Die Pappenschläfer. Roman aus dem Persischen übersetzt - Ali Ghazanfari - E-Book

Die Pappenschläfer. Roman aus dem Persischen übersetzt E-Book

Ali Ghazanfari

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Beschreibung

Mit achtzehn zieht das Landei Sadegh in die große Stadt: nach Teheran. Er findet einen Job als Taxifahrer und verliebt sich und findet neue Freunde, als er den Obdachlosen Omid und dessen Kumpels kennenlernt: Die Pappenschläfer. Doch da ist auch noch die aufdringliche Frau Dr. Sorur, die darauf besteht, nur noch von Sadegh chauffiert zu werden. Als Sadegh sie in einer Notsituation um einen Gefallen bittet, weiß er nicht, worauf er sich einlässt... »Ein rasanter Roman über Freundschaft, das Erwachsenwerden und den Zusammenprall von Tradition und Moderne vor der Kulisse der iranischen Millionenmetropole Teheran. Absolut lesenswert!« [Gerrit Wustmann]

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Inhalt

Titelseite

Impressum

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Ali Ghazanfari

DIE PAPPENSCHLÄFER

Roman aus dem Persischen übersetzt

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar.

Die persische Originalausgabe erschien 2010

bei Avayekelar, Teheran

Copyright (2012) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

www.engelsdorfer-verlag.de

eISBN: 978-3-86268-762-6

»Sadegh, was ist in Teheran besser ... was denkst du? Auch hier gibt es viel Arbeit. Natürlich ist der Verdienst niedriger, aber genauso sind die Unkosten niedriger. Und wir sind alle beieinander. Es ist zwar richtig, dass du 18 Jahre alt bist und nach Fortschritt und Arbeit suchst, um so schnell wie möglich auf den eigenen Beinen stehen und ein unabhängiges Leben führen zu können, aber dazu musst du nicht zwangsweise nach Teheran ziehen. Auch hier auf dem Land gibt es viel Arbeit, und man kann nach und nach selbständig werden. Deine Mutter, deine achtjährige Schwester und ich fänden es sehr schön, wenn du bei uns bleiben würdest. Du lebst ja schon alleine und wirst, so Gott will, Inshaallah, auch eine Frau finden. Dann werdet ihr alleine leben, und wir können in einer halben Stunde bei euch sein, oder ihr bei uns. Man braucht einander, die Familie muss in der Nähe sein, vor allem bei unvorhergesehenen Ereignissen, bei Krankheiten oder bei Sorgen.«

»Viele Dinge, von denen Sie, Vater, gesprochen haben, sind so richtig, dass ich nichts dagegen einwenden kann. Aber meinen Sie, ein Mensch kann richtig selbständig werden, wenn er nur einfach heranwächst, ohne je Erwachsen zu werden? Da stehen doch immer solche Fragen im Raum: Bis wann soll ich nach Hause kommen? Ist alles erledigt und bereit? Nein! Ich muss alleine leben und alleine arbeiten, auch an mir selbst. Sich immer auf die Eltern zu verlassen ist doch nicht richtig! Sie wissen, dass ich ein fleißiger Schüler war. Nun bin ich 18, habe mein Abitur, kann aber aus verschiedenen Gründen nicht an die Universität. Das ist nicht schlimm, es müssen ja nicht alle einen Universitätsabschluss haben. Man sollte jeden Beruf respektieren, solange man nichts Illegales tut, nicht lügt und betrügt, seine Arbeit ernst nimmt, sie gern macht und seine Ideale nicht aufgibt.«

Sadegh zögert einen Augenblick und schaut seine Schwester Rona an.

»Ich vergöttere diese Dame«, fährt er fort, »aber sie hat noch Zeit. Ich werde sie selbst an die Universität schicken.«

Sein Blick schweift nachdenklich durch den Raum und bleibt an der Mutter haften. »Einer meiner Gründe, warum ich nach Teheran gehen möchte, ist diese junge hübsche Dame Rona, und das weiß Vater auch. Mutter, Rona ist acht Jahre alt. Sie wird langsam erwachsen, bekommt ihr Abitur ... Ich möchte so gerne sehen, dass sie an die Universität geht, denn sie ist ein Mädchen, und je mehr Bildung ein Mädchen erhält, desto besser kann sie arbeiten und muss nicht von morgens bis abends Zuhause vor sich hinvegetieren. Sie kann dann mit erhobenem Haupt in dieser Gesellschaft leben und unabhängig sein.«

