Die Phileasson-Saga - Silberflamme - Bernhard Hennen - E-Book
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Die Phileasson-Saga - Silberflamme E-Book

Bernhard Hennen

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Beschreibung

Der Wettkampf der rivalisierenden Kapitäne Phileasson und Beorn führt die beiden dieses Mal auf die Spur eines Helden, dessen Ruhm die Jahrhunderte überdauerte. Doch der Fluch eines alten Unrechts wirft seinen Schatten bis in die Gegenwart. Als der Wettlauf um die Silberflamme – ein geheimnisumwittertes, hochelfisches Artefakt – beginnt, wird beiden Kapitänen klar, dass kalter Stahl und Kriegermut versagen, wenn die Geister der Toten die Vergangenheit hüten ...

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DAS BUCH

Zerreißt den Schleier der Vergangenheit,

und ihr werdet eine silberne Flamme finden!

Sie ist der eine Schlüssel zu Orima der Allsehenden,

der ihr einst begegnen werdet.

Die Silberflamme, das legendäre Artefakt der Hochelfen, gilt seit Jahrhunderten als verschollen. Die Geister der Toten sollen sie beschützen, so munkelt man. Fluchbeladen soll es sein, dieses Kultobjekt, das Asleif Phileasson finden muss, wenn er den Wettkampf gegen Beorn den Blender gewinnen will. In der von Menschenfressern zerstörten Stadt Ysilia hofft er, Hinweise auf den Verbleib des Elfenschatzes zu finden. Er muss jedoch schnell feststellen, dass Mut, Entschlossenheit und Klugheit manchmal nicht genug sind, um ein uraltes Rätsel zu lösen.

Beorn den Blender führt die Jagd nach der Silberflamme zu einem geheimnisvollen Wolfskult. Auf den Spuren eines mächtigen Helden, dessen Ruhm aus den Tiefen der Vergangenheit bis in die Gegenwart reicht, will er die Träume seines Rivalen Phileasson zu Asche werden lassen und selbst dem Titel »König der Meere« eine Bootslänge näher kommen.

Doch der Fluch eines vergangenen Unrechts legt sich wie ein dunkler Schatten über die Wettfahrt der beiden Kapitäne, und plötzlich schweben sie einmal mehr in tödlicher Gefahr …

DIE AUTOREN

Bernhard Hennen, 1966 geboren, studierte Germanistik, Geschichte und Vorderasiatische Altertumskunde. Als Journalist bereiste er den Orient und Mittelamerika, bevor er sich ganz dem Schreiben fantastischer Romane widmete. Mit seiner Elfen-Saga stürmte er alle Bestsellerlisten und schrieb sich an die Spitze der deutschen Fantasy-Autoren. Bernhard Hennen lebt mit seiner Familie in Krefeld.

www.bernhard-hennen.de

Robert Corvus, 1972 geboren, studierte Wirtschaftsinformatik und war in verschiedenen internationalen Konzernen als Strategieberater und Projektleiter tätig, bevor er mehrere erfolgreiche Fantasy-Romane veröffentlichte. Er lebt und arbeitet in Köln.

www.robertcorvus.net

Mehr über die Phileasson-Saga erfahren Sie auf:

www.phileasson.de

BERNHARD

HENNEN

ROBERT CORVUS

SILBERFLAMME

DIE PHILEASSON-SAGA

VIERTER ROMAN

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Originalausgabe 10/2017Redaktion: Catherine BeckCopyright © 2017 by Bernhard Hennen Copyright © 2017 by Robert CorvusCopyright © 2017 by Ulisses Medien & Spiel Distribution GmbHCopyright © 2017 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, MünchenUmschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT GbR, MünchenUmschlagillustration: Kerem BeyitInnenillustrationen: Nadine SchäkelKarte: Daniel JödemannSatz: Leingärtner, Nabburg
ISBN: 978-3-641-20071-8V003
www.heyne.de
www.twitter.com/HeyneFantasySF@heyneFantasySF
www.penguinrandomhouse.de

PROLOG

Oase Kei Urdhasa,

vierter Tag im Sturmmond, vor 235 Jahren

Der Schwerthieb krachte auf Lailaths Säbel. Sie hielt den Block nur dadurch, dass sie die Klinge mit der behandschuhten Faust stützte. Die Elfe bog sich wie eine Palme im Sturm und drehte sich unter der Gewalt der Attacke hindurch. Die Waffen lösten sich voneinander.

Kursalah war unbestritten der beste Fechter der Sippe. Er kannte die Melodien des Steins, des Erzes, des Eisens und des Stahls. Er hatte auf den Dünen gesessen, um dem Gesang des Windes zu lauschen, durch den seine Klinge schnitt, und dem Flüstern des Sandes, auf dem er seine Kampfstellungen einnahm. So lange hatte er in der Einsamkeit ausgeharrt, dass er beinahe verdurstet wäre. Doch statt zu den Zelten der Shiannafeya zurückzukehren, hatte er das Blut seines Kamels getrunken und weiter auf die Lieder gelauscht, deren Geheimnisse er zu ergründen wünschte. Mit jedem Herzschlag und jedem Atemzug war er ein Krieger, dazu war er geboren, und diese Bestimmung lebte er.

Mit einem Salto brachte sich Lailath außer Reichweite von Kursalahs Schwert. Sie kam mit der linken Hand auf, rollte über Arm, Schulter, Rücken und Hüfte ab und kam auf die Füße. Der ockerfarbene Sand knirschte leise unter ihr. An dieser Stelle war er nicht ganz so fest wie neben den Brunnen der Oase, wo die Feuchtigkeit ihn schwer machte, gab aber mehr Halt als das Pulver, in dem man bis zu den Waden einsank. Der Boden war weich genug, um einen Stürzenden vor einem Bruch zu bewahren, und hart genug, um sich schnell darauf bewegen zu können. Urdiriel hatte die Stelle für den Kampf gut bestimmt.

Lailath schlug den Säbel in den Rücken eines Sippengenossen, den sie nicht erkannte. Sie alle trugen die Kleidung der Shiannafeya, deren Schwarz nur im grellen Licht der Mittagssonne einen blauen Schimmer bekam.

Der Gegner ächzte.

»Zalidion!«, rief Urdiriel. »Tot!«

Für den Ausscheidungskampf benutzten sie stumpfe und biegsame Klingen, andernfalls hätte Lailaths Hieb das Rückgrat des anderen zerschmettert. So blieb ihm der echte Tod erspart, nicht aber die Schmach der Niederlage, die stärker schmerzte als der Treffer. Wie ein geprügelter Schakal zog Zalidion sich zurück. Er würde sich oben am Rand der Senke in den Kreis der Sippenmitglieder setzen und gemeinsam mit ihnen das Salasandra singen, während er zusehen musste, wie ein anderer die Ehre errang, nach der er gestrebt hatte.

Sie waren nur noch zu fünft: Kursalah, Lailath, zwei weitere Krieger und Lailaths Bruder Nantiangel, dessen Augen in beinahe demselben Blau funkelten wie ihre eigenen.

Urdiriel ging zwischen den Kämpfern umher. Die Anführerin der Shiannafeya trug die Verantwortung der Schiedsrichterin selbst. Lailath bewunderte sie. Ihr entging nichts, ihre Aufmerksamkeit war wie die Sonne, die über der gesamten Wüste schien, oder wie der Wind, der über jede Düne strich. Und sie bewegte sich wie der Sand, beständig und unaufhaltsam. Vielleicht wäre sie die Beste gewesen, um die heilige Klinge zurückzugewinnen. Aber die Sippe brauchte Urdiriel, sie war ihr Kopf, ihr Herz, ihr Wasser. Die Shiannafeya durften sich keine Fehler mehr erlauben, denn ihnen wurden kaum noch Kinder geboren, weniger als zweihundertfünfzig waren sie inzwischen.

Die meisten davon saßen im Kreis des Salasandra und sangen ihr auf- und abschwellendes Lied zu den Kämpfern herab. Die Sippe bezeugte die Bestimmung des Erwählten, der die Ehre der Wächter wiederherstellen und verhindern würde, dass der Ruhm der Shiannafeya verwehte wie eine Spur im Sand.

