Die Nobelpreis-Vorlesung - Bob Dylan - E-Book

Die Nobelpreis-Vorlesung E-Book

Bob Dylan

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Beschreibung

In seiner Rede anlässlich der Verleihung des Nobelpreises für Literatur gibt Bob Dylan erstmals umfassend Einblick in seine literarischen Einflüsse und die Ursprünge seines Songwritings. Woher stammen die mythologischen Anspielungen in seinen Texten, woher die manchmal fast biblischen Gleichnisse? Welche Bücher haben seine Einstellung zum Leben geprägt? Und wo hat er die speziellen Ausdrucksweisen, Jargons, Kunstgriffe und Techniken gelernt? Neben dem prägenden Einfluss von Buddy Holly sowie der Country-, Blues- und Folkmusik der späten 50er und frühen 60er Jahre mit ihrer von spezieller Mundart geprägten Lyrics fließen vielfältige literarische Motive in seine Texte ein: die biblische Symbolik in Moby Dick, die Drastik eines Kriegsromans wie Im Westen nichts Neues, aber vor allem das Motiv der Reise aus der Odyssee als universeller, menschlicher Grundverfassung. Aus diesem Bodensatz heraus schuf Bob Dylan, wie er selber sagt, Lyrics, wie sie noch niemand zuvor gehört hatte.

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Seitenzahl: 63

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Bob Dylan

Die Nobelpreis-Vorlesung

Übersetzt von Heinrich Detering

Hoffmann und Campe

Bob DylanDie Nobelpreis-Vorlesung

Als mich die Nachricht erreichte, dass mir der Literaturnobelpreis zuerkannt wurde, begann ich mich zu fragen, wie sich meine Songs eigentlich zur Literatur verhalten. Ich wollte darüber nachdenken und herausfinden, worin die Verbindung bestand. Ich werde versuchen, darüber zu Ihnen zu sprechen. Vermutlich wird das nur über einen Umweg gehen, aber ich hoffe, dass das, was ich sagen möchte, zielgerichtet und der Mühe wert ist.

Ginge ich ganz zurück bis zu den Tagen, an denen alles begann, so müsste ich wohl mit Buddy Holly anfangen. Buddy starb, als ich ungefähr achtzehn war und er zweiundzwanzig. Von dem Moment an, als ich ihn zum ersten Mal gehört hatte, fühlte ich mich mit ihm verwandt. Ich fühlte mich ihm so nahe, als wäre er mein älterer Bruder. Ich fand sogar, dass ich ihm ähnlich sah. Buddy spielte die Musik, die ich liebte – die Musik, mit der ich aufwuchs: Country & Western, Rock ’n’vRoll und Rhythm and Blues. Drei separate Stränge der Musik, die er miteinander verflochten und zu einem Genre verschmolzen hatte, einer Marke. Und Buddy schrieb Songs – Songs mit schönen Melodien und phantasievollen Versen. Und er sang großartig – sang mit mehr als nur ein paar Stimmen. Er war der Archetyp – alles, was ich nicht war und was ich werden wollte. Ich habe ihn nur ein einziges Mal gesehen, das war wenige Tage, bevor er für immer fortging. Ich musste hundert Meilen weit fahren, um ihn zu sehen, und ich wurde nicht enttäuscht.

Er war energiegeladen und elektrisierend und von imponierender Präsenz. Ich stand keine zwei Meter von ihm entfernt. Er war hypnotisch. Ich beobachtete sein Gesicht, seine Hände, wie er mit dem Fuß den Rhythmus klopfte, die große schwarze Brille, die Augen hinter der Brille, die Art wie er die Gitarre hielt, wie er dastand, seinen adretten Anzug. Einfach alles. Er sah älter aus als zweiundzwanzig. Er hatte etwas Zeitloses, und er erfüllte mich mit Überzeugung. Dann, aus heiterem Himmel, geschah etwas Unheimliches. Er sah mir geradewegs in die Augen, und er sendete irgendetwas aus. Irgendwas, ich weiß nicht was. Aber es ließ mich erschaudern.

Ich glaube, es war nur einen oder zwei Tage später, dass sein Flugzeug abstürzte. Und irgendjemand – jemand den ich nie zuvor gesehen hatte – gab mir eine Platte von Leadbelly mit dem Song Cotton Fields. Diese Platte änderte schlagartig mein Leben. Trug mich in eine Welt, die ich bis dahin nicht gekannt hatte. Es war wie eine Explosion. Als wäre ich bis dahin im Dunkeln gewandert, und auf einmal hätte etwas die Dunkelheit erleuchtet. Als hätte mir jemand einen Schlag versetzt. Ich muss diese Platte hundertmal gehört haben.

Von dem Plattenlabel hatte ich nie zuvor gehört. Ein Begleitheft enthielt Werbung für andere Künstler des Labels: Sonny Terry und Brownie McGhee, die New Lost City Ramblers, Jean Ritchie, String Bands. Ich kannte nichts davon. Aber ich dachte mir, wenn die alle bei demselben Label wie Leadbelly waren, dann mussten sie gut sein, also musste ich sie hören. Ich wollte alles über diese Musik erfahren und sie selber spielen. Die Musik, mit der ich aufgewachsen war, mochte ich zwar immer noch, doch in diesem Augenblick hatte ich sie vergessen. Dachte nicht mal mehr daran. Vorläufig war sie sehr weit weg.

