Die Persönlichkeit des Joseph Beuys als Modell einer Plastischen Theologie - Erich Ackermann - E-Book

Die Persönlichkeit des Joseph Beuys als Modell einer Plastischen Theologie E-Book

Erich Ackermann

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Beschreibung

Person und Kunst von Joseph Beuys (1921–1986) wurden schon immer kontrovers diskutiert. Für die einen war er ein Scharlatan, ein Spinner, ein Utopist, für andere war er der bedeutendste deutsche Nachkriegskünstler – ein schöpferischer Visionär mit internationalem Ansehen und Erfolg. Joseph Beuys hat ein immens komplexes Werk hinterlassen, dass Zeichnungen, Skulpturen, Installationen, Aktionen beinhaltet. Drei Jahrzehnte nach seinem Tod können seine Vorstellungen und Gedanken für das Daseinsverständnis und für Lebensentwürfe im 21. Jahrhundert Hilfe, Impuls und Orientierung sein. Dies gilt gerade auch im Bereich von Religion und Theologie, was manchen überraschend oder abwegig erscheinen mag, ist Beuys doch keineswegs als religiöser Künstler zu bezeichnen. In seinem Lebenslauf und Werk lassen sich immer wieder religiöse Momente und Motive erkennen, die zwar auf Distanz zum kirchlich verfassten Christentum gehen, jedoch in ihrer Ernsthaftigkeit und Tiefe beeindrucken und berühren. Sie regen an zur (Selbst-)Reflexion und vermögen es, Anregungen zu liefern zu Fragen von Religion und Theologie in säkularisierter bzw. postsäkularer Zeit. [The Personality of Joseph Beuys as a Model of a Shapeable Theology] The person and work of Joseph Beuys (1921–1986) were always considered controversial. For some he was a charlatan, a spin merchant, a utopian, for others he was the most important German post-war artist – a creative successful visionary with an international reputation. Joseph Beuys has left an enormous complex body of work which contains drawings, sculptures, installations, and actions. Three decades after his death his ideas and thoughts about the understanding and interpretation of life in the 21st century can be helpful, dynamically creative and a guideline. This is essential especially in the field of religion and theology. What may be surprising or erroneous to some, for Beuys is not to be designated a religious artist. In his curriculum vitae and work again and again religious moments and motifs can be found, which set him apart from a church dominated christianity, and impress by their seriousness and depth. They invite (self-)reflection and are able to stimulate questions of religion and theology in these secular and post-secular times.

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Erich Ackermann

Die Persönlichkeit des Joseph Beuys als Modell einer Plastischen Theologie

Erich Ackermann, Dr. theol., geb. 1958, studierte katholische und evangelische Theologie.

Er ist Hochschulpfarrer in der Evangelischen Studierendengemeinde in Mainz.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2019 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Cover: Zacharias Bähring, Leipzig

Satz: 3W+P, Rimpar

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2019

ISBN 978-3-374-06026-9

www.eva-leipzig.de

Vorwort

»Michelangelo wurde einmal gefragt, wie es käme, dass er so wunderbare Werke schaffen könne.

›Es ist ganz einfach‹, antwortete er. ›Wenn ich einen Marmorblock betrachte, sehe ich die Skulptur darin. Ich muss nur noch das entfernen, was nicht dazu gehört.‹

Der Meister sagt:

›In jedem von uns steckt ein Werk, das darauf wartet, geschaffen zu werden. Es ist der Mittelpunkt unseres Lebens, und wenn wir uns auch noch so sehr betrügen, so wissen wir doch, wie wichtig es für unser Glücklichsein ist. Meist ist dieses Kunstwerk unter jahrelangen Ängsten, Schuldgefühlen und Unentschlossenheit verschüttet. Doch wenn wir beschließen, alles weg zu räumen, was nicht dazu gehört, wenn wir nicht an unseren Fähigkeiten zweifeln, dann können wir die Aufgabe erfüllen, die uns bestimmt wurde. Dies ist die einzig mögliche Art, ehrenhaft zu leben.‹«1

Inhalt

Cover

Titel

Über den Autor

Impressum

Vorwort

1.Einleitung

1.1.

Thema und Ziel der Arbeit

1.2.

Rechtfertigung des Themas und Diskussion der Problematik

1.3.

Stand der Forschung

1.4.

Vorgehensweise und ihre Rechtfertigung gegenüber andersgearteten Untersuchungen

1.5.

Überblick über den Aufbau der Arbeit

2.Annäherung an die Persönlichkeit von Beuys

2.1.

Biografische Elemente

2.1.1.

Kindheit und Jugendzeit

2.1.2.

Kriegserfahrungen

2.1.2.1.

Die Tatarenlegende

2.1.2.2.

Das Kriegsende

2.2.

Einflüsse auf die Person von Beuys

2.2.1.

Der Niederrhein

2.2.2.

Künstler und Persönlichkeiten

2.2.2.1.

Künstler und Persönlichkeiten, die Beuys kannte

2.2.2.1.1.

Achilles Moortgat

2.2.2.1.2.

Hanns Lamers

2.2.2.1.3.

Walther Brüx

2.2.2.1.4.

Jupp Brüx

2.2.2.1.5.

Heinrich und Ernst Schönzeler

2.2.2.1.6.

Adam Rainer Lynen

2.2.2.1.7.

Die Gebrüder van der Grinten

2.2.2.1.8.

Joseph Enseling

2.2.2.1.9.

Ewald Mataré

2.2.2.2.

Künstler und Persönlichkeiten, die Beuys prägten

2.2.2.2.1.

Historische Persönlichkeiten

2.2.2.2.1.1.

Anacharsis Cloots

2.2.2.2.1.2.

Paracelsus

2.2.2.2.2.

Künstler

2.2.2.2.2.1.

Leonardo da Vinci

2.2.2.2.2.2.

Constantin Meunier

2.2.2.2.2.3.

George Minne

2.2.2.2.2.4.

Edvard Munch

2.2.2.2.2.5.

Wilhelm Lehmbruck

2.2.2.2.2.6.

Paul Klee

2.2.2.2.2.7.

Marcel Duchamp

2.2.2.2.3.

Literaten

2.2.2.2.3.1.

Novalis

2.2.2.2.3.2.

Johann Wolfgang von Goethe

2.2.2.2.3.3.

Knut Hamsun

2.2.2.2.3.4.

Maurice Maeterlinck

2.2.2.2.4.

Philosophen

2.2.2.2.4.1.

Sören Kierkegaard

2.2.2.2.4.2.

Rudolf Steiner

2.2.2.2.4.2.1.

Biografie

2.2.2.2.4.2.2.

Erkenntnistheorie

2.2.2.2.4.2.3.

Beuys und Steiner

2.2.2.3.

Zusammenfassung und Bewertung

2.2.3.

Bewegungen, die Beuys beeindruckten

2.2.3.1.

Von der Renaissance zur Moderne

2.2.3.2.

Deutsche Romantik

2.2.3.3.

Die Fluxusbewegung

2.2.3.4.

Zusammenfassung und Bewertung

3.Beuys’sche Charakteristika

3.1.

Das Menschenbild

3.2.

Das Zeichnen

3.3.

Die Persönlichkeitsstruktur

3.3.1.

Grundstruktur

3.3.2.

Depressive Anteile

3.3.3.

Humoristische Seiten

3.4.

Zusammenfassung und Bewertung

4.Wichtige Themenstränge des künstlerischen Schaffens von Beuys

4.1.

Schamanismus

4.2.

Das Tiermotiv

4.3.

Zusammenfassung und Bewertung

5.Die Lehre

5.1.

Künstler und Hochschullehrer

5.2.

Plastische Theorie

5.3.

Erweiterter Kunstbegriff

5.4.

Künstlerische Besonderheiten

5.4.1.

Die Badewanne

5.4.2.

Die Multiples

5.4.3.

Die Gegenbilder

5.5.

Zusammenfassung und Bewertung

5.6.

Die Bedeutung der Materialien

5.6.1.

Fett

5.6.2.

Filz

5.6.3.

Erde, Farbe, Stein

5.6.4.

Blut, Wachs, Gips

5.6.5.

Organisches, Honig, Schokolade

5.6.6.

Kupfer, Gold, Schwefel

5.6.7.

Zusammenfassung und Bewertung

6.Religiöse Dimensionen im Werk von Beuys

6.1.

Beuys und das Christentum

6.1.1.

Allgemeine Aspekte

6.1.2.

Kirchenkritik

6.2.

Signifikante christliche Elemente in der Kunst von Beuys

6.2.1.

Die Taufe

6.2.2.

Die Bergpredigt

6.2.3.

Wunder und Heilungen

6.2.4.

Trias: Leiden, Sterben, Auferstehung

6.3.

Die Werkphasen

6.3.1.

Erste Werkphase (bis 1954): Anbindung an die Tradition

6.3.1.1.

Frühe Arbeiten

6.3.1.2.

»Das Sonnenkreuz«

6.3.1.3.

»Symbol des Opfers und der Erlösung«

6.3.2.

Zweite Werkphase (1954–1962): An der Schwelle zu einem kosmischen Verständnis

6.3.2.1.

Das »Büdericher Kreuz«

6.3.2.2.

Die »Kreuzigung«

6.3.3.

Dritte Werkphase (ab 1963): Aktionskunst

6.3.3.1.

»Festival der neuen Kunst«

6.3.3.2.

»Celtic + ~ ~ ~«

6.3.3.3.

»Der Chef The Chief. Fluxus Gesang«

6.3.3.4.

»Zeige deine Wunde«

6.3.4.

Zusammenfassung der Werkphasen

6.4.

Andere religiös gefärbte Arbeiten

6.4.1.

»Christo morto«

6.4.2.

»Herz-Jesu-Bildchen«

6.4.3.

Die religiöse Bedeutung der Materialien

6.4.4.

Zusammenfassung und Bewertung

6.5.

Theologische Topoi im Werk von Beuys

6.5.1.

Das Kreuz

Exkurs:Das Halbkreuz

6.5.2.

Die Christusidentifikation

6.5.3.

Der Christusimpuls

Exkurs:Beuys und Bonhoeffer

6.5.4.

Der Begriff der Transformation/Transsubstantiation

6.5.5.

Der Tod

6.5.6.

Die Installation »Ich glaube«

6.6.

Theologische Anfragen

6.6.1.

Selbsterlösung

6.6.2.

Reinkarnation

6.6.3.

Neue Mythologie

6.6.4.

Verhältnis zur protestantischen Theologie

6.7.

Zusammenfassung und Bewertung

7.Entwicklung einer Plastischen Theologie

7.1.

Christus, eine präsentisch wirkende Kraft

7.2.

Die Befreiung des Menschen durch Christus

7.3.

Der Liebesbegriff bei Beuys

7.4.

»Die Mysterien finden im Hauptbahnhof statt«

7.5.

