Presse (»obszön« schrieb der Indian Express) ist von Empörung über Antilia wenig zu spüren. Das Haus an der Barodawalla Marg von Süd-Bombay mit Blick über das Arabische Meer wird nur von ein paar privaten Sicherheitskräften geschützt, die sich in der Hitze langweilen und miteinander scherzen. Steinewerfende Demonstranten fürchtet hier offensichtlich keiner.

Die Villa stößt bei den Ärmsten offensichtlich auf Gleichgültigkeit – und bei der Mittelklasse der aufstrebenden Bombayer häufig sogar auf eine Art Mitbesitzer-Stolz: Seht her, sagen sie, wir sind Weltspitze, wir können uns alles leisten. Alles schaffen. Was man ja an den Ambanis sieht, der First Family des indischen Aufstiegs, den Bombay-Rockefellers: Vater Dhirubhai musste sich noch in den Sweatshops der alten Spinnereien und Färbereien die Hände schmutzig machen, ein ebenso rücksichtsloser wie erfinderischer Unternehmer, der mit seinem unbändigen Willen und politischen Hinterzimmer-Deals zum »Polyester-Prinz« aufstieg. Seinen beiden Söhnen Mukesh und Anil, in Amerika an Top-Universitäten ausgebildet, hinterließ er ein Imperium, das diese in den Boom-Zeiten seit Beginn der Neunzigerjahre zielstrebig ausbauten. Beide wurden zu Milliardären. Dabei zerstritten sie sich übrigens, und auch ihre Frauen wurden zu Rivalinnen.

Wenn Mukesh Ambani der Meinung ist, seine Landsleute seien in bestimmten Bereichen noch nicht Weltspitze, lässt er sie links liegen. Für den Bau des Antilia-Anwesens beispielsweise verzichtete er auf einheimische Architekten. Federführend war das Büro Perkins and Will aus Chicago. Die Experten ließen sich nach Vorgaben des Bauherrn durch das Weltwunder der Hängenden Gärten von Babylon inspirieren, was man an den abgestuften Stockwerken und den üppigen Bepflanzungen ansatzweise erkennen kann. In Indien zählen andere Vergleiche. Das Bombayer Haus sei das »Taj Mahal des 21. Jahrhunderts«, schwelgte Romanautorin Shobhaa Dé, einheimische Chronistin der Schönen und Reichen, die bei der Einweihung dabei sein durfte. Und verstieg sich gleich noch zu einem anderen, nicht weniger absurden Vergleich: »Das Schloss von Versailles ist dagegen nur ein armer Cousin.« Für so viel Kniefall durfte sie dann auch mal in dem Familien-Airbus mitfliegen.

Bombay, kein Zweifel, hebt ab.

Unternehmergeist und zur Schau gestellter Reichtum seiner wirtschaftlichen und kulturellen Avantgarde wirken auf die Menschen stimulierend wie ein Antriebsmotor, es ist die Stadt der Dynamischen, der Zukunftsgläubigen – sagen die einen. Diese Stadt mag mal hier und da einen »Slumdog Millionaire« hervorbringen, aber sie ist in weiten Teilen zur Ausbeutung verdammt, kann sich, will sich nur auf Kosten ihrer Ärmsten sanieren – sagen die anderen. Nur in einem sind sich alle einig, die ausländischen Fachleute für Stadtentwicklung, die journalistischen Beobachter, die hier Geborenen und die vielen Zugezogenen: Bombay prägt die Entwicklung dieses Landes wie kein anderer Ort. Der bedeutendste Hafen, die älteste Börse, die wichtigsten Banken, die größten Filmstudios sind hier zu finden. Bombay kommt für mehr als ein Drittel der Steuern im indischen Staatshaushalt auf, gut 40 Prozent aller Auslandsflüge starten und landen von seinem Airport. Und immer noch wirkt die Stadt wie ein Magnet: Täglich strömen Tausende aus anderen Landesteilen in die Metropole, um hier ihr Glück zu suchen. Sie kampieren auf Gehsteigen, eineinhalb Millionen schlafen derzeit im Freien. Sie drängen sich in den Wellblechhütten der Slums. Sie schlüpfen bei Verwandten oder Bekannten unter. Nach einer UNO-Schätzung wird Groß-Bombay im Jahr 2015 knapp hinter dem Großraum Tokio der größte Ballungsraum der Erde sein und dann wohl bald auch diesen überholen. Mit mehr Menschen, als in Australien oder Skandinavien leben.

