Die niederträchtige Boshaftigkeit des Seins - Jiří Kratochvil - E-Book

Die niederträchtige Boshaftigkeit des Seins E-Book

Jirí Kratochvil

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Beschreibung

Auf dem Balkon einer Brünner Wohnung wächst in der unmittelbaren Nachkriegszeit ein Kaninchen heran, das Heiligabend in die Pfanne gehauen werden soll. Doch es ist kein normales Kaninchen: Es hat die Lehren Schopenhauers und Wittgensteins aufgesogen, ein halbes Konversationslexikon auswendig gelernt und fühlt sich zu Höherem berufen. Auf seiner Odyssee durch verschiedene Brünner Stadtviertel und Wohnungen begegnet es einer Tierrechtlerin, einem religiösen Dompteur, einem Privatdetektiv mit einer düster grotesk wirkenden Fotogalerie von Hingerichteten, reift zu einer Schriftstellerpersönlichkeit heran und erzählt seine Geschichte und die Geschichte zweier undurchschaubarer Mordfälle, die Jahrzehnte später der Ermittler Adam Kočí aufklären soll. In bitterbösen Bildern und mit überraschenden Zickzack-Wendungen, wie sie nur eines echten Kaninchens würdig sind, unterzieht der Roman den Status quo der Menschheit und der Menschlichkeit einer furiosen Analyse.

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Seitenzahl: 288

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Der Verlag dankt dem Ministerium für Kultur der Tschechischen Republik für die Förderung dieser Übersetzung.

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel „Jízlivá potměšilost žití“ bei Druhé město, Brünn. Übersetzung aus dem Tschechischen von Kathrin Janka.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

1. Auflage 2019

© 2019 by Braumüller GmbH

Servitengasse 5, A-1090 Wien

www.braumueller.at

Coverfoto: © Shutterstock / Miyuki Satake

ISBN 978-3-99200-234-4

eISBN 978-3-99200-235-1

Ich beginne diesen Theil meiner Geschichte in der nachdenklichsten, schwermüthigsten Gemüthsverfassung, die je über eine sympathetische Seele kam.

Laurence Sterne, Leben und Ansichten vonTristram Shandy, Gentleman

Inhalt

EINS EINE FINSTERE HERAUSFORDERUNG

ZWEI SCHEU, STILL, DEMÜTIG, BESCHEIDEN

DREI CHANDRA, CHROP, LEGURA

VIER DAS LÄCHELN DER GIOCONDA

FÜNF DAS MÄNNERMORDENDE MONSTER

SECHS AUG IN AUG MIT EINER TREULOSEN TOMATE

SIEBEN DIE NIEDERTRÄCHTIGE BOSHAFTIGKEIT DES SEINS

ACHT RYJ

NEUN DIE RIESENZECKE

ZEHN DAS LANGE UND TRAURIGE GETRAMPEL

ELF NACHKLAPP

EINS

EINE FINSTERE HERAUSFORDERUNG

Adam Kočí war Detektiv, spezialisiert auf Mord. Hatte bereits sein Vater Dan das Privileg besessen, sich „Auge“ zu nennen, da seine Arbeit nur darin bestand, mit einem Fotoapparat bewaffnet treulose Gattinnen zu verfolgen und zu beschatten, so war Adam sogar mit dem Recht ausgestattet, zu verhaften; Handschellen, also eiserne Manschetten, und die Waffe, eine verlässliche Polizeipistole, waren sein Handwerkszeug und ein eigenes „Mordsteam“ hatte er auch. Damit hatte Adam seinen Vater, das private Auge, in der Stammesfolge übersprungen, und zwar ganz schön weit zurück, in unmittelbarer Anknüpfung an seinen Großvater, der Kriminalist gewesen war und von dem es hieß, er habe eigenhändig einigen Halsabschneidern das Messer an die Gurgel gesetzt.

Adam hatte schon reihenweise Fälle hinter sich, für die allerdings charakteristisch war, dass sie ihm mehr den Einsatz seiner kognitiven Waffen als des Schießeisens abgefordert hatten. Diesmal aber ging es ganz bestimmt nicht nur darum, ein paar Kettenglieder im Vorgehen des Mörders bei der Tat zu ergänzen, sondern es sah ganz so aus, als sei dieser Mord außerdem als finstere Herausforderung gemeint, die sich an einen unbekannten Adressaten richtete. Oder vielleicht sollte gerade die provokative Monstrosität der Tat verwirrend wirken und aus einem primitiven Verbrechen etwas machen, das ein Hauch von Schicksalhaftigkeit umweht.

Morde, aus denen die kreativen Ambitionen des Mörders hervorstachen wie das Stroh aus den Schuhen, konnte Adam auf den Tod nicht ausstehen. So einem Mörder genügte es nicht, zu morden, er wollte auch noch zeigen, dass er mit nur einem ganz klein bisschen guten Willen ruhig ein hervorragender Schriftsteller, Bildhauer, Vertreter der Pop-Art, der Op-Art oder des Konzeptualismus sein könnte: all diese Morde, die nach dem Horoskop vorgingen oder anhand der ersten sechs Züge der berühmten Schachpartie von Aljechin gegen Capablanca oder die Schritt für Schritt einen blutigen Satz des Pythagoras erfüllten. Und der vorliegende Mord war aus einem solchen Holz geschnitzt, kein Zweifel möglich.

Er hatte seinem Vater versprochen, ihn zu besuchen. Also erhob er sich von der Parkbank am Fuße der Burg Špilberk, von dort war es nicht weit bis in die Orlí ulice, wo Dan Kočí im vierten Stock des Hauses an der Ecke wohnte.

