Die Phileasson-Saga - Schlangengrab - Bernhard Hennen - E-Book

Die Phileasson-Saga - Schlangengrab E-Book

Bernhard Hennen

0,0
11,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Seeschlangen des Perlenmeers zerdrücken die Planken stolzer Segler und ziehen kühne Recken in ein nasses Grab. So sagt man. Ungeheuer so schrecklich, dass ihr Zorn dereinst die Welt entzweireißen wird. So sagt man. In ihrem fünften Abenteuer müssen sich Asleif Phileasson und Beorn der Blender ausgerechnet einer solchen Bestie stellen. Nur wem es gelingt, einen Reißzahn aus dem Maul einer Seeschlange zu stehlen, hat die nächste Prüfung bestanden und darf sich weiterhin Hoffnung auf den Titel »König der Meere« machen. Doch alleine schon die Fahrt ins Perlenmeer wird für die beiden Kontrahenten zu einer tödlichen Herausforderung.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 749

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



DAS BUCH

Beorn biss die Zähne zusammen. Mit eiserner Härte hielt er das Ruder umklammert. Er würde in dieser Nacht nicht ertrinken! Er würde der berühmteste Plünderfahrer Thorwals werden. Er oder der verfluchte Phileasson würde den Titel König der Meere erringen. Es war ihm nicht bestimmt, in dieser Nacht zu sterben!

Schreckliche Stürme, tückische Korallenriffe und hungrige Tigerhaie machen das Perlenmeer zu einem Albtraum für jeden Seefahrer. All diese Gefahren verblassen jedoch im Vergleich zu den mächtigen Seeschlangen, die in diesen Gewässern zu Hause sind. Groß wie Türme erheben sich ihre schlanken Leiber von einem Moment auf den anderen aus den Fluten, um die Planken stolzer Segler zu zerdrücken, und wenn man den Sehern Glauben schenken darf, so wird der Zorn der Schlangen einst die Welt in Stücke reißen.

Ihre Wettfahrt führt die beiden Kapitäne Asleif Phileasson und Beorn den Blender zunächst auf Aventuriens größte Insel: Maraskan. Dort, wo der Geist der Rebellion herrscht, sechsbeinige Krieger im dichten Dschungel lauern und geschuppte Götter mitleidlos auf ihre Opfer hinunterblicken, stellen sich die beiden Rivalen ihrer nächsten Herausforderung. Einer Aufgabe, die so gefährlich ist, dass sie selbst dem tapfersten Helden das Blut in den Adern gefrieren lässt: einen Zahn aus dem Maul einer Seeschlange zu brechen …

DIE AUTOREN

Bernhard Hennen, 1966 geboren, studierte Germanistik, Geschichte und Vorderasiatische Altertumskunde. Als Journalist bereiste er den Orient und Mittelamerika, bevor er sich ganz dem Schreiben fantastischer Romane widmete. Mit seiner Elfen-Saga sturme er alle Bestsellerlisten und schrieb sich an die Spitze der deutschen Fantasy-Autoren. Hennen lebt mit seiner Familie in Krefeld.

www.bernhard-hennen.de

Robert Corvus, 1972 geboren, studierte Wirtschaftsinformatik und war in verschiedenen internationalen Konzernen als Strategieberater tätig, bevor er mehrere erfolgreiche Fantasy-Romane veröffentlichte. Er lebt und arbeitet in Köln.

www.robertcorvus.net

Mehr über die Phileasson-Saga erfahren Sie auf:

www.phileasson.de

   

Weitere Bände sind in Vorbereitung.

BERNHARD

HENNEN

ROBERT CORVUS

SCHLANGENGRAB

DIE PHILEASSON-SAGA

FÜNFTER ROMAN

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Originalausgabe 04/2018Redaktion: Catherine BeckCopyright © 2018 by Bernhard Hennen Copyright © 2018 by Robert CorvusCopyright © 2018 by Ulisses Medien & Spiel Distribution GmbHCopyright © 2018 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenDieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, MünchenUmschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT GbR, MünchenUmschlagillustration: Kerem BeyitInnenillustrationen: Nadine SchäkelKarte 1 und 2: Daniel JödemannSatz: Leingärtner, Nabburg
ISBN: 978-3-641-20386-3V002
www.heyne.de
www.twitter.com/[email protected]

PROLOG

Südliches Perlenmeer,

siebzehnter Tag im Kornmond

»Halt still! Ist besser für dich«, raunte der kahlköpfige Söldner. Er sprach das Garethi mit schwerem südlichem Akzent.

Ein genagelter Stiefel quetschte Beorn Asgrimmsons linke Hand unbarmherzig gegen das Wrackstück, auf das er gebunden wurde.

Der Hetmann blinzelte gegen das Blut, das aus der leeren Höhle rann, wo gestern noch sein rechtes Auge gewesen war. Die Schnittwunden an Armen und Beinen spürte er kaum. Es war sein verletzter Stolz, der ihm zu schaffen machte. Noch nie war er so gedemütigt worden wie von diesem Grandenbalg.

Ein Söldner in schwarzem Lederharnisch fesselte ihn an einen Rest der Bordwand seiner geliebten Eisvogel. Beorn hatte selbst geholfen, die schlanke Otta zu bauen, hatte die Eiche ausgesucht, aus der er gemeinsam mit den Zimmerleuten ihren Kiel gefertigt hatte.

Dünne nasse Lederriemen schnitten in seine Handgelenke. Der Stiefel hob sich. Wütend kämpfte Beorn gegen seine Fesseln an. Es war sinnlos. Er vermochte die weit abgespreizten Arme kaum zu bewegen.

»Noch irgendwelche ergreifenden letzten Worte, Pirat?« Emilio Zornbrecht sah mit spöttischem Lächeln auf ihn herab. Auch das Tageslicht machte ihn nicht stattlicher. Der ziselierte Brustharnisch mochte seine Eitelkeit schützen, eines wirklichen Kriegers war solche Protzerei unwürdig. Allerdings war sein Flügelhelm ein schönes Stück.

»Den Namen des Fechters, der mich besiegt hat!«, verlangte Beorn.

»Glaubst du wirklich, dass ihr euch noch einmal wiederseht?« Emilio Zornbrecht wandte sich zur Seite. »Gib mir deine Klinge!«, befahl er.

Jemand reichte dem Grandenspross ein blankes Rapier. Mit boshaftem Lächeln senkte er die schlanke Klinge. Die Spitze tastete über die zarte Haut unter Beorns verbliebenem Auge. »Soll ich dir diese törichte Hoffnung lassen? Oder ist es edel, dir zu helfen, dich blind in dein Schicksal ergeben zu können?« Er lachte laut über seinen billigen Scherz.

»Soll er nicht sehen, was die Räuber ihm und seinen Gefährten antun?«, fragte der Kerl, der ihn gefesselt hatte. »Wenn wir ihn blind ins Meer werfen, ist das wahrlich eine Gnade.«

Beorn spannte die Arme an, aber die Fesseln gaben nicht nach. Die Planken, auf die er gebunden war, knarrten leise. Es war aussichtslos. Der kahle Söldner verstand sein Handwerk. Beorn begriff, er würde sich nicht befreien können.

»Über Bord mit ihm!«, erklang Zornbrechts harscher Befehl. Die Stimme war unverwechselbar, rau, durchdringend. Geformt von Jahren auf See, in denen sie gegen Sturmwinde angebrüllt und den Lärm von Seeschlachten übertönt hatte. Beorn würde sie ebenso wenig vergessen wie den Mann, dem sie gehörte. Schließlich hatte die kleine Galeerenflotte des kurz geratenen Grandensprosses ihnen diese tödliche Überraschung bereitet.

»In fünf Tagen lichtet die Silberflotte Anker«, sagte Zornbrecht. »Wir haben uns hier lange genug aufgehalten.«

Emilio Zornbrecht. Diesen Namen würde sich Beorn merken. Und den Namen des blonden Fechtmeisters würde er auch noch herausfinden. Er würde überleben, ganz gleich, was sie ihm antaten. Und er würde wiederkommen.

»Bete zu deinem Fischgott, Thorwaler«, raunte der Glatzkopf. »Wär besser gewesen, du wärst im Kampf gestorben.«

Das Stück Bordwand wurde angehoben und über die Reling gewuchtet. Der Sturz währte nur einen Herzschlag. Das Wrackstück tauchte ins warme Wasser. Sein langes Haar umspielte Beorns Gesicht wie treibende Algenstränge. Silberne Perlen stiegen der Wasseroberfläche entgegen, während die Bordwand der Eisvogel noch tiefer sank. Dann stand sie still.

Das Salz des Meerwassers brannte in Beorns zerstörtem Auge und in den Schnittwunden. Er hatte nicht daran gedacht, tief durchzuatmen, bevor sie ihn über Bord gestürzt hatten. In seiner Brust wuchs ein Druck … Der Zwang zu atmen.

Ganz langsam begann das Fragment aus Spanten und Planken aufzusteigen. Schwebte der Grenze aus spiegelndem Morgenlicht entgegen. Beorn biss sich auf die Lippen. Kämpfte gegen den Wunsch an, tief einzuatmen und seine Lunge zu füllen. Er würde Boron, dem Gott des Todes, den diese Südländer verehrten, einen Kampf liefern. Noch war seine Stunde nicht gekommen!

Der Hetmann schmeckte Blut. Nicht aufgeben! Er dachte an den blonden Stutzer mit der flinken Klinge. Sie würden sich wiedersehen, und dann würde es anders ausgehen!

Endlich! Sein Trümmerfloß brach durch die Wasseroberfläche. Keuchend atmete er. So köstlich war die salzige Seeluft!

Vor ihm ragte eine schwarz gestrichene Dromone aus der See. Vom Rumpf blickte ein großes gelbes Glasauge auf ihn herab. Die Schwarzen Galeeren aus der Stadt des Totengotts hatten in dieser Nacht reiche Ernte gehalten. Wrackteile umgaben Beorn. Auf viele waren andere Überlebende gefesselt. Aber auch jene, die ihren letzten Kampf schon gefochten hatten, trieben im Wasser.