Die Mutter zuckt zusammen, ihr Gesicht errötet leicht, während sie ihre Hände im Schoß aufeinander presst. »Also bin ich jahrelang dahin vegetiert, weil ich nur eine Hausfrau war? Mein Sohn, jeder Mensch hat eine Aufgabe im Leben. Dein Vater verdient das Geld und ich bin Hausfrau. Ihr beide seid bislang zur Schule gegangen – jetzt geht halt Rona noch zur Schule und du suchst nach Arbeit. Denkst du etwa, dass Rona nicht zur Uni gehen wird, wenn du hier bleibst? Selbst wenn, was soll dann passieren? Und wenn sie anders herum ihren Doktor macht – im Endeffekt muss sie doch heiraten und den Haushalt führen.«

»Es ist richtig, Mutter, dass Mädchen und Jungen irgendwann heiraten. Aber die Zeiten haben sich geändert. Eheleute sind nun gleichberechtigt – beide sind für ihr Leben verantwortlich. Wenn sie die Last des Lebens gemeinsam auf ihren Schultern tragen, verstehen sich beide untereinander und mit der Gesellschaft besser. Sie begreifen, wo die Gesellschaft gut funktioniert und wo sie Schwachstellen hat, und wie man sie verändern muss. So können sie für sich bessere Entscheidungen treffen und müssen nicht andere Personen darum bitten. Das trifft besonders auf die Erziehung der Kinder zu. Nein, lieber Vater! Nein, meine gütige Mutter! Ihr habt alles in eurer Macht stehende für uns getan, mehr geht nicht. Doch nun, da ich erwachsen bin und mehr tun kann, sollte ich auch danach handeln. Ich muss gehen und zurückkehren, damit wir später gemeinsam ein besseres Leben führen können. Ich muss gehen, denn ich bin nicht nur für mich, sondern auch für Rona verantwortlich.«

»Es wirkt so, als ob du auf keinen geraden Weg gelangst«, entgegnet der Vater ganz ruhig.

Sadegh umarmt seinen Vater, küsst dessen Hand, und sagt: »Eigentlich geht mein Weg nur geradeaus, da ich mich bemühen und fleißig sein werde. Vor allem solange ich jung bin. Ich muss dafür Sorgen, dass meine Kinder später stolz auf mich sind, genauso wie ich stolz auf sie bin. Rona braucht ihren Bruder, und wenn er es schafft, ein Vorbild für sie zu sein und ihr zu zeigen, dass wir Menschen selbst für unser Schicksal verantwortlich sind, dann wird sie eines Tages auch ein Vorbild für ihre Kinder sein. Und zwar dann, wenn wir uns bemühen und fleißig sind. Und wenn wir beginnen unseren Weg zu ändern, nicht auf der Stelle stehen bleiben und uns sagen: Dies ist unser Schicksal, und daran können wir nichts ändern.«

Die Mutter schaut Sadegh fragend an.

»Also willst du das Schicksal ändern?«

»Ich will es richten, aber wenn es nötig ist, werde ich es auch ändern. Das ist meine Pflicht und meine Verantwortung für die Welt. Ja, Mutter! Ich wurde geboren, um das auf meinen Schultern zu spüren. Und eine meiner wichtigsten Pflichten ist es, die Arbeit und den Fleiß in meinen jungen Jahren nicht zu vergessen. Nicht, dass ich faul auf der Haut liege und darauf warte, dass sich schon alles regeln wird. Nein, Mutter! Das ist das Motto der Unfähigen oder derjenigen, die zwar fähig sind, aber keinen Verstand haben, um die Fähigkeit zu nutzen.«

»Was für einer Arbeit willst du denn nachgehen? Hast du schon einen Job, oder willst du einfach auf gut Glück nach Teheran fahren?«

»Ich habe mich in Teheran etwas umgehört. Dabei ist mir aufgefallen, dass es am einfachsten ist, bei einem Taxiunternehmen zu arbeiten. Ich werde dort 14 bis 15 Stunden täglich arbeiten. Bei meinem Fleiß und Verhalten, meiner Ehrlichkeit und den Fähigkeiten, die ich habe, werde ich bestimmt erfolgreich sein. Ich werde arbeiten und sparen. Hochgerechnet ... da habe ich sieben oder acht Millionen Tuman zurückgelegt, und damit kann man hier auf dem Land viel machen.«

»Was zum Beispiel?«, fragt der Vater.

