Die Ordensburg - Bernhard Hennen - E-Book
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Die Ordensburg E-Book

Bernhard Hennen

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Beschreibung

Bereits seit eintausend Jahren besteht der Bund, den die Elfen und die Menschen des Fjordlands in ihrer dunkelsten Stunde schmiedeten: Gemeinsam besiegten sie einst die Trolle und schworen einander fortan Waffentreue. Nun bedroht eine neue, finstere Macht die magischen Völker Albenmarks und die freien Menschen des Fjordlands: Die Ritter der Tjuredkirche haben geschworen, jeden zu vernichten, der sich ihren strengen Dogmen widersetzt. Als der Kampf um die Welt beginnt, stehen sich zwei Herzen, die eigentlich auf ewig verbunden sein sollten, plötzlich als Feinde gegenüber ...

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Seitenzahl: 808

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DASBUCH

Ihr Vater lachte laut und herausfordernd. Gishild hatte nicht gehört, was er mit den Männern in seiner Umgebung besprochen hatte. Selbst der Erzverweser lächelte. Auf die Prinzessin wirkte das alles falsch. Die Ordensritter waren ihre Todfeinde! Jeder von ihnen hatte bei seinem Leben geschworen, das Heidentum zu vernichten. Mit diesen Männern konnte man nicht verhandeln. Und lachen sollte man mit ihnen schon gar nicht. Wenn diese Mörder mit ihrem Vater gemeinsam lachten, dann bestimmt nur, weil sie an Verrat dachten.

Gishild wächst behütet am Hofe ihres Vaters auf. Gunnar Eichenarm ist einer der mächtigsten Könige des Fjordlandes und ein direkter Nachfahr Mandreds, der einst das magische Bündnis mit der Elfenkönigin Emerelle schloss. Gishild, die ebenso von Elfen wie von Menschen unterrichtet wird, liebt die Bewohner Albenmarks und würde alles darum geben, so zu sein wie sie. Doch dann taucht an den Grenzen des Fjordlands ein Feind auf, gegen den selbst die Elfenmagie machtlos ist: Die Heere der Tjuredkirche, deren Ordensritter den heiligen Eid geschworen haben, das Heidentum und mit ihm alle magischen Wesen zu vernichten. Als Gunnar sich weigert zu kapitulieren, entführen die Ordensritter Gishild.

Nachdem Lucs ganzes Dorf von der Pest dahingerafft wurde, nimmt sich die junge Ritterin Michelle des begabten Waisenjungen an. Sie bringt ihn nach Valloncour, der sagenumwobenen Ordensburg der Tjuredkirche, wo Luc zu einem Streiter für den wahren Glauben ausgebildet werden soll. Als er dort Prinzessin Gishild begegnet, ahnt Luc nicht, dass sich von diesem Augenblick an nicht nur sein Schicksal für immer verändern wird, sondern das der ganzen Welt.

DERAUTOR

Bernhard Hennen, 1966 geboren, studierte Germanistik, Geschichte und Vorderasiatische Altertumskunde. Mit seiner Elfen-Saga stürmte er alle Bestsellerlisten und schrieb sich an die Spitze der deutschen Fantasy-Autoren. Bernhard Hennen lebt mit seiner Familie in Krefeld.

»In seinen Romanen inszeniert Bernhard Hennen ein bildgewaltiges Kopfkino.« NEUEWESTFÄLISCHE

»Man nennt ihn auch den HERRNDERELFEN. Bernhard Hennen ist der zurzeit erfolgreichste Fantasy Autor im deutschsprachigen Raum.« EXPRESS

»Bernhard Hennens Elfen-Romane gehören zum Besten, was die Fantasy je hervorgebracht hat.« WOLFGANGHOHLBEIN

Bernhard

Hennen

ELFENRITTER

DIE ORDENSBURG

Erster Roman

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Vollständig überarbeitete Neuausgabe 05/2021

Redaktion: Angela Kuepper

Überarbeitung: Uta Dahnke

Copyright © 2007 by Bernhard Hennen

Copyright © 2021 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: Das Illustrat GbR, München

unter Verwendung einer Illustration von Kerem Beyit

Karten [>>] und Vignetten: Andreas Hancock

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-25943-3V002

Für die Schöne im Park

»Lernen, ohne zu denken, ist eitel;

denken, ohne zu lernen, ist gefährlich.«

– Konfuzius

1

DIE SPUR DES AHNEN

»Das ist kein Ort, an den man alleine gehen sollte, mein König.«

Gunnar Eichenarm legte dem Krieger die Hand auf die Schulter. »Wie lange befehligst du nun schon meine Leibwache, Sigurd Swertbrecker?«

Der große, dunkelhaarige Fjordländer runzelte die Stirn. Er bewegte die Lippen, als zähle er lautlos.

»Seit siebzehn Jahren kämpfst du nun an meiner Seite. Seit mein Vater mich das erste Mal in eine Schlacht ziehen ließ. Und neun Jahre bist du der Hauptmann meiner Leibwache, der Mandriden.« König Gunnar blickte zu den Männern, die am Rand der Lichtung standen. Sie wirkten angespannt. Fast jeder hatte die Hand am Schwert. Auf dieser Lichtung war seinem Urahnen Mandred einst der Manneber begegnet, jenes dämonische Ungeheuer, das so viel Unheil über Menschen und Elfen bringen sollte. Der Ort galt als verflucht … Niemand kam freiwillig hierher.

Der König blickte hinauf zur Klippe. Wie eine schwarze Krone zeichneten sich die stehenden Steine gegen den Nachthimmel ab. Grünes Feenlicht tanzte in weiten Bögen am Himmel. Es war voller Schönheit und zugleich auch unheimlich. Hell stach der Schein der Wintersterne durch das wogende Himmelslicht. Glaubte man der Sage von Mandred Torgridson, dann war es eine Winternacht wie diese gewesen, in der das Band zwischen Menschen und Elfen geknüpft worden war. Fast ein Jahrtausend währte der Bund nun, und obwohl Elfen, Trolle, Kentauren und Kobolde seinen Kriegern ein vertrauter Anblick waren, scheuten die Männer vor den magischen Toren in die Anderswelt zurück. Selbst Tiere mieden diese verzauberten Orte. Kein Vogel flog je über die Höhe des Hartungskliffs hinweg.

Gunnar sah den Hauptmann seiner Leibwache an. Eiskristalle funkelten in Sigurds schwarzem Bart. Seine kalten blauen Augen wirkten entschlossen. Gunnar wusste, sein Gefährte würde ihm überallhin folgen. Doch es wäre ehrlos, ihn darum zu bitten, ihn auf diesem Weg zu begleiten.

Der König hatte nicht die Absicht, durch das Tor zu treten. Doch man wusste nie, was geschehen mochte, wenn man sich in die Nähe eines Albensterns wagte. Und kein Mensch, der je das Land des ewigen Frühlings betreten hatte, war darin glücklich geworden. Jeder im Fjordland kannte die Lieder über Alfadas, Mandred oder Kadlin, die Kriegerkönigin. Helden waren sie, ohne Zweifel, und doch war es ihnen verwehrt geblieben, ihr Glück zu finden. Dort, wo der Ruhm wohnte, hausten zugleich auch Trauer und Einsamkeit. Wer Albenmark gesehen hatte, der blieb künftig den anderen Menschen fremd … und manche, wie sein Urahn Mandred, fanden nicht mehr den Weg zurück.

Gunnar umfasste Sigurds Handgelenk im Kriegergruß. »Ich werde allein gehen, mein Freund. Nimm die Männer mit! Wartet unten am Fjord auf mich.«

Obwohl Sigurd sich alle Mühe gab, sich seine Gefühle nicht anmerken zu lassen, spürte Gunnar, wie erleichtert der Hauptmann war. Sie kannten einander zu lange, um verbergen zu können, was sie bewegte.

»Wenn du bis zum Morgengrauen nicht bei uns bist, dann steige ich hinauf zum Kliff!«

Gunnar musste über dieses feierliche Versprechen lächeln. Er wusste, dass Sigurd keine leeren Worte machte. »Folge mir nicht. Wenn ich zum Morgengrauen nicht zurück bin, dann werde ich an einem Ort sein, an dem du mich nicht mehr erreichen kannst.« Er stockte. »Wenn das geschieht … sag Roxanne, dass ich sie liebe. Und achte auf meinen Sohn … und auf Gishild. Man darf die Kleine nicht aus den Augen lassen. Das weißt du ja.«

Sigurd nickte linkisch. »Roxanne wird wissen, dass du nur ihretwegen gegangen bist.«

»Red ihr das aus!«

»Aber es ist doch die Wahrheit! Und du müsstest das nicht tun … Sie werden kommen. Du hast doch eine Botin geschickt. Bleib bei uns und warte … unten am Fjord.« Er sah ihn beinahe flehend an, was sonst gar nicht Sigurds Art war.

Gunnar fragte sich, ob der Hauptmann der Mandriden gar das zweite Gesicht hatte. Ahnte Sigurd etwas?

»Sie werden kommen, das weißt du, mein König.«

Gunnar blickte zum Mond, der tief am Himmel stand. Die Worte der Hebamme klangen ihm noch in den Ohren. Sie wird den Morgen nicht erleben, wenn kein Wunder geschieht.Zwei Tage kämpfte Roxanne nun schon im Kindbett. Sie war am Ende ihrer Kräfte. Der König wusste, dass es jenseits des Tores, in der anderen Welt, ein Wesen gab, das bald spüren würde, wenn er auf dem Hartungskliff stand. Einen uralten, verzauberten Baum. Die Albenkinder mussten wissen, wie verzweifelt er ihre Hilfe brauchte! Es war schon Stunden her, dass sein Bote, der Kobold Brandax, aufgebrochen war. Warum kam niemand? Gunnar musste zugeben, dass Brandax unter den Elfen nicht sehr beliebt war. Seine zänkische Art machte es schwer, mit ihm auszukommen. Aber er war der Einzige gewesen, der ein Tor öffnen konnte … Ob man ihn bei Hof nicht vorließ?