Lailath hielt sich ein Stück abseits. Sie konnte Kursalah ihre Bewunderung nicht verwehren. Seine Knie, die Hüften, Waden, den geschmeidigen Oberkörper – er nutzte alles, keine noch so kleine Bewegung war ohne Zweck. Gleich einer Welle lief der Schwung durch seine Schulter, den Ellbogen entlang, als hätte er keine Knochen, dann durch das Handgelenk in das Schwert, das um eine Haaresbreite über die Deckung seines Gegners hinwegzischte. Die Spitze traf die Brust des anderen, doch die Klinge war so leicht, dass sie sich unter der Wucht des Stoßes bog, statt einzudringen.

»Belliarin!«, rief Urdiriel. »Tot!« Und sofort darauf: »Aligion! Verkrüppelt!« Im Rückschwung hatte sich Kursalah zu Boden geworfen und zugleich gedreht. Der Sand war wie in einer Windhose aufgewirbelt, die Klinge gegen das Knie des anrennenden Gegners geschlagen.

Lailath fehlte die Zeit, darüber nachzudenken, wie ein Wesen aus Fleisch und Blut zu solchen Bewegungen fähig war. Ihr Bruder drang auf sie ein.

Nantiangels Angriffen war Kursalahs Eleganz fremd. Die rasch vorgetragenen Hiebe sangen von Wut. Er wollte sein Schicksal erzwingen.

Lailath nahm die Attacke auf und wich zurück. Schritt um Schritt, mal blockte sie, mal duckte sie sich unter einen Schlag oder ließ ihn durch einen Sprung Luft schneiden. So näherte sie sich dem tiefsten Teil der Senke, wohin der lockerste Sand gerieselt war. Ihre Füße wirbelten ihn auf, gleich dünnen Rauchfahnen stieg er in die Höhe.

Kursalah kam gemessenen Schrittes näher.

Das Tuch vor Nantiangels Gesicht wurde bei jedem Atemzug an den Mund gesogen, er legte seine ganze Kraft in diesen Kampf. Es war Zeit, die Sache zu Ende zu bringen.

Mit einem Schrei rammte Lailath die Ferse in den Boden. Sie würde nicht weiter zurückweichen. Dreimal schlugen ihr Säbel und das Schwert ihres Bruders gegeneinander, Funken sprühten aus dem Stahl.

Nantiangels brutaler Schlag traf knapp über dem Handschutz.

Lailaths Finger öffneten sich, der Säbel flog davon.

Sie stürzte in den Sand. Gerade noch fing sie sich auf einem Knie und einer Hand ab, sonst wäre sie lang hingeschlagen. Mit gesenktem Haupt bot sie Nantiangel ihren Nacken dar.

Die Geschwister waren die Einzigen ihres Alters in der Sippe, als Kinder hatten sie keine anderen Spielgefährten gehabt. Ihre Lieder hatten sie beinahe ständig gemeinsam gesungen. Lailath wusste, dass er der bessere Fechter war, so war es immer gewesen.

Kursalah stellte sich so, dass er die Sonne im Rücken hatte. Seine goldbraunen, löwenartigen Augen waren in dem Spalt, den das dunkle Kopftuch frei ließ, nur zu erahnen. Er wartete vier Schritt entfernt darauf, dass er sich dem letzten Gegner widmen konnte.

Vier Schritt. Lailath hatte gehofft, er würde näher herankommen. Niemand vermochte, die Strophen des Lebens bis auf den feinsten Ton vorauszuahnen.

Aber man konnte die Stimme vorbereiten, um dann, wenn sie die Harmonie vervollkommnete, die eigene Melodie einzubringen.

Ihre Hand griff in den lockeren Boden. Sie sprang vor, streckte sich wie eine Lanze und schleuderte den Sand in Kursalahs Gesicht. All ihre Aufmerksamkeit diente diesem einen Ziel. Weder mental noch körperlich wäre Lailath in der Lage gewesen, sich abzufangen. Hart schlug sie auf den Boden, der Aufprall presste ihr die Luft aus der Lunge.

Dumpf hörte sie den Treffer.

Sie wagte nicht, sich zu rühren, und atmete so flach wie möglich. Das Gesichtstuch schützte ihre Nase, sodass kein Staub eindrang, aber es lag auch über ihren Ohren und dämpfte die Geräusche.

»Kursalah! Tot!«

Tränen der Erleichterung füllten Lailaths Augen. Eigentlich hätte sie darauf achten sollen, dass sie nicht über ihre Wangen rannen und verdunsteten, denn wer Wasser verschwendete, bestahl die Sippe. Doch heute brachte Lailath dieses Opfer. Die Wüste hatte ihr Sehnen erfüllt.

Nantiangels Schritte knirschten im Sand. Er hob Lailaths Säbel auf und reichte ihn seiner Schwester mit dem Griff voran.

Ihre Brust schmerzte, als sie sich hochdrückte und die Waffe entgegennahm. Sie achtete darauf, keinen Laut der Schwäche von sich zu geben, und richtete sich stolz auf.

Kursalah stieg mit gesenktem Haupt den Hang hinauf.

Urdiriel sah die beiden Geschwister auffordernd an. Ihre Augen waren ebenfalls blau, aber dunkler. »Noch ist der Kampf nicht vorbei.«

»Doch, das ist er«, widersprach Nantiangel.

»Du hast keinen Treffer gesetzt«, stellte Urdiriel fest. »Ich habe deine Schwester nicht aus dem Kampf genommen.«

»Das ist wahr«, bestätigte er.

»Dann sucht die Entscheidung.«

»Die Entscheidung ist gefallen«, sagte Lailath.

Sie hörte die Verwirrung im Gesang der Sippenangehörigen. Niemand begriff, was hier geschah. Einige mochten befürchten, die Geschwister wollten die Bestimmung der Shiannafeya missachten. Das Gegenteil war richtig, sie würden sie erfüllen.

»Wir kämpfen nicht gegeneinander«, erklärte Lailath.

»Es wird gekämpft, bis die Wüste den Würdigsten aus der Sippe der Wächter gewählt hat«, sagte Urdiriel. »So lauten die Regeln, die ich euch gab.« Diese Elfe führte die Sippe viel länger, als die Geschwister lebten. Sie strahlte eine solche Autorität aus, dass Lailaths Entschluss wankte.

Nantiangels Stimme zitterte. »Die Wüste hat nicht nach deinen Regeln gefragt, als die heilige Klinge verloren ging. Unsere Feinde haben sich um keine Regel geschert. Deine Regeln haben dem Anführer der Rosenohren nicht gestattet, Selflanatil zu rauben. Und doch ist es geschehen.«

Das Salasandra verstummte. Die Sippe verstand vielleicht noch vor Urdiriel, dass der Kampf wirklich vorbei war. Dennoch blieb es ihr Urteil, das darüber entscheiden würde, wer auszog, um die heilige Mission der Shiannafeya zu ehren. Sie neigte ihr verhülltes Haupt eine Winzigkeit.

»Wir handeln außerhalb der Regeln.« Lailaths Herz pochte nicht wegen der Anstrengung des Kampfes. Sie wusste, dass sich niemand Urdiriels Spruch widersetzen würde – auch nicht, falls sie die Geschwister aus der Sippe verstieße. »Und weil uns keine Regeln binden, werden wir Erfolg haben, wo andere versagen.«

Lailath dachte, dass die Sippe den Gesang des Salasandra wieder aufnahm, aber es war die Wüste selbst, deren Stimme sich erhob. Binnen weniger Herzschläge wurde das Säuseln des Windes zu einem Brausen, dann zu einem Tosen. Über der Senke wich das Blau des Himmels dem dichten Schleier aus Sand. Gelb und Grau wirbelte er in der Höhe wie die Faust eines Riesen. Die Elfen, die im Kreis oben am Hang saßen, wurden zu Schemen, aber sie harrten aus und erwarteten Urdiriels Entscheidung.