Okay, ich komme heute, aber nur auf einen Sprung.

Adam war ein spätes Kind. Als er geboren wurde, war Dan schon über fünfzig gewesen, und man kann sagen, dass Adam seiner Mutter nie begegnet war. Nicht einmal eine Spur von der Größe eines Fliegendrecks war auf dem Spiegel seiner Erinnerung von ihr zurückgeblieben. Schuld daran war Zuzanas Verschwinden kurz nach dem Wochenbett, mit irgendeinem Typen, der wohl Portugiese war, wahrscheinlich in die Heimat Magellans. Dan weigerte sich, von ihr zu sprechen, und obwohl seine Wohnung voller gerahmter Fotoporträts war – diese sehr merkwürdige, ja höchst absonderliche Fotogalerie von über vierhundert Stück zierte die Wände in drei Reihen –, gab es dort kein Foto von Zuzana.

Das Haus hatte keinen Aufzug, und das hässliche Treppenhaus raufzukraxeln, war auch für Adam kein Zuckerschlecken mehr. Vierter Stock, die Tür aus ziemlich misslungenem Mahagoni-Imitat. Er drehte den Schlüssel, ging durch die Diele und nahm zu Bewusstsein, dass dort am Garderobenhaken schon Olgas leichter, mit den Namen der einst berühmten Gruppe The Beatles bedruckter Mantel hing.

Olga, eine respektable Dame, war eine Pflegerin, die von allem strotzte, wovon Pflegerinnen strotzen sollen. (Und an dieser Stelle ist der Erzähler verpflichtet, darauf hinzuweisen, dass wir schon bald auf eine weitere Pflegerin treffen. Aber während Olga unsere ständige Aufmerksamkeit genießen wird, huscht die zweite, übrigens rothaarige Pflegerin nur durchs Bild, auch wenn sie es ganz sicher ebenfalls verdient hätte, bemerkt zu werden, ist sie doch einer Freundin von mir aus früheren Zeiten nachempfunden, die rote Haare hatte.) Und außerdem war Olga eine große Sammlerin menschlicher Schicksale, mit denen sie die von ihr bemutterten Schützlinge fütterte, die an ihren Lippen hingen, kaum dass die Frau vom Pflegedienst in der Wohnungstür erschienen war. Aber wenn man jemanden füttern will, braucht man auch eine Quelle, aus der man schöpft. Das war Dan Kočí. Olga war eine geduldige Pflegerin und hätte ihm zum Beispiel auch die Inkontinenzeinlagen ausgewechselt, wenn er das nicht mehr selbst geschafft hätte, besonders geduldig aber war sie als Zuhörerin von Dans Anekdötchen über die Untreue verheirateter Frauen, die sie weiterverbreitete wie eine außerordentlich eifrige Bazillenüberträgerin. Auf Dan hatten diese uralten Geschichten, in denen er einst als Privat-Auge die Rolle des professionellen, gut bezahlten Voyeurs und flinken Fotografen spielte, immer eine äußerst belebende Wirkung.

Leise öffnete Adam ein Stückchen weit die Tür und lauschte einen Augenblick lang ebenfalls dem Privatdetektiv:

… sie hatte immer gerade so viele Liebhaber und Liebhaberinnen gleichzeitig, wie ein Bandwurm Glieder hat, und mit denen trieb sie es am liebsten an den allerunmöglichsten Orten, in langsamen Aufzügen und auf Hochhausdächern, in einer Klosterkrypta und gleich anschließend unter der Kuppel eines Zirkuszelts, auch mal direkt auf der Fleischtheke oder in der Tonne des Diogenes, dann wieder vor aller Augen, im Stehen auf einer holpernden Rolltreppe und rittlings oder à la vache vor dem Denkmal eines Rotarmisten, selbst vor den abstoßendsten instandbesetzten Buden oder den Toiletten in Super-Expresszügen machte sie nicht Halt, oftmals bestand sie sogar darauf, dass ihre Liebhaber und Liebhaberinnen die Masken kahler Seeelefanten oder Streifenhyänen trugen, aber auch in der Uniform städtischer Gendarmen oder verkleidet als Prinz Charles und Lady Di machte sie es, und sie war in ihrer Liebe so unersättlich, dass Liebhaber und Liebhaberinnen für sie nur ein tausendköpfiges Jagdwild darstellten, und weil ihre Augen nahe beieinanderstanden wie die Mündung einer Doppellaufpistole, schoss sie alle ab und schaute dann genüsslich zu, wie sie sich alle viele Jahre lang in schmerzhaften, jedoch nicht tödlichen Krämpfen wanden …

Aber da war Adam eingetreten.

Grüß dich, Papa. Willst du damit sagen, man soll Frauen meiden, die Augen haben wie die Mündung einer Doppellaufpistole? Und wie grausam Frauen sein können?

Sei gegrüßt, mein Sohn. In jenen alten Zeiten, als man mich noch anheuerte, um weibliche Untreue zu beschatten, kamen solche Frauen hie und da noch vor.

Es gibt sie heute noch, sagte die Pflegerin und nickte mit dem Kopf. Sogar viel öfter. Und von extra-exquisiter Grausamkeit.

Nun, Olga, da muss ich dann aus professioneller Sicht die Frauen doch verteidigen. Mörderinnen sind so rar wie Safran. Und ihre Morde sind fast nie monströs, sondern Kurzschlusshandlungen aus vorübergehender geistiger Umnachtung oder einem Leidenschaftsausbruch vor lauter mit den Füßen getretenem Gefühl. Etwa im Ehestreit: Sie in der Küche, an der Arbeitsfläche beim Portionieren, und da hat sie dann im falschen Moment ein Messer in der Hand.