Plastische Theologie

8.Ergebnisse und Konsequenzen

8.1.

Ertrag für die praktisch-theologische Theoriebildung

8.2.

Die Beuys’sche Martyrologie

8.3.

Abschließende Bemerkungen

9.Schlusswort

10.Literaturverzeichnis

10.1.

Kataloge

10.2.

Bücher

10.3.

Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften

10.4.

Lexikonartikel

10.5.

Internetseiten

10.6.

Tonträger

10.7.

Filmmaterial

Endnoten

1.Einleitung

1.1.Thema und Ziel der Arbeit

Joseph Beuys ist ohne Zweifel die bedeutendste deutsche Künstlerpersönlichkeit des 20. Jahrhunderts. Auch über 30 Jahre nach seinem Tod im Jahre 1986 ist er nicht vergessen, auch wenn das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung zu seinem 20. Todestag im Jahr 2006 genau das Gegenteil äußerte, dass es still um Beuys geworden sei, was aus meiner Sicht völlig unzutreffend ist.1 Seine künstlerischen Arbeiten und seine Gedanken leben fort. Das machen die vielen Ausstellungen in den letzten 15 Jahren deutlich, von denen hier beispielhaft Folgende genannt seien:

Bonn/Schloss Moyland/Duisburg/Venlo – Denken, Reden, Machen! Beuys für Kinder und Jugendliche (2003–2004),

Bonn, Bundeskunsthalle – Van Gogh bis Beuys, Crossart (12.08.2005–06.11.2005),

Frankfurt, Kunsthalle Schirn – Rodin Beuys (09.09.2005–27.11.2005),

Bonn, Kunstmuseum – Joseph Beuys, Zeichen aus dem Braunraum – Auflagenobjekte und grafische Serien (14.12.2005–12.02.2006),

Karlsruhe, Kunsthalle – Ich bin interessiert an Transformation, Veränderung, Revolution – Joseph Beuys Zeichnungen (21.10.2006–07.01.2007),

Berlin, Deutsche Guggenheim – All in the Present Must Be Transformed: Matthew Barney and Joseph Beuys (28.10.2006–12.01.2007),

Berlin, Nationalgalerie Staatliche Museen zu Berlin – Joseph Beuys. Die Revolution sind wir (03.10.2008–25.01.2009),

Heilbronn, Kunsthalle Vogelmann des Städtischen Museums – Beuys für alle (06–09/2010),

Düsseldorf, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen – Joseph Beuys, Parallelprozesse (11.09.2010–16.01.2011),

München, Pinakothek der Moderne – Beuys Zeichnungen 1945–1986 (18.10.2012–20.01.2013),

Stuttgart, Staatsgalerie – Fluxus. Antikunst ist auch Kunst (01.12.2012–28.04.2013),

München, Pinakothek der Moderne – Ich bin ein Sender. Multiples von Joseph Beuys (26.06.2014–11.01.2015),

Amberg, Congress Centrum – Joseph Beuys – 30 Jahre nach seinem Tod (25.07.2016–14.09.2016).

Schließlich ist ein mit viel Akribie, Sachverstand und Leidenschaft gedrehter Film über Beuys des Dokumentarfilmers Andres Veiel zu erwähnen, der ab dem 18.05.2017 in den deutschen Kinos gezeigt wurde und die Künstlerlegende wieder greifbar machte.2

Seine ungebrochene Bedeutsamkeit wird in aktuellen Veröffentlichungen ganz unterschiedlicher Forschungsbereiche sichtbar, etwa im Bereich der Ethnopsychoanalyse3, Rhetorik4 oder in der Chaosforschung5.

Seine Person und seine Kunst waren von jeher umstritten. Für die einen war er ein Scharlatan, ein Spinner, ein Utopist6, für andere war er der bedeutendste deutsche Nachkriegskünstler, ein Künstler von hohem Rang mit internationalem Ansehen und Erfolg.7 Die Urteile über ihn könnten gegensätzlicher nicht sein, die dogmatische Gläubigkeit seiner Bewunderer und die Verketzerung seiner Gegner, der nahezu messianische Mythos um ihn und der Vorwurf unverantwortlicher Verdummung.8

Wie kein anderer Künstler verkörpert Beuys das Ideal eines künstlerischen Messianismus, er war eine charismatische Persönlichkeit, die gar zum Heilsbringer stilisiert wurde.9 »Nie gab es einen Künstler, dessen Werk zu seinen Lebzeiten so heftig angegriffen wurde und noch bis heute so umstritten ist.«10

Aus heutiger Sicht ist Beuys zweifelsohne der wichtigste Protagonist der deutschen Kunst für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Nachkriegszeit.

Allerdings fällt die Auseinandersetzung mit seiner Kunst vielen Menschen schwer, Beuys ist anders, seine Kunst ist anders. Beuys macht(e) vielen Menschen Angst, er weckt(e) bei manchen Betrachtern11 Aggressionen, weil seine geheimnisvolle Kunst, seine eindringlichen Aktionen für viele Menschen schwer nachvollziehbar sind.12 Er war ein Meister der Provokation, die zu einem Stilmittel seiner selbst wurde, d. h. Person und Werk einbezog. »Und Beuys ist ein Grenzgänger. Er hat in der Kunst eine Schwelle übertreten. Er hat mit der Moderne abgeschlossen.«13 Er erweiterte die Kunst in eine Richtung, die bis dahin undenkbar schien und Denken, Diskussionen und Reden implizierte.14 Beuys sprengte mit seinem Kunstverständnis und seiner Kunst die Dimensionen der herkömmlichen Kunst und Kunstauffassung. Es war eine Revolution, die er entfachte, ganz so wie er auch eines seiner Environments betitelte: »La revoluzione siamo noi« (Die Revolution sind wir), entstanden in Neapel in den Jahren 1971/72.15 »In seinem avantgardistischen Bestreben, die Kunst neu zu definieren, plädierte er für eine grundsätzliche Gleichsetzung von Kunst und Lebenspraxis.«16 Nach Beuys ist die Kunst Ausgangspunkt einer humanen Transformation zurück zu ihrem ursprünglichen Wesen, womit eine notwendige gesellschaftliche Neustrukturierung verbunden ist.17 Kunst und gesellschaftspolitisches Engagement gehören für Beuys zusammen.

»Kein anderer deutscher Künstler seit 1945 hat soviel internationale Beachtung gefunden. […] Die Schwierigkeit, das Phänomen Beuys zu erfassen, erklärt sich aus seinem Bestreben, die engen Grenzen des bestehenden Kunstbegriffs zu überschreiten und eine Einheit zwischen Kunst und Leben herzustellen. Seine Werke sind Niederschlag der Erfahrung menschlicher Existenz, sie beinhalten zugleich einen Entwurf für eine humane Gesellschaft; es sind Produkte, an denen Gedanken und Kommunikation ansetzen sollen.«18

Die Persönlichkeit von Beuys hatte wie seine Kunst viele Facetten: Er war der geniale Künstler, die Leitfigur der Weltkunstszene in der Nachkriegszeit, der begnadete Kommunikator, der »Performance-Magier«, der »Debatten-Langläufer«, der politische Redner und Aktivist, der Menschenfischer, der Alleskönner, der Überpräsente.19 Für viele Menschen war er ein Irrer, ein Fanatiker, für andere war er der unbestrittene Doyen der Gegenwartskunst, der größte künstlerische Exzentriker der Nachkriegszeit.20 Für seine Frau Eva war Beuys ein Genie, wobei das Zusammenleben mit ihm alles andere als einfach war.21

Für Benjamin Buchloh22, ein hartnäckiger Kritiker von Beuys, ist er der einzige Künstler in Deutschland, der den surrealistischen Weg fortgesetzt hat und den man demzufolge auch berechtigt als Surrealisten bezeichnen kann.23 Gleichwohl, hinter diesem scheinbaren Lob verbirgt sich Kritik: Wer als Surrealist bezeichnet wird, gerät leicht in den Verdacht, wirklichkeitsfern zu denken und zu arbeiten. Auch wenn Beuys viele visionäre und phantastische Vorstellungen und Gedanken hatte und präsentierte, kann man ihm nicht vorwerfen, dass er fern der Wirklichkeit agierte, im Gegenteil, er brachte sich ganzheitlich in sie ein, er war Teil der Wirklichkeit, nahm Wirklichkeit wahr und an und versuchte sie zu verändern.

Nun stellt sich angesichts dieser Ausführungen dennoch oder zu Recht die Frage: Warum sich mit Beuys beschäftigen – mehr als 30 Jahre nach seinem Tod?

Auf einem Pastoralkolleg der Evangelischen Kirche von Hessen und Nassau in der Evangelischen Akademie Arnoldshain begegnete mir Beuys beim Thema »Beruf und Berufung« in einem Referat über Berufung bei Künstlern, unter anderem bei Beuys, von Raimer Jochims, dem früheren Leiter der Frankfurter Kunsthalle Schirn. Dieser Vortrag weckte meine Begeisterung für Joseph Beuys, die ich schon während meiner Studienzeit an der Ludwig-Maximilian-Universität München, insbesondere in den Januartagen des Jahres 1980, verspürt hatte, als das Environment »Zeige deine Wunde« im Lenbachhaus in München installiert wurde und in allen Zeitungen und Bevölkerungsschichten kontrovers diskutiert wurde.

Joseph Beuys hat ein ungeheuer komplexes Werk hinterlassen, das Zeichnungen, Skulpturen, Installationen, Aktionen beinhaltet. Auch mehr als dreißig Jahre nach seinem Tod können seine Vorstellungen und Gedanken für das Daseinsverständnis und für Lebensentwürfe im 21. Jahrhundert Hilfe und Orientierung sein. Das betrifft auch den Bereich der Religion und der Theologie, was ich im Folgenden mit dieser Arbeit zeigen möchte. Diese Thematik in Bezug auf Beuys mag überraschend oder abwegig erscheinen,24 ist Beuys doch keineswegs als religiöser Künstler zu bezeichnen.25 Andererseits lassen sich in seinem Werklauf/Lebenslauf26 immer wieder religiöse Momente und Motive erkennen, die zwar auf Distanz zum kirchlich verfassten Christentum gehen und jenseits von dogmatischen und kirchenhistorischen Einsichten zu finden sind, die aber in ihrer Ernsthaftigkeit und Tiefe beeindrucken. Aus meiner Sicht können sie durchaus eine Hilfe und Orientierung geben für die Religion und die Theologie unserer Tage und damit für die Verkündigung und Unterweisung in der christlichen Religion.