»Das weiß ich noch nicht genau, aber eine Möglichkeit wäre, Immobilien zu bauen. Sie wissen selbst Vater, wie viel Gewinn man damit machen kann. Man kann Wohnungen mit 80/90 Quadratmeter für weniger verdienende Familien bauen und sie zu einem vernünftigen Preis verkaufen. So kann man Geld verdienen und seinem Heimatort gleichzeitig etwas Gutes tun. Sie haben selbst vor einigen Tagen gesagt, dass das 500 Quadratmeter große Grundstück neben unserem Haus zum Bau von kleinen, günstigen Appartements geeignet ist. Der Preis ist gut, 4000 Tuman1 pro Quadratmeter, das macht insgesamt zwei Millionen Tuman. Wenn ich sieben oder acht Millionen Tuman hätte, könne ich locker ein solches Projekt starten.«

»Das heißt, dass du Immobilien bauen und verkaufen möchtest?«

»Nicht im eigentlichen Sinn! Ich will keine billigen Wohnungen bauen und sie teuer verkaufen. Ich will Geld verdienen, etwas Gutes tun und dazu noch Spaß an meiner Arbeit haben. Das heißt, ich will so bauen, dass ich Gewinn habe. Dass es für die anderen aber auch kein Wucher ist, die Wohnungen zu kaufen.«

»Aber einige haben kein Gewissen, sie bauen Wohnungen zu einem niedrigen Preis und verkaufen dann die Immobilien zu einem drei oder vier Mal höheren Preis.«

»Nein Vater! Ich bin keiner von denen. Sie kennen Ihren Sohn sehr genau.«

Am nächsten Morgen beginnt Sadegh, seine Sachen zu packen, während ihn Rona traurig beobachtet. Ganz langsam rollen Tränen über ihre Wangen, bis sich Sadegh ihr gegenüber setzt.

»Warum weinst du denn, meine hübsche Dame?«

»Weil du nach Teheran gehst«, entgegnet sie weinend, »und ich allein bleibe. Ich werde dich vermissen. Du bist noch nicht weg und ich weine schon. Wie wird das sein, wenn du erst gegangen bist?«

»Nicht weinen, mein Fräulein. Erstens werde ich euch alle paar Monate besuchen. Zweitens bist du nicht alleine, du hast so viele Schulfreundinnen. Und außerdem wirst du, so Gott will, bald dein eigenes Leben gestalten, deinen eigenen Weg gehen.«

»Versprichst du mir, uns zu besuchen?«

»Ich gebe dir mein Ehrenwort, dass ich meinen Vater und die Mutter und meine Schwester Rona besuchen werde. Ansonsten soll Gott diesen jungen Sadegh strafen.« Sadegh ist so vertieft in das Gespräch, dass ihm die Anwesenheit von Mutter und Vater nicht auffällt. Als Rona plötzlich zu lachen beginnt, bemerkt er sie schließlich, und um die Peinlichkeit zu überspielen, fährt er im Satz fort: »Meinen ehrenwerten Eltern werde ich dieses Versprechen ebenfalls geben.«

Alle lachen – ein Lachen, das mit Sorge und Traurigkeit vermischt ist, und beim Vater auch noch sorgenvoll klingt. Sadegh packt seine Sachen. Die Mutter gibt ihm Bettwäsche mit.

Der Vater geht langsam mit einem großen Paket in der Hand auf ihn zu und sagt: »Schau, Sadegh! Das sind die Ersparnisse meines ganzen Lebens – das heißt, unsere Ersparnisse, denn sie gehören nicht nur mir. Ab jetzt gehören sie auch dir.«

»Warum, Vater?«

»Es ist nicht viel, aber es kann dir nützlich sein. Deine Mutter und ich haben das Geld für deine Hochzeit und als Mitgift für deine Schwester zurückgelegt. Es sind 2,5 Millionen Tuman.«

»Nein Vater, nein! Bitte behaltet das Geld bei Euch. Ich muss Ihre Ersparnisse doch nicht mit nach Teheran nehmen und ausgeben. Nein, das werde ich nicht tun!«

»Das sind nicht die Ersparnisse von deinem Vater und mir allein, das sind unser aller Ersparnisse. Nun bist du an der Reihe, sie zu nutzen«, erklärt die Mutter.

»So ist es«, fügt der Vater hinzu. »Wenn du nach Teheran gehst, kannst du dir davon einen Gebrauchtwagen kaufen und damit arbeiten. So ist das Startkapital auch von dir, und vor Arbeit graust es dir ja auch nicht. So verdienst du mehr und kannst schneller zurückkehren.«

»Aber Vater ...«

»Es gibt kein Aber und Warum! Es wird so gemacht!« sagt der Vater mit ernster Stimme und duldet keine Widerrede.