Ich sehe schon, Adam, Ihr Horizont ist auf klassisches Mordwerkzeug beschränkt. Aber Frauen morden doch auch mit weitaus raffinierteren Instrumenten. Da werden Sie dann aber gar nicht an den Tatort gerufen, denn der Tote gilt als Selbstmörder, ohne Zweifel, und die Mörderin hat ihn vielleicht noch nicht einmal in den Selbstmord treiben müssen, sondern hat ihn, wie es Ihr Herr Vater gerade ausgeführt hat, mit der Augendoppellaufpistole abgeschossen, und der Abgeschossene versinkt für den gesamten Rest seines Lebens in allerfinsterster Dunkelhaft.

Olga, mir scheint, dass Sie von Frauen keine allzu hohe Meinung haben und dass mein Vater Ihnen mit seinen Histörchen noch in die Hände spielt, da er, bis auf kleine Ausnahmen, immer nur männliche Auftraggeber hatte. Hätten ihn damals Frauen angeheuert, um ihre untreuen Ehemänner zu beschatten, dann bekämen sie jetzt ganz andere Geschichten zu hören, und ich bin mir sicher, dass darin die Männer sehr unschöne Rollen gespielt hätten.

Sie haben recht, die Pflegerin nickte ein zweites Mal, Männer und Frauen sind zwei heimtückische Geschlechter. Ich denke ja gar nicht, dass das eine dem anderen an Perfidie nachsteht.

Aha, unterbrach sie Adam, und wer bleibt dann noch übrig? Auf wen dürfen wir denn setzen?

Auf niemanden. Legen Sie Ihr Schicksal in die Hände der Kaninchen, sagte Olga.

Alle schwiegen eine Weile, bis Adam einen dummen Witz riss, der es nicht einmal wert ist, hier zitiert zu werden, über den aber alle lauthals lachten. Gleich darauf nahm er die Pflegerin beiseite.

Und, wie?

Nichts Neues. Hier gilt: keine Neuigkeiten, gute Neuigkeiten. Der Zustand Ihres Herrn Vaters ist stabil. Nur dieses ganz, ganz leichte Alzheimern geht immer weiter, zwar fällt schon öfter das Kurzzeitgedächtnis aus und es kommt manchmal vor, dass er selbst hier in dieser Wohnung die räumliche Orientierung verliert, aber die Erinnerungen an die Zeiten, als er als Privatdetektiv unterwegs war, sind noch immer voller sehr lebendiger Details, das haben Sie ja selbst gehört, da ist die Fährte der Erinnerung perfekt. Auf das Erlebnis, seinen zauberhaften Histörchen zu lauschen, würde ich nur äußerst ungern verzichten. Selbst wenn Sie mich für den Dienst bei Ihrem Herrn Vater gar nicht bezahlen würden, ich würde immer noch sehr gern hier sitzen. Das mit dem Nicht-Bezahlen war aber nur ein Witz, setzte sie schnell hinzu.

Angesichts seines Alters bin ich mir nicht sicher, jeden Moment kann irgendwas passieren, betonte Adam. Ihre Anwesenheit ist unverzichtbar. Und zu Ihren Pflichten als Pflegerin gehört es auch, dass Sie ihm geduldig zuhören. Was Sie dann weiter mit seinen Geschichten machen, das ist Ihre Sache.

Zwanzig Minuten später saßen sie alle drei um den runden Tisch mit dem sauberen bunten Tischtuch und dem mit einem Gummiklötzchen unterlegten Tischbein. Sie tranken Tee aus den mit fein gezeichneten Maiglöckchen verzierten Porzellantassen, und die Pflegerin versuchte, Adam irgendwelche Infos zu dem brutalen Mord aus der Nase zu ziehen, den er gerade eben untersuchte.

Vielleicht ist das der raffinierteste Mord, den ich je erlebt habe, gestand Adam, aber es gibt noch keine Informationen zu verbreiten.

Die Pflegerin insistierte: Was würde denn schon passieren, wenn Sie uns jetzt irgendein winziges Detailchen vorsetzen?

Wir sind in einem Stadium, in dem es noch nichts vorzusetzen gibt.

Aber das Fernsehen hat schon gestern Abend eine geradezu magische Aufnahme gebracht, mit der Ermordeten, an der Decke festgeschnallt.

Themawechsel.

Aber Adam, Sie werden doch nicht leugnen, dass wir jetzt geradezu in einem Paradies für Kriminalisten leben. Jeden Moment ein Mord, hier blühen die Verbrechen wie in einem großen Glashaus, eine fette Weide für Ihre Kriminalistenseele. Und das soll, wie man so hört, ein charakteristisches Anzeichen für Freiheit sein. Weil es in den alten Zeiten, an die ich mich nur aus fernen Kindertagen noch erinnere, keine Morde gab, so was wusste der Polizeistaat zu vermeiden, und solange man sich nicht in die Politik einmischte, lebte man in Sicherheit, ganz einfach.

Das ist selbstverständlich ein Irrtum, mischte sich Dan ins Gespräch, Morde haben immer Blütezeit, zu jeder Zeit und unter jedem Regime, man durfte damals nur nicht davon schreiben, das fiel unter die Pressezensur. Die Menschen sollten das Gefühl haben, dass sie im sichersten aller Staaten lebten und Verbrechen immer nur ein Gifthauch aus dem kapitalistischen Ausland sind. Es gab aber auch Ausnahmen, wenn so ein Mord nicht totzukriegen war, weder hinter Glas noch hinter einer Mauer aus Schweigen. Das war dann der Fall, wenn er nicht in einem geschlossenen Raum geschah, sondern öffentlich.