Viele Arbeiten von Beuys »sind nicht allein formal, sondern transzendental zu verstehen; da sie sich an das Spirituelle wenden, sind sie zeitlos.«27 Eine solche Sicht von Kunst und Religion, wie sie Beuys darbietet, ist nicht ad hoc vorhanden, sondern hat sich im Laufe von Jahren entwickelt, ist das Produkt seines Lebenslaufes mit unterschiedlichen Erfahrungen und Etappen. Beuys hat sein Leben und seine Arbeit nie getrennt, weswegen die Bezeichnung Werklauf/Lebenslauf (und eben auch diese Schreibweise) zutreffend ist. Seine Persönlichkeit ist seine Arbeit, seine Arbeit ist seine Persönlichkeit. Die innere Persönlichkeit des Künstlers, seine individuelle Substanz28, wird in seinem Werk transparent.

Die Kenntnis seiner Biografie ist für das Verständnis seines Werkes unabdingbar. Eine intensive Auseinandersetzung mit seiner Vita ist darum eine unverzichtbare Voraussetzung für eine Beschäftigung mit seinem Werk und seiner Weltanschauung.29 Dazu gehört auch eine ausführliche Auseinandersetzung mit den Künstlern und Denkern, die ihn inspiriert haben und die mit dazu beigetragen haben, dass sich die Persönlichkeit des Joseph Beuys so und nicht anders geformt hat. Insofern ergibt sich der Titel der folgenden Arbeit über die theologischen Implikationen im Werk von Beuys fast zwangsläufig: Die Persönlichkeit des Joseph Beuys als Modell einer Plastischen Theologie.30

Über 30 Jahre nach seinem Tod zeigt sich sein Werk als das Schaffen eines Menschen voller Ideale, Ideen und Liebe zur Welt, das oft bewusst provozierte, um dadurch neue Wege in die Zukunft zu öffnen31, für die Kunst, für die Theologie32 und auch für den Künstler als schöpferisches Wesen. Gleichwohl muss in der Beschäftigung mit seinem Werk auf einen Paradigmenwechsel hingewiesen werden. Die aktionistische Aura, die charakteristisch war für seine Auftritte und Werke, ist aufgebraucht.33 Die heutige Beschäftigung mit Beuys ist nicht mehr an seine Aura, sein Charisma geknüpft.34 Mehr als 30 Jahre nach seinem Tod liegt über seinen Arbeiten eine museale Dignität, die man zu seinen Lebzeiten nicht erwartet hätte.35 Er selbst wohl am wenigsten. Zugleich ist seine Musealisierung, wie sie in der Düsseldorfer Ausstellung »Parallelprozesse« inszeniert wurde, nicht gleichzusetzen mit einer Wiederbelebung. Beuys auszustellen, ist nach Swantje Karich äußerst schwierig, weil seine Kunstwerke nicht mehr die Impuls- und Appellgeber und Provokateure der Gegenwart sind und es fraglich ist, ob die Energie, die von den Beuys’schen Kunstwerken ausgeht, für die Nachgeborenen noch nachvollziehbar ist.36 Für Swantje Karich ist Beuys im Museum quasi gezähmt, weil die Aura und Energie des Künstlers nicht mehr spürbar sind und seine Materialien Dichte, Chaos und Freiheit brauchen und nicht Ordnung und Präzision; dennoch bleibt Beuys selbst der Schlüssel zu seinem Werk.37

Nach dem Tod des Künstlers ist der intendierte interaktive Aspekt seiner Kunst nicht mehr greifbar. So kann Matthias Mühling mit Recht darauf verweisen, dass etwas verloren geht, weil nun Menschen im Kunstbetrieb über Beuys nachdenken, die ihn nicht (mehr persönlich) kannten.38 »Andererseits ist nun alles möglich: dass bestimmte Dinge sichtbar werden, die vorher vielleicht da waren, aber nie angesprochen wurden. Vielleicht wird das Werk auch freier dadurch, dass es ohne die Biografie gelesen werden kann.«39 Dann besteht die Chance, dass sich auch jüngere Generationen mit der Kunst von Beuys unbefangen beschäftigen können.40 Gleichwohl muss man darauf aufmerksam machen, dass Beuys und sein künstlerisches Schaffen bei vielen jungen Menschen weitgehend unbekannt sind.

Sein abnehmender Bekanntheitsgrad geht auch einher mit der Auffassung vieler Autoren, dass Beuys in den letzten Jahren zunehmend an Wertschätzung verloren habe.41 Wie kann es sein, dass Andy Warhol nach wie vor ein weltbekannter Künstler ist, wohingegen sich mittlerweile eine dicke Patina über Beuys gelegt hat, galten beide doch als die wichtigsten Künstler der Nachkriegszeit?42 Vielleicht liegt es daran, dass bis heute noch kein Werksverzeichnis und keine autorisierte Biografie existieren, zudem liegt der Beuys’sche Nachlass in den Händen seiner Familie, wohingegen das künstlerische Erbe Warhols in den Händen einer Stiftung liegt.43 Viele Kuratoren wollen Beuys nicht ausstellen, weil die Familie von Beuys unüberwindbare Hürden aufgebaut hat, das schließt auch die Verwendung von Bildmaterial und fotografischen Reihen ein.44 Nach Einschätzung des ehemaligen Direktors der Londoner Tate Gallery of Modern Art, Chris Dercon, ist Beuys der am meisten überschätzte Künstler des 20. Jahrhunderts.45 Die Kunst von Beuys sei nicht so impulsgebend für die moderne Kunst wie vielfach angenommen, er habe es aber verstanden, seine Kunst geschickt zu vermarkten und zu inszenieren.

Dagegen wehrt sich Friedhelm Mennekes; für ihn sind die Werke von Beuys auch heute noch so lebendig wie eh und je und haben nichts von ihrer Provokation, Kraft und energetischen Ausstrahlung verloren, weswegen er zu dem Schluss kommt, dass Beuys auch heute noch durch sein Werk lebt.46 Diese Einschätzung von Mennekes ist keineswegs ironisch gemeint. Beuys selbst besaß eine außerordentliche Vitalität, die viele Menschen in ihren Bann schlug. Sein Einfluss auf die nachfolgende Künstlergeneration war derart massiv, dass keiner an ihm vorbeikam. Auch wenn das Verhältnis vieler Künstler zu Beuys zwischenzeitlich distanziert war, weil seine Präsenz immer noch überproportional vorhanden war und den Blick auf andere Akteure verstellen konnte, nähert sich heute sowohl eine mittlere Künstlergeneration seinem Denken an, etwa Jonathan Meese, John Brock, hierzu zählt auch der 2010 verstorbene Christoph Schlingensief47, als auch eine jüngere, die nach seinem Tod geboren ist, z. B. Daniel Keller, Timur Si-Quin, Tobias Madison.48 Beuys war vor allem ein Lehrmeister des Lebens, der mit der Kraft seiner Aura und Ausstrahlung Menschen faszinierte. Er war ein aufgeschlossener, kontaktfreudiger, äußerst freundlicher, geradezu liebenswürdiger und zuvorkommender Mensch. So kann Marc Gundel ohne Übertreibung sagen: »Beuys erfand keine besondere künstlerische Methode, aber er hat sein ganzes Leben mit generöser Menschlichkeit dem sozialen Miteinander in der Gesellschaft gewidmet.«49

Das Oeuvre von Beuys ist, wie nach den bisherigen Ausführungen zu ahnen ist, von ungeheurer Vielfalt und Komplexität. Aber es gilt nach Jörg Schellmann, weiterhin vieles im Werk von Beuys zu entdecken und zu entschlüsseln.50 Diesem Vorsatz dient die vorliegende Arbeit.

1.2.Rechtfertigung des Themas und Diskussion der Problematik

Wie bereits erwähnt, muss der Zusammenhang von Leben und Werk bei Beuys beachtet werden. Nach Eva Beuys, seiner Ehefrau, existierte für Beuys eine Trennung von Kunst und Leben, von Berufs- und Privatleben nicht.51 Auch am Wochenende war er schöpferisch tätig, was seine Installation »Ich kenne kein Weekend«52 programmatisch postuliert. Nach Walker erlangte der Künstler mit dem »dürftigen Material«, Joseph Beuys, eine größere Publizität gerade durch seine grimmige Entschlossenheit, Kunst und Leben zu verschmelzen.53 Eine enge Verzahnung von Leben und Arbeit gilt gemeinhin als Kennzeichen von Professionalität. Je enger die Verbindung von Leben und Werk, desto höher der Grad an Professionalität. Professionalität ist zugleich mehr als handwerkliches Können, wie folgende Definition zeigt: »Offensichtlich hat Professionalität etwas mit Berufsethos zu tun, also mit bestimmten Standards, Werten und Spielregeln, die von ›wahren Profis‹ einzuhalten sind und eingehalten werden. […] Wenn gesagt wird, dass jemand sich in einer heiklen Situation ›sehr professionell‹ verhalten hat, ist damit in aller Regel nicht gemeint, dass er seiner Aufgabe handwerklich gewachsen war, sondern dass er mehr bewiesen hat als nur fachliches Wissen und Können. Offensichtlich setzt Professionalität also die Beherrschung des Handwerks voraus, geht aber darüber hinaus.«54 Professionalität wird wesentlich bestimmt von der Persönlichkeit. Das gilt für Beuys in besonderer Weise. Seine herausragende, tiefgehende und zuweilen schillernde Persönlichkeit ist Ausgangspunkt und Grundlage seines künstlerischen Schaffens, weswegen in dieser Arbeit die Bezugnahme auf seine Persönlichkeit ein wichtiger Bestandteil ist.

Seine Biografie hat sehr viel mit seinem künstlerischen Schaffen zu tun, seine biografische Entwicklung war Impuls und Initiation und hat seine Kunst stets genährt und verändert. Der Aspekt der Veränderung und Transformation findet seinen Ausgangspunkt in der Biografiearbeit. Mathias Wais schreibt dazu: »Ist es nicht eher so, daß deine Biographie gerade da in Bewegung kommt, wo du mit Ereignissen konfrontiert wirst, die dich aus deinen Gewohnheiten, Sicherheiten und Denkmustern herausreißen? Entwickelst du dich nicht gerade so weiter, wo du plötzlich ganz anders denkst als bisher, wo auf einmal alles in Frage gestellt ist? […] – in Krisen also, […], wo man plötzlich spüren kann, daß man vielleicht noch zu etwas ganz anderem aufgerufen ist, als was man tagtäglich so lebt.«55 Das Entscheidende bei der Biografiearbeit ist, dass immer etwas Neues dazukommt, das geschieht dadurch, dass man sich auf den Weg macht und dass man etwas ganz anderes ausprobiert.56

Biografie und Persönlichkeit sind der Schlüssel zum Beuys’schen Oeuvre. Aus seiner Biografie und seiner Persönlichkeit erwächst der ungeheure, phänomenale Antrieb und Impuls zu seinem künstlerischen Schaffen. Bei Nossrat Peseschkian, findet sich ein Satz, der mit der Kunst und Vorstellungswelt von Joseph Beuys überaus kompatibel ist: »Wenn du willst, was du noch nie gehabt hast, dann tu, was du noch nie getan hast.«57 Dieser Satz könnte auch von Beuys stammen,58 zeigt er doch an, wie flexibel, unangepasst, umtriebig und freigeistig Beuys in seinem Denken und künstlerischen Schaffen war.