»Lailath und Nantiangel«, verkündete sie, »ihr sollt es sein!«

Oase Kei Urdhasa,

vierter Tag im Sturmmond, vor 235 Jahren

Am Nachmittag hatte sich der Sturm gelegt, aber noch gegen Abend überhauchte der in der Luft treibende Staub den Himmel mit einem gelblichen Schleier. Die Dünen, die die Oase schützten, die Palmen und die sandfarbenen Zelte warfen lange Schatten.

»Es macht mir Angst«, flüsterte Lailath ihrem Bruder zu.

Nantiangel drückte ihre Hand. »Es ist das, was wir wollten.«

»Nicht das.« Ihr Blick glitt über seine Gestalt. Die Beine, die einen ganzen Tag lang ein beständiges Marschtempo halten konnten, die Arme, denen das Gewicht seines Schwerts auch nach Stunden nichts ausmachte, die kräftigen und doch geschmeidigen Schultern, das verhüllte Antlitz, aus dem ihr seine blauen Augen entgegenblickten. »Wir werden ihn aufspüren, wir werden kämpfen, wir werden töten. Wir werden Selflanatil zurückbringen, und vielleicht werden wir dabei verwundet. Das schreckt mich nicht.«

»Vielleicht werden wir nicht nur verwundet. Diese Krieger sollen anders sein als die Rosenohren, die wir kennen. So verrucht er auch ist, dieser Erm Sen ist zweifellos ein hervorragender Kämpfer.«

»Das ist Kursalah auch. Gegen uns beide hat es ihm nichts genützt.«

Nantiangel ließ ihre Hand los, griff den Schleifstein und zog ihn über die Schneide seines Schwertes. Leise zischte er auf dem Stahl. Natürlich würden sie ihre echten Waffen mitnehmen, nicht solche, wie man sie im Übungskampf verwendete. Lailath hatte ihren Säbel bereits geölt und in die Scheide zurückgeschoben. Ihre Ausrüstung war in Bündeln verpackt. Kursalah tränkte die Kamele. Er hatte darum gebeten, wenigstens mit diesem niederen Dienst daran beteiligt zu sein, das heilige Schwert zurückzuholen.

Lailath ballte die Faust. Was für ein Unrecht, was für eine Schmach, dass Selflanatil diesem Nichtswürdigen in die Hände gefallen war! Jemandem, der noch nicht einmal aus der Wüste stammte. Erm Sen kam aus dem Norden, wo das Wasser reichlich sprudelte, das Land üppig und das Leben leicht war. Eigentlich wohnten dort nur verweichlichte Rosenohren, aber dieser Krieger war anders. Er hatte die Tulamiden, die Menschen der Wüste, gedemütigt, ihre Lager verwüstet, ihnen eine Niederlage nach der anderen beigebracht.

Eigentlich interessierten sich die Shiannafeya nicht für die Angelegenheiten der Rosenohren. Sie waren seltsam, sie waren hektisch, sie verstanden die Wüste nicht. Wenn sie konnten, mieden sie das Reich von Sand und Wind, statt darin aufzugehen wie ein Staubkorn. Ihre Pläne wechselten hundertmal an einem Tag, sie kannten weder Geduld noch Schönheit. Gulanija hätte sich niemals zu ihnen begeben dürfen!

Dann wäre sie auch nicht in diesem Lager gewesen, als Erm Sen es überfallen hatte. Ein paar Rosenohren hatten überlebt, so, wie auch immer einige Termiten davonkamen, wenn ihre Burg abbrannte. Sie berichteten von mehreren Hundert Kamelreitern, die von allen Seiten über sie hergefallen seien, mit Lanzen und Schwertern. Und von Erm Sen, ihrem Anführer, den ein gewaltiger Wolf begleitete. Manche sagten, dieses Tier hätte mehr Blutdurst als der schlimmste Mörder unter den Menschen, andere meinten, darin käme Erm Sen niemand gleich.

Jedenfalls hatten die Menschen dieses Lagers ihr Wasser mit Gulanija geteilt. Lailath verstand, dass ihre Sippenschwester dieser Verlockung erlegen war. So lange war sie mit Selflanatil durch die Weiten der Wüste gezogen, durch das unfruchtbare Land. Auf diese Weise hatte sie das Herz der Göttin Orima erweichen wollen, aus den Reihen der Shiannafeya endlich wieder eine Priesterin zu berufen. Die letzte war schon lange vor Lailaths Geburt gestorben, und viele glaubten, dass dies die Kinderarmut noch verschlimmerte. Auch Nantiangel und Lailath waren schon lange erwachsen, aber nach ihnen waren der Sippe nur noch drei Leben geschenkt worden. Die Shiannafeya waren ein sterbendes Volk.

Nantiangel reckte sein Schwert der untergehenden Sonne entgegen. Das Licht schimmerte auf dem Stahl. Lailath sah keine Unebenheit, und auch er schien zufrieden, legte die Klinge auf dem über seine Knie gebreiteten Tuch ab und begann, sie einzuölen.

»Es ist sicherer so, wie Urdiriel es bestimmt hat«, sagte er.

»Hallans Leiche ist auch zurückgekehrt.«

Sie sah hinüber zum Hügel, der den Abstieg in die Kavernen schützte. Die Magie der Shiannafeya hielt den Sand in seiner Form ebenso wie bei den Dünen, die Kei Urdhasa vor neugierigen Blicken verbargen, aber über das Element des Lebens hatten sie keine Macht. Früher war dieser Einstieg ein Brunnen gewesen, doch jetzt lag das Wasser viel tiefer. Man erreichte es noch immer, wenn man weit hinabstieg. Auf dem Weg dorthin hatten die Shiannafeya Kavernen entdeckt, dicht unter dem Boden und so trocken, dass die Leichen der Ihren dort nicht verfielen. So konnte man sie verwahren, bevor man sie zum Meer brachte, in ein mit Zauberzeichen versehenes Boot legte und den Wellen anvertraute, die sie zur Insel Gontarin bringen sollten, wo das nächste Leben der Verstorbenen begann.

Lailath schauderte. Sie dachte ungern an das Meer.

»Hallan hatte Glück«, meinte Nantiangel. »Aber was, wenn einer von uns weniger Glück hat?«

»Du würdest mich nie zurücklassen«, sagte sie fest, »und ich dich ebenso wenig.«

»Was, wenn du dich zwischen meiner Leiche und Selflanatil entscheiden müsstest?« Ernst sah er ihr in die Augen. »Wenn du rasch fliehen musst, kannst du keinen toten Körper tragen.«

Sie schluckte. »Du hast recht.«

Die Angst blieb. Die Magie, die Urdiriel mithilfe einiger anderer Zaubersänger über die Geschwister legen wollte, würde sie im Augenblick ihres Todes zu rotem Wüstensand zerfallen lassen. Niemand könnte sie dann noch halten. Sie würden mit dem Wind treiben, lange Zeit, aber irgendwann würde der Wind sie nach Gontarin tragen.

Die Sippenführerin trat aus dem Eingang zu den Katakomben. Ohne Umschweife kam sie auf die Geschwister zu.

»Es geht so schnell«, flüsterte Lailath.

Nantiangel schob sein Schwert in die Scheide und stand auf. »Die Zeit drängt. Die Tulamiden warten.«

Den Rosenohren, die Hallans Leiche gebracht hatten, war der Zutritt zu Kei Urdhasa verwehrt. Sie lagerten zwei Meilen nördlich, wo sie darauf warteten, den nächsten Erwählten der Shiannafeya mit sich zu nehmen und seinem Schicksal entgegenzuführen. Dafür gab Urdiriel ihnen Silber, das sie aus irgendeinem Grund besonders schätzten, obwohl es in fantasielose, runde Plättchen geschlagen war.

Eine Bö wehte Sand in Lailaths Augen, als sie aufstand. Sie schauderte bei der Vorstellung, dass sich ihr Körper, oder der ihres Bruders, in unzählig viele Körnchen auflösen könnte. Die Tulamiden nannten die Shiannafeya die »Kinder derer ohne Gesicht«, und das wären sie dann auch. Nicht einmal ein Haar würde von ihnen bleiben. »Es macht mir noch immer Angst«, flüsterte sie.