»Wenn Sie das neue Indien kennenlernen wollen mit seinen schwindelerregenden Versprechen, mit seinen Turbo-Ambitionen, dann reisen Sie hierher, in seine chaotischste, aufreizende Metropole«, empfiehlt das amerikanische Nachrichtenmagazin Time. Der aus New York heimgekehrte Autor Suketu Mehta geht noch weiter: »Bombay verkörpert die Zukunft der urbanen Zivilisation auf der Erde«, schreibt er über seine Stadt – und leugnet nicht, dass ihm das Angst macht. »Gott stehe uns bei.«

In Bombay kann man leicht sterben, aggressiv ist der Verkehr, mörderisch sind die in manchen Gegenden tobenden nächtlichen Gangsterkriege. Niemals aber, keine Sekunde lang, lässt sich in dieser energiegeladenen, vibrierenden, alle Sinne überwältigenden Stadt eines vergessen: dass man am Leben ist. Und es scheint hier immer auch das Gegenbeispiel für das zu geben, was einen stört, für das, was man anprangern will. So existiert neben dem verschwenderischen, egomanischen auch der bescheidene, philanthropische Unternehmer.

Besuch im Hauptquartier der Godrej Group, einem der großen indischen Firmenkonglomerate Bombays mit Sitz in Vikhroli, einem Vorort im Nordosten. Der Chef des fast 120 Jahre alten Familienunternehmens heißt Adi Godrej, auch seine drei Kinder sind in der Firma aktiv. Sie stellt von Küchengeräten über Kosmetika bis Safes und Sofas so ziemlich alles her, was der Konsument im täglichen Leben braucht. Die Firmengruppe hat die Produktpalette aber längst auch auf den Hightech-Bereich ausgeweitet – bis hin zu Raketenbestandteilen. Sie beschäftigt etwa 10000 Menschen und verfügt über riesigen Landbesitz. Das Vermögen des Patriarchen wird von Forbes auf neun Milliarden Dollar geschätzt. Das ist nicht ganz die Klasse der Ambani-Brüder, aber es reicht für Platz sechs unter den reichsten Indern.

Adi Godrejs Büro hat so gar nichts Protziges. Bescheidenheit und soziales Engagement werden ihm von seiner Religionsgemeinschaft vorgeschrieben: »Gute Gedanken, gute Worte, gute Taten«, heißt der Ehrenkodex der Parsen. Ihre strikten Grundsätze – Bekehrungen zu diesem Glauben sind ebenso verboten wie Mischehen – machen die Anhänger des aus Persien stammenden Zarathustra-Kults allerdings zu einer aussterbenden Gattung. Die Gemeinde von Bombay zählt nur noch 45000 Menschen, und das sind die Hälfte aller Parsen weltweit.

Godrej hat für seine Mitarbeiter riesige Wohnsiedlungen im Grünen errichtet, unterstützt Schulen, Krankenhäuser, Umweltprojekte. Das hindert ihn nicht daran, ein knallharter Geschäftsmann zu sein, der als Chef des Unternehmerverbands die Zentralregierung in Delhi immer wieder zu Reformen drängt. Besonders die »indirekten Steuern« – seine vornehme Umschreibung für Korruption im Land – müssten abgeschafft werden. Grundsätzlich aber glaubt er, dass Indiens Unternehmen zu den »innovativsten und konkurrenzfähigsten der Welt zählen«. Wo Ambani Vergleiche mit Schanghai scheut, zieht sie Godrej ganz offen. »In Sachen Infrastruktur haben wir gegenüber der chinesischen Konkurrenz noch einen riesigen Nachholbedarf. Ansonsten bin ich froh, dass Bombay nicht Schanghai ist.« Er glaubt, die indischen Universitäten seien überlegen. Außerdem gereichten die Rechtssicherheit, das »Ventil« der demokratischen Wahlen und die allseits geläufige englische Sprache Indien zum Vorteil. »Ich sehe die Volksrepublik China nicht als Konkurrent, sondern als Partner – in vielen Bereichen ergänzen wir uns ideal.« Das gilt seiner Meinung nach auch für Brasilien, »ein Land, das uns in seinem chaotischen, erfinderischen Vorwärtsdrang sehr ähnelt«.

Ein Tag im Leben von Bombay.