Die Pflegerin insistierte wieder: Ja?

Papa, meinst du den Fall des Spartakiadenserienmörders oder vielleicht die Lkw-Fahrerin, die mit ihrem Lastwagen auf eine Straßenbahninsel fuhr, willentlich, um zu töten, wodurch zehn Menschen oder mehr zu Tode kamen? Die kenne ich natürlich aus den Kriminalannalen und vor Kurzem hat jemand einen Film darüber gemacht. Das ließ sich natürlich nicht verschweigen, das geschah mitten am Tag, bei viel Verkehr, im Zentrum Prags. Sie war ziemlich hübsch, ganz jung noch …

Zweiundzwanzig Jahre, präzisierte Dan.

Sie wurde zum Tode verurteilt und gehängt.

Eine Sache, mein Sohn, eine Sache fehlt in den Annalen. Und die kannst du dir auch nicht ergoogeln. Aber will das hier überhaupt jemand hören?

Adam zuckte mit den Achseln, aber die Pflegerin hob beide Hände, wie bei einer Abstimmung.

Dan nickte, schob den Stuhl zurück, trat vom Tisch weg und machte ein paar Schritte, kam jedoch augenblicklich ins Wanken, und die Pflegerin packte ihn rasch an der Schulter und brachte ihn an den Tisch zurück. In dem Moment war Pflichtgefühl als Pflegerin stärker als die Gier nach Neuigkeiten.

Nein, lassen Sie mich, mir war nur ein bisschen schwummerig im Kopf. Ist schon vorbei. Und er stand wieder auf, sah sich im Raum um und ging dann zu dem hohen Vitrinenschrank (brechend voll mit luxuriösen Gedecken, bestehend aus mehreren Tellern, tiefen, flachen und kleinen fürs Dessert, zusammenpassenden Paradeschüsseln, Töpfen, Töpfchen, Kelchen, Gläschen, Gläsern, haufenweise Glas und Porzellan, was man so braucht, um ein Hochzeitsbankett zu servieren oder ein Totenmahl, einen ordentlichen Leichenschmaus), lehnte sich mit dem Rücken dagegen, schloss für einen Augenblick die Augen, breitete dann langsam die Arme aus und ließ sie ebenso langsam wieder sinken. Und nach dieser malerischen Geste hub er an: Damals befand sich der Polizeistaat in einer schwierigen Situation, denn die Zeiten waren für dieses Urteil nicht günstig. Zwar forderten die Verwandten derer, die dem Massaker zum Opfer gefallen waren, nachdrücklich die Todesstrafe, aber es war gerade Internationales Jahr der Frau, das sich vor allem gegen Gewalt gegen Frauen wandte und sich entschieden gegen die Todesstrafe bei Frauen aussprach. Aber schlimmer noch: Es war zur Zeit der russischen Besatzung unseres Landes, kurz nachdem diejenigen, die mit der Okkupation nicht einverstanden waren, sich harter politischer Verfolgung ausgesetzt gesehen hatten. Dabei war der Okkupationsregierung sogar an wirtschaftlichem Wohlstand gelegen, der ohne Import und Export aus dem Westen undenkbar war. Und da konnte es geschehen, dass die Welt die Hinrichtung einer jungen Frau geradezu als politischen Akt verstehen würde, der wiederum an die gar nicht so weit zurückliegende Hinrichtung einer anderen Frau während der großen kommunistischen politischen Prozesse erinnerte, was die Verhängung eines Wirtschaftsembargos über das Land zur Folge haben konnte. Und so entschied man sich für etwas bislang völlig Undenkbares: Man beauftragte mit dieser Hinrichtung Kazimír Mydlář, einen Mitschüler von mir, einen bösen Zwerg, der noch niemals jemanden hingerichtet hatte, der es nicht auch wirklich und wahrhaftig verdient hatte. Er war berühmt für seine Unbestechlichkeit. Wenn er die Sache mit der Frau übernahm, würde kein Mensch auf der Welt bezweifeln, dass ihre Strafe notwendig und berechtigt war. Und so kam es auch, Kazimír hängte sie. Bevor er jedoch wieder seine Anker lichtete, kam er wie immer bei mir vorbei. Das ist schon abgrundtief lang her, aber ich sehe ihn immer noch hier in diesem Sessel im Winkel unter dem Fenster sitzen. Und es war außerdem das letzte Mal, dass ich ihn sah.

Dan streckte den linken Arm aus und deutete mit dem Zeigefinger in den Winkel unter dem Fenster. Adam und die Pflegerin drehten sich dahin um, sahen dort allerdings keinen Sessel. Aber das überraschte sie nicht. Es passierte Dan nun manchmal, dass er irgendwo irgendwelche Dinge sah, die dort schon lange nicht mehr zu sehen waren.

Dan zog den Arm ein und fuhr fort: Dieser Zwerg hatte nämlich für jede Hinrichtung eine eigene, höchst merkwürdige Bedingung, auf der er natürlich auch diesmal bestand. Bevor er zur Tat schritt, mussten sie dem Hingerichteten verkündigen, er sei im letzten Augenblick begnadigt worden. Was das mit dem Gesicht des Verurteilten machte, faszinierte Kazimír und er hielt es auch hübsch fotografisch fest, bevor er die Schlinge zuzog.

Mehr brauchte Dan nicht zu erklären, so verdammt gut kannten Adam und die Pflegerin schon die unsterbliche Galerie hier an den Wänden, von der man sagen konnte, sie habe schon viele Peripetien von Dans Leben überdauert.