Der König blickte zum Kliff. »Ich muss gehen, Sigurd.« Er umfasste noch einmal das Handgelenk des Hauptmanns und kehrte der Lichtung den Rücken.

Allein mit den uralten Eichen des Waldes, beschlich ihn wieder dieses klamme Gefühl. Seit einem Jahrtausend war seine Familie mit den Albenkindern verbunden. Seite an Seite kämpften sie gegen die übermächtigen Ritterheere der Tjuredkirche. Er kannte die grausigen Riten der Trolle nach den Schlachten, die Feste der Elfen, die ein Zauber umgab, der Menschen das Herz wund werden ließ. Er hatte den seltsamen Humor von Kobolden erduldet. Er hatte mit den Anderen geblutet und gelacht. Aber sie waren ihm fremd geblieben. Da war eine letzte, unsichtbare Mauer, die niemals fiel. Das machte sie unheimlich … Er konnte verstehen, warum die Tjuredpriester sie so sehr fürchteten. Man wusste nie, was im Kopf eines Elfen vor sich ging. Auch nicht, wenn er ein Freund war. Warum war keine Hilfe gekommen?

Gunnar trat aus dem Wald hinaus auf ein sanft ansteigendes Schneefeld. Das grüne Feenlicht verlieh der winterlichen Landschaft eine eigentümliche Farbe. Es hieß, die Tore zur Anderswelt seien leichter zu öffnen in solchen Nächten.

Das Knirschen des verharschten Schnees, das Lied des Windes in den Klippen und sein keuchender Atem waren die einzigen Geräusche, die Gunnar bei seinem einsamen Aufstieg begleiteten. Als er endlich den Gipfel erreichte, überkamen ihn Zweifel. Im Kreis der blanken Felsen, die mit gewundenen Spiralmustern versehen waren, lag kein Schnee. Vielleicht hatte der Wind ihn davongetragen, sagte sich der König stumm und wusste es doch besser. Dieser Ort gehörte nicht mehr ganz in die Welt der Menschen. Hier tobte Wind, wenn sich unten im Fjord kein Lüftchen regte, und umgekehrt war es hier manchmal vollkommen windstill, während eisige Winterstürme über den zugefrorenen Fjord fegten.

Ehrfürchtig strich er mit der Hand über einen der stehenden Steine. Eine plötzliche Bö zerzauste das lange Haar des Herrschers. Gefrorener Atem knisterte leise in seinem Bart. Er beugte sich vor, bis seine Stirn den rauen Fels berührte. Zwei Tage lang hatte er seine Götter angefleht und war nicht erhört worden. Nun galten seine Bitten einer greifbareren Macht.

Dem kalten Stein vertraute er all seine Ängste an. Er war ein Kriegerkönig, erprobt in Dutzenden blutigen Schlachten. Er scheute keine Gefahr … doch fürchtete er, was jetzt hinter der verschlossenen Tür im Kindbett geschah. Lebte Roxanne noch? Hier, wo ihn keiner sah, hielt er seine Tränen nicht zurück.

Er blickte hinab zur großen Stadt am Fjord. Mehr als eine Meile lang erstreckte sie sich am Ufer. Senkrecht stiegen die Rauchfahnen aus Hunderten Schornsteinen. Kaum jemand zeigte sich auf den Hauptstraßen. Um die Wachfeuer auf den Wehrgängen der Königsburg scharte sich eine Handvoll dunkler Gestalten.

Sein Blick wanderte zu dem breiten Gürtel aus Gräben und Erdwällen. Die strengen geometrischen Formen passten nicht zu der Stadt mit ihren verwinkelten Gassen und den Fachwerkhäusern mit ihren mit Schnitzwerk überladenen, steilen Giebeln. Es würde Jahre dauern, bis die neuen Festungswerke vollendet wären. Gunnar wusste, dass all dies vergebliche Mühen waren. Würden die Ritter der Tjuredpriesterschaft jemals bis vor die Wälle Firnstayns gelangen, dann wäre sein Königreich dem Untergang geweiht, ganz gleich, wie stark die Festungswerke waren. Die Ritter konnten nur von Süden kommen, und wenn sie ihre Banner vor der Stadt aufpflanzten, dann mussten sie das restliche Königreich schon unterworfen haben.

Nicht Mauern, sondern allein die Macht jenseits dieses Steinkreises mochte dann noch Rettung bringen. So wie jetzt, in dieser verzweifelten Stunde, in der Roxanne und das Kind mit dem Tode rangen.

Ein warmer Luftzug streichelte Gunnars Wangen. Der König wandte sich zum Steinkreis um. Der Duft einer blühenden Frühlingswiese umgab ihn. Er hörte Wind in Blättern flüstern, obwohl die nächsten Bäume mehr als eine Meile entfernt standen.

Sein Magen krampfte sich zusammen. Seine Bitten waren erhört worden. Er sollte froh sein. Doch mitten im Winter dem Frühling zu begegnen machte ihm Angst. Etwas im Steinkreis hatte sich verändert. Die Spiralmuster … schienen sich zu bewegen.

Gunnar blinzelte. Unsicher wich er einen Schritt zurück. Der Boden, auf dem er stand, war gewachsener Fels. Licht sickerte aus den Spiralmustern im Gestein hervor, gerade so wie Licht, das unter einem Türspalt hindurchschien.

Der König wich noch weiter zurück. Das Licht erhob sich zu tanzenden Linien, die bald einen hohen Torbogen formten. Er durfte dort nicht hinsehen! Er kannte die Geschichten … So viele seiner Ahnen hatte Albenmark in den Bann gezogen. Fortgerissen aus dem Leben, wie Menschen es führen sollten. Es war besser, diese fremde Welt nicht zu sehen!

Dennoch vermochte Gunnar den Blick nicht abzuwenden. Hinter dem Torbogen aus wogendem Licht lag ein Raum voller Dunkelheit, den ein goldener Pfad durchmaß. Und am anderen Ende des Pfades, nur ein paar Schritt entfernt, öffnete sich ein zweites Tor. Gunnar sah eine Frühlingswiese. Einen Hügel, gekrönt von einer mächtigen Eiche … Plötzlich tauchte eine Reiterin auf. Sie schien auf dem goldenen Pfad zu schweben. Unwirklich, wie ein Geist.

Ein Herzschlag, und sie war durch das Tor. Das tanzende Licht verblasste. Nur der Frühlingsduft blieb noch einen Augenblick, dann regierte wieder der Winter.

Gunnar kannte Elfen, seit er laufen gelernt hatte. Schon am Hof seines Vaters waren sie wohlvertraute Gäste gewesen. Doch nie zuvor hatte der König gesehen, wie sie aus der Anderswelt herüberkamen. Er starrte die Frau auf der milchweißen Stute an wie einen Geist. Sie war in ein silbergraues Gewand gekleidet, so zart, als sei es aus Mondlicht gewoben. Der eisige Nordwind spielte in ihrem langen schwarzen Haar. Sie war von so unnahbarer Schönheit, dass der König kein Wort über die Lippen brachte.

Obwohl sie gekleidet war wie für ein Sommernachtsfest, schien ihr die Eiseskälte nichts anhaben zu können.

»Du sagst, dein Weib ringt mit dem Tode.«

Gunnar vermochte nur zu nicken. Er räusperte sich … doch seine Stimme schien ihn verlassen zu haben.

»Ich bin Morwenna, Tochter der Alathaia«, sagte sie und streckte ihm ihre Hand entgegen.

Obwohl sie kleiner war als er und obendrein von zierlicher Gestalt, war ihr Griff kraftvoll. Ohne Mühe zog sie ihn vor sich auf das Pferd. Er spürte ihren warmen Atem im Nacken. Sie zog am Zügel, und das Pferd trabte den viel zu steilen Hang hinab. Sie hielten sich parallel zu seiner Spur, der breiten Furche, die er hinterlassen hatte, als er sich mühsam bergan gekämpft hatte. Die silberbeschlagenen Hufe der Stute brachen nicht einmal durch die Schneedecke. Der helle Klang der Glöckchen am Zaumzeug begleitete ihren Weg. Sonst war es still. Die Nacht beobachtete sie, als spüre sie, dass etwas Fremdes in die Welt der Menschen eingedrungen war.

Beklommen dachte Gunnar an seinen Urahnen und den Preis, den Mandred einst für die Hilfe der Elfen gezahlt hatte. Und Sorge war es, die den König endlich sprechen ließ. »Was fordert deine Königin für eure Hilfe?«, fragte er mit heiserer Stimme.

Morwenna schwieg. Doch Gunnar war sich sicher, dass sie hinter seinem Rücken lächelte.

2

VOR DEM MORGENROT

Gunnar trat aus der stickigen Festhalle hinaus auf den weiten Hof der Burg. Aus fröhlichem Lärm war besoffenes Lallen geworden. Die Jarle des Fjordlands, Trolle und Kentauren zechten gemeinsam. Sie warteten auf die Geburt des Thronfolgers. Zu lange schon!