Raschtulswall,

dreiundzwanzigster Tag im Sturmmond, vor 235 Jahren

Mit einem tiefen Brüllen rannte das Kamel auf Lailath zu. Der kleine Rundschild war an den Unterarm des Reiters gebunden, sodass er beide Hände benutzen konnte, um die Lanze zu fassen. Der Versuch, sie mit dem Säbel fortzuschlagen, wäre aussichtslos gewesen.

Im letzten Moment sprang Lailath nach rechts. Dadurch befand sich das Kamel zwischen ihr und der Lanze, und dem kaiserlichen Soldaten fehlte die Zeit, die Waffe auf die andere Seite zu legen. Er riss an den Zügeln, um das Tier herumzubringen, aber dafür war die Geschwindigkeit zu hoch. Ein protestierendes Gebrüll war das Einzige, was er erreichte.

Lailath schlug zu.

Der Reiter trug Stiefel aus Kernleder, die ihn gut schützten, aber Lailath hatte ihre Klinge sorgfältig geschärft. Die Waffe fand nahe am Griffstück Kontakt, und sie drückte den gekrümmten Stahl über die gesamte Länge bis zur Spitze in einer schneidenden Bewegung gegen den Widerstand.

Binnen eines Augenzwinkerns war der Krieger vorbei. Sein heller Schrei kündete davon, dass Lailaths Säbel das Stiefelleder durchdrungen hatte. Sicher war der Schnitt nicht tödlich, aber schmerzhaft, und er würde den Halt im Sattel beeinträchtigen.

Das hielt den Kaiserlichen jedoch nicht davon ab, mit seiner Lanze einen Tulamiden zu attackieren, der in Laufrichtung des Kamels kämpfte. Er durchbohrte seinen Rücken, schaurig gellte der Todesschrei durch die Nacht.

Hätte Lailath daran denken müssen, dass ihre Verbündeten dort standen? Als sie sah, wie der Reiter die Leiche von seiner Lanze schüttelte, wurde ihr übel. Schlaff rollte sie den Hang hinunter, bis sie gegen einen Baum schlug.

Dieses Land verwirrte Lailath, hier war sie eine Fremde. Die vagen Melodien, mit denen die wenigen Reisenden der Sippe solche Gegenden im Salasandra besungen hatten, wurden der Wucht ihrer Eindrücke nicht gerecht. Gemeinsam mit den Tulamiden unter der Führung von Selo al’Ankhra, was in ihrer unmelodischen, einstimmigen Sprache einen Löwen bezeichnete, waren sie Erm Sens Einheit über das Gebirge gefolgt. Schon in den Schluchten war Lailath unwohl gewesen. So musste es einem Käfer ergehen, der in einen Becher fiel. Ringsum hielten die Hänge den Blick gefangen, nirgends konnte das Auge auf der geraden Linie des Horizonts ruhen. Welch eine Erlösung war eine Passhöhe, wenn man wenigstens nach Süden freie Sicht hatte und sich die Weite der Wüste erahnen ließ!

Ein Kaiserlicher, der sein Kamel verloren hatte, schlug das Schwert tief in die Halsbeuge eines Tulamiden. Der Getroffene brach zusammen und zuckte auf dem Boden. Der Feind stampfte dreimal auf seinen Kopf, bis er sich nicht mehr rührte. Auch er trug Stiefel aus Kernleder, an der Vorderseite reichten sie höher als hinten, sodass sie das Knie und die Hälfte des Oberschenkels schützten. Sein Kettenhemd hing so weit herunter, dass dessen Ringe gegen das Leder schlugen, wenn er das Bein hochriss. Es klang wie das leise Prasseln der Steine, wenn sie auf dem Weg über das Gebirge unter den Füßen der Kamele ins Rutschen geraten und über die Felsen geschlittert waren. Auch sein Helm hatte einen Nackenschutz aus Kettengeflecht. An der Linken trug er den kleinen Rundschild der Reiter, aber die Lanze konnte er natürlich zu Fuß nicht führen. Stattdessen benutzte er ein gerades Schwert, auf dessen Klinge das Licht des Halbmonds schimmerte, wo das Blut den Stahl nicht verdunkelte.

Der Krieger sah zu ihr herüber, hob den Schild und kam auf sie zu. Das Schwert legte er auf der zurückgenommenen Schulter ab, sodass er kraftvoll zuschlagen könnte.

Inzwischen hatte Lailath gelernt, dass Kettenhemden einen wirkungsvollen Schutz vor ihrem Säbel boten. Mit einem Hieb gegen den Oberkörper hätte sie also kaum Erfolg.

Ihr Vorteil lag in der Schnelligkeit. Die Rosenohren bewegten sich träger als Elfen, und das Gewicht einer Eisenrüstung machte sie noch behäbiger. Zudem schützte der Helm zwar die Nase und die Augen, engte aber das Sichtfeld ein.

Lailath hielt sich auf der Schildseite des Kriegers und umkreiste ihn, sodass er sich mitdrehen musste, um sie im Blick zu behalten. Ein paarmal stieß sein Schwert vor, aber das waren harmlose Versuche.

Viel mehr machte ihr das Land zu schaffen. Sie kannte die hundert Arten des Wüstensandes, den harten Untergrund, den nachgiebigen, den trügerischen. Sie wusste, wie man den Staub aufwirbelte, um die eigenen Bewegungen zu verbergen, oder wie man sich auf festem Boden abstieß, um sich dem Gegner entgegenzuwerfen. Am Flüstern des Windes auf einer Düne erkannte sie, ob man an einem Hang einsinken oder schnell laufen könnte. Die Melodien des Lebens dagegen waren in der Wüste selten und kostbar. Die Schlangen, die sich über den Sand wanden, die Käfer, die sich darin eingruben, um die Mittagshitze zu überstehen, das majestätische Gleiten der Geier, der geduldige Gang der Kamele. Man konnte tagelang unterwegs sein, ohne einem einzigen Lebewesen zu begegnen.

Hier dagegen stürmte alles in wilder Kakofonie auf sie ein. Ungehemmt wucherte das Leben auf dieser Seite des Gebirges. Das Gras stand so hoch, dass man sich darin verbergen konnte, jede Bö ließ es rauschen und verursachte eine verwirrende Vielzahl von Bewegungen in unüberschaubar vielen Halmen. Büsche erhoben sich daraus, nicht einer oder zwei, sondern Hunderte. Und Bäume. Sie standen nicht beisammen, um sich gegen Wind und Sand beizustehen. Stattdessen rangen sie miteinander. In diesem Land des Überflusses wirkten selbst die Haine eitel, als hätten sich die Bäume zusammengefunden, um mit ihrem bunten Laub zu prahlen. Andere erhoben sich allein auf Hügeln und sammelten Pilze unter ihren ausladenden Kronen, wie ein arroganter Stammesführer die Seinen versammeln mochte, um sie mit seiner Pracht zu beeindrucken. Und dann erst die Tiere! Mäuse, Elstern, Füchse, Dohlen, verwilderte Hunde, fette Würmer, Libellen, Falken, Rehe, Karnickel … sie alle schrien ihr Lied gegen den Lärm an. Hier ging es nicht darum, in Demut seinen Platz im großen Schweigen der Wüste zu finden, sondern um den Versuch, alle anderen zu übertönen. Es war schrecklich, und wenn Lailath den Hang hinuntersah, fürchtete sie, dass es nur noch schlimmer würde. Dort glänzte das Band eines breiten Flusses im Sternenlicht. Jenseits davon drohte das Gewimmel noch zuzunehmen.

Der Kaiserliche bemerkte ihre Ablenkung. Er wirbelte um die eigene Achse und ging dabei zugleich in die Knie, während er zuschlug. Eine Attacke, die darauf zielte, Lailaths Beine zu durchtrennen.

Gerade noch rechtzeitig sprang sie hoch und riss die Knie zur Brust.

Das Schwert pfiff unter ihr hindurch.

Noch in der Luft richtete Lailath die Säbelspitze nach unten. Der Krieger hatte sich vorgebeugt, er hatte wohl damit gerechnet, dass sie zurückwiche, und sie dennoch erwischen wollen. Dadurch bot er ihr den Rücken dar. Mit einem entschlossenen Stoß, in den sie ihr gesamtes Gewicht legte, rammte sie ihre Waffe gegen das Kettenhemd.