Aber, fuhr Dan fort, bei der Hinrichtung dieser Mörderin passierte etwas, womit der Henker nicht gerechnet hatte. Diese Frau zeigte nicht in geringster Weise Freude darüber, dass man sie im letzten Augenblick begnadigt hatte, es war ihr einfach schnurz, es interessierte sie nicht mehr. Deshalb trafen auf ihrem Gesicht nicht Todesangst und plötzliches Aufblitzen von Glück zusammen, also nicht das, was diesen Zwerg so sehr bezauberte und was er so eifrig sammelte wie andere Leute alte Postkarten. So war denn auch das Foto wertlos, das Kazimír dabei gemacht hatte. Ihr werdet es in dieser Galerie nicht finden. Für Kazimír war das vollkommen unverständlich. Und fatal. Es überraschte ihn. Ja, schlimmer noch, es nahm ihn mit. Er gestand, er höre auf. Und um das Ganze vor mir dann doch noch ein bisschen herunterzuspielen, witzelte er: So werf ich von mir mein Schwert! Und das, obwohl er nie geköpft, sondern immer nur gehenkt hatte. Danach holte er sich nur noch im Justizministerium an der Kasse sein Honorar ab, und ich habe ihn nie mehr wiedergesehen.

Dan löste sich vom Schrank und ging zurück zu Adam und der Pflegerin, um sich hinzusetzen. Da war die Pflegerin schon aufgestanden und holte das Pistazieneis aus dem Gefrierfach. Adam sah auf die antike Uhr (ganz oben auf dem hohen Schrank gleich unter der Decke, als symbolisiere sie durch ihre Position die Herrschaft der Zeit über alles hier im Zimmer, und sicher nicht nur hier), schlang sein Eis hinunter und entschuldigte sich, er müsse gehen. Er hatte ja ursprünglich nur auf einen Sprung vorbeischauen wollen und nicht erwartet, dass der sich so in die Länge ziehen würde.

Was Adam an diesem Fall beunruhigte, war etwas, was reinen Mord bei Weitem überstieg. Und auch für einen Mord war es ganz sicher ziemlich ungewöhnlich. Schon der Einfall, eine zeitweise leer stehende Wohnung zu benutzen, die nur einen Mieter hatte, Bedřich Kostka, der die letzten Tage im Krankenhaus verbracht hatte, ziemlich komplizierte Gallenoperation, und auch noch ein Weilchen dortgeblieben wäre, wenn nicht gerade jetzt im Krankenhaus so ein Andrang geherrscht hätte. So hatte man entschieden, ihn nach Hause zu verlegen und ihm für die allernächsten Tage eine Pflegerin vor Ort zu besorgen. Zwei Krankenhausfahrer brachten ihn, und während der Mieter auf der Bahre in der Diele blieb, gingen sie weiter, um zu schauen, wo sie ihn hinpacken konnten. Dann öffneten sie die Zimmertür und standen da und glotzten. Und als sie wieder zu sich kamen, wurde ihnen klar, dass sie den Mieter jetzt wohl ins Krankenhaus zurückbringen oder ihn erst mal wo anders parken mussten.

Sie riefen auf dem Polizeirevier an, und so standen dann zwei Polizisten in der Tür und glotzten ebenfalls. Man möchte meinen, die seien – anders als die Fahrer eines Krankenhauses – auf solche Dinge vorbereitet, waren sie aber nicht. Und der Mieter setzte sich auf seiner Bahre auf, immer noch in der Diele, und verlangte, jemand solle ihm erklären, was denn hier, in seiner Wohnung, vor sich gehe. Aber niemand beachtete ihn.

Auch Adam stand da und glotzte. Ein Frauenkörper war mit Gurten unter die Zimmerdecke geschnallt.

Als Adam im Stockwerk obendrüber anrief, schlug Neugier ihm entgegen.

Gestern Vormittag haben wir gehört, also meine Frau hier, ich war ja arbeiten, wie da jemand in der Wohnung unter uns an die Decke gehämmert hat. Wir dachten, der Herr Kostka hat sich die Installateure geholt, damit sie ihm in seiner Abwesenheit ein bisschen seine Bude aufhübschen.

Gestern, ganz sicher?

Bis gestern war es dort still. Wie in einer leeren Wohnung. Darf man wohl fragen, was dort …?

Keine Angst. Wirklich rein gar nichts, was bedrohlich für Sie wäre. Alles schon in Ordnung. Verzeihen Sie, dass ich nicht mehr sagen kann. Aber bestimmt ist morgen schon was im Internet darüber, oder vielleicht auch im Fernsehen.

Er ging zurück zu der Frau unter der Zimmerdecke. Fest steht, der Mörder hatte einen Helfershelfer oder mehrere, allein hätte er das mit der Decke nicht geschafft. Sie mussten eine Doppelleiter gehabt haben oder eine Bühne, um diese Tote an den Plafond zu pinnen, oder ein Mörder war dem anderen auf den Buckel gestiegen. Und es war wahrscheinlich, dass sie jemand aus dem Haus gesehen, vielleicht auch mit der Doppelleiter auf der Treppe angetroffen haben konnte. Adam übertrug es zwei Leuten aus seinem Team, alle Mieter zu verhören. Er selbst kümmerte sich augenblicklich um Herrn Kostka, damit der nicht dort in der Diele hängen blieb, wo die Polizisten an ihm vorüberrannten, deren Berufsjargon aus der Wohnung herüberschallte.