Weinend umarmt Sadegh seinen Vater: »Sie sind nicht nur ein Vater, Sie sind auch ein ehrenwerter Mann. Sie und Mutter sind wie die Erleuchtung der Liebe. Eine Erleuchtung, die niemals verglüht und niemals dunkel wird. Sie sind wie eine Sonne, dessen Licht meinen Herrn erleuchtet. Sie ...«

Der Vater wischt mit den Händen Sadeghs Tränen weg.

»Pass bloß auf dich auf, Sadegh! Du bist ehrlich, du hast ein Gewissen und Prinzipien. Lass dir diese Prinzipien und niemals nehmen. Dort gibt es alles, Gutes und Böses. Sei wie die Bedeutung deines Namen: »Ehrlich«! Halte dich an das Gute und an die Guten. Gehe aufrecht und kehre mit erhobenem Haupt zurück!«

Sadegh packt das Geld in seinen Beutel, küsst alle und verabschiedet sich und macht sich auf den Weg nach Teheran.

Es ist Anfang Farvardin2. Sadegh bleibt zwei Nächte in einer Pension, bis er schließlich im Armenviertel der Stadt ein kleines Zimmer mit Bad und WC findet. Rasch kauft er alles ein, was im Haushalt fehlt – eine kleine Kochplatte, Geschirr und andere Kleinigkeiten. Drei Tage später kauft er einen preiswerten Gebrauchtwagen für 2.300.000 Tuman und stellt sich bei einigen Taxiunternehmen im Norden3 Teherans vor, doch weil er noch jung ist bekommt er keine Arbeit, bis der Chef eines Unternehmens schließlich sagt: »Hinterleg deinen Ausweis bei mir. Du bekommst eine zwei- bis dreiwöchige Probezeit, in der du dich beweisen kannst. Wenn alles läuft, kannst du hier fest anfangen. Vergiss niemals, jeder der in dein Auto steigt, wird behandelt, wie deine eigene Familie – Frau, Mann, Mädchen oder Junge, ohne Unterschied! Unser Taxiunternehmen arbeitet schon seit Jahren mit gutem Ruf und der muss unter allen Umständen bewahrt werden. Du bist jung, und so wie es aussieht, willst du arbeiten. Achte daher auf diese Dinge, Sadegh!«

»Seien Sie ganz unbesorgt!«, entgegnet Sadegh flapsig. »Geben Sie mir nur drei, vier Tage Zeit, um die wichtigsten Straßen Teherans abzufahren, damit ich die Wege, die Sie mir dann beschreiben, nachvollziehen kann.«

Sadegh lernt sehr schnell und beginnt nach drei, vier Tagen mit seiner Arbeit. Morgens um sechs Uhr fängt er an und bleibt bis neun oder zehn Uhr abends, manchmal sogar länger.

Nach drei Wochen ruft ihn der Leiter des Taxiunternehmens zu sich.

»Sadegh, es nicht mehr nötig, dass dein Ausweis bei uns hinterlegt ist. Wenn du so weiter machst, dann hast du in einigen Jahren zwei bis drei Wagen, die für dich fahren.«

Am Feierabend isst er in seinem kleinen Zimmer ein mageres Abendessen, erhebt sich anschließend zum Gebet und teilt tränenüberströmt seinen ersten Erfolg mit Gott.

»Danke, lieber Gott. Danke, dass du mir geholfen hast. – Gott, achte auf Rona, auf meinen Vater und auf meine Mutter.«

Nach fünf Wochen erhält Sadegh vom Leiter des Taxiunternehmens eine Adresse.

»Sadegh, fahr dort hin! Die sind wahrscheinlich neu hierher gezogen, denn bislang hat niemand von dieser Adresse ein Taxi bei uns bestellt.«

Sadegh nimmt die Notiz und fährt zu der Adresse. Frau Dr. Sorur steht an der Klingel, die er betätigt.

»Entschuldigen Sie bitte. Haben Sie ein Taxi bestellt?«

»Ja, einen Moment bitte. Ich komme gleich.«

Nach einigen Minuten steigt eine Frau in das Taxi ein.

»Fahren Sie bitte zum Beautysalon Nas. Wissen Sie, wo das ist?«

»Ja, ich weiß, wo das ist.«

Nach zwei, drei Minuten fragt Frau Doktor: »Wie lange arbeiten Sie schon für dieses Taxiunternehmen?«

»Seit ungefähr eineinhalb Monaten?«

»Und, wie ist es?«

»Es ist ein sehr gutes Taxiunternehmen. Allerdings ist es auch das erste Unternehmen, in dem ich arbeite, aber ich finde es sehr gut.«

»Wie alt sind Sie?«, fragt die Frau Doktor zögernd.