Damals wohnte ich noch zuhause, aber ich konnte es nicht erwarten, endlich fortzugehen. Ich wollte diese Musik erlernen und den Leuten begegnen, die sie machten. Dann brach ich tatsächlich auf und lernte, diese Songs zu spielen. Sie waren anders als all die Lieder, die ich aus dem Radio kannte. Sie waren viel lebendiger und näher am wahren Leben. Um mit einem Radio-Song einen Hit zu landen, konnte es genügen, wenn ein Musiker Würfelglück oder die richtige Spielkarte hatte, aber in der Welt des Folk spielte das keine Rolle. Dort war alles ein Hit. Man brauchte nur eine gewisse Erfahrung und musste in der Lage sein, die Melodie zu spielen. Manche Songs waren einfach, andere nicht. Ich hatte ein natürliches Gespür für die alten Balladen und den Country Blues, aber alles Übrige musste ich von Grund auf neu lernen. Ich spielte für wenige Zuhörer, manchmal nicht mehr als vier oder fünf Leute in einem Raum oder an einer Straßenecke. Dafür brauchte man ein großes Repertoire, und man musste wissen, was wann zu spielen war. Manche Songs waren intim, bei anderen musste man schreien, um sich Gehör zu verschaffen. Du hörst den frühen Folksängern zu und singst die Songs selber nach, auf diese Weise lernst du nach und nach die Ausdrucksweise. Du verinnerlichst sie. Du singst in ihr, im Ragtime-Blues, in Worksongs, in Seemannsliedern aus Georgia, in den Balladen der Appalachen und den Cowboysongs. Du hörst die Nuancen, und du lernst die Details.

Du weißt, worum es da geht. Die Pistole ziehn und sie wieder einstecken. Dich durch den Verkehr peitschen, im Dunkeln reden. Du weißt schon, dass Stagger Lee ein schlechter Mann war und Frankie ein gutes Mädchen. Du weißt, dass Washington eine bourgeoise Stadt ist, du hast schon mal die tiefe Stimme von John the Revelator gehört und die Titanic untergehen sehn in einem morastigen Bach. Und du bist der beste Kumpel des Wild Irish Rover und des Wild Colonial Boy. Du hörst die dumpfen Trommeln und die halblauten Pfeifen. Du hast gesehen, wie der rüstige Lord Donald seine Frau erstach und wie viele deiner Kameraden in weißes Leinen gewickelt wurden.

Diese Ausdrucksweise hatte ich komplett drauf. Ich kannte die Rhetorik. Nichts davon war mir unverständlich – kein Kunstgriff, keine Techniken, keine Geheimnisse und Mysterien –, und die vielen verlassenen Landstraßen, auf denen diese Songs unterwegs waren, kannte ich auch. Ich war imstande, das alles zusammenzubringen und in die Strömungen des Tages einfließen zu lassen. Als ich anfing, meine eigenen Songs zu schreiben, war der Folk-Jargon die einzige Sprache, die ich kannte, und ich gebrauchte sie.

Aber ich besaß noch etwas anderes. Ich besaß Grundsätze und Sensibilitäten und einen informierten Blick auf die Welt, und das schon eine ganze Weile. Hatte das alles in der Grammar School gelernt. Don Quijote, Ivanhoe, Robinson Crusoe, Gullivers Reisen, Eine Geschichte aus zwei Städten und so weiter – typische Lesestoffe der Grammar School, die dir eine Art Blick aufs Leben eröffneten, ein Verständnis für die menschliche Natur und einen gewissen Standard, um die Dinge zu bewerten. Das alles trug ich bei mir, als ich anfing, Songtexte zu schreiben. Ich wollte Lyrics verfassen, wie noch niemand sie je gehört hatte, und diese Themen waren fundamental.

Besondere Bücher, die mich begleitet haben, seit ich sie damals in der Grammar School las – ich möchte Ihnen von dreien davon erzählen: Moby Dick, Im Westen nichts Neues und die Odyssee.

*

Moby Dick ist ein faszinierendes Buch, voller Szenen von großer Dramatik und dramatischen Dialogen.

Dieses Buch fordert dich heraus. Der Plot ist überschaubar. Der geheimnisvolle Captain Ahab – Kapitän eines Schiffes namens Pequod –, ein Egomane mit einem Holzbein, jagt seiner Nemesis nach, dem großen weißen Wal Moby Dick, der ihm einst sein Bein nahm. Er verfolgt ihn quer durch den Atlantik rund um die Südspitze Afrikas bis in den Indischen Ozean. Er jagt den Wal rund um die Welt. Aber das Ziel bleibt abstrakt, es ist nichts Konkretes oder Bestimmtes. Er nennt Moby Dick den »Gebieter«, sieht in ihm die Verkörperung des Bösen. Ahab hat Frau und Kinder zuhause in Nantucket, an die er hin und wieder zurückdenkt. Man ahnt schon, was geschehen wird.