Frau Líbalová? Ach, verzeihen Sie, Frau Léblová, ich habe in dem Durcheinander Ihren Namen nicht verstanden. Ich bringe Sie und Ihren Patienten erst mal in eine leere Wohnung. Dort können Sie bis morgen oder übermorgen bleiben, und falls Ihnen dort für Ihren Patienten oder für sich selbst an etwas fehlen sollte, sagen Sie es einfach.

Und weil sich die Fahrer aus dem Krankenhaus inzwischen verkrümelt hatten, packten Adam und die Pflegerin die Bahre und trugen Kostka hinüber in den Aufzug und zur Haustür hinaus und hinein in einen Polizeitransporter.

Die Wohnung war für dienstliche Besucher gedacht, also Leute von Interpol und andere Primadonnen. Doch Adam war bereit, die Nutzung dieser Dienstwohnung zu verteidigen. Denn Herr Kostka war der bislang einzige Zeuge in diesem finsteren und monströsen Fall. Wenn auch ein Zeuge, der zur Zeit, als man die Ermordete unter der Decke festgegurtet hatte, gerade einen operationellen Eingriff hinter sich hatte. Also Zeuge nur in dem Sinne, dass er wohl Zeugnis von einigen wichtigen Umständen ablegen konnte, die dem Mord vorausgegangen waren.

Jetzt also in der Dienstwohnung der Polizei. Zwei Zimmer, Badezimmer, kleine Küche. In dem einen Raum über die ganze Wand ein „Operationsplan“ von Brünn, jederzeit austauschbar gegen einen anderen digitalen Plan, und an der anderen Wand ein zweiter großer Monitor, direkt darunter ein Tresor. Der zweite Raum dann ausgestattet wie ein Schlafzimmer in einem Luxushotel. Adam schloss den „Operationsraum“ ab und schaute in der Küche in den Kühlschrank.

Ich glaube, hier gibt es alles, was Sie brauchen, wies er die (rothaarige) Pflegerin ein. Im Kühlschrank sind ein paar Fertigessen, braucht man nur aufzuwärmen. Hier meine Nummer, falls Ihnen doch noch irgendetwas fehlt.

Herr Kostka, nehmen Sie erst mal dieses Appartement, in dem Agent 007 manchmal absteigt, wenn er bei uns ist, scherzte Adam, und ich verspreche Ihnen, in spätestens zwei Tagen sind Sie wieder zu Hause. In circa einer Stunde komme ich, um mich mit Ihnen zu unterhalten.

Als Adam an den Tatort zurückkam, nahmen sie die Tote gerade von der Decke ab. Am wichtigsten erschien es ihm, die Identität der Ermordeten festzustellen. Aber weder bei ihr noch irgendwo sonst im Raum fanden sie etwas, was dazu beigetragen hätte. Jemand hatte ihr zweimal ins Herz gestochen und ihr dann eine orangefarbene Weste angezogen, wie die Müllmänner sie tragen. Doch die Weste war ihr auffällig zu groß: Die Frau war mehr darin eingewickelt, als angezogen. So hatte sie also nicht mehr lebend von der Decke herabgeschaut, erst als Leiche hatte man sie dort hingehängt, und es war ihnen noch nicht gelungen, zu eruieren, ob der Mord hier in der Wohnung stattgefunden oder ob man die Leiche hierhergeschafft hatte. Sah erst mal so aus, ob der oder die Mörder das alles mit geradezu bezeichnender Perfektion bewältigt hätte/n. Da konnte man nur hoffen, dass diese Perfektion nur Schein war, der trog. Hier wartete eine Menge Arbeit, die so schleunigst erledigt werden musste, damit die Wohnung wieder freigegeben werden konnte. Adam beaufsichtigte noch das Fotografieren und den Abtransport der Toten in die Pathologie und ging dann mit den brandneuen Fotos zurück zu Kostka. Der saß auf dem Bett, hatte ein kleines Pult vor sich und darauf einen Teller mit Spaghetti.

Essen Sie ruhig, ich warte.

Fragen Sie nur, beim Essen ist gut reden.

Wenn Sie meinen. Und Adam legte ein paar Fotos vom Gesicht der Toten neben den Spaghettiteller.

Kenne ich nicht. Sagt mir nichts. Hat die Augen zu. Die Ermordete, die Sie in meiner Wohnung gefunden haben?

Schauen Sie bitte noch genauer hin. Vielleicht haben Sie sie ja doch schon irgendwann einmal gesehen.

Wenn Sie zuerst auf meine Frage antworten, schaue ich genauer.

Ja, das ist die Ermordete, die wir in Ihrer Wohnung gefunden haben.

An die Decke gepinnt?

Was? Adam wunderte sich, und die rothaarige Pflegerin schlug schnell die Augen nieder. Ja, an die Decke. Schauen Sie also bitte noch genauer.

Ich muss Sie enttäuschen. Sagt mir immer noch nichts.

Wer wusste denn alles, dass Ihre Wohnung leer sein würde, dass Sie im Krankenhaus sind?

Das kann jeder im Haus gewusst haben. Darüber, dass ich mich dieser Operation unterziehe, habe ich mit allen möglichen Leuten gesprochen.

Und was ist mit Ihrer Freundin oder jemandem aus der Verwandtschaft, hatten die Zugang zu Ihrer Wohnung?

Meine Lebensgefährtin hat schon vor einiger Zeit der Teufel geholt, und die Verwandten meiden wiederum mich wie derselbige das Weihwasser.

Wundert mich nicht, dachte Adam und fuhr fort: Reserveschlüssel beim Hausmeister, oder nicht?