»Achtzehn, Frau Doktor.«

» Sie sind sehr jung. Und sehr höflich. Sie kommen bestimmt vom Land.«

»Ja, Frau Doktor.«

»Was für eine Ausbildung haben Sie?«

»Abitur, Frau Doktor, Abitur«

»Sie haben Abitur und arbeiten für ein Taxiunternehmen? Was für Zeiten wir haben.« Als sie den Beautysalon erreichen, bittet sie Sadegh zu warten.

»Wie Sie wünschen, Frau Doktor.«

Nach einer Stunde kehrt sie aus dem Salon zurück.

»Fahr mich zum Obstbasar! Sag mal, wie heißt du eigentlich?«

»Sadegh, Frau Doktor.«

Es dauert erneut etwa eine Stunde, bis Frau Doktor ihre Einkäufe erledigt hat und wieder ins Taxi steigt.

»Fahren wir in unsere Gegend, in die Diba-Straße.«

»Wie Sie wünschen, Frau Doktor.«

In der Diba-Straße hält er neben einem Haus. Frau Doktor, die ein wenig müde wirkt, geht. Nach ungefähr zwanzig Minuten kehrt sie zurück. An ihrer Stimme erkennt Sadegh, dass sich ihre Laune geändert hat. Sie wirkt sehr fröhlich und erfrischt. »So, Sadegh«, sagt sie. Jetzt fahren wir nach Hause.«

»Ja, Frau Doktor. Wie Sie wünschen!«

In der Nähe ihres Hauses ruft Frau Doktor ihre Hausangestellte an und bittet sie, nach unten zu kommen und ihr dabei zu helfen, die Einkäufe ins Haus zu tragen.

Als sie ankommen, steigt Sadegh aus, um zu helfen. Frau Doktor mustert Sadegh von Kopf bis Fuß und sagt: »An deiner Größe und deiner Figur sieht man, dass du vom Land kommst.«

»Danke für das Kompliment, Frau Doktor«, entgegnet Sadegh und lächelt freundlich.

»Wie viel muss ich dir geben?«

»Achtzehntausend Tuman, bitte.«

Frau Doktor greift in ihre Beutel: »Hier, zwanzigtausend Tuman, weil du ein guter Junge bist.« Sadegh bedankt sich höflich, legt die Einkäufe vor der Haustür ab, verabschiedet sich von Frau Doktor und fährt zum Taxiunternehmen zurück.

Als er dort ankommt, fragt der Chef: »Wo warst du, Sadegh? Du bist seit fast vier Stunden weg. Eine Nachricht, ein Laut, eine Meldung. So geht das aber nicht, dass du für eine Fahrt fünf Stunden brauchst. Jetzt sag mal, wo warst du?«

»Frau Doktor Sorur hatte Einiges zu erledigen. Als Erstes sind wir zu einem Schönheitssalon gefahren, dann zum Einkaufen und dann noch woanders hin und schließlich wieder zu ihr nach Hause. Und ich habe ja kein Handy, womit ich Ihnen hätte Bescheid geben können.«

»Da hast du Recht, Sadegh. Da müssen wir uns etwas überlegen.«

»Was sollen wir uns da überlegen?«

»Kauf dir ein Handy!«

»Woher soll ich denn das Geld nehmen? In den letzten fünf Wochen habe ich etwa sechshunderttausend Tuman verdient. Mit der Provision, die ich dem Taxiunternehmen geben muss und den Ausgaben für Essen und Miete und tausend andere Dinge bleiben mir am Ende des Monats hundertdreißig- bis hundertvierzigtausend Tuman. Davon kann ich mir doch kein Handy leisten.«

»Da hast du zwar Recht, aber es gibt doch jetzt diese Billighandys. Jetzt hat jeder ein Handy. Ich habe ein Gerät, und die SIM-Karte kostet um die zehntausend Tuman. Ich kaufe sie dir und du kannst sie mir dann monatlich abbezahlen.«

»Mir würde das sehr gelegen kommen.«

»Warum würde dir das sehr gelegen kommen. Nicht, dass du dein Herz auf dem Land gelassen hast und nun so froh darüber wirst.«

»Sie haben Recht. Ich habe mein Herz auf dem Land gelassen. Aber mein Herz hat kein Telefon, dass ich es anrufen könnte.«

»Siehst du, ich habe richtig geraten.«

»Ja, das haben Sie!«

»Sagst du mir jetzt ihren Namen?«

»Ach Quatsch, was bringt ihnen denn der Name?«

»Vielleicht hast du ihr ja die Telefonnummer unseres Taxiunternehmens gegeben. Dann wissen wir wenigstens, wer für Sadegh anruft.«