Verzweifelt blickte Gunnar zu dem einen hell erleuchteten Fenster des Palas auf der anderen Seite des Hofs. Er hatte gehofft, dass mit Morwennas Ankunft alles besser würde. Doch die Elfe war nun schon seit Stunden dort oben. Längst hatte das Morgenrot das Feenlicht vom Himmel vertrieben. Leichter Schneefall hatte eingesetzt. Es kam Gunnar so vor, als sei es ein wenig wärmer geworden.

Vor ihm, mitten auf dem Hof, stand die Stute der Elfe. Das Pferd blickte zu ihm herüber. Es hatte helle, blaue Augen. Pferde sollten nicht solche Augen haben! Und sie sollten einen auch nicht so anblicken. Als verstünden sie, was einem das Herz aufwühlte!

Wieder öffnete sich die Tür zur Festhalle. Fetzen eines wilden Reiterliedes hallten in den Morgen hinaus. Dann schnitt die zufallende Pforte das Kriegerlied ab. Schritte knirschten im Schnee.

»Es wird gut werden, Gunnar. Sie ist eine Elfenzauberin«, erklang eine wohlvertraute Stimme. Hauptmann Sigurd legte ihm die Hand auf die Schulter. »Du weißt, was sie vermögen.«

Gunnar kannte ihre Krieger. Auch sie vermochten zu zaubern. Doch wahre Heiler waren selten. Er musste Morwenna vertrauen!

»Wie war es bei deiner Frau?«

Sigurd lachte verlegen. »Ich war nicht dabei, mein König. Es war im Sommer vor drei Jahren, als wir in Stovia gekämpft haben. Ich weiß nur, was mir die Amme erzählt hat. Angeblich hat sich meine Frau mitten beim Abendmahl erhoben. Sie hatte noch eine Lammkeule vor sich auf dem Tisch. Und dann hat sie sich plötzlich die Röcke benässt. Keine halbe Stunde später war meine Tochter da.« Er schnippte mit den Fingern. »Einfach so. So haben sie es mir jedenfalls erzählt.«

Gunnar sagte nichts dazu. Das war nicht das, was er jetzt hören wollte. Er blickte erneut zum Fenster hinauf. Was, bei allen Göttern, geschah dort oben? Er hatte gedacht, wenn eine Elfenheilerin käme, wäre alles gut …

»Mein König?« Sigurd sah ihn an, als habe er etwas Bedeutendes gesagt. Gunnar hatte nicht zugehört. Zu sehr war er in seinen Gedanken gefangen.

Ein Schrei ließ den Herrscher herumfahren. Es ging wieder los! Zwei verfluchte Tage dauerte das jetzt. Warum nahm es kein Ende? Wie lange konnte Roxanne das noch durchstehen?

Sigurd packte ihn fest an beiden Armen. »Du solltest nicht hier sein. Du kannst deiner Frau jetzt nicht helfen. Was nützt es, dich zu quälen? Komm zurück in die Halle.«

»Es ist doch wie Verrat, wenn ich nicht bei ihr bin.«

»Die Hebamme und die Elfe haben dich hinausgeworfen«, erinnerte ihn der Hauptmann. »Komm, es ist das Beste, wenn wir beide trinken, bis wir unter dem Tisch liegen. Du kannst dort oben nichts ausrichten … also tun wir, was Männer schon immer getan haben, wenn ihre Weiber Kinder gebären.«

Gunnar wünschte, er wäre auf einem Schlachtfeld, mitten im dicksten Getümmel. Da wüsste er, was zu tun war. Er fühlte sich hilflos wie selten zuvor in seinem Leben.

»Weißt du schon, wie du ihn nennen willst?«

Gunnar zögerte. Ja, er hatte sich einen Namen zurechtgelegt. Aber er hatte ihn noch niemandem genannt. Nicht einmal Roxanne. Es brachte Unglück, über den Namen eines Kindes zu sprechen, wenn es noch nicht geboren war. Das musste Sigurd doch wissen! Wahrscheinlich war er schon zu betrunken … Snorri sollte sein Sohn heißen. Ein guter Kriegername war das!

Die Elfenstute schabte mit einem Huf im frischen Schnee. Sie sah ihn immer noch mit ihren unheimlichen Augen an. Er fühlte sich, als habe man einen Kübel Eiswasser über ihn ausgeschüttet. Diese Augen …

Roxanne würde sterben. Plötzlich war er sich ganz sicher. Ihre Schreie waren verklungen. Luth würde ihren Lebensfaden durchtrennen. Jeden Augenblick …

Er musste bei ihr sein.

Der Nordwind jaulte unter den Dachsparren, verlieh den geschnitzten Drachenköpfen eine geisterhafte Stimme. Der Schneefall war dichter geworden. Das Elfenpferd verschwamm zu einem undeutlichen Schemen. Gunnar glaubte, im Schneegestöber schattenartige Gestalten zu erkennen. Gestalten, gezeugt aus Sturmwind, Eis und Ewigkeit. Die Geister seiner Ahnen versammelten sich, um seinem Weib das letzte Geleit in die Goldene Halle zu geben.

»Siehst du sie?«

Sigurd blinzelte. »Wen?«

Konnte man ihm trauen?

»Das ist keine Nacht, um draußen zu sein. Fordere dein Schicksal nicht heraus, mein König! Du warst beim Albenstern und bist mit einer Elfe geritten … Komm zurück in die Halle.« Sigurd hielt ihn noch immer bei den Armen gepackt. »Dies ist eine Nacht für Albenkinder und Götter. Du kannst deinem Weib nicht helfen. Bitte, komm mit mir!«

Gunnar riss sich los. Er würde Roxanne nicht im Stich lassen. Er lief über den Hof. Die weite Eingangshalle des Palas war verlassen. Laut hallten seine Schritte auf dem Steinboden, begleitet einzig vom Sturmgeheul unter den Dachtraufen.

Er stürmte die Treppe hinauf und hielt auf der obersten Stufe inne. Roxanne war verstummt. Es war totenstill auf dem Gang, der zu ihrem Schlafgemach führte. Vielleicht hatten die Elfe und die Hebamme doch recht? Vielleicht würde es alles nur noch schlimmer machen, wenn er dort war?

Gunnar hatte die Tür zu Roxannes Kammer fast erreicht, als er die zusammengekauerte Gestalt im Bogenfenster gegenüber bemerkte. Die Knie angezogen und ihre Lieblingspuppe dicht an die Brust gedrückt, hockte dort Gishild. Die Nacht hatte Eisblumen auf das Bleiglasfenster gehaucht. Seine Tochter presste die Lippen fest zusammen und versuchte zu verbergen, dass ihr die Zähne klapperten. Selbst im morgendlichen Zwielicht sah er deutlich, dass sie geweint hatte.

Hinter der Tür schluchzte Roxanne. Offenbar hatte sie nicht mehr die Kraft zu schreien. Die langen, unendlich klagenden Laute schnitten Gunnar ins Herz. Er wollte bei ihr sein! Doch konnte er nicht so tun, als habe er Gishild nicht bemerkt. Was tat sie hier? Sie sollte, bewacht von der Amme, in ihrem Bett liegen!

Gunnar blickte noch einmal zur Tür. Schließlich wandte er sich ab. Gishild rannen jetzt wieder Tränen über die Wangen, aber sie schluchzte nicht.

Er beugte sich vor und hob sie auf den Arm. Sie war so leicht … so zerbrechlich. Wie lange wartete sie schon hier in der Kälte? Er hätte seine Wache vor der Kammer nicht aufgeben dürfen.

»Warum tut mein Bruder Mama so weh?«, stieß sie stockend hervor.

Gunnar schluckte. Was sollte er darauf antworten? »Er tut das nicht absichtlich.«

»Du musst ihm sagen, dass er das nicht darf!«, sagte sie entrüstet. »Sag ihm, ich verprügele ihn, wenn er Mama nicht in Frieden lässt. Ich werde ihn …«

Während sie sprach, zitterte sie immer heftiger, und schließlich gingen ihre Worte in halb ersticktem Schluchzen unter.

Gunnar drückte sie fest gegen seine Brust und streichelte ihr über das Haar. »Es wird alles wieder gut«, sagte er hilflos und musste plötzlich selbst gegen die Tränen ankämpfen.

Langsam beruhigte sich Gishild. Auch das Schluchzen hinter der schweren Eichentür war verstummt. Die Stille dort machte dem König mehr zu schaffen als Roxannes Schreie. War sie …

»Ich habe Gudrun belauscht, wie sie mit einer Küchenmagd gesprochen hat. Die beiden haben geflüstert, aber ich habe sie trotzdem verstanden. Sie meinten, dass Mama sterben wird.«

Gunnar schwor sich, die beiden Weiber fortzujagen. Gudrun hatte er als Gishilds Kinderfrau ausgewählt, weil sie einen leichten Schlaf hatte. Offensichtlich nicht leicht genug. Er sollte einen Wachhund für seine Tochter suchen. Einen Bärenbeißer vielleicht … »Die beiden wissen nicht, was sie reden! Wir haben eine Zauberin, wie du sie aus den Märchen kennst. Alles wird gut werden, meine Kleine.«

Gishild beugte sich ein wenig zurück. Sah sie ihm an, dass er nicht so zuversichtlich war, wie er zu klingen versuchte?