Das fragen Sie doch besser den Hausverwalter, oder nicht?

Ist Ihnen in den Wochen vor der Operation vielleicht etwas wirklich Ungewöhnliches passiert, etwas Merkwürdiges? Hat Sie jemand Unbekanntes besucht oder jemand, den Sie schon lange Zeit nicht gesehen hatten? Irgendein komisches Telefonat, irgendwas Überraschendes?

Ich kann mich an nichts erinnern, was für Sie von Interesse ist.

Und Sie haben keine Idee, warum jemand gerade Ihre Wohnung benutzt hat, was ihm an ihr zupasskam, außer der Tatsache, dass sie leer war?

Da müssen doch Sie draufkommen, ich will Ihnen nicht ins Handwerk pfuschen.

Adam probierte es noch mit ein paar weiteren zwecklosen Fragen, aber er bekam aus Kostka nichts heraus, was der Beachtung wert gewesen wäre.

Und als er ihn jetzt so ansah, wie er da immer noch im Krankenhaushemd auf dem für irgendeinen James Bond bestimmten Bett hockte, ihm ein langer Spaghetti aus dem Mundwinkel hing und er fröhlich herumzappelte, war Adam sich fast sicher, dass Kostka ihn höhnisch angrinste. Die rothaarige Pflegerin saß am Fenster und fischte sich gerade irgendein geheimes Polizeimanual aus der Interpol-Bibliothek.

Er ging hinüber in den „Operationsraum“, warf einen Blick in die Bar und widerstand der Versuchung, den erstklassigen französischen Cognac anzubrechen, der dort für die Bonzen bereitgehalten wurde. Wer weiß, was aus alledem hier wird, wenn wir aus der NATO und der Europäischen Union austreten, wir sind ja jetzt schon kurz davor. Wahrscheinlich reißt es sich irgendein Politganove als Luxusschmeichelkabinett unter den Nagel. Ich kann mir auch schon denken wer. Und ohne weiteres Zögern schlug Adam die Tür ganz zu und öffnete den Cognac.

Wie konntet ihr denn einen Kameramann vom Fernsehen hier reinlassen? Adam war stinksauer auf sein Mordsteam.

Die waren vom Staatsfernsehen und kamen gleich, nachdem er mit der Pflegerin den Wohnungsinhaber in die Bonzenburg gebracht hatte. (So wurde dieses polizeiliche Luxusnest genannt.) Als es noch Öffentlich-Rechtliche waren, konnte man sie ruhig vergraulen, aber du weißt doch, Chef: Das Staatsfernsehen ist wie die Läuse.

Adam winkte ab.

Am Abend kam das Bild, das sie von der Ermordeten unter der Zimmerdecke geschossen hatten im Fernsehen, auf absolut allen Kanälen.

Aber das heißt ja, das Staatsfernsehen hat die Aufnahme an alle Privatsender und Internetportale verkauft, beschwerte sich Adam.

Seine kluge Freundin wies ihn darauf hin, dass ihn das doch eigentlich nicht überraschen sollte: Schließlich war das Staatsfernsehen eine Hure und der Staat ihr Zuhälter. Worauf sie sich auf den Bauch drehte, um die Aufnahme besser sehen zu können, die jetzt als Standbild auf dem Monitor erschien, und mit einer eigenen Version herausrückte: Dieses An-die-Decke-Pinnen kann das Losungswort in irgendeiner Zeichensprache sein und der Mord mit einer Leiche an der Decke und auf allen Fernsehkanälen vielleicht als aufgezogene Flagge dienen. Die man zeigt, damit sie jetzt diejenigen sehen, die sie sehen sollen. Eine finstere Herausforderung an einen unbekannten Adressaten.

Genau das ist mir auch schon eingefallen, bekannte Adam, aber das ist doch Quatsch, nur eine dumme Idee von uns, völliger Schwachsinn.

Schade, mir hätte es gefallen.

Also mir nicht so sehr. Aber was, wenn es so ist und sich jemand wünscht, dass wir uns genau das denken? Dass wir es genau so sehen?

Genug des Mordes, entschied die kluge Freundin und forderte den Erzähler auf, also mich, jetzt den Vorhang vor ihr weiteres mitternächtliches Treiben fallen zu lassen.

Am nächsten Tag saß Adam auf einer Bank im Park am Fuße der Burg Špilberk und betrachtete mit unerschütterlicher Geduld die gefallenen Blätter. In Wirklichkeit versuchte er sich an irgendein Detail zu erinnern, dem er bislang noch nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt hatte, obwohl es ausgerechnet der Schlüssel zu diesem monströsen Mord sein konnte.

Dann fiel ihm ein, dass er seinem Vater versprochen hatte, ihn zu besuchen. Und von der Bank am Fuße der Burg Špilberk war es nicht weit bis in die Orlí ulice, wo Dan Kočí wohnte, im vierten Stock des Hauses an der Ecke.

Okay, ich komme heute, aber nur auf einen Sprung.

Nur dass sich dieser Sprung dann, wie wir bereits wissen, unwahrscheinlich in die Länge gezogen hatte. Sie hatten sich verquatscht und Vaters (nicht rothaarige) Pflegerin, Frau Olga, hatte darauf bestanden, er solle ihnen etwas über den Mord in der Minoritská ulice verraten. Gestern Abend hatte sie das Bild der Ermordeten auf allen Fernsehkanälen gesehen. Aber Adam hatte sich geweigert, darüber zu sprechen, und das Gespräch auf andere Themen gelenkt. Seinem Vater war dann die Anekdote mit dem Henker Kazimír eingefallen, den man mit der Hinrichtung der Mörderin betraut hatte, die mit dem Lastwagen in die Menschenmenge auf der Verkehrsinsel gerast war. Und Adam hatte gedacht, dass er ursprünglich nur auf einen Sprung vorbeischauen wollte und dass er nicht erwartet hatte, dass der sich so hinziehen würde. Er hatte noch das Pistazieneis hinuntergeschlungen und sich entschuldigt, dass er gehen müsse. Und als er schon an der Tür war, hatte sein Handy geklingelt.