»Bringt die Riemen aus!«, erklang ein scharfes Kommando.

Klappernd schoben sich die langen Riemen aus dem schlanken Rumpf der Dromone. Im von der Peitsche erzwungenen Gleichtakt tauchten sie ins Wasser, zerwühlten die spiegelglatte See.

Schiff um Schiff schwenkte die kleine Flotte aus Schwarzen Galeeren gen Süden.

Nur zwei Meilen entfernt, im Westen, lag die Küste. Doch die einsetzende Ebbe zog sie weiter auf das Meer hinaus. Beorn wusste, was sie erwartete.

Der östliche Horizont schwelgte in Rosa und zartem Blau, während sich das Praiosgestirn aus dem Meer erhob. Die meisten seiner Gefährten würden die Sonne nicht mehr untergehen sehen.

»Ich bin Beorn Asgrimmson!«, rief er aus Leibeskräften und legte all seine Wut in seine Stimme. »Wer hat noch überlebt?«

»Ich bin Zidaine Barazklah«, meldete sich links von ihm eine Reckin, die an den zersplitterten Vordersteven einer Otta gefesselt war.

»Ich bin Warulf Ulfson, Hetmann von Stainakr!«

Beorn konnte den alternden Krieger nicht sehen, erinnerte sich aber an ihn und seine ungewöhnlich große Axt.

»Ich bin Haakon Olafson …«

Siebenunddreißig meldeten sich. Manche waren so schwach, dass sie kaum den Namen röcheln konnten.

»Wir werden durchhalten!«, rief Beorn entschlossen. »Swafnir schaut auf uns! Letzte Woche hat er gesehen, wie wir dem wütenden Sturm getrotzt haben. Jetzt soll der Walgott Zeuge sein, wie zäh wir uns auch dieser Unbill stellen. Bald werden unsere Brüder und Schwestern von der Mondinsel kommen! Haltet durch!«

Sieben Tage zuvor

Südliches Perlenmeer, zehnter Tag im Kornmond

Fast waagerecht peitschte der Wind den Regen über die See. Beorn Asgrimmson vermochte kaum das Steuerruder zu halten. Blitze zuckten über das Firmament.

»Sigwald!«, schrie er gegen den Sturm an. Voraus sah Beorn den Schattenriss einer Insel. Dabei sollte es hier nichts als offene See geben.

Der stämmige Krieger, der bei den Signallaternen kniete, erhob sich und eilte mit platschenden Schritten heran. Ein Drittel der Mannschaft schöpfte mit Ledereimern und Helmen, um der Fluten Herr zu werden, die in das offene Boot prasselten. Selbst seinen geliebten Flügelhelm hatte Beorn zum Wasserschöpfen hergegeben.

Sigwald eilte ihm zu Hilfe. Eine schwarze Welle, gekrönt von weißer Gischt, rollte ihnen entgegen.

Verzweifelt stemmten sie sich gegen die Eichenstange des Heckruders. Sie mussten die Welle mit dem Bug im rechten Winkel nehmen, oder sie würden kentern.

Quälend langsam schwang die Eisvogel herum.

»Steuerbord, Riemen bei!«, brüllte Beorn.

Die Steuerbordriemen hoben sich aus dem aufgewühlten Wasser. Jetzt schwang die Otta schneller herum.

Die Welle hatte sie fast erreicht. Wie ein Schwert wies das schlanke Schiff auf das Herz der schwarzen Wassermauer.

»Backbord, Riemen bei!«, befahl Beorn.

Der Rumpf stieg an. Sie ritten die Welle hinauf, dem Kamm entgegen. Regen und Gischt peitschten auf sie ein. Blitze zerrissen den Himmel.

»Swafnir, schau auf unseren Mut«, flüsterte Beorn und dachte daran, dass diese Reise von Anfang an unter einem Unglücksstern gestanden hatte. Arnora Bjartasdottir hatte eine Flotte aus siebzehn Ottas zusammengestellt. Nur vierzehn waren hierher bis in den Norden Al’Toums gekommen. Und den nächsten Morgen würden noch weniger begrüßen.

Immer steiler richtete sich die Otta auf. Fast hatten sie den Kamm erreicht. Wahre Sturzbäche strömten durch das Schiff zum Heck. Das Wasser reichte Beorn bis halb die Wade hinauf.

Sigwald betete laut zu Swafnir und auch zu Efferd, dem Gott des Meeres. Beorn kam das unnütz vor. Ein echter Thorwaler sollte wissen, dass sich Efferd nicht durch weinerliches Gewinsel erweichen ließ. Wenn ihnen hier ein Gott Schutz gewähren würde, dann allenfalls Swafnir, der Wal, der ewige Kämpfer gegen die verderbte Schlange Hranngar.

Noch fünf Schritt bis zum Wellenkamm. Wenn sich die Eisvogel noch ein wenig mehr nach hinten neigte, würde sie über Heck kentern, und sie alle würden in der brodelnden See ersaufen.

Beorn biss die Zähne zusammen. Mit eiserner Härte hielt er das Ruder umklammert. Er würde hier nicht sterben! Er würde in dieser Nacht nicht ertrinken! Er würde der berühmteste Plünderfahrer Thorwals werden, so hatte es ihm einst ein Godi in seiner Jugend prophezeit. Und er oder der verfluchte Phileasson würde den Titel König der Meere erringen. Es war ihm nicht bestimmt, in dieser Nacht zu sterben!

Steuerbord erkannte er gelbe Lichtpunkte auf der Flanke der Welle. Signallampen, so wie die gelbe Lampe, die an ihrem Mast schaukelte. Arnoras Flotte kämpfte.

Der Bug der Eisvogel stach durch den Wellenkamm. Einen Herzschlag lang verharrte die Otta auf dem Gipfel des wogenden Wasserbergs. Dann neigte sich der Rumpf in steilem Winkel nach vorn.

Wieder zeigte ein Blitz die schwarze Silhouette der flachen Insel, nun weniger als eine Meile voraus. Beorn sah Palmen, deren Wipfel der Sturmwind niederdrückte. Und er sah den Halbkreis aus schäumender Gischt, der die Insel umschloss wie eine schützende Palisade. Korallen!

Nur eine einzige Lücke machte er in dem Bollwerk aus. Vielleicht zwanzig Schritt breit … wenn sie Glück hatten.

»Setz die blaue Lampe!«, schrie er zu Sigwald. Der Wind riss ihm die Worte von den Lippen. »Und dann kommst du zurück!«

Sigwald nickte heftig, zum Zeichen, dass er verstanden hatte. Im Augenblick jedoch blieb ihm keine andere Wahl, als sich neben Beorn am Ruder festzuklammern. In rasanter Schussfahrt stürmte die Eisvogel die Welle hinab.

Beorn hielt den Blick fest auf den Halbkreis aus Gischt gerichtet. Sie mussten es durch die Lücke zwischen den Riffen schaffen. Nur so gab es noch Hoffnung, dem Kauca, dem wütenden Tropensturm, zu entkommen.

Als sie das Wellental erreichten und die Otta für kurze Zeit fast waagerecht lag, stürmte Sigwald los, schlitterte zwischen den Ruderplätzen hindurch zum Mast, hob die blaue Laterne aus ihrer Verankerung im Rumpf und fädelte eine Leine durch den Eisenring. Mit fliegender Hast zog Sigwald die Laterne hoch, bis sie dicht unter der Mastspitze unterhalb ihrer gelb leuchtenden Schwester hing.

Gelb über Blau, das war das Zeichen, dass ein Schiff den Kurs vorgeben wollte. Beorn war sich nicht sicher, ob die anderen Drachenführer und Steuermänner die Lücke im Riff bemerkt hatten.

»Steuerbord pullt!«, schrie er in die Nacht.

Die Riemen schwangen aus. Mit aller Kraft stemmte sich der Hetmann gegen die Ruderpinne. Wenn sie den Kurs nicht korrigierten, würden sie auf die Riffe auflaufen.

Wieder stieg die Eisvogel einen Wellenkamm empor. Sie lagen leicht querab.

»Riemen bei!«

Die Riemen hoben sich aus dem Wasser.

Wie von einer unsichtbaren Kraft gezogen, eilten sie dem Wellenkamm entgegen. Dieses Mal wurden sie nicht ganz so weit angehoben. Die Wellen flachten ab, je näher sie den Riffen kamen.

Sigwald eilte an Beorns Seite. Das lange, blonde Haar hing ihm in nassen Strähnen ins Gesicht. »Es wird knapp!«

Beorn sah selbst, dass sie immer noch nicht auf dem rechten Kurs waren, um die schmale Lücke zwischen den Riffen zu treffen. Sie war doch eher zehn als zwanzig Schritt weit. Wenigstens war sie durch die über den Korallen weiß schäumende See deutlich zu erkennen. Eine dunkle Pforte, die sie in ruhigeres Fahrwasser bringen würde.

Sie stießen vom Kamm in das nächste Wellental hinab. Die Insel geriet außer Sicht. Ringsum gab es nur noch zu Bergen aufgetürmtes Wasser.

Beorn blickte zurück und sah vor dem bleichen Gewitterhimmel die Rümpfe dreier weiterer Ottas durch den Wellenkamm über ihm stoßen. Einer davon war ihnen gefährlich nahe! Die Bärenodem. Keine zwanzig Schritt entfernt ragte der unverwechselbare Vordersteven mit dem Bärenkopf aus der See. Wenn sie einander rammten, wäre das für alle an Bord das Todesurteil.

»Riemen steuerbord! Pullt!«

Die Recken, die mit dem Blick nach achtern auf ihren Kisten saßen, sahen die Gefahr noch deutlicher als er. Mit der Kraft der Verzweiflung warfen sie sich in die Riemen.

»Pullt!«

Die Eisvogel schwenkte nach steuerbord.

Schon rollte ihnen die nächste Welle entgegen. Zu weit durften sie nicht ausweichen, oder sie würden quer zum Brecher liegen und kentern.