Die schmale Spitze bog die Eisenglieder auseinander. Der Säbel drang ein. Sie spürte, wie er am Schulterblatt abrutschte und auf die Rippen traf, doch auch diesen Widerstand brach sie.

Mit dem Knie presste sie den Feind auf den Boden, fasste den Säbelgriff mit beiden Händen und lehnte sich darauf, um die Waffe noch tiefer in den Körper zu drücken. Eine gerade Klinge wie die von Nantiangel wäre besser dafür gewesen, aber sie musste mit dem auskommen, was sie hatte. Auch so würde sie das Herz oder wenigstens die Lunge durchbohren. Vielleicht hatte sie das bereits, der Mann rührte sich nicht mehr. Doch das mochte auch eine Täuschung sein.

Sie bewegte die Waffe in der Wunde hin und her, um zwischen den Rippen hindurchzukommen, und tatsächlich sank der geschliffene Stahl noch ein paar Fingerbreit tiefer ins Fleisch.

Das konnte niemand überleben.

Sie widerstand der Versuchung, dem verklingenden Lebenslied zu lauschen. Auch der Kampf war in diesem Land reine Hektik. Um sie herum wurde gefochten, gebrüllt, gestorben. Ihre Kameraden brauchten sie. Wo war Nantiangel?

Sie stand auf, setzte einen Fuß auf den Rücken des getöteten Kriegers und zog den Säbel heraus. Das Gefecht verlagerte sich, in ihrer unmittelbaren Umgebung lagen nur Tote auf dem Hang. Selo al’Ankhra führte die Mehrzahl der Tulamiden im Kampf um die Versorgungskarren des Feindes. Dort hatten sie die Oberhand, ein umgekipptes Gefährt nutzten sie als Deckung für die Bogenschützen.

Die Kaiserlichen dagegen sammelten sich um Erm Sen. Der schändliche Räuber besaß sogar die Unverfrorenheit, Selflanatil wie eine profane Waffe zu benutzen. Es schmerzte Lailaths Herz zu sehen, wie er das heilige Schwert schwang. Dass er es vielfach eleganter tat, als sie es je bei einem Menschen gesehen hatte, machte es noch schlimmer. Wieso griff Orima nicht ein? War es der Göttin etwa gleichgültig, dass man ihr heiliges Artefakt derart schändete? Hatte sie sich von den Elfen abgewandt, sodass die Shiannafeya ihr egal waren? War die Zeit der Unfruchtbarkeit nicht nur eine Prüfung, sondern das Ende? Verging Lailaths Volk wie verdunstendes Wasser in der Wüstensonne?

Nein! Sie würden Selflanatil zurückerobern und so beweisen, dass sie seiner würdig waren. Sie waren die Wächter, und sie würden ihre Aufgabe in unverbrüchlicher Treue erfüllen.

Schreiend rannte Lailath dem Räuber entgegen, der sich mit den Seinen umgab und die Tulamiden auseinandertrieb, die den Kamelreitern den Weg hinab zum Fluss versperrten. Er war nicht nur ein hervorragender Fechter, sondern auch ein fähiger Anführer, wie Lailath widerwillig eingestand. Erm Sen ordnete die Kamelreiter so, dass sie wie ein Keil in die Tulamiden drangen. Sie konzentrierten ihre Kraft auf einen Punkt in der Schlachtlinie, sodass ihnen dort nichts entgegenzusetzen war. Zugleich preschte ein anderer Trupp an der linken Flanke vor und nahm Lailaths Verbündete in die Zange. Panik brach aus, und bevor Lailath den Ort des Geschehens erreichte, flohen die Tulamiden bereits, obwohl sie den etwa fünfzig Reitern an Kopfzahl deutlich überlegen waren. Die Kaiserlichen setzten den Weg zum Fluss fort, wo Lailath einige Fähren als eckige Schattenrisse auf dem Wasser ausmachte.

Vor die Wahl gestellt, sich neu zu ordnen und den kampfstarken Gegnern nachzusetzen oder sich zu den Versorgungswagen zu begeben, wo die anderen bereits begannen, die Truhen aufzubrechen und die Beute aufzuteilen, entschieden sich die Tulamiden für Letzteres. Nur einer blieb zurück und folgte den Reitern, wobei er eine Hand auf den Bauch presste, aus dem zwei Pfeile ragten.

Lailath erkannte ihren Bruder sofort, er war verschleiert wie sie, während die Tulamiden zwar Kopftücher trugen, aber die Gesichter frei ließen. »Nantiangel!« Sie lief auf ihn zu.

Doch zwei Nachzügler der Kaiserlichen preschten mit eingelegten Lanzen heran.

»Nein!«, schrie sie. »Nantiangel! Hinter dir!«

Ihr Bruder hörte sie und wandte sich um, erkannte die Gefahr und hob sein Schwert. Aber wie sollte eine Klinge zwei Lanzen parieren?

Alles in ihr bäumte sich dagegen auf, dass er aufgespießt werden könnte. Sie verfolgten eine heilige Mission, und jetzt sollten sie an diesen Rosenohren scheitern, die taub für die Melodien der Welt waren, die noch nicht einmal ahnten, welchen Frevel ihr Anführer beging? Das war eine unerträgliche Ungerechtigkeit!

Lailath schrie ihren Schmerz, ihren Zorn hinaus. Mit ihrem ganzen Wesen wollte sie den Tod ihres Bruders verhindern, den Angriff ablenken.

Ihr Wunsch wurde zu einem Gesang, und die Melodien ihrer beiden Stimmen drangen in das Erz, das auch in diesen Bergen unter all dem wimmelnden Leben lag. Es antwortete auf ihr Flehen, stieg empor. Die Erde zitterte, ein Wall warf sich auf. Er nahm von Lailath seinen Ausgang und schoss zwischen den Reitern und Nantiangel in die Höhe. Es sah aus, als grübe eine riesige Maus ihren Gang in festem Boden nahe der Oberfläche.

Zwar war der Aufwurf nur einen halben Schritt hoch, aber das reichte, um die Kamele aus dem Tritt zu bringen. Die Lanzen verfehlten ihr Ziel. Nantiangels Hieb dagegen riss einen Reiter aus dem Sattel.

Sein Kamerad wendete, doch bevor er erneut anreiten konnte, köpfte Nantiangel den gefallenen Gegner, und Lailath sprang an seine Seite. Gemeinsam erwarteten sie den Angriff.

Mit einem Schrei des Unwillens riss der Kaiserliche das Kamel wieder Richtung Fluss und folgte seinen Kameraden.

»Hinterher!«, verlangte Nantiangel. »Wir müssen … Selflanatil …«

Seine Knie gaben nach. Neben dem Erschlagenen sank er zu Boden. Er ließ sein Schwert fallen und drückte beide Hände neben den Pfeilen auf seinen Bauch.

Lailath kniete sich hin und bettete sein Haupt auf ihre Oberschenkel. Unten am Fluss erreichten die Kamelreiter die Fähren. Erm Sen schien das Gefecht nicht fortsetzen zu wollen.

Ringsum stöhnten die Verwundeten. Viele von ihnen würden noch in dieser Nacht sterben. Aber nicht Lailaths Bruder!

»Die Pfeile müssen raus. Sie zerreißen dir die Gedärme.« Sie zog ihr Messer, um die Geschosse freizuschneiden.

Nantiangel hielt ihre Hand zurück. Erst jetzt sah sie, dass sein linker Unterarm völlig zerrissen war.

Erschrocken schrie sie auf. »Was war das?«

»Ich war so nah«, flüsterte Nantiangel. »Keine zwei Schritt haben mich von Selflanatil getrennt. Aber dann kam dieser Wolf … Er hat mich angesprungen.«

Auch Lailath hatte das Raubtier gesehen. Es war riesig, beinahe wie ein Löwe. Sie stellte sich vor, wie die Zähne in den Arm ihres Bruders gedrungen waren … Er hatte Glück, dass er seine Hand nicht verloren hatte.