»Sie macht Mama gesund und holt meinen Bruder.«

»Ja, so wird es sein.« Er klammerte sich daran … Er hatte sich so sehr einen Erben gewünscht. Ohne einen Jungen würde seine Dynastie verlöschen. Nach fast tausend Jahren … Jetzt war es ihm egal. Wenn nur Roxanne überlebte! Die Hebamme hatte ihn nach der Geburt von Gishild gewarnt. Roxanne sollte keine weiteren Kinder bekommen. Aber mit seiner Tochter war es ja letztlich gutgegangen … Auch Roxanne hatte nicht geglaubt, dass …

Hinter der Tür erklang ein Schrei. Das Kind!

Der Laut brach sofort wieder ab.

»War das mein Bruder?«

Warum schrie der Kleine nicht mehr? Statt ihr zu antworten, schloss er Gishild fester in die Arme. Er hätte früher zum Steinkreis auf dem Hartungskliff hinaufsteigen sollen. Er hatte zu lange gezögert, die Elfen direkt um etwas zu bitten. Stattdessen hatte er Brandax geschickt … Das Königshaus war seit einem Jahrtausend mit der Herrscherin Albenmarks verbunden. Ein Bund, der mit einem Kind besiegelt worden war und mit viel Leid … Im Krieg gegen die Tjuredpriester unterstützten die Elfen sie schon immer. Beide Seiten hatten etwas davon … Aber sie einseitig um einen Gefallen zu bitten, das war gefährlich. Man zahlte immer einen Preis. Gunnar war davor zurückgeschreckt. Er kannte sie zu gut, die düsteren, alten Geschichten um Mandred und dessen Sohn Alfadas.

Plötzlich flog die Tür auf. Die Hebamme trat aus dem Zimmer, beide Arme mit blutdurchtränkten Laken beladen. Sie war leichenblass. Ihr Ellenbogen versetzte der Tür einen Stoß, und selbige fiel wieder zu.

Gunnar hielt Gishild noch immer an sich gedrückt und wandte sich ab, sodass sie die blutigen Tücher nicht sehen konnte. »Was ist passiert?« Er konnte sich an den Namen des Weibs nicht mehr erinnern.

Die Hebamme schien ihn erst jetzt zu bemerken, obwohl er keine drei Schritt entfernt stand. Ihre Augen waren schreckensweit. Sie schien durch ihn hindurchzublicken. »Das willst du gar nicht wissen, Gunnar. Das Kindbett ist ein Schlachtfeld, zu dem ihr Männer nur das stürmische Vorgeplänkel geliefert habt. Das letzte Gefecht bleibt immer Frauensache!«, sagte sie tonlos.

»Geht es Roxanne gut?«

»Nein! Luth hat die Sichel an ihren Lebensfaden gelegt.«

»Mama?«

Gunnar verwünschte sich dafür, diese Frage gestellt zu haben. »Morwenna wird alles richten«, versuchte er seine Tochter zu trösten, doch versagte ihm bei den Worten fast die Stimme.

Die Hebamme bedachte ihn mit einem eigentümlichen Blick. Er hütete sich, noch weitere Fragen zu stellen.

»Alles wird gut«, wiederholte er immer wieder und wiegte sich dabei vor und zurück. »Alles wird gut.«

Die alte Hebamme verschwand mit den Laken. Gishild stellte keine Fragen mehr. Und Gunnar lauschte auf die Geräusche hinter der Tür. Dort war es unheimlich still.

Es dauerte eine Ewigkeit, bis die Alte zurückkehrte. Ohne ein Wort schlüpfte sie in Roxannes Kammer.

Hinter der Tür wurde gesprochen. Gunnar konnte die Stimmen zwar unterscheiden, aber er verstand nicht, worum es ging.

»Etwas ist mit Mamas Bauch«, sagte Gishild unvermittelt. »Die Zauberin hat etwas damit gemacht, was Gilda unheimlich ist.«

»Morwenna weiß, was sie tut«, versuchte Gunnar die Sache abzutun. Zu oft hatte er gesehen, wie Elfen Dinge vollbrachten, die man sich nicht erklären konnte. Am besten war es, das einfach hinzunehmen. Sie wurden sonst zu unheimlich. Und sie waren doch ihre Verbündeten.

Die Tür öffnete sich erneut. Gilda sah ihn vorwurfsvoll an. Worüber hatten sie und die Elfe gesprochen?

»Komm herein, König! Du kannst die Kleine mitbringen.« Sie nahm ihm Gishild vom Arm, kaum dass er die Tür erreichte. »Komm, schau dir deinen Bruder an. Er ist ziemlich groß. Wird ein kräftiger Kerl werden.«

Gunnar trat an Roxannes Bett. Ihr Antlitz war fast so weiß wie die frischen Laken. Sie schlief. Dunkle Ringe hatten sich tief unter ihre Augen gegraben.

Morwenna stand am offenen Fenster vor einer Schüssel und wusch sich das Blut von den Händen. Sie sah hinaus ins Schneegestöber und beachtete ihn nicht. Neben ihr schwelte Weihrauch in einer kleinen Kupferpfanne. Der Wohlgeruch vermochte den Gestank von Blut und Schweiß nicht ganz zu vertreiben.

Die Alte hatte recht, dachte Gunnar. Es roch hier wirklich wie auf einem Schlachtfeld. Wieder sah er zu seiner Frau. Er schluckte. Wie auf dem Totenbett aufgebahrt erschien sie ihm. Er konnte nicht erkennen, ob sich ihre Brust hob und senkte.

Plötzlich nahm ihn Gilda bei der Hand. Sie zog ihn in die hinterste Ecke des Zimmers. »Du musst wissen, dass Luth sie beide holen wollte, Gunnar. Dein Weib und deinen Sohn. Er war zu groß … und er hat falsch gelegen. Ich habe das schon zu oft erlebt.« Sie blickte ängstlich zu der Elfe. »Sie hat dem Schicksalsweber die beiden Leben gestohlen. Daraus wird nichts Gutes erwachsen. Sie …« Die Hebamme machte mit fahriger Hand ein Zeichen, um das Böse abzuwenden. »Ich habe so etwas noch nie gesehen …« Sie sprach so leise, dass Gunnar sich fast bis an ihre Lippen beugen musste, um sie zu verstehen. »Ihre Hände … Sie hat deinem Weib in den Leib gegriffen. Durch den Bauch hindurch …« Wieder schlug Gilda das Schutzzeichen. »Aus dem Leib gerissen hat sie ihr den Jungen. Ich musste wegsehen … Jetzt ist Roxannes Bauch wieder ganz glatt. Nicht einmal eine Narbe gibt es … Aber glaub mir, sie hat mit ihren Händen in den Bauch gegriffen.«

Gunnar wollte das nicht hören. Was immer auch geschehen war, Roxanne und sein Sohn lebten. Und hatte Gilda nicht selbst gesagt, sie hätte nicht hingesehen? Das war nur Geschwätz! Er trat hinüber an die Wiege. Sein Sohn! Er hatte einen Erben! Was scherte ihn das Gerede eines alten Weibes. Er war sich schon bewusst, dass Magie seinem Sohn auf die Welt geholfen hatte. Deshalb hatte er die Elfe schließlich geholt!

Ein breites Gesicht hatte sein Junge. Und viele Haare … Vorsichtig strich er ihm über den Kopf.

»Hübsch ist mein Bruder aber nicht«, murmelte Gishild enttäuscht. Dann ballte sie die Fäuste. »Und wenn er Mama noch einmal wehtut …«

Roxanne bewegte sich in ihrem Bett. Sie hatte die Augen geöffnet.

»Mama!« Gishild stürzte sich auf sie.

Gunnar wollte sie zurückhalten, doch ein Blick Roxannes gebot ihm, sie gewähren zu lassen.

Gilda kniete mit einer Schüssel Brei neben dem Bett nieder. »Du musst essen, Herrin.«

Die Elfe trat vom Fenster zurück. Ohne den Frauen und dem Mädchen Beachtung zu schenken, kam sie auf ihn zu.

Gunnar legte auch die zweite Hand auf seinen Sohn.

»Du hättest mich früher rufen sollen, Gunnar Eichenarm«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Hüte deine Kinder gut, denn dein Weib wird dir keine mehr gebären können. Du weißt, wenn deine Blutlinie verlischt, wird auch das Fjordland untergehen. Wenn er sein siebtes Jahr vollendet hat, werde ich wiederkommen und ihn holen. Bis dahin gehört er dir.«

Gunnar riss das Kind aus der Wiege und wich vor der unheimlichen Elfe zurück. »Nein. Er wird an meinem Hof aufwachsen. Du kannst verlangen, was du willst. Aber raube mir nicht mein Kind!«

Seine Worte hatten die anderen aufgeschreckt. Roxanne begann zu weinen und versuchte sich aus dem Bett zu erheben. Gishild sah die Elfe entsetzt an.

»Sei kein Narr, König! Du weißt, meine Herrin Emerelle versteht sich darauf, in die Zukunft zu blicken. Mit seinem achten Jahr beginnt für deinen Sohn eine Zeit der Gefahr. Nur am Königshof von Albenmark wird er sicher sein.«

»Du wirst ihn mir nicht nehmen«, sagte er mit fester Stimme. »Ich habe dir nichts versprochen!«

Morwenna sah ihn an, wie man ein widerborstiges Kind ansah. »Niemand will deinen Sohn rauben. Meine Herrin will nur das Beste für ihn!«

»Wir können selbst auf unsere Kinder achten!«

Die Elfe lächelte kühl. »Ich komme wieder, wenn er sein siebentes Jahr vollendet hat.« Sie strich dem Jungen über die Wange. »Lebe wohl, Snorri.«

Gunnar erstarrte vor Entsetzen. Er hatte den Namen niemandem gesagt!