»Ruder hart backbord, Sigwald!«

Die nächste Welle erfasste die Eisvogel und hob sie an.

Die Backbordriemen stießen ins Wasser.

Beorn riss das Ruder in die entgegengesetzte Richtung.

Durch die Querlage zur Welle verloren sie an Fahrt. Die Bärenodem zog an Backbord vorüber. So nah, dass die Riemen der Bärenodem kurz auf die achtersten Riemen der Eisvogel schlugen.

Unendlich langsam schwang der Rumpf seines Schiffs herum.

Die andere Otta schnitt bereits durch den Kamm der Woge.

»Pullt!«, rief Beorn verzweifelt. Sie mussten die Welle mit dem Rumpf voran abreiten, oder sie würden kieloben gegen das Riff gespült werden.

Wasser strömte über die Reling und durchtränkte die Recken auf der Backbordseite.

»Durchhalten!« Beorn stemmte die Füße gegen die rutschigen Planken. Er stellte sich vor, Wurzeln getrieben zu haben. Fest verwachsen zu sein mit seiner Otta. Nicht nachgeben!

Die Eisvogel durchstieß den Wellenkamm. Es war kein sauberes Abreiten, anders als zuvor. Das Schiff trudelte. Stürzte dem Abgrund des Wellentals entgegen. Und dort unten, tödlich nah, lag der Gischtring der Korallenriffe.

Beorn hatte das Gefühl, die Muskelstränge in seinen Schultern müssten reißen, so sehr stemmte er sich mit Sigwald gegen das Ruder.

Die Bärenodem verpasste die Durchfahrt. Selbst über das Wüten des Sturms war das Splittern ihrer Planken zu hören. Der Mast wurde aus dem Rumpf gerissen und stürzte mitten in die Ottajasko. Die Brandung schob das Unglücksschiff vor und zurück, sodass die Korallen durch den Rumpf sägten.

Fast alle aus seiner Ottajasko blickten auf Beorn. Er entschied über Leben oder Tod. Sie würden es schaffen! Die Durchfahrt war keine zehn Schritt mehr entfernt.

Eine Böe griff nach der Otta. Wie eine unsichtbare Faust stieß sie das Schiff nach backbord, gerade als es in die gefährliche Passage einfuhr.

»Riemen steuerbord! Pullt!«

Der Rumpf schrammte über das Riff. Das kratzende Geräusch peinigte Beorn, als schlügen sich Krallen in sein Herz. Er keuchte auf.

Dann waren sie durch. Das Wasser jenseits des Korallenrings war ruhiger. Etwa hundert Schritt entfernt erhob sich sanft ein Sandstrand aus der dunklen See.

»Steuerbord, pullt!«, rief Beorn. Sein Ruder reagierte wieder leichter auf seinen Druck. »Backbord. Riemen einholen. Sucht euch Leinen!«

Der Rumpf der Otta schwang herum und zeigte wieder auf das Riff. Die Fang, die große Otta Arnora Bjartasdottirs, schob sich durch die Einfahrt. Ein weiteres Langboot folgte ihr dichtauf.

»Rettet die Besatzung der Bärenodem!« Beklommen erkannte Beorn, wie wenige Köpfe in der sanfteren Dünung in der Bucht zu sehen waren. Das Korallenriff forderte einen grausamen Blutzoll.

Sieben Tage später

Südliches Perlenmeer, siebzehnter Tag im Kornmond

Trocknend zogen sich die Lederfesseln um Beorns Handgelenke enger. Die Sonne stand im Zenit. Unerbittlich brannte sie auf die Überlebenden herab.

Der Hetmann drehte den Kopf. Seine linke Hand war purpurrot. Das Blut war fast völlig abgeschnürt. Er schlug sie auf das Holz des Wrackstücks, auf dem er gefesselt lag, um das Taubheitsgefühl zu vertreiben.

Seine Beine hingen ins Wasser hinab. Er verhielt sich ruhig, war sich der Räuber nur zu bewusst, die sie umkreisten.

Irgendwo ertönte ein gellender Schrei. Beorn biss die Zähne zusammen. Aus dem Schrei wurde ein sich überschlagendes Kreischen, das nichts Menschliches mehr an sich hatte.

»Bleibt ruhig!«, raunte er. Er vermied, die Stimme zu erheben, war ihm doch unklar, ob auch Laute sie anlockten. »Nicht bewegen.«

»Das Blut lockt sie«, sagte Warulf Ulfson, der stämmige Hetmann aus Stainakr. »War selbst schon auf Haie angeln. Hab ein paar Eimer mit blutigen Abfällen an Bord gehabt. Hab …« Die Stimme des in die Jahre gekommen Kriegers begann zu zittern. »Sie werden uns alle holen.«

»Haltet einfach still«, zischte Beorn. »Unsere Gefährten von der Mondinsel werden kommen. Sie werden …« Etwas streifte seinen linken Fuß. Ein eisiger Schauer rann Beorn den Rücken entlang.

»Da!«, raunte Warulf. »Siehst du die Rückenflosse? Das ist einer von den Großen.«

Beorn sah nicht hin. Schon seit Stunden kreisten die Haie. Zuerst hatten sie jene geholt, die ins Wasser bluteten. Selbst wenn sie stillhielten.

In weiten Kreisen zogen sie um die Wrackteile. Ganz gleich, wohin man auch sah. Überall waren die schrecklichen dreieckigen Flossen zu sehen.

Beorn schloss das ihm verbliebene Auge. Er mochte nicht mehr beten. Swafnir verachtete Jammerlappen, er erwartete, dass ein Recke sich selbst half.

Der Hetmann dachte an den Frühlingstag vor fünf Monden zurück, als ihre Flotte aus dem Hafen von Olport ausgelaufen war. Er erinnerte sich an seinen Stolz, einer der Ausgewählten Arnora Bjartasdottirs zu sein. Arnora Goldhand nannten sie die meisten, denn seit Jahren schon bewies sie mehr Geschick auf ihren ausgedehnten Plünderfahrten als jeder andere Drachenführer. Mehr als ein Dutzend Sagas trugen die Skalden über sie vor. So reich war Arnora Goldhand, dass sie jedem in ihrer Otta ein Kettenhemd und einen eisernen Helm geschenkt hatte.

Sie blieb oft über ein Jahr fort und errichtete auf einer der kleinen Inseln im südlichen Perlenmeer ein Winterdorf für ihre Mannschaften.

Doch dieses Mal hatte Goldhands große Fahrt in den tiefen Süden von Anfang an unter einem schlechten Stern gestanden. Liebfeldische Karavellen hatten den Verband aus siebzehn Drachenschiffen aufgebracht und verhindert, dass sie an der Küste ihrer Heimat landeten, um Wasser aufzunehmen. Ein Teil der Frauen und Männer war vor Mengbilla von einem Fieber dahingerafft worden, sodass sie zuletzt zwei Schiffe hatten aufgeben müssen, weil nicht mehr genug Recken für die Riemen geblieben waren.

In der Alemitischen Bucht hatte eine Seeschlange ihre Flotte angegriffen. Vielleicht hatte sie die hochgeschwungenen Vordersteven der Ottas für Rivalen gehalten. Jedenfalls hatte sie ein weiteres Schiff zerschmettert.

Arnora, die das südliche Perlenmeer gut kannte, hatte die Straße von Sylla, die Durchfahrt zwischen dem südlichsten Zipfel Aventuriens und der großen Insel Al’Toum, gemieden, denn dort wachten starke Verbände der Flotte Al’Anfas. Stattdessen waren sie der Südküste Al’Toums gefolgt, wo Eingeborene aus dem Dschungel sie dreimal beim Wassernehmen angegriffen hatten.

Nachdem ihrer auf vierzehn Ottas geschrumpften Flotte die Umrundung der großen Insel endlich gelungen war, hatte Arnora sie nach Norden auf die offene See geführt. Bis zu diesem Tag hatte sie immer noch nicht verraten, was das Ziel ihrer Reise sein sollte. Dort waren sie vom Kauca überrascht worden, dem plötzlich aufziehenden Tropensturm, der ihrer kleinen Flotte den schwersten Schlag dieser Reise versetzt hatte.

Ein neuerlicher Schrei riss Beorn aus seinen Gedanken. Etwas zerrte an Haakon Olafson. Die Planken, auf die er gefesselt lag, tauchten tiefer in die See, die sich bereits rot färbte. Ein keilförmiger Kopf schob sich aus dem Wasser. Der klaffende Kiefer verbiss sich in Haakons Hüfte.

Der Tigerhai warf sich hin und her. Das Wrackstück wurde hinabgezerrt. Überall waren jetzt die großen Rückenflossen. Blut wirbelte in dunklen Wolken durch das Wasser.

Nicht einmal mehr zwanzig Überlebende trieben auf dem Meer. Einige wimmerten leise. Die meisten jedoch verharrten in entsetztem Schweigen.

Das Wrackstück, auf das Haakon gefesselt gewesen war, schoss aus dem Wasser empor. Zwei Arme baumelten noch in den Lederfesseln. Der Rest des Recken blieb verschwunden.

Sechs Tage zuvor

Mondinsel, Südliches Perlenmeer, elfter Tag im Kornmond

Er war fort. Beorn Asgrimmson versuchte seinen Zorn zu beherrschen. Sein Flügelhelm war gestern Nacht beim Wasserschöpfen über Bord gegangen. Seine Schwester hatte ihm den Helm vor vielen Jahren geschenkt. Er war das Einzige gewesen, was er noch von Gilda besessen hatte, außer seinen Erinnerungen. Der Helm hatte ihm in den letzten Jahren Glück gebracht, und zugleich hatte er ihn jede Stunde an jenen schrecklichen Tag in den Klippen erinnert. Phileasson! Ohne diesen selbstverliebten Mistkerl würde sie noch leben.

Das Klirren von Klingen riss ihn aus seinen Gedanken. Zidaine Barazklah übte mit Sigwald. Leichtfüßig umtanzte sie ihn, stieß zu wie eine Viper.