1.3.Stand der Forschung

Die Literatur zu Joseph Beuys ist von solcher Fülle, dass man einem kaum mehr überschaubaren Konvolut an Monografien, Ausstellungskatalogen, Sammelwerken und Artikeln gegenübersteht.59 Andreas Quermann unterteilt die umfangreichen Publikationen über Beuys in drei Autorengruppen: Apologeten, Kritiker und Wissenschaftler, wobei die unkritische Literatur das Gros ausmacht.60 Die positive Beuys-Rezeption besteht wiederum aus drei Gruppierungen. Die erste Gruppe steht dem Werk von Beuys unkritisch gegenüber und vertritt die freie Anschauung des Werkes und setzt allein auf die sinnliche Qualität der Arbeiten von Beuys.61 »Auf die Rezeption der verbalen Äußerungen wird verzichtet, da diese einer individuellen Mythologie entspringen würden und sie deshalb niemand wirklich verstehen könne.«62 Zu dieser Gruppe zählt der Ausstellungsmacher Harald Szeemann (1933–2005), Leiter der documenta V 1972 und Herausgeber der von ihm so genannten Publikation »Beuysnobiscum« (Beuys mit uns), womit eine Verehrung für Beuys angezeigt wird, die liturgisch anmutet.63

Eine zweite Gruppe, zu der Johannes Stüttgen zählt, Schüler und Mitstreiter von Beuys, propagiert die Einheit von Werk und Wort und betont die politische Bedeutung des »Erweiterten Kunstbegriffs«.64 Johannes Stüttgen hat viele Schriften zu Beuys veröffentlicht, darunter sein grundlegendes Werk »Zeitstau«.65

Eine dritte Gruppe wird angeführt von Rainer Rappmann, Achberger Anthroposoph und Gründer des FIU-Verlages.66 Wie Stüttgen betont auch Rappmann die Einheit von Wort und Werk. Er distanziert sich von der unkritischen Beuys-Rezeption der ersten Gruppe und legt den Schwerpunkt auf die politische Bedeutsamkeit von Beuys.67 Viele Veröffentlichungen von Anhängern und Mitstreitern von Beuys finden sich im FIU-Verlag Rainer Rappmanns, der auch heute noch dafür sorgt, dass die Ideen von Beuys weiterhin Verbreitung finden. Geradezu als Primärquelle, weil z. T. von Beuys autorisiert und redigiert, gilt die Publikation »Soziale Plastik« von Volker Harlan/Rainer Rappmann/Peter Schata.68 Der Koautor Volker Harlan sieht das Werk von Beuys nicht als Modell einer Kunstentwicklung, sondern als Argumentationsgrundlage für die Veränderung der Gesellschaft.69

Die Zahl derer, die Beuys positiv gegenüberstehen, ist größer als die seiner Kritiker. 1973 erschien die Monografie »Joseph Beuys. Leben und Werk« von Götz Adriani, Karin Thomas und Winfried Konnertz, die 1994 überarbeitet und neu aufgelegt wurde.70 War diese Monografie darauf angelegt, das künstlerische Schaffen von Beuys präzise zu dokumentieren, so besteht kein Zweifel, dass sie der Konsolidierung des Mythos Beuys Vorschub leistete.71

Nach Matthias Bleyl, der die zu den Werken von Beuys vorliegende Literatur differenziert sieht, ist dieselbe quantitativ äußerst umfangreich und qualitativ äußerst homogen, ihr Gebrauchswert bleibt allerdings in Hinsicht auf ein besseres Verständnis eingeschränkt und kann nicht mehr als eine Hilfestellung sein.72 Unter der Vielzahl der Publikationen gibt es nach Bleyl durchaus fundierte und ausgewogene Beiträge, ohne sie zu benennen, gleichwohl entpuppen sich viele Veröffentlichungen als Hagiografie zur Erhaltung des Marktwertes.73 »Vieles ist schlechterdings nichts anderes als leeres Geschwätz und bringt, zum wer weiß wie vielten Male breitgetreten, keinen erhellenden Gedanken mehr in die Diskussion.«74 Dabei ist es unerheblich, ob sich die Beiträge affirmativ zu Beuys verhalten oder nicht, entscheidend ist eine wohlbegründete und mit Notwendigkeit bezogene Stellungnahme, die nicht frei von der Bedürfnislage und Intention des jeweiligen Autors ist.75

Eine Hagiografie ersten Ranges ist die Biografie von Heiner Stachelhaus, nach wie vor ein Standardwerk zu Beuys, die mittlerweile in mehreren Auflagen erschienen ist und die 1987 erstmals veröffentlicht wurde.76 Stachelhaus kannte Beuys sehr gut und konnte auf persönliche Erinnerungen und Erfahrungen zurückgreifen. Er hat eine sehr lebendige Biografie verfasst, die zu einer Verklärung von Beuys geführt und den Mythos Beuys weiter forciert hat.77

Es steht außer Zweifel, dass viele Beiträge eine heroische Sicht von Beuys beinhalten und zu seiner mythischen Verklärung beigetragen haben. Beuys hat diese Mythisierung seiner selbst übrigens nie abgelehnt, sie konnte seiner Popularität und künstlerischen Wirksamkeit nur von Nutzen sein. An dieser Mythisierung hat Beuys selbst immer wieder gearbeitet und gefeilt, sie kann als Inszenierung, als bewusste Steuerung und Planung betrachtet werden. Beuys hat ständig an der Interpretation seiner selbst gearbeitet.

Zu den zahlreichen Befürwortern, Unterstützern und Fürsprechern gesellt sich auch Doris Schmidt, die in der Süddeutschen Zeitung vom 21.12.1971 über Beuys schreibt: »Beuys ist unangreifbar, weil seine Form von Wahrhaftigkeit alle, auch seine Gegner, entwaffnet. Er gehört zu jener Kategorie von Menschen, die man im alten Griechenland mit der Aufgabe des Sehers betraut hat. […] In Beuys rennt ein einzelner gegen das System unserer heutigen Gesellschaftsformen an, unter denen er offenbar keine Unterschiede macht. Beuys ist der spektakuläre Beweis dafür, dass die Existenz des freien Individuums in dieser Zeit dennoch möglich ist.«78

Es wird nicht gesagt, wen oder was Doris Schmidt unter der Bezeichnung »griechische Seher« versteht. Vermutlich knüpft sie an das Orakel von Delphi an oder die Wahrsagerin Kassandra im Kontext des Trojanischen Krieges.79 Mit der Prädikation »Seher« will sie die Bedeutung und Unangreifbarkeit, aber auch das Visionäre, Prophetische von Joseph Beuys beschreiben. Der Seher verfügt über die Gabe des Hellsehens und ihm werden besondere religiöse Erlebnisse in Form von Visionen zuteil. Im Kapital über Schamanismus wird dieser Sachverhalt noch näher untersucht.

Die Heiligenverehrung, die Legenden- und Mythenbildung, die mit seiner Person verbunden sind, sind Teil der Forschung selbst geworden. Barbara Lange hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die kunsthistorische Wissenschaft die Position des Künstlers weitgehend paraphrasiert und dadurch institutionalisiert hat.80 Mit der Institutionalisierung geht auch eine Etablierung einher. Ganz ähnlich sieht es Benjamin Buchloh, wenn er schreibt: »Inzwischen jedoch haben der Fanatismus und die Intensität des privaten und öffentlichen Mythisierungsprozesses es fast unmöglich gemacht, eine geschichtliche Perspektive an die künstlerische Arbeit von Beuys anzulegen.«81 Seine permanente Selbstinszenierung macht es schwer, die Persönlichkeit von Beuys zu greifen; dahinter verbirgt sich ein vielschichtiges Phänomen. Beuys hat ständig an seiner Interpretation und Inszenierung gearbeitet und dabei mit Zeitströmungen und Figuren gespielt. Benjamin Buchloh ist ein ausgewiesener Kritiker des Beuys’schen Kunstverständnisses. Mit einem Nietzsche-Zitat, das die verführerische Kunst des Komponisten Richard Wagner verurteilt, leitet er zu Beuys über, dessen Kunst ebenso verführerisch sei wie die Wagners, und kommt so zu dem Titel seines Aufsatzes »Joseph Beuys – Die Götzendämmerung«.82

Mit kritischen Stimmen musste Beuys zeitlebens umgehen. Während seiner Tätigkeit als Professor an der Kunstakademie in Düsseldorf von 1961–1972 verfassten seine Kollegen am 24.11.1968 ein Misstrauensmanifest gegen ihn, weil sie um die Existenz der Hochschule fürchteten. »Urheber dieser die innere wie äußere Ordnung der Hochschule gefährdenden und die Arbeitsfähigkeit ihrer Mitglieder in Frage stellenden Entwicklung ist ein Ungeist, der im Wesentlichen aus dem Ideenkreis und dem Einfluss von Herrn Joseph Beuys stammt. Anmaßender politischer Dilettantismus, Sucht nach weltanschaulicher Bevormundung, demagogische Praktik und – in ihrem Gefolge – Intoleranz, Diffamierung und Unkollegialität zielen auf die Auflösung gegenwärtiger Ordnungen, greifen störend in künstlerische und pädagogische Bereiche ein.«83

Beuys gewann mit zunehmendem Bekanntheitsgrad eine größere Immunität gegenüber solchen kritischen Äußerungen. Aber auch Stellungnahmen, die Beuys verteidigen, bleiben nicht aus. Zu den vielen Stimmen, die Partei für Beuys ergreifen, gehört Ernst Günter Engelhard. Er kritisiert die Professoren der Akademie, die den Erfolg von Beuys seiner Ansicht nach nicht verkraften können. Wenn nicht die Akademie der Ort sein könne, wo experimentiert werden und neue Ideen erprobt werden können, dann habe sie das Recht verwirkt, Lehrstätte der Jugend zu sein.84 »Nur Beuys befindet sich einstweilen im Recht, einsam und isoliert, immer noch ohne Sekundanten, die ihn wirklich begriffen haben. Der einzige deutsche Kunstprofessor, der sowohl eine bildnerische wie eine Schule der Humanphilosophie begründen könnte, wird vom militanten Mittelmaß eskortiert. Es überholt ihn links mit rechten Methoden.«85 Zweifellos hat Beuys provoziert und polarisiert, zwangsläufig haben ihn Menschen gefeiert und bekämpft.