»Aber es ist nicht nur eine Person.«

»Was, es sind mehrere Personen mit denen Sadegh flirtet? Mein Gott, auf dem Land geht das aber ab, und wir haben keine Ahnung.«

»Ja, es sind mehrere.«

»Herzlichen Glückwunsch, Sadegh. Aber ich mach nur Spaß. Heute ist die Hochzeit meiner Tochter, daher bin ich so gut gelaunt.«

»Herzlichen Glückwunsch, mit viel Gesundheit und allem Guten. Aber lassen Sie mich Ihnen die Namen nennen. Meine Schwester Rona, mein Vater und meine Mutter. Mein Herz ist bei ihnen. Aber ich mache mir nicht so viele Sorgen, denn ich bin mit ihren Herzen nach Teheran gekommen.«

Der Chef steht auf und geht respektvoll auf Sadegh zu und umarmt ihn.

»Mein Junge, mein Bruder«, erwidert er, »möge Gott dir ein langes und erfülltest Leben geben, damit du diese drei Menschen immer gesund und glücklich siehst.«

Sadegh bedankt sich für die netten Worte. Er hat vom ersten Tag an gemerkt, dass sein Chef ein guter Mensch ist. Einige Male hat er gehört, wie er gesagt hat: »Diese jungen Menschen sind sehr gut. Einige denken, nur weil sich die Jugend modern und anders kleidet als früher, sind es schlechte Menschen, aber das ist nicht so. Wenn du dich mit ihnen unterhältst, dann merkst du, wie toll, gelassen und nett sie sind. Wenn sie Arbeit haben, dann bemühen sie sich Tag und Nacht.«

Einmal hat Sadegh zu ihm gesagt: »Aber genau das ist das Problem, die Arbeit. Die Jugend wechselt vom Land in eine Stadt wie Teheran, weil es dort mehr und bessere Arbeit gibt.«

»Ich weiß auch nicht, was die Politiker sich dabei denken«, hatte der Chef geantwortet, »aber ich hoffe, dass unsere Jugend dabei nicht draufgehen wird, denn die Jugend verkommt. Junge, arbeitslose Menschen haben ihre Bedürfnisse – ihre Offenheit und Ehrlichkeit geht dabei verloren und dann kann es passieren, dass sie illegale Dinge tun.«

Es ist ungefähr zehn Uhr morgens, als der Leiter des Taxiunternehmens Sadegh zu sich ruft: »Sadegh, komm! Hier ist ein Handy mit einer SIM-Karte. Fahr schnell zu Frau Sorur. Frau Doktor hat gesagt, Sadegh soll mich fahren.«

Auf dem Weg zu ihr denkt er: Warum soll ausgerechnet ich fahren, es gibt so viele Fahrer, die vor mir an der Reihe sind. Bestimmt, weil sie mich für gut erzogen und anständig hält. Sie hat zwar Recht, aber die anderen sind genauso anständig wie ich. Naja, so einen Unterschied macht das nun auch nicht. Ich will Menschen durch die Gegend fahren, da kann ich auch Frau Doktor fahren. Es ist sogar ganz gut so. Achtzehntausend Tuman war der Fahrpreis und zweitausend Tuman habe ich als Trinkgeld bekommen. Ich wäre verrückt, wenn ich sie nicht fahren würde. Außerdem hat sie an verschiedenen Orten zu tun, und beim Warten kann ich etwas lesen, ein Buch oder eine Zeitung zum Beispiel. Mit diesen Gedanken erreicht er das Haus von Frau Doktor und klingelt.

»Ich bin’s, Sadegh, Frau Doktor, vom Taxiunternehmen.«

»Ich komme gleich.«

Als Frau Doktor einsteigt, verbreitet sich ein starker Duft im Wagen. Sadegh ist so starke Düfte nicht gewöhnt. Er schaut in den Rückspiegel, sieht Frau Doktor auf dem Rücksitz und sagt leise zu sich: »Die ist mindestens 50.« Schnell schaut er wieder weg.

»Wie geht’s dir heute, Sadegh?«, fragt Frau Doktor plötzlich.

»Gut, danke, Frau Doktor, und Ihnen?«

»Ach, nicht schlecht. Wenn man häufig allein ist, dann hat man nicht so viel Spaß im Leben. Abends bin ich allerdings nicht so oft allein, da kommen entweder meine Freunde oder meine Familie oder ich fahre zu ihnen. Meine zwei Kinder leben im Ausland und der Herr Doktor, naja, was soll ich da sagen! Mein Sohn ist schon bald 30 und meine Tochter 25.«

Sadegh schweigt.