Der große blonde Recke hatte Mühe, ihre Angriffe zu parieren. Sigwald hatte sein langes Haar zu zwei Zöpfen geflochten. Er kämpfte mit nacktem Oberkörper, wohl auch, um den prächtigen Wal zu zeigen, den ihm ein Bilderstecher in Olport auf den Bauch tätowiert hatte.

Zidaines Klinge berührte sanft seine Kehle. »Tot«, sagte sie lakonisch. »Schon zum dritten Mal.«

»Ein Kampf auf Schiffdecks ist kein Spiel!«, wetterte Beorn. »Eine Übung ist das hier nicht. Du solltest ein gutes thorwalsches Schwert führen, wenn du kämpfst.«

»Zu schwerfällig«, entgegnete die Fechterin selbstbewusst. »Wie ja auch deutlich zu sehen war.«

»Für deine Tanzeinlagen gibt es im Schiffkampf keinen Platz. Schild an Schild steht man, den Schwertarm über Kopf gehoben. Dein Rapier ist viel zu lang. Im Gedränge wird es dir nicht von Nutzen sein.«

Sie hob ihren Parierdolch.

»Zu schwach!« Beorn war sich bewusst, dass er sie vor allem deshalb anging, weil er schlechte Laune hatte. »Kannst du mit dem Zahnstocher einen Schild durchstoßen? In dem Kampf, der uns erwartet, ist eine Klingentänzerin wie du von keinerlei Nutzen. Wir brauchen Recken, die ordentlich dreinschlagen. Entweder dieser Kinderkram bleibt hier, und du besorgst dir ein ordentliches Schwert, oder du kannst dir eine andere Otta suchen.«

»Aber …«, begann Sigwald, doch Beorn wandte sich ab. Ein Drachenführer diskutierte nicht über seine Entscheidungen. Nicht einmal … oder vielleicht eher: vor allen Dingen dann nicht, wenn sie ungerecht waren.

Er stapfte weiter, den Strand entlang. Arnora wollte endlich ihren Kriegsplan vorstellen. Bis jetzt hatte sie sich, aus Furcht vor unbedachtem Geschwätz in Hafenschänken, in Schweigen gehüllt. Nun war es höchste Zeit zu erfahren, auf welche Weise sie ihre Gefolgschaft reich machen wollte.

Die überlebenden Hetleute versammelten sich im Schatten der sturmzerzausten Palmen. Ein wolkenloser, strahlend blauer Himmel spannte sich über ihnen. Nichts erinnerte mehr an die grauschwarzen Wolkentürme, die vor kaum einem Tag ihr Verhängnis angekündigt hatten. Außer vielleicht der Schwarm Möwen, der in den Wipfeln kauerte. Bei manchen besudelten noch Blutstropfen vom Mahl, das ihnen die letzte Nacht beschert hatte, das Gefieder. Ein Mahl, das ganz anders als Fisch und Muscheln gewesen war.

Beklommen blickte Beorn zu den Ottas, die auf dem flachen Strand lagen. Sieben Drachenschiffe hatten es weitestgehend unbeschadet zwischen den Korallen hindurchgeschafft. Zwei waren mit aufgeschlitztem Rumpf noch bis zum Strand gekommen. Drei hatte das Riff zerstört. Ihre Trümmer lagen weit verteilt auf dem schneeweißen Sand. Die letzten beiden waren spurlos verschwunden. Dass sie den Sturm überstanden hatten, glaubte niemand hier.

Mehr als dreihundert Thorwaler waren auf diesem winzigen Eiland gestrandet, das sich wie ein Sichelmond krümmte. Nahm man den vorgelagerten Korallenbogen hinzu, war es fast kreisrund. Beorn wusste nicht, wer diesem Eiland, dem Ort ihrer Rettung, den Namen gegeben hatte, aber schon gestern Nacht hatten sie begonnen, von der Mondinsel zu sprechen. Ein trostloser Flecken Land in der Weite des Perlenmeers, wahrscheinlich zu klein, um auf irgendeiner Karte verzeichnet zu sein. Swafnir belohnte die Stärke der Überlebenden, denn es gab eine kleine Quelle, die sie mit trinkbarem Wasser versorgte. Das Palmenholz hingegen war allenfalls zum Feuermachen zu gebrauchen. Für Schiffsplanken taugte es nicht. Sie hatten die angespülten Wrackstücke gesammelt, in der Hoffnung, dieses Holz nutzen zu können.

Eine der Möwen stieß einen verärgerten Schrei aus.

Es klang wie Spott in Beorns Ohren. Durchnässt, zerschunden und mutlos, sah ihre Schar auch alles andere als eindrucksvoll aus.

Der Hetmann blickte zu den Vögeln auf. Ein besonders großes Tier rangelte mit einer leicht zerzausten Möwe, die neben ihm auf dem Palmwedel gelandet war. Es war also gar nicht um Spott gegangen … Beorn lächelte. Wie töricht, alles auf ihre Lage zu beziehen!

Arnora Goldhand kam vom Strand herauf zu ihnen. Ihr linker Arm ruhte in einer Schlinge. Gestern war sie angeleint in die tosende See gesprungen, um Überlebende vom Korallenriff zu holen. Jedenfalls so lange, bis eine Welle sie selbst auf die messerscharfen Korallen geworfen hatte.

Dunkle Ringe lagen unter den himmelblauen Augen der Anführerin. Mit fast zwei Schritt war sie eine der Größten ihrer Flotte. Sie hatte ein Kreuz wie ein Bär. Eine auffällige Tätowierung auf ihrem rechten Arm zeigte Swafnir, dessen mächtige Kiefer sich um eine der Windungen Hranngars schlossen. Der tiefe Süden war das Reich der Verderberin, die in Gestalt einer gewaltigen Seeschlange über die ewige Nacht am Meeresgrund herrschte.

Arnora strich sich eine widerspenstige Strähne aus der Stirn. Ihr mehr als schulterlanges goldblondes Haar war mit einem Lederriemen zu einem lockeren Zopf gebunden.

»Wer hinaus auf See geht, um sein Glück zu machen, der weiß, dass wir dem Tod fest ins Antlitz blicken müssen, bevor wir nach einer goldenen Zukunft greifen können«, verkündete Arnora voller Leidenschaft. »Den düsteren Teil der Reise haben wir nun überstanden.« Sie bedachte sie alle mit einem verschwörerischen Lächeln. »Nun kommen wir zum Gold.« Die Hetfrau zog die langstielige Axt aus ihrem Gürtel, kniete nieder und zeichnete eine gewundene Linie in den Sand.

»Dies ist die Nordküste Al’Toums«, erklärte sie und bohrte den Axtgriff ein Stück darüber in den Boden. »Hier, irgendwo im Nordosten von Al’Toum, liegt unsere Mondinsel, und hier …«, Arnora bohrte den Axtstiel in die Küstenlinie, »… liegt Porto Paligan. In der dritten Woche des Kornmondes trifft dort eine kleine Galeerenflotte aus Charypso ein. Ihre Aufgabe besteht darin, den Kauffahrern Geleit zu geben, die sich in der genannten Woche im Hafen von Porto Paligan versammeln. Auch nimmt die Galeerenflotte Schätze an Bord, die im Laufe der letzten zwölf Monde in der Hafenfestung eingelagert wurden.«

»Willst du etwa den Hafen stürmen?«, fragte Warulf Ulfson misstrauisch. Der große Hetmann aus Stainakr war ein mürrischer Geselle, der stets ein Haar in der Suppe suchte. Allerdings war er ebenso bekannt dafür, mit seiner gewaltigen Axt ordentlich dreinzuschlagen, wenn es zum Kampf kam. Und so widersprach ihm niemand ohne Not.

Arnora seufzte. »Ich gestehe, dass ich mit diesem Gedanken gespielt habe, aber wir haben nicht mehr genug Schiffe und Recken für so ein gewagtes Unternehmen. Also tun wir das Zweitbeste.« Jetzt fand sie wieder zu ihrem gewinnenden Lächeln zurück. Einem Lächeln, das alle Widerstände überwand und Beorn an die einführenden Worte erinnerte. Nun kam der Teil mit dem Gold!

»Etliche der kleinen Kontore auf den Inseln weiter im Osten sammeln das ganze Jahr über ihre Schätze, um sie in der vermeintlichen Sicherheit eines Schiffsverbands nach Porto Paligan zu bringen. So wähnen sie sich vor den kleinen Piratengruppen auf den Inseln sicher. Mehrere Koggen und vielleicht gar eine Karracke … so ein Bissen ist zu groß für die Piraten auf den Inseln hier. Nicht aber für sieben Ottas mit zu allem entschlossenen Recken an Bord. Wir werden uns die Schätze eines Jahres in einer Nacht holen! Und das werden wir folgendermaßen angehen …«

Vor der Abenddämmerung, am selben Tag

Nahe der Nordküste Al’Toums, elfter Tag im Kornmond

Dolorita war die schönste Frau, der er seit Langem begegnet war, dachte Orelio, als er durch einen Spalt zwischen den Seidentüchern hindurch zu ihrem Lager spähte. Seit kurz nach Sonnenaufgang lag sie hingestreckt zwischen den bunten Kissen. Feine Schweißperlen standen auf ihrer gebräunten Stirn, die von schwarz gelocktem Haar gerahmt wurde. Ihre sinnlichen vollen Lippen waren leicht geöffnet. Er sah, wie sich ihre Augäpfel unter den geschlossenen Lidern bewegten. Wovon sie wohl träumte?

Ihr hochgeschlitztes grünes Kleid war verrutscht. Orelio rang mit sich, nicht der Versuchung nachzugeben, sich ein wenig weiter vorzubeugen, um nachzusehen, was der Stoff alles nicht mehr bedeckte.

Abrupt wandte sich der junge Fechter ab. All seinen Charme hatte er in den vergangenen drei Wochen aufgeboten, um Doloritas Gunst zu gewinnen, doch mehr als ein gelegentliches Lächeln und einen koketten Augenaufschlag hatte sie ihm bislang nicht geschenkt. Das setzte ihm zu! Üblicherweise fiel es ihm leicht, die Aufmerksamkeit von Damen zu erwecken.