Eine vernichtende Kritik schrieb Norbert Kricke in einem Artikel, der am 20.12.1968 in der Zeitschrift »Die Zeit« erschien: »Schwarm, Rausch und gemeinsame Heilsgesänge sollte man nicht verwechseln mit künstlerischer Arbeit, die Lehrende und Lernende betreiben, mit dem freien geistigen Spiel, mit dem Dialog, der dem jungen Künstler hilft, seine Persönlichkeit zu bilden. Beuys und seine Schüler schwärmen. Fanatisierte Jünger des Meisters durchlaufen die Akademie wie ferngelenkte Medien, […] Beuys liebt die Akademie, er liebt sie auf eine Art, doch mich macht es nachdenklich, wenn ein Künstler von heute nicht ohne Gefolgschaft und bergende Institution leben kann, wenn er die Akademie als Zuflucht und Heim benutzt und sich an sie klammert. […] Angst scheint seine Triebkraft zu sein, sie sitzt tief und überall bei ihm: Technik ist böse, Heute ist böse, Autos sind schrecklich, Computer unmenschlich, Fernseher auch, Raketen sind furchtbar, Atome gespalten zerrütten die Welt. Flucht in das Gestern, Besserung der Menschen, Sehnsucht nach rückwärts; altes Gerät, Kordeln mit Gebündeltem, Staub und Filz, Befettetes, Wachs und Holz, mürbes Gewebe, Trockenes und Geschmolzenes, alles serviert er grau, braun und schwarz wie dunkel gewordene alte Gemälde, Museumsstaub, Museumsgeruch an allen Objekten schon bei der Entstehung, dämmerig und wenig belüftet die Welt seiner Dinge; […] Das ist sein Anspruch: Vertreter im Leiden, er spielt den Messias, er will uns bekehren, er will die Akademie die Rolle der Kirchen übernehmen lassen – das ist für mich sein Jesus-Kitsch.«86

Kricke hat Beuys intensiv und lange beobachtet und gelangte so zu seiner harschen Kritik. Seinem Versuch, Beuys zu demaskieren und zu demontieren, war kein Erfolg beschieden. Stattdessen verhalf er Beuys zu einer verstärkten Aufmerksamkeit. Kricke rückte Beuys in die Nähe von Jesus und leistete damit dem Mythos Beuys Vorschub. Beuys kam die Identifikation mit Jesus nicht ungelegen, um seine Person zu inszenieren und aufzuwerten. Beuys war und blieb auf diese Weise die uneingeschränkte Leitfigur der Weltkunstszene der Nachkriegszeit.

In die Gegnerschaft von Beuys reiht sich auch Peter Sager ein, dessen Kritik an Beuys weniger als bewusste Kampfansage zu verstehen ist. Sie speist sich eher aus diskreditierendem Unverständnis mit einer Portion zynischen Humors. So kommt Sager zu der folgenden Einschätzung: »Asket im Luchspelz, und darunter Jeans; Nomade im Bentley, und drinnen Ackerkrume; Prediger der Kreativität für alle, Agitator für direkte Demokratie, Geniedarsteller in geniearmer Zeit; Künstler der Anti-Kunst, der Du dem toten Hasen die Bilder erklärtest, der Du mit einem Kojoten in einer New Yorker Galerie im Käfig lebtest, Hirte und Hüter der Rituale, der Du Dir Wasser übers Haupt hast gießen lassen, der Du den Kunstfreunden die Füße gewaschen hast, […] Du streitbarer mit dem sanften Blick: Joseph Beuys, ich versteh’ Dich wohl auch nicht so richtig, aber Du bist langmütig und von großer Geduld.«87 Diese kritische Darlegung hat Sager ganz bewusst in der Form einer katholischen Litanei mit Anrufungen und sich wiederholenden Gebetselementen verfasst, um die »Heiligkeit« von Beuys hervorzuheben, den er als heiligen Joseph der Avantgarde bezeichnet.88

Eine kritische Position zu Joseph Beuys nimmt auch Hanno Reuther ein, der Beuys als »politischen Luftmenschen« definiert, der mit Hilfe von harmlosen utopischen Verallgemeinerungen eine fundamentale soziale Erneuerung durch universale Kreativität zu erreichen sucht.89 Reuther wählt mit seinem Titel »Himmel & Hölle: Beuys« ganz bewusst eine kirchlich-theologische Sprache, um das »Heilige« an Beuys in Zweifel zu ziehen. Er beschreibt den Klever Künstler wie folgt: »Von Mutter Natur, der großen Visagistin Mutter, mit einem Duldergesicht ohnegleichen ausgestattet, einem Antlitz wie vom Schmerzensmann, ist er schon rein physiognomisch kaum zu übertreffen.«90

Die Kunst von Beuys hat Bewunderung und Spott hervorgerufen. Reuther kommt zu folgender Schlussbetrachtung: »Dass er den Spott, den Vorwurf der Scharlatanerie, auch die Aggression der Spießer wie der Aversion der Edelspießer mit einer so frommen Geduld ein- und wegsteckt, ohne kaum je einmal aus der Rolle zu fallen: das reizt der Fraktion der Verächter immer aufs Neue.«91 Bewunderer und Spötter werden einerseits vom Zweifel ergriffen, Beuys könnte ein falscher Prophet sein, andererseits verpassen sie womöglich die Chance, einem leibhaftigen Heiligen des 20. Jahrhunderts zu begegnen.92 »Diese Verunsicherung in Permanenz, mit welcher er seine Gemeinde in Schwebe hält, darf zu den größten Leistungen des Joseph Beuys zählen.«93 Ob Beuys in der Hölle brennt oder im Himmel singt, ist dem amerikanischen Künstler Ben Vautier zufolge allein dem Betrachter überlassen.94

Eine kritische Betrachtung der Beuys’schen Kunst vollzieht auch Hans-Joachim Müller in einem Beitrag in der Zeit. »Was ist geblieben vom messianischen Kunstmann? Was ist geblieben von der apostolischen Inbrunst, mit der sie ihm nachgefolgt sind? […] Was ist aus ihnen geworden, die mit ihm das Brot brachen und dann alle etwas wunderlich wurden? […] Haben sie sich ausgesöhnt, die Spötter und die Gläubigen? ›Ich habe mich zu diesem Menschen bekannt‹, bekennt der Beuys-Bekenner Heiner Bastian, ›ich habe mich ganz auf diesen Menschen verlassen‹. […] Vielleicht müsste man das Reliquiar mit den unsterblichen Beuys-Überresten eine Zeitlang den Philologen überlassen. Ein bißchen Staub auf der Akte, ein paar Stockflecken im Dossier, […] Womöglich wüßten wir dann besser, wie es geschehen konnte, dass ausgerechnet die durch und durch laizistische Disziplin Kunst noch einmal zu Kniefällen und verwegensten Erlösungshoffnungen angestiftet hat.«95 Diese mit theologischen Termini überfrachtete Einschätzung, die Beuys zu diffamieren und diskreditieren sucht, wird ihm nicht gerecht. Die Andersartigkeit von Beuys, die seine Beliebtheit und seinen Erfolg begründete, rief, so viel wurde bis dato deutlich, viele Kritiker zu Beiträgen auf.

Eine sehr kritische Biografie erschien im Jahre 1996 von Frank Gieseke und Albert Markert unter dem Titel »Flieger, Filz und Vaterland«.96 Diese von seinen Befürwortern gemeinhin als »Schmähschrift« bezeichnete Biografie rückt Beuys in die Nähe des Nationalsozialismus und sucht dort die Motive für sein Wirken und Handeln. Diese Publikation verzerrt und überzeichnet das Bild von Beuys und wird seiner Person und seinem künstlerischen Schaffen ebenfalls nicht gerecht.

Eine kritische Position zu Werk und Person von Joseph Beuys nimmt auch John Moffit ein, der diesen als »völkisch« indoktrinierten anthroposophischen Messias bezeichnet und damit gleichwohl sein Ziel verfehlte.97 Auch im Zuge der monografischen Schau im New Yorker Guggenheim-Museum 1979, die Beuys als erstem deutschen Künstler ermöglicht wurde, gerät Beuys als »Esoteriker« erneut in den Fokus der Kritik.98 Seine Kritiker ergingen sich in abfälligen Bemerkungen: teutonisches Erbe, Kreuzritter, Kathedralbauer, Parsifal auf der Suche nach dem Gral, Alchemist, Magier, Schamane, Wunderheiler, kafkaesker Typ, mittelalterlicher Mensch, Romantiker.99 Außerdem mussten sich viele Besucher nach dem Besuch der Ausstellung in psychotherapeutische Behandlung begeben, die dargebotene Thematik überforderte die mentale Aufnahmekapazität vieler Kunstfreunde. Auch John Perreault kam nach der Retrospektive von Beuys im Guggenheim-Museum zu einer nüchternen Auffassung über Beuys, der in der Ausstellung seltsame Objekte präsentierte.100 Die »politische Kunst« von Beuys hat nach John Perreault etwas Alchimistisches und Poetisches an sich.101 So kommt er im Rahmen der Beuys-Ausstellung im Guggenheim-Museum zu folgender Einschätzung: »Energie ist ein konsequent verfolgtes Thema; überall erscheinen sinnbildhafte Blitzableiter, Batterien, Isolatoren, Konduktoren. Die kleineren Objekte gleichen Fetischen: Speicher spiritueller Energie. Allerorten finden Verwandlungen statt: buchstäbliche, gemeinte oder metaphorische. […] Schützen und Einhüllen gehören zu Beuys Themen: Seine eindeutig nordländische Kunst stellt sich gegen Kälte. In seinem Hang zum Systematisierenden, Pseudowissenschaftlichen, Metaphysischen und zur – christlichen wie germanischen – Mythologie ist Beuys ausgeprägt deutsch. Mit seiner Verwendung von Tieren (einer toten Maus, toten Hasen, Pferden, einem Kojoten) schlägt er eine Brücke zum totemischen und magischen Denken. Seine Auktionen sind Exorzismen, Feuerproben weißer Magie.«102

Mit Verwunderung nimmt Perreault zur Kenntnis, dass Beuys in Europa als politischer Künstler gilt, was ihm angesichts der Themen, die Beuys behandelt, fragwürdig erscheint.103 Er erkennt an, dass die Kunstwerke von Beuys eine ungemein starke Präsenz zeigen mit Ansprüchen und Erwartungen, die das Normalmaß übersteigen. Allerdings belohnt Beuys die Betrachter mit einem vollständigen, neuen Abc des Fühlens.104 »Wir lernen, Alltagsgegenstände auf gänzlich ungekannte Art zu betrachten; wir lernen, in unserer eigenen Erfahrungswelt Zusammenhänge zu erkennen, auf die wir vorher nie gekommen wären. Dabei ist es alles andere als einfach, mit Beuys’ Gesamtwerk Bekanntschaft zu machen.«105