Kurz vor vier Uhr morgens. Die Stadt erwacht früh, sehr früh, und diese Morgenstunden haben etwas Gnädiges. Die Luft ist um diese Zeit auch im Sommer, wenn die Temperaturen unerträglich werden und der Monsun seine ersten schweren Wolken schickt, ganz angenehm. Eine leichte Brise weht von der erleuchteten Uferpromenade, die sich um die zungenförmige Innenstadt schlingt, »Perlenkette der Königin« nennen sie die Einheimischen. Frische Salzluft legt sich über die beißenden Abgase und faulen Ausdünstungen, die das überfüllte, tageshektische Bombay sonst so unangenehm beherrschen. Erste Jogger traben den Marine Drive entlang. Am Zentralbahnhof Victoria Terminus setzt sich ruckelnd und rumpelnd der erste Frühzug in Bewegung.

Bhavan springt jeden Morgen auf, in letzter Sekunde, er hat dieses Timing, im Schlaf sozusagen, er ist unterwegs zu seiner Arbeitsstätte, einer Klitsche von Fleischfabrik weit draußen in der Vorstadt. Dort trennt der junge Arbeiter mit seinem sichelförmigen Spezialmesser Frösche von ihren Schenkeln. Das funktioniert folgendermaßen: Mit der linken Hand in den Plastikbeutel mit der Chlorlauge greifen, das betäubte Tier herausholen, Chirurgenschnitt, die Beine fliegen in einem hohen Bogen Richtung Salzlauge, wo sie die Arbeiterinnen zur Verpackung übernehmen, die Restkörper kommen in einen Korb. Und wieder zack, abtrennen, entsorgen, zack, zack, auf ein Neues. Acht Stunden Schicht. Es ist kein besonders gut bezahlter Job, und manchmal ekelt ihn die Arbeit, aber es ist der einzige Job, den er gefunden hat. Auch sein verstorbener Vater hat das Froschschenkel-Business schon gemacht, damals im Zentrum an den Sassoon Docks, die schon längst modernisiert sind. Er hat dem einzigen Sohn immer geraten, sich etwas Besseres zu suchen. Aber nun ist Bhavan auch schon 22, hat gerade eine eigene Familie gegründet, da ist es schwer, den Absprung zu schaffen. Der Froschschenkel-Export ist zwar nach einer Intervention der Hilfsorganisation Beauty without Cruelty (»Schönheit ohne Grausamkeit«) offiziell eingefroren und dann von den Behörden ganz verboten worden – was allerdings nur heißt, dass man in den Untergrund gegangen ist. Das Business blüht jenseits der Legalität weitgehend ungestört weiter. Zu verlockend sind die Gewinnspannen. Aber es geht wegen der Anlieferung der Tiere schon zu nächtlichen Stunden los. Und so lässt sich Bhavan, graue Hose, rotes, verwaschenes T-Shirt, Typ Bollywood-Star in Wartestellung, mit einigen Dutzend anderen in den Eisenbahnwaggon fallen. Der einzige Vorteil des frühen Aufstehens: Es gibt jetzt noch Stehplätze, dort, wo man sich tagsüber buchstäblich zerdrückt.

Bhavan hat die neue verschärfte Froschregelung übrigens mit einem Achselzucken kommentiert. So richtig hat er nicht verstanden, was die Ausländer, die sich »Tierschützer« nennen, umgetrieben hat. »Aber vermutlich sind ihnen Frösche heilig«, sagt er. Ein solches Konzept ist Bhavan bekannt. Ihm als Hindu sind Kühe heilig. Verirrt sich eine auf die Straße, drehen selbst die sonst so rücksichtslosen Taxifahrer respektvoll eine Kurve. Muslime wollen mit Schweinen nicht in Berührung kommen. Die Jainas achten auch Regenwürmer, schützen sie wie jede Kreatur, und holen sie Kartoffeln aus der Erde, vermeiden sie spitze Schaufeln und graben lieber mit den Händen. Für die Parsen sind die Geier besonders wichtig, nach Sitte der Religionsgemeinschaft sollen sie die auf den »Türmen des Schweigens« aufgebahrten menschlichen Überreste umweltgerecht beseitigen. Eine gesetzliche Verordnung regelt, welchen Mindestraum Eseln, Büffeln und Ziegen beim Güterwagentransport zusteht. Jeder Verstoß kann gemäß den Disziplinarrichtlinien der staatlichen Eisenbahn geahndet werden. Und so sind alle Lebewesen in Bombay irgendwie geschützt. Fast alle. Ausgenommen: die Menschen.