Aber Dolorita war ja auch keine Dame im herkömmlichen Sinne. Sie war eine Hexe. Der überwiegende Teil der Männer an Bord der Dromone Vipernstoß schätzte sich vermutlich glücklich, wenn der Blick der schwarzhaarigen Schönheit nicht auf ihm verweilte. Um die Blicke von Hexen rankten sich viele Geschichten …

Orelio ging ein Stück über den nur zwei Schritt breiten Steg, der Vordeck und Achterdeck miteinander verband. Das Segel am Hauptmast war herabgelassen worden. Die Rah diente nun als Halt für das Dach des seidenen Zelts, das man aufgeschlagen hatte, um Dolorita einen Ort zu geben, an dem sie vor Blicken geschützt war. Nicht dass die Hexe zimperlich gewesen wäre, aber solange sie hilflos in Trance lag, schätzte sie es nicht, angestarrt zu werden.

Orelio blickte auf die Reihen der angeketteten Ruderer, die links und rechts des Stegs auf ihren niedrigen Bänken kauerten. Schwere Eisenringe waren um ihre Fußgelenke geschmiedet. Ketten verbanden ihr Schicksal untrennbar mit dem des Schiffs. Die meisten der Gefangenen saßen vornübergebeugt, die erschöpften Leiber auf die Riemen gestützt. Die mit Striemen und Narben gezeichneten, vom Wetter gegerbten Rücken erzählten die immer gleiche Geschichte vom Leid der Galeerensklaven.

Der Fechtmeister hob den Blick. Man musste kein Verbrechen begangen haben, um auf diesen Ruderbänken zu enden. Es genügte, zu verarmen. Eines Tages auf der Galeere zu landen war Orelios Albtraum. Er war sich nur zu bewusst, wie ungewiss seine Stellung in der schwarzen Perle des Südens war, wie die von seinem Glanz Geblendeten oft das prächtige Al’Anfa nannten. Seine Mutter war lange Jahre die Konkubine eines Granden gewesen, bis die unerbittlich verrinnende Zeit ihr die Schönheit geraubt hatte. Sie beide hatten Glück gehabt. Selbst als Orelios Vater sie nicht mehr heimlich besucht hatte, hatte er für ein Auskommen gesorgt. Auch hatte er ihn bei den besten Fechtlehrern des Lieblichen Felds ausbilden lassen. Orelio hatte sich in Duellen, in denen er die reichen Söhne und Töchter der Stadt vertrat, einen Namen gemacht. So war Emilio Zornbrecht auf ihn aufmerksam geworden. Jener Grandenspross aus irgendeiner Nebenlinie der Zornbrechts, der das kleine Geschwader der Schwarzen Flotte führte. Der Befehlshaber über zwei Dromonen und fünf altertümliche Biremen hatte ihn zum Leibwächter seiner schärfsten Waffe ausersehen, der Hexe Dolorita.

Auf dem Achterdeck der Vipernstoß dösten die Seeoffiziere. Das ganze Schiff schien wie Dolorita zu ruhen. Nur zwei Söldner auf der Gefechtsplattform über dem Bug hielten Wache.

Die Hexe hatte sie gestern frühzeitig vor dem heraufziehenden Sturm gewarnt, sodass die Dromone in einer tiefen Bucht Schutz suchen konnte. Wie es den Thorwalern draußen auf offener See ergangen sein mochte, überstieg Orelios Vorstellungskraft. Seit Dolorita die Flotte der Piraten südlich der Straße von Sylla entdeckt hatte, folgten sie den Plünderern. Dabei waren sie stets außer Sicht geblieben. Ganz gewiss ahnten die Piraten nichts von dem Unheil, das sich über ihnen zusammenbraute.

Eine große Möwe kam von der offenen See. Orelio erkannte das Tier sofort. Er eilte zum Zelt Doloritas und zog die Seidenvorhänge zurück.

Der Vogel landete unmittelbar neben dem Lager der Hexe. Er wirkte erschöpft, torkelte. Dann schob er seinen Kopf unter die Hand der Schlafenden, wie Orelio es von Katzen kannte.

Ein Raunen ging durch die Bänke der Ruderer.

Von achtern eilten Schritte über Deck. Der Kapitän der Vipernstoß wollte zugegen sein, wenn Dolorita erwachte.

Die Augenlider der Hexe flatterten. Sie stieß ein leises Seufzen aus. Ihre grünen Augen trafen Orelio tief ins Herz. Alles würde er für diese Frau tun!

»Ich bin durstig«, flüsterte sie mit rauer Stimme.

Der Fechtmeister kniete nieder, nahm die Karaffe auf, die neben dem Lager stand, und füllte einen kristallenen Pokal mit lauwarmem schalem Wasser. »Entschuldigt, dass ich Euch keinen kühlen Trunk anbieten kann.«

Sie nahm den Pokal. Ihre Hand zitterte leicht. »Danke«, hauchte sie. Dann trank sie in langen Zügen.

»Wie lauten Eure Befehle, Herrin?«, fragte der ergraute Kapitän.

Dolorita leerte den Pokal bis zur Neige, bevor sie ihn Orelio zurückreichte.

»Die Thorwaler haben den Kauca überlebt.« Sie tätschelte der Möwe den Kopf. »Bringt Fisch für Pepito. Er ist erschöpft. Durch ihn konnte ich sehen und hören. Ich weiß um alle Pläne unserer Feinde. Segeln wir nach Porto Paligan! Emilio Zornbrecht wird wissen wollen, wie unsere Feinde zu besiegen sind.«

Fünf Tage später, Abenddämmerung

Nordküste Al’Toums, sechzehnter Tag im Kornmond

Beorn stand im Bug der Eisvogel und starrte mit zusammengekniffenen Augen hinaus auf See. Das letzte Abendlicht wich schnell der Dunkelheit. Obwohl keine Wolken über den Himmel zogen, würde diese Nacht besonders finster werden. Heute hüllte sich das Madamal in seinen dunklen Umhang, nur noch das Licht der Sterne blieb. Den ganzen Tag über hatten sie kein einziges Schiff gesichtet. Das Unglück, das über ihrer Reise stand, setzte sich fort.

Arnora Bjartasdottir hatte alle noch seetüchtigen Ottas an diesen stickigen, unheimlichen Ort geführt. Sie lagen in einer Bucht, in der Bäume auf Stelzenwurzeln bis ins Wasser wuchsen. Es gab hier kein Ufer, keine Grenze zwischen Land und Meer. Der Dschungel wucherte einfach in die See hinein.

Bunt schillernde Vögel und fette Echsen bevölkerten das Geäst über ihnen. Die Thorwaler hatten die sieben Ottas ein Stück in diesen Meerwald hineingezogen. Sie waren perfekt getarnt. Jetzt fehlte nur noch die Beute, auf die sie sich stürzen konnten.

Sigwald trat an Beorns Seite und reichte ihm einen Wasserschlauch. »Feuchte dir die Kehle an, Hetmann. Bald haben wir nur noch unseren Schweiß zu trinken.«

Beorn nahm einen tiefen Schluck. Das Wasser war lauwarm und schmeckte nach Leder.

»Wieder ein Tag verloren«, murmelte Sigwald verdrossen. »Uns geht das Wasser aus. Wir sollten fort von hier. Ich hab ein schlechtes Gefühl …«

Obwohl Beorn genauso dachte, schwieg er. Er wollte Arnora nicht in den Rücken fallen. Außerdem war mürrisches Geschwätz Gift für die ohnehin schon schlechte Moral.

»Geduld ist die erste Tugend des Jägers, Sigwald. Geduld ist alles, was wir jetzt noch brauchen, um uns das Gold des Südens zu holen.«

Sigwald schnitt eine Grimasse, sagte aber nichts mehr.

Beorn blickte wieder auf die See hinaus. Das Abendlicht war vergangen. Die Dämmerung dauerte hier im Süden nicht lange. Nur ein lauer Wind wehte. Er vermochte die stickige Hitze zwischen den Meerbäumen nicht zu vertreiben.

Etwas zwackte ihn in den Nacken. Beorn schlug danach. Das brackige Wasser brütete blutsaugende Plagegeister aus. Jede Nacht fielen sie in Heerscharen über sie her.

»Dort!«, erklang eine raue Stimme. »Dort draußen auf Nordost. Hecklaternen!«

Der Rufer musste einer der Späher sein, die Arnora hinauf in die Baumwipfel geschickt hatte.

»Auf, Recken!«, befahl Beorn scharf.

Sein Befehl wäre unnötig gewesen. Die dösende Ottajasko war binnen weniger Herzschläge auf den Beinen. Sie hoben die langen Riemen von den hölzernen Gabeln mittschiffs.

»Koggen!«, verkündete der Ausguck oben im Baum. »Vier Stück. Machen wenig Fahrt.«

Wie auch, dachte Beorn. Bei der lauen Brise würden die Kauffahrer kaum von der Stelle kommen. »Bewaffnet euch«, befahl er ruhig. Dann ging er zur Seekiste, um sein Kettenhemd anzulegen.

»Sigwald, ans Ruder!«

Beorn zwängte sich in sein wattiertes Waffenhemd. Es stank nach altem Schweiß. Bei dieser Hitze müsste er sich nicht einmal bewegen, um es mit neuem Schweiß zu durchtränken.

»Anker auf!«, hallte Arnoras markante Stimme zwischen den Meerbäumen.

Sigwald half Beorn in sein Kettenhemd.

Die einfachen Steinanker der Eisvogel wurden an Bord gehoben. Die Ottajasko nutzte die Riemen, um das schlanke Drachenboot zwischen den Meerbäumen hindurch in freies Fahrwasser zu staken.

Jetzt sah auch Beorn die Hecklaternen auf offener See. Blasse honigfarbene Lichter. In der nur von den Sternen erhellten Finsternis waren die Laternen so markant wie Leuchtfeuer. Neben ihnen ragten die Schatten von Masten über dem Wasser auf.