»Trotzdem, erst die Pfeile«, meinte sie.

»Nein, du musst … Selflanatil …«

Sie sah hinunter zum Fluss. Dort trafen sich jetzt einige Kaiserliche mit Tulamiden, aber sie kämpften nicht. Offenbar tauschten sie Gefangene aus, Verwundete wahrscheinlich und die Bauern aus den abgebrannten Hütten. Erm Sen stand inmitten seiner Krieger.

»Nicht heute Nacht«, flüsterte sie mit Tränen in den Augen.

Zischend atmete Nantiangel ein, als sie die Pfeile aus seinem Leib schnitt. Sie sang einen Heilzauber. Es fiel ihr schwer, der Lärm dieses Landes lenkte sie ab. Ständig verlor sie die Melodie, die ihren Wunsch, Adern und Fleisch mögen wieder zusammenwachsen, mit dem Lied der Umgebung und der magischen Kraft verbinden sollte. Und auch vom Gedanken an Selflanatil konnte sie sich nicht freimachen. Eigentlich sollte sie sich auf ihren Bruder konzentrieren, aber immer wieder glitt ihr Blick den Hang hinunter zum Fluss, den die mit Menschen und Kamelen beladenen Fähren jetzt überquerten.

Ihr Zauber blieb unvollkommen. Nantiangels Wunden bluteten nicht mehr, aber sie schmerzten noch, und er war so schwach, dass er sich auf sie stützen musste, um zu den erbeuteten Karren zu gehen.

Selo al’Ankhra und seine Leute waren bester Laune. »Ihr habt hervorragend gekämpft!«, rief er den Geschwistern entgegen. Jedenfalls glaubte Lailath, das zu verstehen. Die Sprache der Rosenohren war ihr noch immer fremd. Selo half ihr, Nantiangel auf einen Felsen zu setzen, und plapperte dabei davon, dass sie Helden seien. Er wollte wissen, wie viele sie erschlagen hatten. Zehn? Fünfzehn?

»Ich weiß nicht, wie viele Lieder heute Nacht unter unseren Klingen verstummt sind.« Lailath musste sich konzentrieren, um sich die Worte in der Menschensprache zurechtzulegen. »Erm Sen ist uns entkommen, das ist alles, was zählt.«

»Nein.« Selo erinnerte sie eher an einen Schakal als an einen Löwen. Seine Ohren waren groß, das Kinn spitz, die Augen huschten unablässig umher, sie waren ebenso unruhig wie dieses Land. Er sprach von einem großen Sieg, zeigte auf die erbeuteten Truhen voll Silber und forderte sie auf, sich ihren Anteil zu nehmen.

»Wieso ist das wichtig?«

Selo lachte. Er setzte an, ihr auf die Schulter zu schlagen, überlegte es sich dann aber anders. »Manchmal erscheint ihr mir wirklich wie Geister«, sagte er so langsam, dass Lailath ihn gut verstand. »Nicht von dieser Welt. Das hier«, er zeigte auf die Truhen, »ist die Soldkasse des Kamelkorps. Erm Sen wird sehr wütend sein, wenn er merkt, dass wir sie erbeutet haben.«

Lailath versicherte sich, dass Nantiangel ohne ihre Hilfe sitzen konnte, stand auf, nahm ein paar der Silberscheiben, die die Tulamiden »Münzen« nannten, und ließ sie zurückfallen. Ihr Klang war hell und leblos, ohne jede Schönheit. »Was nützt das?«

»Man braucht Silbertaler, um Krieg zu führen …« Selo sah sie an wie ein Hund, der überlegte, wie er einen Knochen stibitzen könnte. »Das versteht ihr nicht. Aber ihr seid trotzdem hervorragende Kämpfer.«

Lailath sah hinunter zum Fluss. Die ersten Fähren erreichten das gegenüberliegende Ufer. »Wir müssen ihn verfolgen.«

»Über den Bosquir?« Energisch schüttelte Selo den Kopf. »O Tochter der Einfalt! Ohne uns!«

Lailath überlegte, ob sie ihn hier und jetzt töten sollte. Seine Feigheit widerte sie an, und der Verrat schmeckte gallig in ihrem Mund. Sie hatten gekämpft, wie er es gesagt hatte. Selo hatte bekommen, was er wollte, das sah sie an seinem selbstgefälligen Grinsen. Aber Nantiangel und Lailath sollten leer ausgehen.

Natürlich hatten sie ihm nichts von Selflanatil erzählt. Die Schande der Shiannafeya ging ihn nichts an. Aber die Vereinbarung lautete, dass er sie zu Erm Sen brachte, damit sie ihn erschlagen konnten. Doch er hatte seine Truppen mit einem anderen Ziel geführt. Einem Ziel, das sie wohl alle von vornherein im Sinn gehabt hatten, wie Lailath jetzt erkannte. Deswegen hatten sie auch die Höfe niedergebrannt und die Bauern gefangen genommen. Bestimmt gehörten sie zu jenen, die sie vorhin ausgetauscht hatten, und Erm Sen hatte zugestimmt, die Kampfhandlungen zu beenden, um die Schutzlosen zu retten. Er war ein schändlicher Räuber, und dennoch war er mehr wert als diese Tulamiden.

Sicher hätte Lailath Selo töten können. Aber was hätte das gebracht? Die anderen Rosenohren hätten sie in Stücke gehackt, und Nantiangel wohl auch. Ohne ihr Ziel erreicht zu haben, würden sie zu Sand zerfallen. Lailath schauderte.

Nein, sie wollte hier nicht sterben. Vor allem nicht so sinnlos.

Konnten sie die Verfolgung allein fortsetzen?

Nachdenklich musterte sie den Fluss. So viel Wasser … in einem unablässigen Strom wälzte es sich dahin. Wie tief es wohl war?

»Ist das Land jenseits des Flusses ebenso laut wie hier?«, fragte sie.

Selo lachte auf. »Ich bin zwar nicht sicher, was du meinst, aber dort leben noch mehr Menschen mit ihrem Vieh.« Dann sprach er wieder schneller, und Lailath verstand nicht mehr alles. Es ging um Punin, diese Stadt, zu der Erm Sen unterwegs war. Er reiste wohl oft dorthin, um seine Einheit zu verstärken. Die Rosenohren waren in vielerlei Hinsicht seltsam. Menschen wie Erm Sen sorgten nicht für ihren eigenen Lebensunterhalt, das taten andere. Erm Sen war ein Krieger, sonst nichts. Er schützte sein Volk und kämpfte gegen andere Völker. Seine Leute ernährten und kleideten ihn und seine Untergebenen dafür, und auch das hing irgendwie mit den Silbertalern zusammen. In Punin jedenfalls lebten viele Menschen, Zehntausende, behauptete Selo, aber er übertrieb oft. Die wenigsten von ihnen waren Krieger, aber eine Steinmauer umgab die Stadt, und es gab dort viele Häuser, ebenfalls aus Stein. Man drängte sich in engen Gassen und lebte dicht beieinander.

Schon der Gedanke an den Lärm, der dort herrschen musste, ließ Lailath zittern. Noch nicht einmal in Kei Urdhasa errichteten die Shiannafeya feste Bauwerke, immer hatte Lailath in Zelten gewohnt. Dieses ganze Land nördlich der Berge … es war gegen sie! Es wollte ihre Niederlage, und jetzt, da Erm Sen ihnen entwischt war, lachte es die Elfen aus. Es verhöhnte sie, weil sie hier fremd waren. In Punin wäre es sicher noch schlimmer, sie würden sofort auffallen. Weder kannten sie die Sitten jenes Ortes, noch die Sprache, die man dort sprach, denn die unterschied sich von der Zunge der Tulamiden. Zehntausende Menschen … wie sollte sie den Räuber unter so vielen finden? Und sie alle waren die Freunde Erm Sens.

Die Aussichtslosigkeit ihres Vorhabens schnürte Lailath die Kehle zu. Die Tulamiden hätten Erm Sen hier stellen müssen, vor dem Fluss. Lailaths Faust schloss sich um den Säbel.