DIE EINZIG WAHRE GESCHICHTE

»Wer nie darüber nachdenken musste, wie lange er seine Stiefelsohlen wohl kochen muss, bis er sie kauen kann, ist ein Schwafelkopf! Heutzutage ist die Welt voller wohlgenährter Schwafelköpfe, die sich jeden Morgen Honig in die Grütze rühren und stattliche Bäuche vor sich hertragen. Sie reden so, als seien sie dabei gewesen, als das Banner des Blutbaumes über Albenmark wehte. Ihr Gerede ist wie ein warmer Furz, den man ins Gesicht geblasen bekommt, und mir wird übel, wenn ich höre, wie sie von der fußlosen Königin und ihrem Elfenritter sprechen. Oh, sehe ich diejenigen von euch erröten, die sich einer gewählteren Sprache befleißigen? Ich bin ein Holder, ein Kobold, und gehöre somit einem Volk an, von dem die wohlgeboreneren Kinder Albenmarks ohnehin nur das Ärgste erwarten. Warum ihr meinen flegelhaften Ton erdulden solltet? Weil ich als Chronist der Wahrheit verpflichtet bin und mich im Gegensatz zu anderen Schreiberlingen nicht mit der Frage aufhalte, was ihr wohl gern hören möchtet. Ich habe unter den Menschen gelebt. Ich weiß, wie sie sind! Und ich habe miterlebt, wie sie in all dem, was viele von uns als erbärmlich verlachen, dennoch eine Größe besitzen, wie nur die wenigsten Kinder Albenmarks sie je erreichen. Ja, es stimmt, selbst ihre bedeutendsten Helden würden niemals gegen einen Ritter unserer Königin Emerelle bestehen können, keiner von ihnen wird je ein so geschickter Handwerker wie ein Kobold sein, so stark wie ein Troll oder saufen können wie ein Kentaur. Sie wissen das, und doch geben sie niemals auf. Sie versuchen größer zu sein, als das Schicksal es ihnen bestimmt hat. Und dabei sind sie ohne Überheblichkeit. Sie sind tragisch …

So wie ihre Königin, deren Schicksal mich, einen herzlosen alten Kobold, so sehr berührt, dass ich sie nie vergessen werde. Ich kann es nicht ertragen, wenn man sich heute das Maul über die letzte Herrscherin des Fjordlands zerreißt. Ganz gleich, was über sie geredet wird, ich weiß, sie ist ihrem Ritter immer treu geblieben. Und wer in meiner Gegenwart etwas anderes behauptet, dem schneide ich die Zehen ab!

Ich habe sie gekannt, ihre letzte Königin. Sie hat mich gefürchtet, schon als wir einander zum ersten Mal begegneten. Ich war es, der ihr die Füße abgeschnitten hat. Deshalb schreibe ich diese Geschichte. Ich bin kein Elf, der mit tausend schönen Worten der Wahrheit ausweicht. Ich bin kein Schwafelkopf, denn ich habe im Winter der Eiskinder meine Stiefelsohlen gefressen. Ich weiß, was Demut heißt und was Liebe. Beides lehrte mich ein Menschenkind.

Es vergeht kaum ein Tag, an dem ich mich nicht frage, was wir Kinder Albenmarks falsch gemacht haben und wie groß unsere Schuld ist. Ob es unser Fluch ist, denen, die wir lieben, Leid und Verderben zu bringen. Ja, vor allem denen, die wir lieben … Nein, es sind keine Tränen, die meine Tinte verwischen. Ich sitze auf der Terrasse meines Palastes in Vahan Calyd, hoch über dem Waldmeer, und es ist so heiß, dass selbst ein Elf leiden würde. Ich vergieße Schweiß, keine Tränen! Wer mich kennt, der weiß, dass es nicht meine Art ist, zu flennen wie eine Blütenfee. Und sollte einer von euch, die ihr diese Zeilen lest, etwas anderes behaupten, so hexe ich ihr oder ihm einen vertrockneten Wurzelstock dorthin, wo die lügnerische Zunge sitzt.

Höre ich gelehrte Ohrenbläser über die vergangenen Jahre reden, dann streiten sie oft darüber, wann das Unglück begann. Manche glauben, es habe alles auf dem großen Konzil von Iskendria seinen Anfang genommen, als die Neue Ritterschaft, die den Blutbaum im Wappenschild führt, den Oberbefehl über die Heere der Tjuredkirche an sich riss. An jenem Tag versprachen sie, das Heidentum und mit ihm die Kinder Albenmarks auf immer auszulöschen. Andere behaupten, das alles habe an jenem Nachmittag begonnen, als die letzten Bojaren Drusnas ein Stundenglas als Geschenk erhielten. Oder in der Nacht des schändlichen Verrats, die auf diesen Tag folgte.

Ich sage euch, das alles ist Humbug, wie ihn Tinte pissende Chronikschreiber verbreiten! Märchen, geschrieben von Trotteln, die glauben, dass große Geschichten immer dort beginnen, wo die Mächtigen um Königreiche streiten. Wer Geschichtsbücher verfasst, der fühlt sich stets dazu berufen, die Banalität der Wirklichkeit hinter Glanz und Glorie zu verbergen. Vielleicht tun sie das, um euch vor der grausamen Wahrheit zu beschützen. Vielleicht wollen sie euren Glauben, in geordneten Verhältnissen in Sicherheit zu leben, nicht erschüttern. Mir hat man schon immer nachgesagt, anderer Leid mache mir Freude und es sei mir ein Vergnügen, grausam zu sein. Das ist nichts als eifersüchtiges Geschwätz von Neidern! Vergesst sie! Von mir werdet ihr die Wahrheit hören und nichts anderes!

Wie es dazu kam, dass die Banner des Blutbaumes in Albenmark wehen, begann damit, dass ein räudiger Hund, der dafür berüchtigt war, gern Kinder zu beißen, nicht mehr aus einem Hinterhof entfliehen konnte. Möglicherweise war er dort, weil er von der Leiche seines Herrn gefressen hatte. Der Junge, der dem Kampf des Hundes zusah, fragte sich nie, warum der verlauste Köter auf diesem Hinterhof war. Aber diese besondere Fähigkeit muss man wohl besitzen, um ein romantischer Held zu werden: die Wahrheit übersehen zu können, selbst wenn sie buchstäblich zum Himmel stinkt.

Glaubt mir, es war dieser verdammte Hund, der einen Helden zeugte. Und deshalb beginnt die Geschichte von der ruhenden Königin und dem Elfenritter mit ihm, jedenfalls, wenn man sie richtig erzählen will. …«

ZITIERT NACH:

DIE LETZTE KÖNIGIN, BAND 1 – DAS PESTKIND, SEITE 7 ff.

VERFASST VON: BRANDAX MAUERBRECHER, HERR DER WASSER IN VAHAN CALYD, KRIEGSMEISTER DER HOLDEN

3

GRAUAUGE

Die hageren Hunde des Rudels, das heute Mittag ins Dorf gekommen war, trieben den Wachhund in den hintersten Winkel des ummauerten Hofes. Barrasch konnte von dort nicht mehr fliehen. Er stieß ein trotziges Bellen aus und griff an. Aber die Reißzähne des großen braungelben Wachhunds schnappten ins Leere.

Wütend löste Luc einen weiteren Ziegel aus dem Dach und schleuderte ihn vom Fenster der Schmiede hinab in den Hof. Diesmal traf der Junge den Anführer des Rudels. Die struppige Bestie, die Barrasch gerade noch bedrängt hatte, zuckte zusammen und blickte zu Luc hinauf. Klare, hellgraue Augen musterten ihn. Keinen Laut gab das Mistviech von sich.

Barrasch machte einen Satz und versuchte den Rudelführer im Nacken zu packen, während dieser noch zu Luc hinaufsah. Doch der hagere Hund wich Barrasch mit geradezu unheimlichem Geschick aus und biss ihn in die Flanke, bevor er sich zurückzog.

André, der Schmied, hatte immer angegeben, sein Barrasch hätte das Blut eines Bärenbeißers in den Adern. Bärenbeißer, das waren die legendären Kampfhunde aus dem Fjordland. Die Kriegshäuptlinge der Heiden hatten sie über die Jahrhunderte mit den Lebern von ermordeten Ordensrittern und Priestern gefüttert, so hatte André ihm einmal erzählt. Sie taten das, um besonders böse, gottlose Hunde aus ihnen zu machen. Die Kirche hatte die Bärenbeißer deshalb mit einem Bann belegt. Es war verboten, solche Hunde zu besitzen. Die Priester ließen sie auf Scheiterhaufen verbrennen.

Aber der Schmied hatte sich nie viel um die Kirche und ihre Gebote geschert. Es war ihm nur recht, wenn kein Priester seinen Hof betrat.

André hatte lange in den Heidenkriegen gekämpft. Auf See gegen die Fjordländer und in den weiten Wäldern Drusnas gegen die unheimlichen Schattenmänner. Erstaunlicherweise schien er die Priester ebenso zu verachten wie die Heiden. Er war ein seltsamer Mann mit einem gemeinen Hund.

Barrasch zitterte. Seine Hinterläufe knickten unter der Last seines schweren Körpers weg. Es kostete ihn seine letzte Kraft, sich wieder hochzustemmen. Mit einem tiefen, kehligen Knurren forderte er die Hunde aus den Bergen heraus. Magere Viecher waren das; sie waren auch ein gutes Stück kleiner als er. Und trotzdem hatten sie etwas an sich, das einem angst und bange werden ließ. Sie waren so still … so siegessicher. Alle anderen Hunde des Dorfes hatten das Weite gesucht, als das neue Rudel gekommen war. Nur Barrasch war geblieben.