Beorn gürtete sein Schwert und trat an das Heckruder der Eisvogel.

Arnora Goldhands Otta war als Erste dem Wald der Meerbäume entkommen. Sie brachte die Riemen aus. Dunkles Wasser schäumte auf. Wie ein Falke, der sich auf einen Hasen stürzte, schnellte die Otta auf See hinaus.

Heute waren keine Laternen an den Masten der Drachenboote aufgezogen. Vor der dunklen Küste Al’Toums mussten die Ottas für die Bordwachen der Kauffahrer so gut wie unsichtbar sein.

Nun brachte auch seine Ottajasko die Riemen aus.

»Pullt!«, befahl Beorn mit gedämpfter Stimme.

Zischend schnitten die Ruderblätter ins Wasser.

Vergeblich versuchten sie, mit Arnoras Fang gleichzuziehen. Die berühmte Plünderfahrerin hatte die besten Recken der Flotte auf ihrer Otta. Aber immerhin vergrößerte sich der Abstand zu ihr kaum.

Auch die anderen Ottas glitten aus den Verstecken im Meerwald. Sie alle lieferten sich ein Rennen. Nach den Monden der Gefahren und Entbehrungen wollte jeder als Erster Beute machen.

Beorn biss sich auf die Lippen, um seine Ottajasko nicht mit lautstarken Befehlen anzufeuern. Keinesfalls sollten die Kauffahrer im letzten Augenblick noch auf sie aufmerksam werden.

Gegen das Seitenruder gestemmt, hielt er auf den östlichsten der Schatten zu, während sich die Fang steuerbord dem größten Segel näherte.

Die Augen fest auf das Ziel gerichtet, träumte Beorn von den Schätzen in den Frachträumen. Gold und Silber aus den geheimen Minen, die es angeblich auf einigen der Inseln gab. Kisten voller Perlen, Fässer mit erlesenen Gewürzen.

Etwas stimmte nicht. Es waren keine Schiffsrümpfe zu erkennen. Nur Segel. Waren die Kauffahrer denn immer noch so weit entfernt?

Die Laternen waren jetzt deutlich auszumachen.

»Sigwald! Übernimm das Ruder«, zischte er seinem Gefährten zu.

Kaum dass der Recke die Pinne in Händen hielt, stürmte Beorn zum Bug. Schweiß rann ihm den Rücken hinab.

Die Laternen voraus verloschen! Trotzdem hatte Beorn noch sehen können, was dort im Wasser dümpelte. Flöße, auf denen kleine Masten aufgerichtet standen. Im Dunkeln und auf die Entfernung eine perfekte Illusion von Schiffen.

»Riemen bei!«, rief Beorn.

Die Riemen der Eisvogel schnellten aus dem Wasser.

Das war eine Falle!

Beorn blickte zur Fang. Auch Arnoras Schiff verlangsamte die Fahrt.

Die übrigen Ottas holten auf.

»Holt mir den Kerl dort! Lebend!«, klang Arnoras markante Stimme über die nächtliche See.

Jetzt sah auch Beorn die kauernde Gestalt auf dem mittleren der Flöße. Sie schien mit Feuerstein und Stahl zu hantieren. Funken blitzten auf. Plötzlich stieg eine grelle Stichflamme empor. Der Mann schrie auf.

Geblendet vom hellen Licht, kniff Beorn die Augen zusammen.

»Zurück!« Das hier war eine Falle. Er war sich unklar, welche Gefahr sie hier erwartete, aber jemand hatte gewusst, dass sie im Meerwald lauerten. »Zurück!«, befahl er erneut und wandte sich von den hellen Flammen ab.

Das Feuer entriss alle Ottas ihrer kleinen Flotte der Finsternis.

Die Riemen tauchten ins Wasser. Die Eisvogel entfernte sich vom brennenden Floß.

Etwas klirrte auf Deck. Es klang wie ein zerbrechender Weinkrug. Eine Flamme wuchs keinen Schritt vor dem Mast.

Fassungslos blickte Beorn auf das Feuer, das wie von Zauberhand gekommen war.

Zidaine Barazklah ließ von ihrem Riemen ab, schnappte sich einen der Ledereimer, die zwischen den Ruderbänken lagen, warf ihn angeleint über Bord, holte ihn ein und goss geistesgegenwärtig Wasser in den Brand. All dies hatte kaum mehr als drei Atemzüge gedauert.

Ein Feuerball sprang aus den Flammen empor, versengte Zidaine das Gesicht und stieg fast bis zur Mastspitze auf.

Krachend schlugen die Riemen aneinander. Die Recken unmittelbar um das Feuer hasteten in Sicherheit.

Zidaine taumelte geblendet zum Mast.

»Hylailer Feuer!«, schrie Beorn. Er hatte diese Schreckenswaffe noch nie im Einsatz gesehen, aber schon unzählige Geschichten darüber gehört.

Auch auf der Fang wuchs eine Flammenblüte aus dem Deck.

»Nicht löschen!«, befahl Beorn. Seine Gedanken überschlugen sich. Ein Feuer im Rumpf … die Planken der Eisvogel waren nicht einmal einen Finger dick. Wie lange würde es dauern, bis sie durchgebrannt wären?

Ein Schatten mit großen gelben Augen glitt keine zwanzig Schritt hinter der Eisvogel aus der Finsternis. Eine al’anfanische Bireme.

»Beidrehen!«, befahl Beorn. Gewiss lauerten noch mehr Feinde in der Dunkelheit, und die Eisvogel lag mit ihrer Breitseite vor den Rammspornen der unsichtbaren Gegner.

Seine Ottajasko gehorchte nur zögerlich. Keiner wagte sich in die Nähe des Feuers, das sich langsam durch den dünnen Rumpf fressen würde.

»Wir brauchen ein neues Schiff!«, rief Beorn ihnen zu. »Die Eisvogel wird uns keine halbe Stunde mehr tragen. Wir entern einen dieser Bastarde, bevor …«

Holz splitterte. Männer und Frauen schrien auf. Die Bireme, die an ihnen vorübergezogen war, hatte ein Opfer für ihren Rammsporn gefunden.

»Los!«, schrie Beorn. »Steht nicht rum wie verängstigte Küken.« Er packte Zidaine bei den Schultern.

»Ich kann nichts mehr sehen«, stammelte die Kriegerin mit dem rot verbrannten Gesicht.

»Um zu rudern, muss man nichts sehen!« Beorn schob sie vor sich her zu einer der freien Seekisten. »Setzen!«

Eingeschüchtert gehorchte Zidaine.

Beorn drückte ihr eine Riemenstange in die Hände. »Du kannst das!« Er wandte sich an den Rest der Mannschaft. »Los! Alle zurück auf ihre Plätze. Die Kisten beim Feuer bleiben unbesetzt. Wir sind Thorwaler! Und wenn ihr nur halb so wütend seid wie ich, dann werden es die verfluchten Al’Anfaner noch bereuen, uns angegriffen zu haben.«

Beorn ging weiter nach achtern und stieß Zauderer zurück auf ihre Ruderplätze. »Vergesst das Feuer!«, zischte er wütend.

Erste Riemen tauchten wieder ins Wasser.

»Riemen bei steuerbord! Backbord pullt!«, befahl er.

Die Ottajasko gehorchte, und das brennende Schiff schwenkte um seine eigene Achse.

Weitere Biremen mit großen gelben Glasaugen hoch am Rumpf tauchten aus dem Dunkel auf. Eine ganze Flotte hatte ihnen hier aufgelauert.

Pfeile sirrten auf sie nieder.

Die Recken duckten sich hinter ihre Schilde an der Bordwand. Auch Sigwald ging in Deckung.

Beorn blieb aufrecht stehen. Zwischen den Schiffen der Feinde hatte er eines entdeckt, über dessen Rumpf sich eine Kampfplattform erhob. Dort oben stand eine Rotze, ein Torsionsgeschütz, das die Brandkugeln verschoss. Das war sein Ersatz für die Eisvogel, entschied der Drachenführer.

»Annar, Rollo, Gilda!«, rief Beorn. »Gebt die Riemen auf. Nehmt eure Bögen!« Er deutete voraus auf das Schiff mit der Kampfplattform. »Lasst Blut über das Deck laufen, bevor wir entern.«

Die drei nahmen ihre Jagdbögen und Köcher auf und eilten zum Bug. Sie waren die mit Abstand besten Schützen, die er hatte.

Beorn gesellte sich zu Sigwald. »Schwenk steuerbord.«

Sigwald drückte gegen das Ruder.

»Mehr!«

Sein Gefährte sah ihn fragend an.

»Mehr!«, wiederholte Beorn gereizt.

»Aber wir werden sie …«

»Wir spießen uns frontal auf ihren Rammsporn, das wohl«, bestätigte Beorn. »Die Eisvogel ist verloren. Dann soll sie auf eine Art gehen, von der die Skalden auch in zehn Jahren noch zu singen haben.«

Von der Dromone voraus erklangen Hornsignale. Sie erinnerten Beorn an eine Hetzjagd im Wald. »Manchmal holt sich der Keiler den Jäger«, murmelte er grimmig.

Aus dem Augenwinkel sah er, wie eine Otta von einer Bireme mittschiffs erwischt wurde. Der kupferbeschlagene Rammsporn schnitt durch das Drachenboot wie eine gut geschliffene Klinge durch ein dampfendes Stück Braten. Der gesplitterte Rumpf wurde unter Wasser gedrückt. Bogenschützen schossen auf die Schwimmer, und Söldner mit Speeren stachen jeden ab, der versuchte, sich an der Bordwand der Bireme festzuhalten.

So wird es uns nicht ergehen, dachte Beorn. Er stemmte die Füße gegen die Planken, wappnete sich für den Aufprall. »Pullt!«, schrie er seine Ottajasko an. Je mehr Fahrt sie machten, wenn sie sich auf dem Rammsporn aufspießten, desto besser.

Wieder ertönten die Hornsignale. Sie hatten etwas von Hilferufen, fand Beorn.