»Die Kaiserlichen werden diese Niederlage nicht auf sich sitzen lassen«, sagte Selo langsam und verständlich. »Sie werden das Silber zurückwollen. Kehrt mit uns heim in die Wüste.«

Stöhnend krümmte sich Nantiangel.

Sofort hockte Lailath sich neben ihn. »Hast du Schmerzen?«

»Es geht schon.«

Nein, erkannte Lailath, es ging nicht. Nicht in diesem Land, nicht in dieser Nacht.

Sie presste die Zähne aufeinander.

Sie verachtete Selo, aber dennoch hatte er recht: Sicher waren sie nur in der Wüste. Dort könnten sie ergründen, was falsch gelaufen war, wirklich verstehen, wieso Erm Sen ihnen entwischt war. Sie hatten ihn gesehen, seine Melodie gehört und die seiner Krieger. Dieses Wissen mussten sie nutzen. In der Wüste würden sie zu ihrer Stärke zurückfinden, Nantiangels Wunde würde heilen. Sie würden bessere Verbündete als Selo gewinnen, und wenn sich die nicht finden ließen, würden sie einen Plan entwickeln, wie sie Selflanatil ohne fremde Hilfe zurückerlangen würden.

Noch einmal blickte Lailath über den Fluss. Von den Fähren war nichts mehr zu erkennen, man hatte sie wohl an das andere Ufer gezogen. Das hier war das Land der Kaiserlichen.

Aber die Wüste … niemand kannte die Melodien der Wüste so gut wie die Shiannafeya. Immer war Erm Sen dorthin zurückgekehrt, und beim nächsten Mal würden seine Leiche und das Fell seines Wolfes im Sand zurückbleiben.

Oase Kei Urdhasa,

zehnter Tag im Frostmond, vor 235 Jahren

»Ihr habt mich enttäuscht«, urteilte Urdiriel.

Die Scham verschloss Lailaths Lippen. Mehr noch als in den Worten der Sippenführerin lag ihre Traurigkeit in den tiefblauen Augen. In ihnen zeigte sich die Verständnislosigkeit gegenüber dem Handeln der Geschwister.

»Ihr wart so nah …«

»Wir haben den Falschen vertraut«, wagte Nantiangel vorzubringen.

»So wie ich, die ich euch vertraute.« Nicht ohne Grund empfing Urdiriel sie in den Katakomben unter der Oase. Hierher kehrten die Helden zurück, die ehrenvoll gescheitert waren. Sie hatten ihr letztes Opfer gebracht, und die Sippe bewahrte ihre Körper, um sie später zum Meer zu bringen.

Aber ihnen wäre ein anderes Schicksal beschieden gewesen, dachte Lailath. Sie hörte das Flüstern des Sandes, den der Wind draußen bewegte. Es drang den Schacht hinab und bis in die Kaverne, deren Felswände die Kunstwerke der Shiannafeya zierten. Das Erz zu formen lag in der Natur ihres Volkes. Man sang davon, dass dies den Alten noch viel besser gelungen war, aber das vermochte sich Lailath nicht vorzustellen. So filigran waren die Reliefs, die die Zaubersänger dem Kalkstein entlockten, wenn sie mit den Fingern den Fels erspürten oder das Lied ihrer Wünsche über ihn hauchten. Manche waren lebensecht, wie die blühende Rose, vor der Nantiangel stand. Andere kunstvoll, wie die verschlungenen Ranken, die an die verlorene Pracht von Orimas Garten erinnerten. Ganze Szenerien erzählten vom untergegangenen Tie’Shianna, das die Vorfahren einst geschaffen, wo sie gelebt, geliebt und gesungen hatten. Im Dämmerlicht, wo der Lampenschein allmählich der Dunkelheit unterlag, wirkte es, als bewegten sich die Figuren. Die Priester, die einen Garten pflegten. Die Baumeister, die kühne Kuppeln schufen. Die spielenden Kinder – eines der häufigsten Motive, drückte es doch die Sehnsucht des sterbenden Volkes aus.

»Der eigentliche Fehler liegt bei mir«, sagte Urdiriel voller Traurigkeit. »Ihr wart nicht die Erwählten. Von einem einfachen Wüstenwind habe ich mich täuschen lassen. Ich hätte euch niemals aussenden dürfen.«

»Auch alle, die vor uns gingen, sind gescheitert«, begehrte Lailath auf.

»Doch sie kehrten in Ehre heim«, sagte Nantiangel niedergeschlagen. Seine innere Qual schmerzte stärker als Urdiriels Verachtung.

»Unsere Reise war nicht vergebens.« Lailath wusste nicht, ob sie die Sippenführerin milder stimmen oder ihren Bruder trösten wollte. Vielleicht sprach sie auch zu sich selbst. »Wir haben viel herausgefunden, das dem Nächsten, der geht, nützen wird.«

Abwartend blickte Urdiriel sie an.

»Es war falsch, Hilfe bei den Rosenohren zu suchen. Sie sind so viele, ihr Lied übertönt unsere Melodien, und ihr Sehnen ist nicht das unsrige.«

»Damit hast du recht«, stimmte Urdiriel zu Lailaths Überraschung zu. »Und auch das war mein Fehler. Ich wollte den raschen Erfolg, doch wir sind Kreaturen der Wüste, und die Wüste bestraft den Ungeduldigen.«

»Aber wenn wir das heilige Schwert nicht schnell zurückgewinnen, könnten wir es für immer …« Lailath verstummte unter Urdiriels gestrengem Blick.

»Wir werden dem Weg des Räubers folgen, dieses Dieners des verderbten Pyr’Dakon, aber zugleich werden wir dem Weg treu bleiben, der den Shiannafeya bestimmt ist«, erklärte Urdiriel. »Dem Weg der Wüste. Die Kriege der Menschen sind nicht unsere Sache. Schon in eurer Lebenszeit wurden neue von ihnen geboren, wuchsen heran und sind gestorben. Sie sind anders als wir, ihr Leben ist von Hast geprägt. Ihre Kriege sind nicht unsere Kriege, wir werden uns nicht länger einmischen. Wenn wir ihnen Dank schuldeten, müssten wir auch dulden, dass sie Teil unseres Lebens blieben, wenn Selflanatil zurückgewonnen ist. Aber wir sind die Wächter, und nur uns ist es gestattet, zwischen diesen Dünen zu leben, bis das Land wieder erblüht und der hohe König zurückkehrt. Wir dürfen sein Reich nicht an die Rosenohren geben, sondern müssen es für ihn bewahren. Doch wenn wir die Menschen zu unseren Freunden machen, können wir sie nicht mehr vertreiben. Im Augenblick des höchsten Triumphs, wenn der König zurückkehrt, wären wir entehrt und müssten gemeinsam mit den Menschen in die Verbannung gehen.«

»Das wäre ein schreckliches Unglück!«, rief Nantiangel.

»Wir werden es abwenden«, versprach Urdiriel. »Wir werden sie ihre kindischen Kriege ausfechten lassen. Sie werden leben, oder sie werden sterben, und das Tuch, das über ihren Oasen flattert, wird die eine Farbe haben oder eine andere. Es geht uns nichts an. Wir werden den Weg der Wüste gehen. Nicht das wimmelnde Leben, von dem ihr berichtet, sondern der Einzelne, der den Einen stellt.«

Duelle, begriff Lailath. Sie sprach von Duellen.

»Kursalah hätte gehen sollen«, fuhr Urdiriel fort. »Er ist der beste Fechter unseres Volkes, auch wenn ich zuließ, dass Sand meine Augen verklebte, sodass ich es nicht erkannte. Er wird gehen und den Räuber herausfordern.«

»Was, wenn auch er scheitert?«, fragte Nantiangel.

»Dann wird ein anderer aufstehen und gehen. Und noch einer und noch einer. Immer der Würdigste unseres Volkes, bis das heilige Schwert zurückgewonnen ist.«

Lailath blickt in die Augen ihres Bruders. Er hielt die Tränen zurück, genau wie sie. Die Sippe würde die Geschwister niemals wieder für würdig befinden.