Wie bereits erwähnt spielt die Mythologie im Werk von Beuys einewichtige Rolle. Nicole Fritz hat sich mit den Vorstellungen des Aberglaubens beschäftigt und Berührungspunkte im Werk von Beuys entdeckt.106 Beuys Interesse an mythologischen und esoterischen Fragen zeigt sich auch in seiner Affinität zur Anthroposophie, ein Thema, das Heike Fühlbrügge näher untersucht hat.107

Eine hervorragende, verdienstvolle Darstellung und zugleich ein wichtiges Nachschlagewerk ist der »Beuys-Kompass« von Monika Angerbauer-Rau, ein Lexikon zu den Gesprächen von Joseph Beuys zwischen 1961–1986, im Jahre 1998 erschienen. Auf über 600 Seiten sind wichtige Hinweise zu Beuys festgehalten.108

Im Jahre 2007 legte Reinhard Ermen eine Biografie des Künstlers vor, in der er seine Werke als bedeutungsschwer und rätselhaft klassifiziert, gleichzeitig ist für Ermen unumstritten, dass es sich bei Beuys um einen der wichtigsten Künstler des 20. Jahrhunderts handelt.109 Im gleichen Jahr erschien ein Aufsatz von Susanne Willisch mit detailreichen und interessanten Anmerkungen zur Biografie von Beuys in dem von ihr als Mitherausgeberin edierten Sammelband »Joseph Beuys. Das Ende des 20. Jahrhunderts«.110

2008 veröffentlichte Rolf Famulla eine Beuys-Biografie unter dem Titel »Joseph Beuys: Künstler, Krieger und Schamane«.111 Famulla knüpft an die Biografie von Gieseke/Markert an und versucht aufzudecken, dass Beuys sich mit der nationalsozialistischen Ideologie identifiziert habe, für die er Sympathie gehegt habe und die in seinen Werken durchschimmerte.112 Aus meiner Sicht ist diese Einschätzung überzogen und keineswegs zutreffend.

Die aktuellste Biografie stammt von Hans Peter Riegel und trägt den Titel »Beuys«, im Untertitel folgt der Zusatz »Die Biographie«.113 Diese im Jahre 2013 erschienene Biografie ist sehr gewissenhaft recherchiert und tritt mit dem Anspruch auf, Aspekte über Beuys zu präsentieren, die bisher keinem Beuys-Forscher bekannt waren. Bei allem Detailreichtum und Fleiß des Autors liegt dieser Biografie aber meines Erachtens der ungerechtfertigte Anspruch zugrunde, alles über Beuys zu Wissende sei nun endgültig gesagt. Dem Autor Hans Peter Riegel geht es mit seinem Buch vor allem darum, Beuys »vom Sockel zu heben« und den Mythos Beuys in die Wirklichkeit zu überführen. Riegel unterzieht Beuys einer strengen Faktenprüfung mit vernichtendem Ergebnis, er demontiert ihn und mit seinem Buch das Denkmal Beuys.114 Riegels Kritik an Beuys ist profund, er sucht Beuys der Lüge, der Unwahrheit, der Scharlatanerei und der absichtlichen Täuschung zu überführen. Der Mythos Beuys beruht nach Riegel auf einem Lügengebäude, das er, Riegel, zum Einsturz bringen wollte. Hinter der Polemik Riegels steckt das Bedürfnis nach einer persönlichen Abrechnung mit dem Künstler.115 Die exakte und akribische Recherche von Riegel muss anerkannt werden, sie fördert aber größtenteils Erkenntnisse zutage, die nicht neu sind.

Georg Imdahl vertritt wiederum die Auffassung, dass Riegels Entmystifizierung des Künstlers zwar berechtigt sei, der Biograf aber an manchem Punkt falsch liege.116 In Riegels Lebensbeschreibung des Künstlers fänden sich viele unkorrekte Daten und erfundene Anekdoten, die der Öffentlichkeit aber bereits bekannt seien.117 »Grundsätzlich falsch liegt Riegel indessen in dem Irrglauben, er hätte damit Beuys die Maske heruntergerissen.«118

Auch Christof Siemes119 relativiert das Buch Riegels. Die Mutmaßungen Riegels über Beuys, den er als Parnevü, Lügner, Opportunisten, autoritären Okkultisten, »Heiler der Menschheit«, Ewiggestrigen darstellt und der im nationalsozialistischen Umfeld beheimatet sei, sind nach Siemes überzogen.120 Nach Siemes trägt Riegel erstmals zusammen, was an anderen Orten bereits publiziert ist, aber dort, wo die Faktenlage uneindeutig ist, befindet sich Riegel im Bereich der Spekulation.121 Die Erkenntnis, dass Beuys von Steiner beeinflusst wurde, ist keineswegs neu. Wenn Riegel Steiners Einfluß auf Beuys mit einer Gehirnwäsche vergleicht, ist eine seriöse Recherche nicht mehr gewährleistet.122 Für Siemes zeigt sich gerade an Rudolf Steiner die Schwäche des Buches: »Der studierte Kunstwissenschaftler hat ein grotesk eindimensionales Verständnis von Kunst. Sie ist ihm nur ein einfacher Ursache-Wirkung-Zusammenhang: Steiner gelesen – Honigpumpe gebaut. Böse Kindheit gehabt – Babybadewanne mit Heftpflaster geflickt. Wären die Werke derart einfältig, hätte Beuys mit noch so viel List keine Wirkung erzielt.«123

Siemes kommt zu der Schlussfolgerung: »Eine gute Biografie hätte versucht, ihrem irrlichternden Gegenstand gerecht zu werden. HP Riegel will nur Recht haben, mit allen Mitteln.«124 Das Obskurantistisch-Numinose war Teil seiner Kunststrategie, dahinter liegt keine Hellsichtigkeit, sondern krudester Irrationalismus.

Wie auch immer man zu Beuys stehen mag, eine solche Kritik trifft aus meiner Sicht nicht zu, es gilt aber, die Strömungen in der Forschung zu unterscheiden und exakt zu differenzieren.

Auch Georg Diez ruft dazu auf, Beuys anzuschauen und einige Urteile zu überprüfen.125 »Da erscheint zum Beispiel eine Biografie über Joseph Beuys, Held ohne Grund, einfach erst mal Held durch Anwesenheit, der Name bekannter als das Werk, das Werk bekannt nur in Klischees, die Klischees beliebig in diese oder jene Richtung zu drehen: Schamane, Okkultist, Großkünstler, Politonkel, Spaßmacher, Ernstmacher, Opernstar der deutschen Gegenwart und Geschichte, Verflüssiger, Verfestiger, Bastler der eigenen Legenden, Lügner, Hutträger, Grünen-Macher, Warhol-Kumpel, Steiner-Depp – einfach mal Zeit, Beuys anzuschauen und ein paar Urteile zu überprüfen.«126

Diez schlussfolgert, dass die Biografie von Riegel unter Phrasen begraben wird – und Beuys gleich mit.127 In keinster Weise kann diese Biografie der vielfältigen, auch internationalen Bedeutung von Beuys gerecht werden.

Die als Beuys-Fotografin und -Biografin ausgewiesene Christiane Hoffmans dagegen kann dem Werk von Riegel viele positive Elemente abgewinnen und spricht sogar von einer bahnbrechenden Biografie, weswegen Leben und Werk von Beuys neu bewertet werden müssen.128 Diese Neubewertung führt nach ihrer Auffassung nicht zu einer Diskreditierung von Beuys, sondern vermag – im Gegenteil – seine Überpräsenz als Mensch und Künstler nachhaltig zu rechtfertigen.

Die neueste biografische Publikation über Beuys, die sich als Spurensuche versteht, stammt von Rüdiger Sünner. Unter dem Titel einer der bedeutendsten Beuysaktionen »Zeige deine Wunde« stellt er eine Biografie vor, die insbesondere den Zusammenhang von Kunst und Spiritualität bei Beuys zu erfassen versucht.129

Das Stichwort »Spiritualität« schafft den Übergang zu der Frage nach der Bedeutung der Religion im Leben von Beuys. Damit wird eine neue Ebene erschlossen, die von vielen Autoren aufgegriffen wurde.

Der Frage, inwieweit die Kunst von Beuys auch religiöse Momente enthält, ist als erster Horst Schwebel nachgegangen. Unter dem Titel »Glaubwürdig: Fünf Gespräche über die heutige Kunst und Religion«, 1979 erschienen, fasst er ein Gespräch mit Beuys zu Fragen zum Thema »Kunst und christlicher Glaube« zusammen, das er mit diesem im Jahr 1978 geführt hat.130 Auch Franz Joseph van der Grinten untersuchte in einem Aufsatz die religiösen Motive im Werk von Joseph Beuys.131 Beuys Werke enthalten nach van der Grinten auch transzendente Elemente und lassen vieles mitschwingen, »was sich uns entzieht und wovon wir unbehelligt bleiben wollen.«132 Zusammen mit Friedhelm Mennekes hat van der Grinten eine Untersuchung zum Menschenbild und Christusbild bei Beuys veröffentlicht.133

1985 fand die Ausstellung »Kreuz + Zeichen. Religiöse Grundlagen im Werk von Joseph Beuys« im Suermondt-Ludwig-Museum in Aachen statt.134 Mit seiner Idee des Erweiterten Kunstbegriffs stellt Beuys einen wichtigen Beitrag zum Christusbild dar.135

Beeindruckend ist die Untersuchung von Wouter Kotte und Ursula Mildner über das Kreuz als Universalzeichen bei Joseph Beuys, die deutlich macht, wie divergierend Beuys das Zeichen des Kreuzes verstanden hat, als universales Zeichen, das weit über das christliche Verständnis des Kreuzes hinausgeht.136

Die religiöse Dimension im Werk von Joseph Beuys hat vor allem und entscheidend Friedhelm Mennekes fortgeführt und entwickelt. Grundlegend hierfür war ein Gespräch, das er am 30.03.1984 mit Beuys anlässlich der Ausstellung »Joseph Beuys: Menschenbild – Christusbild« in Frankfurt führte.137 Eine Fortsetzung der Thematik war ein Gespräch mit Beuys und der Journalistin Elisabeth Pfister.138 Die beiden Gespräche erschienen 1989 in der grundlegenden Publikation von Mennekes »Beuys zu Christus. Eine Position im Gespräch«, die in einer Erweiterung unter neuem Titel 1996 erschien »Joseph Beuys: Christus ›denken‹ – ›thinking‹ Christ«.139 Erwähnt werden muss auch die Veröffentlichung von Mennekes zur Fluxus-Demonstration Manresa, die im Jahre 1966 stattfand, und in der Beuys die geistlichen Übungen von Ignatius von Loyola zum Thema seiner Aktion macht.140 Mennekes hat viele weitere Artikel zum Thema »Christentum und Beuys« veröffentlicht.