Zwei Biremen schälten sich steuerbord aus dem Dunkel. Auf den Vordecks beider Galeeren drängten sich Bogenschützen.

»Pullt!«, befahl Beorn mit grimmiger Entschlossenheit. Er hörte, wie auf den Biremen die Trommler, die die Schlagzahl der Riemen vorgaben, ihren Rhythmus beschleunigten.

»Pullt!«

Pfeile prasselten auf die Eisvogel nieder.

Sigwald neben ihm schrie auf. Ein Pfeil hatte seine linke Wange durchschlagen. Die blutige Spitze war an der rechten Wange wieder ausgetreten.

Sigwald ließ die Ruderpinne los und griff mit beiden Händen nach der befiederten Hälfte des Pfeilschafts. Mit entschlossenem Ruck brach er den Schaft entzwei und zog das verbliebene Stück samt Spitze aus der Wunde.

»Das ist nichts«, murrte er. Blut quoll ihm dabei über die Lippen. »Die machen wir …«

Ein weiterer Pfeil schlug in sein linkes Auge.

Sigwalds Mund klappte auf und zu, als wollte er noch etwas sagen. Dann sank er auf Deck.

»Pullt!«, schrie Beorn. Kaum zehn Schritt trennten sie noch von der Dromone. Die Kriegsgaleere hob die Riemen waagrecht aus dem Wasser. Ahnte ihr Kapitän, auf welche Weise die Eisvogel in den Tod gehen wollte?

»Pullt!« Die Hälfte seiner Ruderer war tot oder verwundet auf ihren Kisten zusammengesunken. Die Otta verlor mit jedem Herzschlag an Fahrt, obwohl sich die Überlebenden mit aller Kraft in die Riemen warfen.

Ein Pfeil ritzte Beorns Wange und schlug hinter ihm in den steil aufragenden Achtersteven. Er dachte an den Herbst, in dem das Holz für die Eisvogel geschlagen worden war, um dann einen Winter lang zu lagern. An Sigwald, wie sie beide mit nacktem Oberkörper Bäume gefällt hatten. Wie sie abends am Lagerfeuer gezecht hatten. Daran, wie er im Frühling in der Grube des Zimmermanns gestanden hatte, um die Planken mit einem Beil zurechtzuschlagen.

»Du warst eine gute Otta. Du …« Obwohl Beorn sich für den Aufprall gewappnet hatte, riss er ihn von den Beinen. Die Ottajasko wurde wie Herbstlaub durcheinandergewirbelt.

Der Ruck hatte auch die Söldner auf der Kampfplattform der Dromone von den Beinen geholt.

»Entert!«, rief Beorn und rappelte sich auf. Er riss seinen Schild von der Bordwand. Ein Pfeil schrammte sirrend über sein Kettenhemd.

Entschlossen stürmte er zum gesplitterten Bug der Eisvogel. Er setzte über die Gestürzten und Verwundeten hinweg. Wer noch die Kraft zu kämpfen hatte, schloss sich ihm an. Immer weitere Pfeile prasselten auf die Eisvogel ein.

Beorn schwang sich auf den Rammsporn der Dromone. Kämpfte kurz auf dem muschelverkrusteten Kupfer um sein Gleichgewicht, griff nach der niedrigen Bordwand und zog sich über die Reling hoch. Vier hölzerne Pfeiler trugen die Kampfplattform des Kriegsschiffs. Er befand sich jetzt unmittelbar darunter und war für die Schützen über ihm nicht mehr zu treffen.

Mit Getöse bohrte sich der Rammsporn einer der Biremen mittschiffs in die Eisvogel. Die stolze Otta brach entzwei. Die Verwundeten und Toten verschwanden in der aufgewühlten See.

Nur zwei seiner Gefährten hatten es hinter Beorn noch an Bord der Dromone geschafft. Er war überrascht, dass Zidaine Barazklah dabei war. Sie blinzelte, als könne sie immer noch nicht richtig sehen, aber sie machte ein zu allem entschlossenes Gesicht. Sie zog ihr Schwert. Die plumpe Waffe wirkte falsch in ihrer Hand. Er bereute, sie gezwungen zu haben, ihr Rapier zurückzulassen. Hier gab es kein Gedränge. Es wäre gut gewesen, wenn sie mit vertrauten Waffen hätte fechten können.

»Lassen wir sie in thorwalsches Eisen beißen!«, rief Beorn und stürmte unter dem Vorderkastell vor auf den Steg zwischen den Ruderern.

Einige Söldner stellten sich ihm in den Weg. Sie wirkten überrumpelt, als hätten sie niemals damit gerechnet, dass es ein Thorwaler an Bord schaffen könnte.

Beorn rammte dem Vordersten von ihnen seinen eisenbeschlagenen Schildrand unters Kinn, dass es dem bärtigen Kerl den Unterkiefer zerschmetterte. Mit rudernden Armen taumelte der Kerl zurück und behinderte seine Kameraden.

Sofort setzte Beorn nach, rammte einem Al’Anfaner sein Schwert mit geradem Stich in die Kehle und nutzte gleichzeitig seinen Schild, um eine Kämpferin anzurempeln, sodass sie vom Steg zwischen die angeketteten Ruderer stürzte. Ihre gellenden Schreie ließen ahnen, wie lange die Galeerensklaven auf den Augenblick der Rache gewartet hatten.

»Haltet mir den Rücken frei!«, befahl Beorn, ohne nach hinten zu blicken. Er war sich sicher, dass die Bogenschützen auf der Kampfplattform von der Eisvogel abgelassen hatten und nur darauf warteten, ihn von hinten niederzustrecken.

Die Söldner in ihren schwarzen Lederrüstungen hatten sich weiter mittschiffs hinter den Mast zurückgezogen. Drei Krieger waren es. Hinter ihnen wartete jedoch noch ein weiteres Dutzend auf dem Achterdeck. Überrascht erkannte Beorn dort eine schöne hochgewachsene Frau, die ein weißes, mit schillernden Perlmuttsplittern geschmücktes Kleid trug, das besser auf einen Ball in einem Grandenpalast gepasst hätte als in eine Seeschlacht.

»Dich werde ich schonen«, murmelte er mit einem grimmigen Lächeln, wobei er sich nur zu bewusst war, dass er auf dem Deck der Dromone sterben würde, wenn keine zweite Otta längsseits kam, um die Galeere zu entern.

Wenn schon verrecken, dann glorreich! »Swafnir, schau auf unseren Mut!«, schrie er und stürmte vor, ohne sich weiter um die Bogenschützen hinter ihm zu scheren.

Wie ein lebender Rammbock prellte er hinter seinen Schild geduckt in die Söldner. Krachend fuhren ihre Schwerter auf seinen Eichenschild. Eine Klinge streifte seine Schulter, aber das Kettenhemd bewahrte Beorn vor Schaden. Die Wucht des Aufpralls brachte beide aus dem Gleichgewicht. Beorn nutze die Gelegenheit, auch sie mit schnellen Schildstößen vom Mittelsteg hinab zu den Ruderern zu befördern.

Der dritte Söldner führte eine gewaltige Streitaxt. Breitbeinig stand er zwischen dem Hetmann und den Kämpfern auf dem Achterdeck.

»Komm!«, forderte ihn sein Gegner mit abfälligem Lächeln auf. »Und glaub nicht, dass ich mich herumschubsen lasse.«

So siehst du nicht aus, dachte Beorn beklommen.

Hinter ihm klirrten Waffen. Waren die Söldner vom Vorderkastell herabgestiegen? Er wagte es nicht, über die Schulter zu blicken, um zu sehen, was hinter ihm geschah. Ein einziger unachtsamer Moment mochte genügen, und die Axt dieses Hünen führe ihm in die Schulter.

Zögern half nicht. Beorn hob sein Schwert über den Schildrand, wie ein Skorpion seinen Stachel hob, bereit, jeden Augenblick zuzustechen.

Der Hüne wirbelte herum und ließ die beidhändig geführte Axt in den Rundschild krachen. Der Treffer riss Beorn um. Holz splitterte. Sein Schildarm fühlte sich an, als habe er einen Pferdetritt abbekommen.

Bevor Beorn auf die Beine kam, sauste ein zweiter Hieb auf ihn nieder. Gerade rechtzeitig konnte er den Arm hochreißen, aber unter der Wucht des Treffers wurde der Schild gegen seinen Helm geprellt. Das Axtblatt hatte sich tief ins Holz gegraben.

Der Thorwaler ließ seinen Schild los, als der Hüne die Axt hochriss. Einen Herzschlag lang behinderte der Eichenschild, der noch immer an der Axt hing, die Sicht des Söldners. Beorn rutschte auf dem glatten Deck vor und stieß sein Schwert bis fast zum Heft zwischen die Beine des Söldners.

Quiekend wie ein angestochenes Schwein, ließ der Hüne seine Axt fallen und griff sich mit beiden Händen in den Schritt, als würde das helfen.

Mit einem kräftigen Ruck zog Beorn die Klinge frei. Abgetrennte Finger purzelten vor ihm auf das Deck.

Der Thorwaler richtete sich auf, versetzte dem kreischenden Hünen einen Stoß mit der Schulter und beförderte auch ihn hinab zu den Rudersklaven.

Zwischen den Streitern auf dem Achterdeck trat ein schlanker junger Mann mit einem auffälligen Flügelhelm vor. Er klatschte in langsamem Rhythmus in die Hände. »Großartig, Pirat. Du wärst ein Publikumsliebling in der Arena. Wenn du dein Schwert niederlegst und meine Stiefel küsst, werde ich dir die Gunst erweisen, dich dort fechten zu lassen.«

Beorn spukte dem blasierten Kerl vor die Füße. »Tritt vor und kämpf mit mir. Dann werde ich dir den Wanst aufschneiden, auf dass dir deine Därme auf deine hübschen Stiefel fallen.«

»Ich hatte befürchtet, dass du mir mit so einem einfältigen Barbarengestammel kommen würdest.« Er seufzte und legte in theatralischer Geste eine Hand auf die ziselierte Brustplatte seiner Rüstung. »Ich nehme deine Herausforderung zum Duell an.«

Beorn nickte zufrieden. Der Kampflärm hinter ihm war verstummt. Das konnte nur bedeuten, dass Zidaine und ihr Gefährte nicht mehr auf den Beinen standen. Er war besiegt, aber wenn er diesem Stutzer noch die Kehle durchschneiden konnte, würde er sich in sein Schicksal fügen, noch in dieser Nacht neben der zerschmetterten Eisvogel auf dem Grund des Perlenmeers zu liegen. Dieser eine Sieg noch, einmal noch seinen Mut beweisen … vielleicht rief der Gottwal ihn dann in seinen Schildwall!