Die Eisenbahnwaggons der indischen Metropole werden nie wegen lebensgefährlicher Überfüllung durch Passagiere geschlossen, einen Anspruch auf Steh- oder auch nur Stauraum gibt es nicht. Die Pendlerzüge der Harbour Line und der Western Railway gelten als Lebensadern der Stadt, sie verbinden die Vororte mit der Landzunge der Innenstadt, die fünfmal so dicht besiedelt ist wie die von Berlin und sogar dichter als die der »Konkurrenz«-Metropolen Schanghai und Rio; durchschnittlich kommen 4,7 Personen auf ein Zimmer. Sechs Millionen Menschen drängeln sich täglich in die altersschwachen Waggons. Hunderte hängen abenteuerlich weit aus den offenen Türen oder stapeln sich sogar unter Lebensgefahr auf die Zugdächer. Sogar Bhavan, der geübte und leidgeprüfte Pendler, sagt beim frühmorgendlichen Einsteigen: »Vor dem Rückweg in der Hauptverkehrszeit graut mir immer.«

Seine täglichen Fahrten führen an Slums vorbei. Der Fahrtwind wirbelt dort Plastikplanen an Gleisen auf, unter denen die Ärmsten mit ihren verlausten Kleinkindern hausen wie in einem apokalyptischen Alptraum. Sie passieren, nur einen Meter entfernt, die Balkone der Mittelklassefamilien, auf denen sich Menschen waschen und ankleiden, entblößt vor der Außenwelt, »damit die Menschen drinnen, die ihnen wichtig sind, sie nicht nackt sehen«, wie mein guter Bekannter, der Bombay-Kenner Altaf Tyrewala einmal geschrieben hat. Und irgendwann ist es dann Zeit für die Züge, an den Hauptstationen ihre Fracht wieder auszuspucken, zerknitterte Menschen, die nun – Falten im Hemd notdürftig zurechtzupfend, die verklebten Haarsträhnen zurückstreichend – in ihre Büros oder nach Hause eilen.

Die Eisenbahn ist Puls der Stadt, Symbol für alles Großartige und Grausame dieser Metropole im permanenten Ausnahmezustand. Unter den Passagieren herrscht eine verblüffende, von nahezu allen praktizierte Solidarität, so als sei der brutale Konkurrenzkampf während der Fahrzeit vorübergehend ausgesetzt. Wer in letzter Sekunde zur Station eilt, wer aufspringt, wenn der Zug schon angefahren ist, dem strecken sich Dutzende Hände entgegen. Er kann sich darauf verlassen, an Bord gehievt und dort gehalten zu werden. Unachtsamkeit und Übermut sind dennoch große Gefahren. Etwa 3500 Menschen sterben jährlich bei Unfällen in und um die Bombayer Eisenbahn: Sie werden beim Überqueren der Gleise mitgerissen; sie lehnen sich zu weit aus dem Fenster und werden von Strommasten geköpft; sie knallen, auf den Zugdächer stehend, gegen Brückenbögen oder verfangen sich in Leitungen.

Über diese Gefahren gehen die Bewohner von Bombay achselzuckend hinweg. Auch der Frösche-Schlachter Bhavan empfindet seinen täglichen Weg eher unbequem als gefährlich. Angst hat er nur vor dem Terror, der die Stadt in unregelmäßigen Abständen heimsucht und sie auseinanderzureißen droht. Terror, der überall zuschlagen kann. In seinem Slum, wenn Hindus die Muslime provozieren, indem sie unreine Schweine durch die kleine Moschee treiben, oder umgekehrt, wenn die heiligen Kühe gequält werden. 1993 war es am schlimmsten. Da gab es Wochen, in denen die Bombayer aufhörten, Nachbarn zu sein. Aufhörten, sich als Schuster, Schneider, Schweißer zu definieren; es war die Zeit, als jeder nur noch Hindu oder Muslim war und der von Religionsfanatikern geschürte Hass an die tausend Menschen das Leben kostete. Am 11. Juli 2006 gingen dann an sieben Bahnstationen der Stadt Bomben hoch, 207 Menschen starben. Doch obwohl die Behörden bekanntgaben, dass islamistische Gewalttäter das Blutbad angerichtet hatten, gab es keine Rache. Die Bombayer hielten zusammen, die Stadt bestand diese Reifeprüfung.