Brauchst dich nicht mehr zu beeilen, Chef. Gerade haben sie uns aus der Wohnung rausgeschmissen und uns den Fall weggenommen. Ja, sowohl der Wohnung verwiesen als auch den Fall entzogen. Sie sagen, du kriegst noch eine schriftliche Benachrichtigung. Aha, sagte Adam, schaltete sein Handy aus und griff, ohne hinzuschauen, nach der Türklinke.

ZWEI

SCHEU, STILL, DEMÜTIG, BESCHEIDEN

Offen gesprochen, wen sollte es denn interessieren, wann und wo ich geboren wurde? Reden wir doch stattdessen lieber über die Sterne, die ich von dort aus Nacht für Nacht beobachte und deren Beichtvater ich gewissermaßen bin. Ich habe ihnen sogar Namen gegeben, einfach so, auf meine Weise. Und Sie werden kometenhaft in meiner Achtung steigen, wenn Sie wenigstens in einem Fall erraten, welchen Stern ich Rozmališka nenne, welcher Chvatka heißt und welcher wohl Limurka? Aber ich lasse Sie noch lange zappeln und Sie können dann mit diesem Rätsel schlafen gehen und morgens wieder aufstehen und ich habe nichts dagegen, wenn Sie sich beim Rasieren und beim Fahren in der Straßenbahn damit beschäftigen oder im Wartezimmer beim Zahnarzt. Besser noch: Ich werde es Ihnen nie verraten und überlasse Sie hiermit ewigen Rätselqualen, damit in Ihren Köpfen wenigstens irgendwas herumspukt.

Manchmal, und zwar dann, wenn der Himmel nicht wolkenverhangen ist, helfen mir diese Sterne, ganze Nächte zu durchwachen. Meine Seele dürstet nach ihrem klaren, reinen Licht, auf dass sie nicht ersticke an eurem Menschenschmutz. Den Schlaf hole ich dann tagsüber nach, denn auch um den will ich mich nicht bringen. Ich habe nämlich so viele Träume wie eine Sanduhr Sandkörner und sinne dann gern über diese Traumkörnerchen nach. Jedes von ihnen birgt eine lebendige Geschichte. Einige davon erzähle ich vielleicht noch.

Sie dürften schon bemerkt haben, dass ich blumige Sprache liebe. Das liegt natürlich auch daran, dass ich blühende Wiesen mag, vor allem solche, deren Blumenteppich sich vom hintersten Häuschen am Rande der Stadt bis zu den ersten Bäumen eines wirklich tiefen Waldes ausrollt. Aber es sei Ihnen auch noch verraten, dass solch blumenübersäte Auen für mich eigentlich nur ein Spiegelbild nächtlicher Sternenwiesen sind. Ich bin ja in meinem ganzen Leben noch nie auf einer echten Wiese gewandelt. Das überrascht Sie? Na, es gibt viele Dinge, die Sie noch nicht wissen! Aber ist es denn an mir, es Ihnen zu erklären, es Ihnen in die Köpfe einzuhämmern? Wohl eher nicht. Warum auch? Ich bin Ihnen zu gar nichts verpflichtet.

Ich habe versprochen, mich nicht damit zu befassen, wann und wo ich geboren wurde. Aber irgendwo muss ich ja anfangen. Es ist also sechs Jahre nach Kriegsende und die Lebensmittel sind immer noch rationiert, genauso wie im Krieg. Alle müssen sehen, wie sie durchkommen. Und am schlimmsten ist es in den Städten. Wer hier einen Balkon hat, hält darauf häufig Hühner oder baut Kaninchenställe. Ich habe auch schon von Balkons gehört, auf denen Schweine grunzen. Aber mir scheint, das sind wohl eher Großstadtlegenden, denn Schweine sind doch höchst geräuschvolle Gesellen und verbreiten außerdem einen so ungeheuer auffälligen Gestank, dass man ihn geradezu mit der Mistgabel umgraben kann. Bei Balkonhühnern und -kaninchen können die wachsamen Hüter der Staatsgewalt vielleicht gerade noch ein Auge zudrücken, aber ich könnte mir vorstellen, dass selbst deren Toleranz ihre Grenzen hat.

An Balkonen, von denen der Schweinegestank herunterweht wie eine extralange Fahne, kämen die Ordnungshüter wohl kaum vorbei. Während des Krieges stand auf sogenannte „Schwarzschlachtung“ von Schweinen die Todesstrafe, aber auch nach dem Krieg, im sogenannten Sozialismus, der jetzt hier bei uns herrscht, würde das nicht einfach so durchgehen.

Ja, also, Brünn, Biskupská ulice. Hier schwebt ein Balkon mit einem Kaninchenstall hoch über den Denisovy sady, einem Park mit einem äußerst stolzen, beinahe zwanzig Meter hohen Marmorobelisken, dessen langer Schatten sich im Laufe des Tages locker dreht und mir als Sonnenuhr dient. Und dazu höre ich dann immer noch die erhabenen Glocken der nahe gelegenen Kathedrale, sodass man Gott sei Dank nicht sagen kann, ich lebte hier jenseits von Zeit und Raum.