Luc hatte den großen Bärenbeißer nie leiden mögen. Aber jetzt waren sie beide die Letzten, die das Dorf Lanzac verteidigten. Das vereinte! Barrasch war ein übellauniges Tier. Einmal hatte er ihm die Hosen zerrissen und ihm ordentlich in die Waden gezwackt. Damals hatte er Luc dabei erwischt, wie er versucht hatte, zum Fenster der Honigkammer hinaufzuklettern.

Wie auf ein lautloses Zeichen stießen drei der hageren Hunde gleichzeitig vor, um Barrasch den Rest zu geben. Der Bärenbeißer wich bis in die hinterste Ecke zwischen Kohlenschuppen und Mauer zurück. Mit einem wütenden Knurren schnappte er nach den Eindringlingen. Luc riss die nächste Dachpfanne los und schleuderte sie in den Hof hinab. »Macht euch davon, ihr Mistviecher! Soll der Blitz euch treffen!«

Lucs Wurfgeschoss verfehlte sein Ziel. Die hageren Hunde würdigten ihn keines Blickes. Mit leisem Knurren umkreisten sie Barrasch. Es waren stets mindestens zwei, die zugleich angriffen, und egal, wie tapfer er sich wehrte, wie geschickt und verbissen er kämpfte, jede der Attacken brachte ihm eine weitere Wunde ein. Das Ende war abzusehen. Aber er gab nicht auf. Sein prächtiges gelbbraunes Fell war mit großen Blutflecken gesprenkelt. Jedes Mal, wenn die hageren Hunde ihn erneut ansprangen, war er ein klein wenig langsamer bei seinen Versuchen, ihnen an die Kehle zu gehen.

Luc musste näher an diese verdammten Mordbeißer heran, wenn er Barrasch beistehen wollte. Behände stieg er durch das Dachfenster und glitt die knirschenden Schindeln hinab bis zur Hofmauer. Die fremden Hunde hatten ein hässliches, graubraunes Fell, das unter dem Bauch fast weiß war. Rippen malten sich darunter ab. Man sah ihnen an, dass sie für ihr Fressen kämpfen mussten.

Einer der hageren Köter blickte zu Luc auf. Der Junge erkannte ihn sofort wieder. Er hatte heimtückische, hellgraue Augen. Er war der Anführer des fremden Rudels. Der, den er eben erst mit dem Dachziegel getroffen hatte. »Dich mach ich fertig, Grauauge«, murmelte Luc entschlossen und rief dann: »Halt durch, Barrasch! Ich helfe dir! Halt durch!«

Luc tastete nach dem Klappmesser tief in seiner Hosentasche. Es war feige, hier oben auf der Mauer zu hocken, während der Bärenbeißer um sein Leben kämpfte. Aber der Junge ahnte, er würde noch schneller als der große Hund sterben, wenn er sich in den Hof hinabwagte. Er wusste genau, wer da ins Dorf gekommen war. Doch wer seinen Verstand beieinander hatte, der nannte das Übel nie bei seinem wahren Namen. Das machte es immer noch schlimmer. Seine Mutter hatte ihn das gelehrt, und selbst in der Stunde ihres Todes hatte sie daran festgehalten. Der Name des Übels, das sie dahingerafft hatte, war weder ihr noch einem anderen im Hause über die Lippen gekommen.

Der Hund mit den grauen Augen hockte sich hin und beobachtete Luc. Es schien dem Jungen geradezu, als wolle ihm das Vieh sagen: Komm nur herunter! Auf eine halbe Portion wie dich haben wir gewartet.

Luc war elf Jahre alt. Zu Beginn des Sommers erst hatte er sein Namensfest gefeiert. Er schluckte. Fast wären ihm Tränen in die Augen gestiegen. Es tat weh, daran zu denken, was für ein wunderbarer Tag das gewesen war. Zum ersten Mal hatte Vater ihm erlaubt, mit einer der schweren Radschlosspistolen zu schießen. Die Waffe hatte Luc mit ihrem Rückschlag fast den Arm ausgerenkt, und er war jämmerlich auf dem Hosenboden gelandet, aber zugleich war er voller Stolz gewesen. Solange er zurückdenken konnte, hatte er davon geträumt, einmal eine von Vaters Pistolen abzufeuern. Er wusste alles über die Waffen. Wie man sie auseinandernahm, um sie zu reinigen und das Metall zu fetten. Wie man sie lud und wie man die Kugel im Lauf verkeilte, sodass sie nicht mehr herausrollen konnte. Das war wichtig, wenn man die geladenen Waffen in ein Sattelholster steckte! Vater hatte ihm einen Schlüssel geschenkt, mit dem er das Schloss seiner Pistolen spannen konnte. Im nächsten Jahr hätte er ein Pulverhorn bekommen und im Jahr darauf eine der Pistolen. Hätte er jetzt doch eine der schweren Sattelpistolen! »Du würdest ganz schön blöde glotzen, wenn ich dir ein großes Loch zwischen deine grauen Augen schießen würde, hässlicher Kläffer«, murmelte er grimmig. »Du hast keine Ahnung, mit wem du dich anlegst! Heute ist der Tag, an dem du sterben wirst, das verspreche ich dir.«

Es tat Luc gut, die eigene Stimme zu hören. Ihr Klang machte ihm Mut. So lange schon hatte niemand mehr mit ihm gesprochen … Barrasch war alles, was ihm noch von früher geblieben war. Und die Stinker … Aber die redeten nicht. Sie rülpsten und furzten nur und warteten … Obwohl sie ganz still lagen, fürchtete er, dass sie in dem Augenblick aufstehen würden, in dem er etwas falsch machte. Sie belauerten ihn! Er mied die Stinker. Allein schon wegen all der Fliegen, die um sie herum waren.

Luc blickte zu dem kleinen Giebelfenster, von dem ein Seil voller dicker Knoten herabhing. Er hätte auch durch das große Herrenhaus des Grafen gehen können, um zur Honigkammer zu gelangen. Aber dann hätte er über zwei Stinker hinwegsteigen müssen: Marie, die Wäscherin, und den dicken Jean, der Haushofmeister des Grafen gewesen war. Da war es besser, durch das Fenster zu klettern! Und jetzt, da das fremde Rudel gekommen war, blieb ihm ohnehin kein anderer Weg.

Ein schrilles Jaulen schreckte Luc aus seinen Gedanken. Einer der hageren Hunde hatte Barrasch den rechten Hinterlauf durchgebissen. Der Bärenbeißer stürzte, und sofort fielen sie alle über ihn her. Nur der Hund mit den grauen Augen sah immer noch zu Luc hinauf.

Der Junge bückte sich und riss eine weitere Schindel vom Dach. Wütend schleuderte er sie in das Knäuel kämpfender Hunde. »Komm, Barrasch! Steh auf, zeig es ihnen!«

Eine Hündin machte sich jaulend davon. Der Dachziegel hatte ihr die Schnauze blutig geschlagen.

Barrasch kämpfte, selbst am Boden liegend, tapfer weiter. Er hatte einen der hageren Hunde bei der Kehle gepackt und sich verbissen. Mit letzter Kraft schüttelte er sein Opfer, während die übrigen Hunde ihm mit ihren langen Fängen den Leib aufrissen.

Dann lag der große Bärenbeißer still. Sogar im Tod hielten seine Kiefer noch den Köter gefangen, dessen Kehle er erwischt hatte. Der dürre Hund strampelte kurz, ehe auch er sich nicht mehr rührte.

Luc warf eine letzte Dachpfanne nach dem Rudel. Jetzt blickten sie alle zu ihm hoch. Es waren fünf. Sie alle hatten diese seltsamen Augen. Ganz anders als die Augen der Hunde im Dorf. Sie waren bedrohlicher … Sie waren so blau wie der Winterhimmel oder grau wie alter Schnee. Kalte Augen. Mörderaugen!

Jetzt erst bemerkte Luc, dass jener Hund, der ihn die ganze Zeit über beobachtet hatte, nicht mehr an seinem Platz stand.

Ängstlich sah sich der Junge um. Vielleicht hockte der Köter außer Sicht unter dem Vordach der Schmiede? »Ganz bestimmt bist du da«, murmelte Luc leise, und zugleich hoffte er, dass dem nicht so war. Grauauge hatte es auf ihn abgesehen, da war er sich ganz sicher. Das hatte er im Blick dieses Mistviechs gelesen. Wenn er es schaffte, den Rudelführer umzubringen, dann würden ihn die anderen Hunde gewiss in Frieden lassen. Vielleicht würden sie sogar davonlaufen.

Der Junge kramte in seiner Hosentasche und holte das Klappmesser hervor, das ihm sein Vater geschenkt hatte. Der Griff war aus rotem Nussholz gefertigt, ein verschnörkeltes L war in das Holz geschnitten. Er schob den Daumennagel in die kleine Kerbe im dunklen Eisen und holte die Klinge hervor. Mit leisem Klacken rastete sie ein.

Die hageren Hunde machten sich jetzt über Barraschs Kadaver her. Ein struppiges Weibchen mit einer Blesse auf der Stirn riss dem Bärenbeißer den Bauch auf und zerrte die dunkle Leber heraus.

Verglichen mit den Fängen der Hunde, war sein Messer eine geradezu lächerliche Waffe, dachte Luc. Es war … Ein Geräusch ließ ihn herumfahren.