»Übrigens, wir fahren zum Sportcenter. Du weißt doch, wo das ist, oder?«

»Ja, Frau Doktor!«

Zwei Stunden wartet er am Sportcenter. Die Ghazalen von Hafes und zwei Taschenbücher hat er immer im Auto liegen. Die Taschenbücher liest er und packt sie dann weg, um sie Rona mitzubringen. Dann kauft er neue Taschenbücher, aber die Ghazalen von Hafes sind immer in seinem Auto zu finden.

Als Frau Doktor kommt und einsteigt, sagt sie: »Sadegh, fahre bitte wieder zur Diba-Straße.«

»Jawohl, Frau Doktor!«

»Es geht einem gleich viel besser, wenn man in dieses Sportcenter kommt und eine ordentliche Massage erhält. Hier gibt’s eine Frau, die wunderbar massiert. Die knetet einen komplett durch, so dass man es richtig genießt. Als ob man von einem Nudelholz durchgeknetet würde.«

Sadegh hört einfach nur zu. Er wird ein wenig rot, da er es nicht gewöhnt ist, dass eine Frau so mit ihm spricht.

Er kurbelt das Fenster ein wenig runter.

»Was ist, Sadegh? Es kommt mir so vor, als ob du das Massieren nicht magst. Oder weißt du nicht, was ein Nudelholz ist?«

»Doch, Frau Doktor. Ich kenne das Nudelholz, es ist zum Brotbacken. Wenn wir vom Land das nicht kennen, wer dann?«

»Aber von Massagen und so einem Zeug hast du keine Ahnung, oder?«

»Nein, Frau Doktor. Aber ich habe gehört, dass es sehr gesund sein soll. Ich habe in der Zeitung gelesen, dass Sportler vor und nach einem Wettkampf unbedingt massiert werden müssen.«

»Sportler? Ich meine eine richtig gute Massage, die einem ein Glücksgefühl gibt. In Teheran musst du aber noch vieles lernen. Sehr viel. Du musst aus dieser Landnaivität herauskommen. Jetzt warte ab, ich werde dich schon erziehen.« Als sie in der Diba-Straße ankommen, steigt Frau Doktor aus.

Sadegh versinkt in Gedanken. Landnaivität? Warum soll ich meine Naivität aufgeben? Was soll mir das bringen? Naivität, gepaart mit Aufrichtigkeit, Freundlichkeit, Reinheit und Ehrlichkeit – wovon spricht diese Frau? Und warum will sie mich erziehen? Was ist denn falsch an mir? Außerdem, was geht diese Frau meine Naivität an, mein Charakter und mein Privatleben? Selbst wenn etwas an mir nicht in Ordnung ist, was geht es sie an?

Nach ungefähr zwanzig Minuten kommt Frau Doktor zurück.

»Ach! Jetzt geht es mir so richtig, richtig gut, Sadegh. Wenn ich nach Hause komme, gönne ich mir noch einen Drink, und dann bin ich wunschlos glücklich. Was ist mit dir? Trinkst du auch?«

»Trinke ich was?«

»Na, Drinks!«

»Was sind denn Drinks?«

»Ach du meine Güte. Du kommst nicht vom Land, du kommst von einem anderen Planeten, wenn du nicht weißt, was ein Drink ist. Und massiert wurdest du auch noch nie. Meinst du nicht, dass du einige Dinge lernen solltest?« Als sie am Haus von Frau Doktor ankommen, zahlt Frau Doktor den Taxipreis und das Trinkgeld und gibt Sadegh zum Abschied die Hand. »Auf ein baldiges Wiedersehen, Sadegh!« Dann steigt sie aus, blickt noch einmal zurück, zieht aufreizend die Augenbrauen hoch und geht ins Haus.

Es ist also die Zeit, einige Dinge zu lernen, denkt Sadegh. Also Massagen und so ein Zeug, und was ein Drink ist ... so etwas muss ich lernen? Was fehlt mir denn im Leben? Selbst wenn ich noch nie massiert worden bin und auch niemanden massiert habe und das Zeug, das sie Drink nennt, nicht kenne – mir fehlt nichts. Und warum ändert sich der Gemütszustand dieser Frau, wenn sie aus diesem Haus in der Diba-Straße kommt?