Der Terror ist dann noch einmal mit einem großen, international geplanten Anschlag wiedergekommen. Am 26. November 2008 überfielen zehn pakistanische Attentäter, die übers Meer gekommen waren, die Innenstadt, warfen Granaten und zielten mit ihren Schnellfeuergewehren in Menschenmengen. An zentralen Stellen der Stadt, im Luxushotel Oberoi und im Café Leopold, nahmen sie Geiseln, und im Taj-Mahal-Hotel, dem Wahrzeichen am Hafen, verbarrikadierten sie sich 60 Stunden lang, töteten Angestellte wie Gäste und zündeten fast die gesamte Vorderfont an. Erst nach drei Tagen gelang es den überforderten Ordnungshütern endgültig, dem grausamen Spuk ein Ende zu machen. Bis auf einen Attentäter wurden alle erschossen; es kamen aber auch 174 Unschuldige ums Leben. Bombay war unter Schock. Doch auch nach diesem Schlag – für Bombay so schwer wie 9/11 für New York – hat sich die Stadt erstaunlich schnell erholt. Die Züge fuhren schon am Tag nach dem großen Aufräumen wieder pünktlich, beziehungsweise unpünktlich, wie immer. Die Börsianer veranstalteten kurz darauf ein Kursfeuerwerk, als wollten sie den Terror mit einer Trotzreaktion in die Schranken weisen.

Die einfachen Leute wie Bhavan hat jedoch die Hilflosigkeit der Polizei, der Dilettantismus der sogenannten Spezialeinheiten, entsetzt. Ajmal Kasab, der einzige gefasste Täter, ist nach einem rechtsstaatlichen Verfahren zum Tode verurteilt und am 21. November 2012 durch den Strang hingerichtet worden. Es war das erste Mal seit fast einem Jahrzehnt, dass ein solches Urteil vollstreckt wurde. »Höchste Zeit, das musste sein, damit die Geschichte ihren Abschluss findet«, meint Bhavan.

Neun Uhr morgens, bei den Fröschen ist nun schon zweite Schicht. Die Jogger sind längst unter der Dusche, die Hitze verhindert jede nicht unbedingt notwendige Körperbewegung. Es gibt die ersten Staus auf den Straßen, fliegende Händler fluchen über die Rücksichtslosigkeit der Taxifahrer, und auch die Bettler bringen sich jetzt in Position. 300000 sind es angeblich, aber im Stadtbild fallen sie nur an bestimmten Stellen auf. Der »Club der Bettler« – ja, auch die Ärmsten der Armen sind organisiert – setzt Kinder und Krüppel an strategischen, von Touristen besuchten Stellen ein: Die Plätze werden regelrecht zugewiesen, die Organisatoren machen mit ihren Pick-ups Kontrollfahrten und kassieren prozentual mit ab. Betteleindringlinge von außen haben keine Chance. Auch nicht vor den Dutzenden Diätkliniken und Schönheitszentren, wo sich die Reichen das Fett absaugen lassen und möglicherweise ihr schlechtes Gewissen mit ein paar Rupien kompensieren.

Die Stadt pumpt sich nun voll mit Adrenalin, Steroide könnten auch dabei sein, sie lässt jedenfalls erstaunliche Muskeln spielen. Im Starbucks am zentralen Colaba-Hafen, eine von vier Filialen, die von der amerikanischen Kette aus Seattle hier innerhalb eines Monats eröffnet wurden, herrscht Hochbetrieb, Wartezeit 15 Minuten. Frappucino und Espresso im Tee-Land Indien, zu gesalzenen Preisen, umgerechnet je zwei Euro. Doch das Ambiente ist schick, und die neue Mittelschicht kann es sich leisten, für ein Getränk so viel auszugeben, wie ein ungelernter Arbeiter in Bombay am Tag verdient. Das leidgeprüfte Taj-Mahal-Hotel, dem das neue Starbucks angeschlossen ist, strahlt nach zweijähriger, sehr kostspieliger Renovierung wieder im alten Glanz. Es gehört zur Firmengruppe des Tycoons Ratan Tata, der es sich leisten kann, jeden Aufwand zu betreiben. Das Unternehmen, das er bis zu seiner Selbstpensionierung als 75-Jähriger Ende 2012 geleitet hat, kontrolliert Hotelketten und Stahlwerke und kaufte unter anderem den Luxuswagenhersteller Jaguar – von einer »umgekehrten Kolonialisierung« schrieb nach dieser Erwerbung stolz das Magazin India Today.