Im Anschluss an die grundlegenden Publikationen von Mennekes erschienen weitere Werke, die sich mit der religiösen Botschaft im Werk von Beuys beschäftigten. Die wichtigste Arbeit ist die von Hans Markus Horst mit dem Titel »Kreuz und Christus. Die religiöse Botschaft im Werk von Joseph Beuys«, die 1998 erschien.141 Horst legt hier eine profunde, detail- und kenntnisreiche Arbeit vor, die die Ergebnisse von Mennekes fortführt. Ihm war daran gelegen, den Graben zwischen Kirche und zeitgenössischer Kunst zu überbrücken. 2007 veröffentlichte Adam C. Oellers einen hervorragenden Artikel zum Christusbild von Joseph Beuys mit dem Titel »Von der Figuration zur Partizipation« im Rahmen einer Ausstellung an der Thomas-Morus-Akademie in Bensberg über Christusbilder zeitgenössischer Künstler.142

1.4.Vorgehensweise und ihre Rechtfertigung gegenüber andersgearteten Untersuchungen

Diese Arbeit strebt an, ausgehend von der Person und der persönlichen Entwicklung von Joseph Beuys Leitlinien zu zeichnen für seine Arbeit als Künstler und insbesondere für seine religiös gefärbten Arbeiten. Inwieweit haben seine Biografie, seine Kindheit, seine Erziehung und Sozialisation Einfluss auf seine künstlerische Entwicklung unter besonderer Berücksichtigung seiner religiös geprägten Werke?

Andere Persönlichkeiten, Künstler und Denker haben die Persönlichkeit von Beuys und deren Ausdruck beeinflusst und geformt. Die Darstellung dieser Personen nimmt im zweiten Kapitel einen entsprechenden Raum ein. Die Kenntnis dieser Persönlichkeiten ist notwendig, um Beuys besser zu verstehen und sie erlaubt Rückschlüsse auf seine Persönlichkeit. Der Erkenntnisgewinn dieser Arbeit liegt in einer detaillierten Beschreibung der Personen, die Beuys inspiriert haben.

In dieser Arbeit wird mehrfach erwähnt, dass Beuys kein religiöser Künstler war, sich aber zweifelsohne mit religiösen Themen beschäftigte. Er hat auch nie bestritten, dass ihn das Christliche interessiert,143 wenngleich er sich keinesfalls als Christ im engeren Sinn verstanden hat, die Kirche als Institution lehnte er grundlegend und grundsätzlich ab.144 Daraus ergibt sich die Problematik dieser Untersuchung, die aufzeigen will, dass Beuys mit seinen religiösen Themen, mit seinen Fragen und Antworten auch Menschen von heute, die auf der Suche nach dem Sinn ihres Lebens sind, eine Hilfestellung, Impulse geben kann. Gerade durch den veränderten Blickwinkel, den Beuys bezüglich des christlichen Glaubens an den Tag legt, kann er Menschen Orientierung geben. Beuys geht mit seiner Kunst neue und andere Wege; das gilt gleichermaßen für sein Verständnis des Christentums. Beuys fordert einen Paradigmenwechsel nicht nur mit seiner Kunst, sondern auch mit seiner Sicht des Christentums, die, wie noch zu sehen ist, sehr stark von Rudolf Steiner geprägt ist. Paradigmenwechsel ist ein Begriff aus der Wissenschaftstheorie, den Thomas S. Kuhn geprägt hat.145 Paradigmenwechsel sind notwendig und implizieren, dass jede universitäre Disziplin die Kriterien der Wissenschaftlichkeit erfüllen muss.

Die Wissenschaftlichkeit der Theologie hat Wolfhart Pannenberg in seinem epochemachenden Buch »Wissenschaftstheorie und Theologie« nachgewiesen.146 Er hat gezeigt, dass auch die Theologie das Prädikat »Wissenschaft« zu Recht verdient, weil sie den Kriterien der Wissenschaftlichkeit standhält. Philosophische Behauptungen können nicht im Sinne Poppers falsifiziert werden, denn Wirklichkeit besteht nicht nur aus abstrakten Strukturen, sondern schließt den Aspekt des Einmaligen, Besonderen ein, das im zeitlichen Prozess jeweils als ein Neues auftritt; und da die Wirklichkeit selbst ein Prozess ist, ist auch deren Erfahrung durch ein Individuum nicht abschließbar.147 »Wegen der Unabgeschlossenheit menschlicher Wirklichkeitserfahrung und wegen der Offenheit des Weltprozesses selbst auf eine noch nicht realisierbare Zukunft hin ist die Totalität beider nur durch Antizipation zugänglich. Aus eben diesem Grunde kommen philosophische Theorien über die Form der Antizipation nicht hinaus.«148

Die vorliegende Arbeit ist aufgrund ihrer Einbindung in den künstlerischen Bereich und ihrer theologischen Zielrichtung in der praktischen Theologie angesiedelt. Die zu entwickelnde und postulierte Plastische Theologie ergibt sich als ein Themenfeld der praktischen Theologie, wenngleich sie auch systematischtheologische und philosophische Themenfelder impliziert.

Beuys hat seine Werke immer wieder kommentiert, hat sie mit einer entsprechenden, ihm eigenen philosophischen und systematischen Betrachtungsweise angefüllt, hat Erklärungen und Deutungen abgegeben.

Der eigentliche Kern der Beuys’schen Konzeption ist, dass er Kunst als Lehre, als lebenslanges Lernen, als Evolution und Revolution, und nicht als gelehrte Kunst verstand.149 Im Zentrum seiner Kunst steht der Mensch. Die anthropologische Komponente bestimmt die Lehre und die Kunst von Beuys. »Die Intention, die künstlerische Welt des Joseph Beuys zu beschreiben, kommt nicht ohne den Versuch aus, die Welt und mit ihr den Menschen im Zentrum zu definieren.«150

Vom Menschen her definiert er sein Weltbild und kommt zu einem eigenständigen Schöpfungsverständnis. Beuys als gebildetem, intellektuellem Künstler war bewusst, dass Künstler seit dem 15. Jahrhundert nicht länger zur größeren Ehre Gottes arbeiteten, sondern eher dem Allmächtigen Konkurrenz machen.151 »Omnia ad maiorem Dei gloriam« hieß die künstlerische Intention jahrhundertelang, die für Beuys und auch schon seine Vorgänger nicht mehr gilt. Nicht Gott, sondern der Mensch als Schöpfer rückt bei Beuys in den Mittelpunkt.

Man könnte auch sagen, dass Beuys die Trennung zwischen Mensch und Gott aufhebt (Mensch=Gott und Gott=Mensch). Dadurch muss der Künstler auch nicht länger für einen fernen Gott werkeln, sondern als Mensch für Menschen, die – wie er, der Künstler – Gott gleich sind. Beuys sagte einmal: »Die Schöpfung kann mich mal – der Mensch ist der Schöpfer selbst!«152 Der Mensch ist die Mitte des Lebens und nur der Mensch vermag die Welt zu gestalten und zu verändern. Das ist ein Axiom, das für Beuys Gültigkeit hat. Die modernen Kommunikationsmittel machen dem Menschen diese Position streitig, drängen ihn in den Hintergrund, dagegen steht bei Beuys der Mensch im Zentrum seines künstlerischen Schaffens, der Mensch in freiheitlicher Umgebung, der in Wärme- und Liebesprozessen lebt und arbeitet.153

Zwischen 1972 und 1985 verbrachte Joseph Beuys jährlich mehrere Wochen in den Abruzzen in Italien, um dort sein langfristiges ökologisches Projekt »Difesa della Natura« (Verteidigung der Natur) fortzuführen.154 Als soziale Skulptur sollte dieses Projekt wirtschaftliche und ökologische Reformen einleiten.155 Im Dezember 1983 fand in der Bonner Galerie Klein eine Ausstellung mit dem Thema »Joseph Beuys. Difesa della Natura« statt,156 die im Jahre 2011 im Zürcher Kunsthaus unter anderen Aspekten, aber unter gleichem Namen »Joseph Beuys. Difesa della Natura« neu aufgelegt wurde.157 Bereits 1996 war Perugia Ausstellungsort zur »Difesa della Natura« unter einem erweiterten Thema: »Diary of Seychelles – Operazione Difesa della Natura«.158

Als Verteidiger der Natur und Umweltaktivist, wie man es heute nennen würde, wollte Beuys ökologische, aber auch anthropologische Gesichtspunkte in die Kunst einbringen, Schutz der Natur, des Menschen, des Individuums, der Kreativität und der menschlichen Werte.159 Aus seinem Projekt »Difesa della Natura« wird eine »Difesa Antropologica«, Beuys macht es sich zur Aufgabe, den Menschen, d. h. seine Kreativität und seine Werte, zu verteidigen. Kunst hat bei Beuys also immer eine anthropologische Komponente. Beuys appelliert an die Menschen, ihre Freiheit und Kreativität zu nutzen und durch einen Paradigmenwechsel einer drohenden ökologischen Katastrophe zu entgehen.160

Die Frage nach der Schönheit von Kunst, die Ästhetik, spielte bei Beuys keine Rolle, er verweigerte sich jedem Ästhetizismus.161 Für das Beuys’sche Kunstverständnis war nicht der ästhetische Diskurs, sondern allein »die dahinterstehende Idee«, »der erkenntnistheoretische Vorgang, daß über den Menschen etwas ausgesagt werden soll« maßgebend.162 Das Werk von Beuys regt zu philosophischen Diskursen an, nicht ohne Grund haben sich gerade im Bereich der Philosophie viele Arbeiten mit Beuys beschäftigt.163 »Was immer noch verwirrt, ist die Tatsache, dass sich Beuys gegen den Strom der Zeit an Denkern orientierte, die abseits der großen Geistesheroen liegen. Nicht Marx, Nietzsche, Adorno oder Heidegger motivierten ihn, sondern Rudolf Steiner.«164

Heute trennt den Rezipienten ein weiter zeitlicher Abstand von der Beuys’schen Schaffensperiode. Die gesellschaftlichen und damit die religiösen und kirchlichen Verhältnisse haben sich seitdem sehr stark verändert. Eine Provokation, wie sie die Kreuzigung von Joseph Beuys, 1962–1963 entstanden, bewirkte, ist heute nicht mehr vorstellbar. Die Kreuzigung sorgte damals für einen ungeheuren Skandal, man sprach von der Verletzung religiöser Gefühle. Von dieser Kreuzigung fühlt sich der heutige Mensch nicht mehr bedroht oder provoziert. Religiösen und kirchlichen Dingen gegenüber verhält sich der heutige Mensch eher gleichgültig, auch wenn (noch) nicht das eingetreten ist, was seit zweihundert Jahren prognostiziert wird, dass die Religion verschwinden werde.165 In der aktuellen religionstheoretischen Diskussion gilt das Säkularisierungstheorem als überholt, stattdessen spricht man von einer Transformation des Religiösen bei grundsätzlicher Anerkennung seiner bleibenden Faktizität.166

Dennoch ist nicht zu leugnen, dass in den westlichen Industriegesellschaften ein Säkularisierungsprozess eingetreten ist, der einer Erosion gleichkommt. Es ist ein eklatanter Abbruch religiös-kirchlicher Gewohnheiten und Traditionen festzustellen. Religion wird zunehmend in den privaten Bereich gedrängt, ihre gesellschaftliche Akzeptanz erwirbt sie heute durch ihr Engagement in seelsorgerlich-psychotherapeutischen Segmenten wie Telefonseelsorge, Notfallseelsorge und Krisenintervention.167 Außerdem werden ihre diakonisch-caritativen Angebote und Maßnahmen geschätzt. Der bekannte Satz von Bonhoeffer – »Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist.«168 – besitzt auch heute noch eine ungeahnte Aktualität. Auf das Verhältnis von Beuys zu Bonhoeffer werde ich in einem eigenen Exkurs eingehen, das Säkulare wie das Christliche hat bei beiden Persönlichkeiten Gewicht.