Das geht dich gar nichts an, entgegnet seine innere Stimme. Eine Frau um die fünfzig muss sich um sich selbst kümmern, und vielleicht gehören Dinge wie Massagen, Besuche in der Diba-Straße und das Drinkzeug auch dazu. In den Zeitschriften liest man ja auch, dass Jugend mit Massagen und Frohsinn und ... Diese Frau Doktor ist bestimmt auch hinter solchen Dingen her. Finanziell geht es ihr ja gut. Aber wäre es nicht besser, wenn sie, anstatt so viel Geld für Massagen und Drinks auszugeben, den Menschen spenden würde, die nicht wissen, wie sie ihren Magen füllen sollen?«

Es ist 21:30 als er sich völlig erschöpft und müde auf den Heimweg begibt. Als er wenig später in seine Gasse einbiegt, steht plötzlich jemand vor seinem Auto. Sadegh steigt sofort auf die Bremse, aber es ist schon zu spät. Er springt aus dem Auto und sieht, dass ein Mann zwischen 35 und 40 vor seinem Auto liegt. Sadegh überlegt nicht eine Sekunde. Er packt den Mann in sein Auto und fährt ihn ins Krankenhaus um die Ecke. Schnell läuft er in die Notfallstation und erzählt, was geschehen ist. Als die Polizei eintrifft, sitzt er im Warteraum. »Haben Sie den Mann angefahren?«, fragt einer der Polizisten.

»Ich habe ihn nicht angefahren, er ist auf einmal vor mein Auto gesprungen.«

»Ihren Führerschein, bitte!«

Sadegh gibt ihm seinen Führerschein. Der Polizist wendet sich indes an den verantwortlichen Stationsarzt und fragt, wie es dem Mann geht.

»Warten Sie noch ein, zwei Minuten. Der Arzt untersucht ihn gerade, aber es scheint so, als ob ihm nichts passiert sei.«

»Ich werde 10 bis 15 Minuten warten. Wenn er im Krankenhaus stationiert wird, muss ich dich mit auf die Wache nehmen. Ansonsten kann dir der Mann eine schriftliche Bestätigung geben, dass er dir verzeiht oder dass du nicht Schuld an dem Unfall bist, oder du zahlst eine Kaution, dann musst du nicht in U-Haft.« Es vergehen ungefähr zehn Minuten. Der zuständige Arzt und der Mann kommen in den Wartebereich.

Sadegh geht auf den Mann zu und sagt: »Geht es Ihnen gut? Gott sei Dank, dass Ihnen nichts Schlimmes passiert ist. Ich schwöre bei Gott, es war nicht meine Schuld. Sie standen auf einmal vor meinem Wagen. Bei Gott, es war nicht meine Schuld.«

Der Mann trägt Kleidung. Sein Vollbart zeigt die ersten Spuren von grau. Er legt seine Hand auf Sadeghs Schulter und sagt: »Hat denn jemand gesagt, dass es deine Schuld war? Keiner trägt Schuld. Ich war in Gedanken und du warst beschäftigt. Es war ein Unfall. Der hätte jedem passieren können. Es ist ja auch nichts passiert, und wenn überhaupt jemand Schuld hat, dann bin ich das. Basta! Wir brauchen weder die Polizei, noch ein Protokoll und auch sonst nichts. Basta!«

»Heißt das, sie wollen mich verklagen?«

»Verklagen? Weswegen denn? Weil das Leben und das Schicksal mich dazu gebracht haben, in Gedanken zu versinken? Weil ich in Gedanken gegen dein Auto gelaufen bin? Nein mein Junge. Dich verklage ich nicht. Wenn ich jemanden verklagen will, dann das Leben und das Schicksal, nicht dich.«

Der Polizist steht verstört daneben, als ob er es nicht gewohnt ist, einen armen und mittellosen, so sprechen zu hören. »Sind Sie sich sicher, dass sie keine Anzeige erstatten möchten?«, fragt er.

»Ganz sicher, Herr Wachobermeister. Basta!«

»Dann geben Sie mir das bitte schriftlich!«

»Natürlich, Herr Wachobermeister«, entgegnet der Mann und geht zu der Krankenschwester, nimmt sich Stift und Papier und schreibt: »Hiermit bestätige ich, Omid, dass ich heute um ungefähr 22:00 Uhr mit dem Auto von Herrn ...« Er dreht sich zu Sadegh und fragt: »Wie heißt du, junger Mann?«

»Sadegh, Herr! Sadegh, Geburtsjahr ...«

Der Mann unterbricht Sadegh lachend: »Du bist doch nicht beim Standesamt, dass du mir deine ganzen Personalien mitteilen willst«, und schreibt weiter.