Grauauge schob sich durch das Dachfenster der Schmiede. Luc war wie versteinert. Fassungslos sah er zu, wie sich der dürre Hund durch das Fenster zwängte. Das Mistviech brauchte einen Augenblick, bis es auf den glatten Ziegeln der Dachschräge einen sicheren Stand fand, dann stieß es einen kurzen, blaffenden Laut aus. Eine Herausforderung! Grauauge hatte die Ohren steil aufgerichtet. Sein Maul war gerade so weit geöffnet, dass man die gelbweißen Fangzähne sehen konnte. Die Rute stand stocksteif ab. Es wirkte, als sei jeder Muskel gespannt. Er war bereit zu springen. Und wieder schienen seine Augen zu sprechen. Dich kriege ich, Rotznase, sagten sie.

Damit war der Bann gebrochen. Luc wich zurück, drehte sich um und begann zu laufen. Die Mauerkrone war fast einen Fuß breit. Hunderte Male war er hier schon entlanggelaufen, vom Dach der Schmiede zum Kohlenschuppen und von dort weiter zur Remise. Dutzende Male hatte sein Vater ihm dafür den Hosenboden stramm gezogen. Wenn Vater nur hier wäre! Er hätte keine Angst vor den Hunden aus den Bergen! Er würde sie einfach vertreiben.

Wie André, der Schmied, war auch sein Vater ein Veteran aus den Heidenkriegen. Doch ihn hatten die Kämpfe nicht zu einem verschlossenen, zornigen Mann gemacht. Sein Vater hatte gern von den Schlachten erzählt, den langen Märschen und den dunklen Wäldern Drusnas. Luc stellte sich vor, wie Vater auf seinem großen Rappen Nachtwind in den Hof preschte, eine der beiden Radschlosspistolen aus dem Sattelholster zog, Grauauge vom Dach schoss, als sei es eine Kleinigkeit, eine Pistole abzufeuern, und wie dann die übrigen Kläffer jaulend vom Hof flohen.

Ach, käme sein Vater doch noch einmal, nur für eine einzige Stunde zurück, um ihm zu helfen. Luc würde dafür, dass er sich wieder einmal verbotenerweise auf den Dächern herumtrieb, anschließend auch klaglos die gewaltigste Tracht Prügel seines Lebens einstecken.

Aus dem Lauf sprang der Junge auf das etwas höher gelegene Dach des Kohlenschuppens. Die grauen Schieferplatten krachten laut, und die morschen Balken stöhnten unter seinem Gewicht. Eine der Platten war unter der Wucht seines Aufpralls gerissen. Früher hätte ihn sein Vater dafür mit dem Gürtel verdroschen. Aber jetzt kümmerte das keinen mehr. Es war niemand mehr da, der sich über kaputte Dachschindeln aufregte. Außer vielleicht die Stinker … Wenn man sie ansah, mochte man meinen, sie seien tot. Als er noch kleiner gewesen war, hatte er den Schmied einmal in einem Misthaufen liegend gefunden. Das war nach dem Sommerfest gewesen. Er hatte gedacht, er sei tot, und seinen Vater gerufen. Der hatte nur gelacht. André war betrunken gewesen. So ähnlich musste es auch mit den Stinkern sein. Sie schliefen nur! Besonders fest … Vielleicht würden sie ja jetzt endlich aufwachen? Sie mussten das fremde Rudel vertreiben! Immer wieder hatte er versucht, die Stinker zu wecken. Ein Eimer Wasser, wie bei André damals, war nicht genug. Sie waren sehr dickköpfig … Er hatte keine Freunde unter ihnen.

Ohne sich umzublicken, lief Luc die Dachschräge hoch. Der Kohlenschuppen lehnte an der Remise, in welcher der Graf Lannes seine Kutschen untergestellt hatte. Das Dach der Remise lag ein ganzes Stück höher als das des Kohlenschuppens. Mit klopfendem Herzen zog Luc sich an einem der vorspringenden Balken hoch. Kurz kauerte er rittlings auf dem Balkenende, das Sonne, Regen und Taubenkot grau gebeizt hatten, dann kroch er weiter hinauf. Die Remise war alt. Man musste aufpassen, wenn man sich über die brüchigen Schindeln bewegte. Überall wuchsen dicke Moospolster.

Jetzt endlich wagte Luc es, innezuhalten und zurückzublicken. Grauauge hatte den Kohlenschuppen erreicht. Er stand am äußersten Ende. Seine Rute peitschte unruhig, er duckte sich ein wenig. Dann richtete er sich wieder auf. Erwog das Mistviech etwa, auf das Dach der Remise zu springen?

Luc kaute an seiner Unterlippe. Nein, das konnte nicht sein … Aber Grauauge war auch auf das Dach der Schmiede gekommen. Er war nicht wie andere Hunde. Er wollte ihn fressen. Bei dem Gedanken bekam Luc am ganzen Leib eine Gänsehaut. Ja, so war es. Grauauge wollte ihn fressen. Und er würde so schnell nicht aufgeben.

Er musste diesen hageren Kläffer loswerden, sonst könnte er sich nirgends im Dorf mehr sicher fühlen.

Luc machte sich nichts vor. Das Rudel würde bleiben, bis es nichts mehr zu holen gab. Bis es niemanden mehr gab … Und Grauauge war der Anführer. Wenn er ihn loswürde, dann mochten die anderen Mordbeißer ihn vielleicht verschonen.

Grauauge nahm Anlauf. Er landete mit den Vorderpfoten auf dem Dach. Seine Krallen kratzten über die Schindeln, seine Augen hielten Luc gefangen. Ganz langsam glitt der hagere Jäger zurück, doch er wandte den Blick nicht ab. Er würde es wieder versuchen. Vielleicht würde er es beim nächsten Mal schaffen.

»Mistviech!« Er hätte weglaufen sollen. Das Seil zur Honigkammer hochklettern. Stattdessen richtete sich Luc auf und ging auf den hageren Rüden zu. »Was willst du jetzt tun?«

Grauauge hechelte. Sein Atem stank nach Aas. Luc war jetzt nur noch einen Schritt von ihm entfernt. Die Hinterläufe des Köters schrappten, ohne Halt zu finden, über den rauen Putz der Remise.

Luc trat eine Winzigkeit näher. Dann übermannte ihn der Zorn. »Wer ist jetzt wehrlos?« Er trat nach der Schnauze der Bestie.

Der hagere Köter wich mit einer Kopfbewegung dem Tritt aus. Seine Fänge schnappten nach Lucs Bein. Die spitzen Zähne drangen durch den fadenscheinigen Stoff der Hose, doch Luc hatte Glück. Er war mit ein paar Schrammen davongekommen. Grauauge hatte ihn nicht richtig erwischt. Stattdessen hatte sich das Biest in den Stoff verbissen.

Grauauge knurrte nicht. Ein richtiger Hund hätte geknurrt. Luc wusste genau, womit er es zu tun hatte. Aber er würde es nicht aussprechen. Nicht einmal denken. Die Dinge beim Namen zu nennen machte alles immer noch schlimmer. Grauauge war nur ein Hund!

Luc dachte wieder an die Warnungen seiner Mutter: Gib dem Übel keinen Namen! Damit lockt man es an. Das Unglück, die Krankheiten oder die Hunde aus den Bergen. Nicht einmal, wenn das Übel einen schon erwischt hatte, durfte man seinen Namen aussprechen, denn ganz gleich, wie schlimm es einem schon ging, es konnte immer noch schlimmer kommen. Mutter hatte sich stets an diese eiserne Regel gehalten. Dennoch war sie als eine der Ersten an der Sieche gestorben. Die Krankheit hatte sich nicht an Mutters Regeln gehalten. Und auch nicht der Priester. Er hatte die großen Beulen aufgeschnitten und Mutter zur Ader gelassen, obwohl sie sich unter Tränen dagegen gewehrt hatte.

Sein Vater hatte Luc in jener Nacht ins Nachbarhaus zum Schmied André gebracht, damit er nicht mitansehen musste, was der Priester tat. Doch selbst dort waren Mutters verzweifelte Schreie zu hören gewesen. Am nächsten Morgen war sie tot. So wie es sich gehörte, hatten sie Mutter noch am gleichen Tag verbrannt, damit sie, in ein Kleid aus Rauch gehüllt, hinauf in den Himmel steigen konnte, wo Tjured im Glanz seiner stets taufeuchten Gärten auf alle wahren Gläubigen wartete.

Grauauge riss den Kopf zur Seite und holte Luc mit dem plötzlichen Ruck von den Beinen. Der Junge schlug schwer auf dem Dach auf. Das Klappmesser entglitt ihm und schlitterte ein Stück hinab. Ganz langsam rutschte auch Luc der Kante entgegen.

Grauauge konnte jeden Moment von der Remise auf den Kohlenschuppen zurückfallen. Und er würde ihn mit sich reißen, dachte Luc. Vielleicht hatten die Anderen das Rudel herbeigerufen? Sie schickten alles Übel. Und sie hatten ihre Ohren überall. Deshalb durfte man nicht klagen oder ihre Namen nennen, denn damit lockte man sie an.

Lucs Finger griffen nach der Kante einer Dachpfanne. Alles, was er zu packen bekam, war Moos. Er rutschte weiter. Verzweifelt trat er mit dem freien Bein nach der Schnauze. Er traf Grauauge mitten auf die Nase, doch der ließ ihn nicht los. Mordlust funkelte in den eisgrauen Augen.

Luc sah das Klappmesser. Es lag auf einem breiten Moospolster. Er streckte sich, so weit er konnte.