Die zunehmende Säkularisierung in der Gesellschaft ist meines Erachtens ein Grund mehr, sich mit Beuys zu beschäftigen, enthält seine anthropologisch zentrierte und verankerte Kunst theologische Implikationen, die an Aktualität nichts vermissen lassen und vielleicht Antwort geben können auf die wachsende Individualisierung und Säkularisierung unserer Gesellschaft. Die Beuys’schen theologischen Implikationen können eine Bereicherung für die christliche Glaubensverkündigung auch im 21. Jahrhundert darstellen, was diese Arbeit zu zeigen versucht.

Auch wenn der Charakter der Provokation heute nicht mehr greift, weil Gleichgültigkeit gegenüber christlichen Dingen eingetreten ist, kann die Art und Weise, wie Beuys Kunst versteht und vollzieht, eine Chance sein, religiöse Strukturen neu zu entdecken und zu beleben.

Das Christliche in säkularem Gewand kann Christen von heute eine Verstehenshilfe sein. Auch abseits der Pfade der klassischen Theologie vermag Beuys mit seiner Kunst Wege zu gehen, die Menschen einladen, sich mit ihrem Glauben neu auseinanderzusetzen und die etablierte Religion unter anderen Gesichtspunkten zu betrachten. Darauf wird später noch ausführlicher eingegangen.

Im Unterschied zu anderen Arbeiten, die sich mit den theologischen Implikationen bei Beuys beschäftigt haben, wie Friedhelm Mennekes169, Hans Markus Horst170, Horst Schwebel171 und andere, legt diese Arbeit ihren Schwerpunkt auf die Entwicklung der Persönlichkeit von Beuys, um von dort einen Zugriff auf die theologische Dimension seiner Kunst zu gewinnen. Die theologischen Inhalte des Beuys’schen Oeuvres sind eng mit seiner Person verbunden, deswegen nimmt die Entwicklung und Beschreibung der Persönlichkeit von Beuys – wie bereits erwähnt – einen so beträchtlichen Raum in dieser Arbeit ein.

1.5.Überblick über den Aufbau der Arbeit

Es geht in dieser Arbeit um die Person von Joseph Beuys. Es wird ein chronologischer Überblick gegeben über den Lebenslauf, über die prägenden und wesentlichen Ereignisse seines Lebens, über seine Kindheit, Jugendzeit und persönliche wie berufliche Weiterentwicklungen.

Dabei wird ein Augenmerk auf Schlüsselszenen zu legen sein, die später wichtige Auswirkungen auf seine Kunst hatten. Als ein Schlüsselerlebnis172 unter vielen ist vor allem die Tatarenlegende zu nennen.

Beuys wurde von zahlreichen Personen und Strömungen beeinflusst. Bereits als Kind hat er sich von unzähligen Künstlern, Schriftstellern und Philosophen begeistern lassen. Mit einigen von ihnen und ihren Werken hat er sich in der Schule und später im Studium intensiv beschäftigt. Eine große Anzahl von Künstlern und Literaten kannte Beuys persönlich, mit einigen war er befreundet. Die meisten unter ihnen nahmen Einfluss auf sein künstlerisches Schaffen. Auch Strömungen und Bewegungen waren für seine künstlerische Entwicklung bedeutsam.

Nach einer biografischen Aufarbeitung in Kapitel zwei, die der Annäherung an seine Persönlichkeit dient, folgt in Kapitel drei ein Abriss über Charakteristika von Beuys, unter anderem wird sein Menschenbild, die Bedeutung des Zeichnens und seine Persönlichkeitsstruktur erläutert. Anschließend kommen in Kapitel vier wichtige Themenstränge des Beuys’schen Kunstverständnisses zur Sprache wie der Schamanismus und die Darstellung von Tieren. Danach folgt in Kapitel fünf eine Darstellung seiner Lehre, dazu gehören die »Plastische Theorie«, der »Erweiterte Kunstbegriff«, die Bedeutung der Materialien und weitere wichtige Themenfelder seines künstlerischen Schaffens.

Nach dieser grundlegenden Annäherung an seine Person und Präsentation seiner Lehre beginnt mit dem sechsten Kapitel die Darstellung der religiösen Dimension seiner Kunst. Nach einer allgemeinen Einführung in sein Verhältnis zum Christentum folgt eine Darstellung seiner kirchenkritischen Position, die sich an der Institution festmacht. Dem schließt sich eine Erörterung signifikanter christlicher Elemente in seiner Kunst an. Im Anschluss daran folgt eine Übersicht über die drei wichtigsten und bedeutendsten Werkphasen173 im Arbeitsleben von Beuys, die seine künstlerische Entwicklung anschaulich machen, von der Anbindung an die Tradition über die Schwelle zu einem kosmischen Verständnis bis hin zur finalen Aktionskunst. In dieser Arbeit werden nicht alle Aktionen und Installationen der jeweiligen Werkphasen vorgestellt. Durch eine bewusste Auswahl werden Werke, Installationen und Aktionen exemplarisch zur Darstellung gebracht, die die Aussageabsicht von Beuys in hohem Maße deutlich machen.174

Anschließend werden in Kapitel 6.4. andere religiös gefärbte Arbeiten vorgestellt und erläutert, bevor in einem nachfolgenden Kapitel (6.5.) theologische Topoi im Werk von Beuys behandelt werden. Das Kreuz spielt bei Beuys eine überragende Rolle, erfährt aber eine Erweiterung. Weitere Themen sind die Christusidentifikation, der Christusimpuls, der Begriff der Transformation, sein Verständnis des Todes und seine bekenntnisartig anmutende Installation »Ich glaube«, die stark an das lateinische Credo in der Kirche erinnert. Es folgen theologische Anfragen, die unter anderem Selbsterlösung, Reinkarnation und Mythologie zum Thema haben. Im siebten Kapitel wird die eingangs erwähnte Plastische Theologie entwickelt, die sich aus den Begriffen der Freiheit und der Liebe speist. Im achten Kapitel werden dann Ergebnisse zusammengetragen und Konsequenzen formuliert, die für eine praktisch-theologische Theoriebildung von Bedeutung sind. Im anschließenden neunten Kapitel ist Raum für das Schlusswort.

Die persönliche Entwicklung von Joseph Beuys stellt die Grundlage für das Verständnis seines Werkes dar. Person, Leben und Werk sind bei Beuys, wie schon erwähnt, engstens aufeinander bezogen und miteinander verzahnt. Die Bezeichnung »Lebenslauf/Werklauf«, die er selbst gewählt hat, ist überaus zutreffend. Bei keinem modernen Künstler wirkt sich die Bezugnahme auf die eigene Kindheit so stark aus wie bei den Arbeiten von Beuys. Insofern kann Christiane Hoffmans mit Recht sagen: »Es gibt nicht viele Künstler, deren Werke so substantiell von Kindheits- und Jugendeindrücken gespeist sind wie die von Beuys.«175

Die Persönlichkeit von Beuys wird in den Kapiteln 2 und insbesondere 3.3 näher erläutert. Eventuell mag mancher Rezipient das Wort »Persönlichkeit« im Titel der Arbeit in Anführungszeichen fassen, da es sich bei der vorliegenden Forschungsarbeit nicht um eine rein psychologisch-persönlichkeitstheoretische Ausarbeitung handelt, sondern schwerpunktmäßig um einen praktisch-theologischen Beitrag. Gleichwohl fließen psychologisch grundierte Aspekte und Elemente in diese Arbeit über Beuys ein, in Kapitel 3.3. zudem dezidiert persönlichkeitstheoretische Hintergründe. Insofern wurde, auch um dem Terminus »Persönlichkeit« einen weiteren Inhalts- und Bedeutungsraum zuzugestehen, auf eine spezielle Hervorhebung verzichtet.

Persönlichkeitstheorien sind »Modelle, die inter- und intraindividuelle Unterschiede der Persönlichkeit zu beschreiben und erklären versuchen.«176 Nach C. G. Jung ist die Entwicklung der Persönlichkeit als Individuationsprozess zu verstehen, worunter eine bewusste Auseinandersetzung des größeren inneren Menschen mit seinem Seelenzentrum verstanden wird.177 Nach Jung kommt noch ein weiterer Tatbestand hinzu, der eng mit der Aufgabe der Individuation verbunden ist: »Parallel zur Gestaltwerdung und Festigung des Ich entsteht jener Teil der Psyche, mit der sich der Mensch seiner Außenwelt zuwendet, in der er eine bestimmte gesellschaftliche Rolle spielt, mit der er sich an seine Umwelt anpaßt, indem er ein typisches, z. B. berufsbedingtes Verhalten an den Tag legt. Es besteht die Gefahr, daß diese Anpassungsfunktion – Jung spricht von der ›Persona‹ (d. h. Maske) – mit der Individualität verwechselt wird.«178

Bei Beuys ist seine Persönlichkeit eine Metapher für all das, was seine Person ausmacht und was er mit seiner Person initiiert. Beuys evoziert ein Bild seiner Persönlichkeit. Seine Persönlichkeit ist nicht objektiv zu fassen, sie tritt dem Betrachter aus den Quellen und Artefakten entgegen. Dieser erfasst nur die Persönlichkeit, mit der Beuys auf der internationalen Kunstbühne erscheint. Man kann seinem Werk nicht anders gerecht werden, die Persönlichkeit, die sich in seinen Werken zeigt, ist eine angepasste, konstruierte, ihr mangelt es an Authentizität.

Nach Andreas von Heyl bewegen Menschen sich stets in selbstgeschaffenen Modellen der Wirklichkeit, eine objektive Wirklichkeit gibt es demnach nicht.179 Von Heyl knüpft an den »Radikalen Konstruktivismus« an, der in den 1970er Jahren entstanden ist.180