»Orelio! Erledige das für mich.« Der Geck mit dem schönen Flügelhelm winkte einen blonden Krieger aus seinem Gefolge nach vorn.

»Was wird das?«, fuhr Beorn den Al’Anfaner an. »Wir beide tragen ein Duell aus. Der Kerl hat damit nichts zu tun. Hast du keine Ehre im Leib?«

Der Al’Anfaner lachte. »Die Zwölfe haben mich reich beschenkt. Neben meiner Ehre besitze ich auch noch Verstand. Aber wie mir scheint, bist du nicht mit den Gepflogenheiten meiner Heimatstadt vertraut, Barbar. Du stehst an Bord eines al’anfanischen Kriegsschiffs, Pirat, und hier gelten die Gesetze meiner Stadt. Womöglich ist dir nicht klar, mit wem du es zu tun hast. Ich bin Emilio Zornbrecht, Kommandant der Galeerenflotille, welche die Schatzflotte aus Porto Paligan eskortieren wird. Als Angehöriger einer Grandenfamilie darf ich kein Duell austragen. Schließlich wäre es allzu einfach, auf diese Art unliebsame Rivalen zu töten. Wir wollen nicht, dass die schnellste Klinge in unserer Stadt regiert. Wir setzen auf die Herrschaft des schärfsten Verstands. Deshalb werden die Ehrenhändel der Grandenfamilien von Fechtmeistern ausgetragen.«

»Wenn du im Schwertkampf so gut wärst wie darin, deine Feigheit hinter schönen Worten zu verstecken, könntest du mich vielleicht besiegen.« Voller Verachtung musterte Beorn den Südländer. Einen solchen Wurm würde man in ganz Thorwal nicht finden.

Emilio schnaubte. »Hohlköpfe kommen doch immer mit demselben Gestammel. Werter Fechtmeister, sei so gut und durchbohre dem Piraten den linken Oberarm. Schmerz verhilft manchmal zu Einsicht.«

Der junge blonde Fechter trat vor seinen Herrn. Er trug keinerlei Rüstung und war nur mit einem feinen Leinenhemd und einer geckenhaften roten Hose angetan.

In fließender Bewegung zog er ein langes Rapier und einen Parierdolch mit verschlungenem Korb.

In den Knien federnd, hob er seine Klinge zum Gruß. »Wollen wir mit dem stählernen Tanz beginnen?«

Vor der Nordküste Al’Toums,

sechzehnter Tag im Kornmond

Orelio hatte dem Thorwaler bei dessen Sturm über den Mittelsteg fasziniert zugesehen. Er fragte sich, ob der Pirat vielleicht einer jener Männer war, die im Kampf der Walwut anheimfielen. Die zu Berserkern wurden und die keinen Gedanken mehr an ihr eigenes Leben verschwendeten. Jedenfalls war er froh, dass der Kerl keinen Schild mehr hatte.

Kaum dass Orelio sein Rapier wieder senkte, stürmte der schwarzhaarige Kerl vor.

Der Fechtmeister lenkte die schwere Thorwalerklinge zur Seite ab und wich mit einem tänzelnden Schritt aus, als sein Gegner versuchte, ihn mit der Schulter zu rammen. Jetzt schon hätte er ihm den Parierdolch in die Flanke stoßen können, aber Emilio hatte sich ja einen Stoß in den linken Oberarm gewünscht …

Der Thorwaler wich schnell zurück. Etwas Lauerndes lag in seinem Blick. Er war ganz anders, als sich Orelio die Barbaren von der Westwindküste vorgestellt hatte. Schwarzhaarig und rasiert. Fast jedenfalls … Reichlich Stoppeln bedeckten seine Wangen. Dass er nicht blond war … oder wenigstens rothaarig …

Wieder griff der Pirat an. Täuschte einen Stich in die Brust an, um dann die Klinge sinken zu lassen und zu versuchen, ihm das Standbein zu durchbohren.

Orelios Rapier fing das Schwert ab. Der Parierdolch schnellte hoch. Die schmale Spitze zwängte die Ringe des Kettenhemdes auseinander und drang tief in den Oberarm des Thorwalers.

Der Fechtmeister wich zurück, das Rapier vorgestreckt, um den Piraten auf Abstand zu halten. »Wo soll ich ihn als Nächstes verwunden, Herr?«

»Gibst du auf, Thorwaler?«, fragte Emilio Zornbrecht. »Wenn du für mich in der Arena kämpfst, wirst du viel Silber gewinnen können. Meine Familie ist vor langer Zeit auch aus Thorwal gekommen. Du siehst also, wer Härte und Entschlossenheit zeigt, kann es in Al’Anfa weit bringen. Hier hingegen erwartet dich nur ein nasses Grab.«

»Schick mir wieder dein Schoßhündchen«, keuchte der Pirat. »Ich werde ihm dieses Mal das Fell abziehen, und dann bist du dran, Feigling.« Dunkles Blut rann ihm den Arm hinab.

Orelio mochte den Kerl. Kaum ein Al’Anfaner hätte es gewagt, so mit Emilio Zornbrecht zu sprechen.

»Durchbohre ihm den rechten Oberschenkel!«, befahl der Grandenspross. »Aber durchtrenne keine der großen Adern im Bein. Ich möchte nicht, dass er verblutet.«

Das war ein wenig heikel, dachte Orelio. Ein winziger Fehler und er würde eine der großen Arterien treffen. Er hatte schon einige Duelle auf diese Art beendet. Wer so verletzt wurde, überlebte nur, wenn er die Waffen streckte und sich sofort in die Obhut eines Wundarztes oder Heilzauberers begab.

Orelio dachte an Dolorita, die hinter ihm stand und zusah. Manchmal träumte er davon, vor ihren Augen in der großen Arena zu fechten. Er wusste, dass die Hexe gern die Kämpfe besuchte. Vielleicht würde seine Klinge erreichen, was er mit schönen Worten nicht hatte vollbringen können. Sie liebte geschickte Krieger …

»Bist du bereit, Stutzer?« Der Pirat hob sein Schwert und äffte den Fechtergruß nach.

Orelio hatte für diesen plumpen Versuch, ihn zu erzürnen, nur ein abfälliges Lächeln. Statt den Gruß zu erwidern, griff er an.

Der Thorwaler verteidigte sich gut. Aber sein wuchtiges Schwert war zu schwerfällig. Er konnte den flinken Klingen von Rapier und Parierdolch nicht folgen. Ja, er versuchte es gar nicht und vernachlässigte seine Deckung!

Mit Schrecken begriff Orelio, dass der Kerl lediglich auf seinen rechten Oberschenkel achtete, weil er genau wusste, dass nur dieses Körperglied bedroht war. Emilio hatte unabsichtlich dafür gesorgt, dass der Kampf zwischen ihnen beiden nun annähernd ausgeglichen war.

Orelio machte einen Satz zurück, um einem Tritt auszuweichen. Ein wuchtiger Schwerthieb folgte, den er nur mit gekreuzten Klingen abzufangen vermochte.

Der Pirat bedachte ihn mit einem spöttischen Lächeln.

So leicht siegst du nicht, dachte Orelio und ertappte sich dabei, erzürnt zu sein. Kaltes Blut bewahren, das war die wichtigste aller Lektionen in seinen Fechtstunden gewesen. Der Barbar glaubte, dass er ihn bei den Eiern hatte? Dummer Fehler!

Orelios Linke schnellte vor. Er versetzte dem Thorwaler einen schweren Schlag ins Gesicht.

Mit dem Rapier in der Rechten drückte Orelio das Schwert nieder und landete noch einen Schwinger mit dem Korb des Parierdolchs.

Diesmal ging der Pirat auf die Planken. Während er noch benommen versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, versetzte Orelio ihm einen sauberen Stich in den rechten Oberschenkel. Nah am Knochen, wo keine großen Adern verliefen.

Der Thorwaler fluchte.

»Nicht schlecht!«, lobte Emilio, während Orelio einen Fuß auf das Schwert des Thorwalers setzte.

»Nun, Pirat? Bist du bereit für die Arena?«

»Eher paart sich Hranngar mit dir, als dass ich zu deiner Belustigung kämpfe, Feigling.«

Orelio musste sich beherrschen, um nicht zu grinsen. Der Thorwaler gefiel ihm!

»Offensichtlich taugst du nicht für die Arena, Pirat. Orelio, nimm ihm sein rechtes Auge!«

Entrüstet wandte sich der Fechtmeister um. »Das kann ich nicht tun, Herr!«

»Was?«, brauste Emilio auf. »Hast du vergessen, wer dir dein Silber zahlt?«

»Keineswegs, aber wie Ihr schon sagtet, stehen wir hier auf Al’Anfaner Boden. Die Regeln des ehrenhaften Duells verbieten mir, einen Gegner, der unbewaffnet und verwundet am Boden liegt, zu verletzen. Wie könnte ich es wagen, gegen diese Regel zu verstoßen, kämpfe ich doch in Eurem Namen? Niemals würde ich Eure Ehre besudeln.«

»Wie überaus freundlich von dir, so besorgt um meinen guten Ruf zu sein«, entgegnete Emilio eisig. »Ich werde dir das nicht vergessen, Orelio. Hauptmann Boromeo!« Der Grandenspross schnippte mit den Fingern. »Dieser Pirat braucht keine zwei Augen mehr.«