Grauauge warf sich hin und her. Jeden Augenblick würden sie beide fallen.

»Bitte, Tjured, hilf mir, und ich will für immer dein treuester Diener sein!«, flehte der Junge.

Seine Fingerspitzen berührten den Griff des Messers. Es rutschte weg und kam ein kleines Stück tiefer an der Kante einer Dachschindel zum Liegen. Verzweifelt streckte sich der Junge, bis sich der rote Nussholzgriff in seine Hand schmiegte.

»Du sollst an mich denken!«, schrie er und setzte sich auf. Haltlos schlitterte er der Dachkante entgegen, und Grauauge hing immer noch an seinem Hosenbein. Luc ignorierte die Gefahr. Er wollte nur noch, dass es diesem Mistviech leidtat, nach seinem Bein geschnappt zu haben. Alles andere war ihm egal.

Mit aller Kraft stach er nach Grauauges Schnauze. Die Klinge glitt am Knochen ab und hinterließ einen klaffenden Schnitt. Die Bestie heulte auf. Im selben Augenblick stürzten sie beide über die Dachkante.

Ein Schlag zwischen die Beine ließ den Jungen aufschreien. Tränen schossen ihm in die Augen. Ein bohrender Schmerz fraß sich hoch in seinen Bauch, und er musste würgen. Seine Finger krallten sich in verwittertes, graues Holz. Er war auf einen der vorspringenden Balken gefallen, die wie Hörner unter der Dachkante der Remise hervorragten. Sein Hosenbein war abgerissen. Grauauge lag ein Stück unter ihm auf dem Schuppendach. Auch er wirkte benommen. Wütend schüttelte er den fadenscheinigen Stoff, der ihm wie eine abgestreifte Schlangenhaut aus dem Maul hing.

Luc stemmte sich hoch. Es fühlte sich an, als habe man ihn mit einer glühenden Zange zwischen den Schenkeln gepackt. Der Junge biss die Zähne zusammen. Dicke Tränen rannen ihm über die Wangen. Jungs sollten nicht weinen, aber er konnte nichts dagegen tun. Der Schmerz war zu groß. Durch den Tränenschleier sah er, wie der Köter sich aufrappelte.

Luc fluchte. Das Mistviech gab einfach nicht auf. Der klaffende Schnitt, der sich über Grauauges Schnauze zog, blutete stark. »Komm hoch, und ich mach dich fertig«, zischte der Junge, obwohl er wusste, dass er Unsinn redete. Das Messer war ihm beim Sturz verloren gegangen. Es musste irgendwo unter ihm auf dem Schuppendach liegen. Weit außerhalb seiner Reichweite.

Leise fluchend, kroch Luc auf die Remise. Die Schieferschindeln waren noch warm von der Mittagssonne. Am liebsten hätte er sich einfach ausgestreckt, sich von der Wärme davontragen lassen in den Schlaf, hin zu wohligen Träumen, die bevölkert waren von all jenen, die ihn verlassen hatten.

Luc hörte die Tatzen des Wolfs auf dem Schuppendach. Er würde wieder springen. Jetzt liegen zu bleiben hieße aufzugeben. Und wenn er …

Der Junge erschrak. Was hatte er getan! Er hatte das Übel bei seinem Namen genannt, wenn auch nur in Gedanken! Jetzt würde es noch schlimmer werden.

»Dummkopf!«, schalt er sich und begann zu kriechen. Jede Bewegung fachte den Schmerz zwischen seinen Schenkeln an. Ob er wohl schwer verletzt war? Er konnte sich nicht erinnern, dass ihm jemals etwas so wehgetan hatte. Er schluchzte leise. Fang bloß nicht an zu flennen, du Memme. Das ist etwas für Mädchen. Es wird dir sowieso keiner helfen. Im Dorf gab es nur noch ihn und die Wölfe, die die Anderen geschickt hatten.

4

DIE KRIEGERKÖNIGIN

»Gishild!« Der Ruf wurde vom Schilfdickicht gedämpft.

Die Prinzessin kannte die Stimme gut. Sigurd Swertbrecker, der Hauptmann von Vaters Leibgarde, suchte nach ihr. Noch tat er es im Guten, doch bald würde er die Hunde rufen. Das hatte sie ihrem Vater nie verziehen. Er hatte ein Dutzend Bärenbeißer darauf abrichten lassen, ihrer Fährte zu folgen. Mörder ließ man von Hunden hetzen, Wilddiebe … aber doch nicht die eigene Tochter! Ihr Vater Gunnar fand das lustig. Sie nicht! Nie hatte sie ihre Ruhe, stets war jemand um sie herum. Kindermädchen, Hauslehrer, Leibwächter. Schon immer ging das so.

Gishild stocherte mit einem Schilfrohr im schwarzen Schlamm. Sigurds Stimme verklang in der Ferne. Er würde sie nicht finden. Um die Hunde zu holen, müsste er zurück ins Dorf. Das war mehr als eine halbe Meile Weg. Sie würde noch ein bisschen Zeit für sich haben.

Die Prinzessin dachte an den Schlamm am Ufer des Bärensees. An all das Blut … Ihre Hände begannen zu zittern, und ihr wurde übel. »Blechköpfe« hatten die Krieger ihres Vaters die Ordensritter immer genannt. Sie hätten so viel Verstand wie ihre Rüstungen … In den Erzählungen der Krieger waren die Schlachten gegen sie immer ein Leichtes gewesen. Auch die Heldenlieder der Skalden hatten ganz anders geklungen. Gishild war nicht vorbereitet gewesen auf das, was am Bärensee geschehen war. Wahrscheinlich hätte ihr Vater nicht gewollt, dass sie so früh einen Kampf miterlebte. Obwohl sie schon elf war!

Wieder zitterten ihre Hände. Sie hatte Männer aus der Leibwache ihres Vaters sterben sehen. Die Mandriden, die besten Krieger des Fjordlands. Männer, die sie gekannt hatte, seit sie laufen konnte. Erneut wurde ihr übel. Das durfte nicht sein! Sie musste stark sein! In ein paar Jahren würde sie die Kriegerkönigin des Fjordlands sein! Sie würde Heere führen und ihren Vater stolz machen! So einer Kriegerkönigin durften nicht die Hände zittern, wenn sie an Blutvergießen dachte!

Sie zerbrach das Schilfrohr in kleine Stücke und streute sie in den Schlamm. Der Anblick erinnerte sie an die Toten, die überall am Ufer des Sees gelegen hatten. Von Luth, dem Schicksalsweber, dahingestreut, so wie die Schilfstücke von ihr. Sie musste das Massaker vom Bärensee aus dem Kopf bekommen!

Irgendwo in der Ferne bellte ein Hund. Bald würden sie hier sein.

»Willst du über deinen Kummer reden?«

Erschrocken fuhr Gishild herum. Yulivee, die Zauberin aus dem Gefolge des Fürsten Fenryl, stand hinter ihr im hohen Schilf. Sie hatte die Elfe nicht kommen hören.

Gishild ärgerte sich. Den Elfen konnte man nicht davonlaufen. Sie fanden einen immer. Wenigstens war es nicht Silwyna. Ihre Lehrerin würde ihr jetzt gewiss Vorhaltungen machen, dass sie eine Spur, so breit wie der Wanderweg einer Rentierherde, hinterlassen hätte. Gishild wusste genau, dass das nicht stimmte. Schließlich hatte Sigurd sie nicht gefunden, und der war auch kein Trottel. Aber wer von den Elfen unterrichtet wurde, dem konnten Menschen bald nicht mehr folgen.

Es war keine Schande, von Yulivee aufgespürt zu werden. Es hieß, ihre Zaubermacht reiche fast an das Können der geheimnisvollen Elfenkönigin Emerelle heran. Manche mutmaßten gar, dass sie einmal die Herrscherin von Albenmark sein würde, wenn Emerelle des Intrigenspiels um die Schwanenkrone eines Tages müde wäre.

Yulivee trug eine weite Seidenhose. Als einzige unter den Elfen ging sie barfuß, und obwohl man hier im Schilfdickicht keinen Schritt tun konnte, ohne in zähen, schwarzen Schlamm einzusinken, waren ihre schmalen Füße so sauber, als sei die Elfe gerade erst einem Bad entstiegen. Ein Wickelgürtel aus rotem Tuch betonte die mädchenhafte Taille der Zauberin. Anstelle von Dolchen wie bei einem Krieger steckten etliche Flöten in dem Gürtel. Ihre weiße Seidenbluse war fast durchsichtig, doch eine rote Weste mit Goldstickereien verbarg, wonach die Blicke der Männer suchen mochten. Das lange dunkelbraune Haar hatte Yulivee mit einem roten Tuch gebändigt. Sie sah verwegen aus, und Gishild träumte davon, wenn sie erst größer war, so wie die Zauberin zu sein.

Das Hundekläffen klang jetzt bedrohlich nah. Gishild seufzte. Wenn sie doch nur nicht ständig bewacht würde! Seit Wochen war sie schon nicht mehr mit Silwyna durch die Wälder gestreift. Immer musste sie in der Nähe des königlichen Gefolges bleiben.

»Wolltest du fortlaufen?«

Gishild war überrascht. »Wie kannst du so etwas denken? Ich kann nicht fortlaufen. Ich werde dereinst die Königin des Fjordlands sein. Warum sollten die Jarle einer Herrscherin folgen, die als Mädchen ihren Pflichten davonlaufen wollte? Sie würden mich nicht ernst nehmen.«

»Ist das die Stimme Gishilds oder die deines alten Lehrers, die ich da höre?«