Oase Kei Urdhasa,

zehnter Tag im Vinmond, vor 230 Jahren

Kursalah war nach allem, was sie wussten, zu Sand zerfallen, wie es der Zauber vorgab. Dass sein Licht den Weg nach Gontarin gefunden hatte, konnten sie nur hoffen.

Andere waren ihm gefolgt. Zalidion, Lugidiel, Fajanilas, Belliarin … keiner von ihnen hatte die heilige Klinge zurückgebracht, und nun verkündeten Lailath und Nantiangel den Shiannafeya auch die Nachricht vom Tod Sibilias. Die Geschwister wussten, dass ihr Schicksal an das von Selflanatil gebunden war, und so hatten sie sich entschlossen, die Schwertsucher zu unterstützen. Sie überwanden ihre Angst vor der Fremde jenseits der Wüste, erlernten die Sprachen der Rosenohren – das Tulamidya ebenso wie das Garethi –, gestanden sich in Demut ein, wie wenig sie wussten, und lernten.

Erm Sen, der schändliche Räuber, war kein leichter Gegner. Nicht Glück schützte ihn vor den Klingen der Schwertsucher, sondern Können. Er selbst kam aus einem fernen Land im hohen Norden, wie sie nun wussten, und hatte sich in den Dienst des Kaisers gestellt, der in einer riesigen Stadt lebte, viel größer noch als Punin, das Lailath inzwischen besucht hatte. Dieser Kaiser hatte die Wüste niemals gesehen, er kannte ihre Größe nicht, und dennoch wollte er sie unter seine Macht zwingen. Ein Wunsch, dessen Erfüllung Erm Sen und sein Kamelkorps dienten.

Auch wenn Urdiriel meinte, dass sich die Shiannafeya aus dem Streit der Rosenohren heraushalten sollten, versuchten Lailath und Nantiangel, alles davon zu verstehen. Er prägte Erm Sens Leben, und je mehr sie darüber wussten, desto eher würden sie einen Weg finden, ihn zu besiegen. So wanderten sie durch die Oasen der Tulamiden, brachten Salz, Teppiche und Rauchkraut von einem Ort zum anderen, verkauften Kamelkälber und Zaumzeug für Pferde, verdingten sich als Karawanenführer und sogar Wasserträger. Das Silber dafür nahmen meist ihre Verbindungsleute, es interessierte die Elfen nicht. Sie hörten zu, wenn die Rosenohren nachts an den Lagefeuern erzählten. Was sie erfuhren, trugen sie zurück nach Kei Urdhasa, ins Salasandra, in den gemeinsamen Gesang der Sippe.

Daher wussten die Shiannafeya, dass Erm Sens hartes Vorgehen das Gegenteil dessen erreicht hatte, was sein Kaiser wünschte. Statt sich zu unterwerfen, einten sich die Menschen der Wüste unter ihrem Anführer Malkillah ibn Hairadan. Mit Stolz nannten sich immer mehr von ihnen »Novadis«, obwohl die Beni Novad eigentlich nur einer unter vielen tulamidischen Stämmen waren. Sie riefen Malkillah zum Kalifen aus, glaubten, ihm sei bestimmt, die Invasoren aus ihrem Land zu vertreiben. Wenn er rief, kamen sie zu Hunderten, mit Krummschwertern und Lanzen und Bögen. Er sprach vom ewig währenden Ruhm, der den Tapferen erwartete. Das machte sie furchtlos, ohne Rücksicht auf das eigene Leben stürzten sie sich auf die Kaiserlichen. Viele starben, doch ihr Volk hatte viele Söhne und Töchter, der Kaiser aber war fern, und nur wenige seiner Untertanen wollten, gleich Erm Sen, Krieg in der Fremde führen. So betrachteten es die Tulamiden als Sieg, wenn von ihnen nicht mehr als dreimal so viele ihr Wasser an die Wüste zurückgaben wie von ihren Feinden. Eine Oase nach der anderen eroberten sie, und auch Städte wie Unau und Keft.

Dort hatten sie Erm Sen eingeschlossen, und das hatte Lailath und Nantiangel so sehr alarmiert, dass sie sich selbst dorthin begeben hatten. Was mochte geschehen, wenn die Tulamiden den Räuber diesmal wirklich töteten? Schonung hatte er nicht zu erwarten, zu viele Wüstensöhne waren unter dem Schwert, das er als das seine betrachtete, gefallen, oder von seinem Wolf zerfleischt worden. Was sie mit seiner Leiche treiben würden, war den Geschwistern gleich, aber die Tulamiden waren schnell darin, die Beute zu verteilen. Selflanatil war eine prächtige Klinge mit Gold und Rubinen am Griff. Es war möglich, dass die Krieger sie ihrem Kalifen zum Geschenk machten, weil sie es für seiner würdig erachteten.

Doch Malkillah war der heiligen Klinge nicht würdig. Kein Mensch war das, und auch kein Elf. Selflanatil war das Eigentum Orimas, der Fruchtbringenden. Erm Sens Tod wäre nutzlos, wenn er nicht damit einherginge, dass das Schwert zu den Shiannafeya zurückkehrte.

Diese Überlegung brachten Lailath und Nantiangel in den Gesang des Salasandra ein, als die Sippe in einem weiten Kreis auf dem sandigen Boden von Kei Urdhasa saß und sie das Geschehen, das nun bereits einige Jahre zurücklag, nochmals bedachten. Sie hörten die Zustimmung der anderen, aber auch die Sorge, denn diese Gefahr bestand noch immer.

Wo befand sich Selflanatil jetzt? Dass Sibilia gefallen war, wussten sie bereits, und auch, dass die Geschwister die heilige Klinge bei ihrer Rückkehr nicht dabeigehabt hatten.

Ja, Sibilia war tot, sang Lailath. Sie war in einer Stadt weit im Norden gestorben, in Gallys, wo es im Winter so kalt war, dass das Wasser weiß und fest wurde und unter den Schritten knirschte. In einem Tempel, den die Menschen dort ihrer Kriegsgöttin geweiht hatten, hatte sie den Räuber gestellt. Mehrere Zeugen hatten gesehen, dass die schlanke Klinge die Kämpferin durchbohrt hatte, die sich todesmutig auf Erm Sen gestürzt hatte. Das war der Tochter eines Bäckers ebenso im Gedächtnis geblieben wie einem Pferdehändler und zwei Kriegern, die ihre Schwerter demjenigen andienten, der ihnen das meiste Silber dafür bot, denn daraufhin war Sibilia zu rotem Sand zerfallen.

Erm Sen jedoch war weitergezogen in die Stadt seines Kaisers. Hundert Märchenerzähler hatten Lailath hundert Geschichten über die Flucht Erm Sens aus dem belagerten Keft erzählt. Dschinne kamen darin vor, Feuer, das vom Himmel regnete, ein Erzmagier aus vergangener Zeit, sinnenverwirrende Schleiertänzerinnen oder ein Dämon mit Pelz und Fängen eines Wolfes. Die Wahrheit jedoch blieb hinter diesem Rauchwerk der Vorstellungskraft verborgen. Sicher war nur: Nach der Niederlage in Keft hatte Erm Sen das Kamelkorps aufgelöst. Er hatte keinen Grund mehr, in die Wüste zurückzukehren.

Sorge erklang im Salasandra, und die Melodien sprachen von Zweifel. Wollte der Kaiser die Khôm denn nicht mehr unterwerfen? Oder war er von Erm Sens Fähigkeiten enttäuscht?

Im Salasandra gab es keine Geheimnisse, und so hörten auch alle die Melodie von Nantiangels eigener Enttäuschung. Er hatte die Zurückweisung durch Urdiriel niemals überwunden, das Urteil, dass er und seine Schwester ungenügend für die ehrenvolle Aufgabe seien.

Jetzt klang Urdiriels Gesang versöhnlich. Die Geschwister waren keine Schwertsucher, aber sie waren dennoch wertvoll. Als Kundschafter brachten sie unverzichtbare Nachricht.

Doch das führte nicht zum Erfolg, wie das Salasandra in seiner Gesamtheit feststellte. Vergeblich versuchte Urdiriel zu beschwichtigen. Es war zu offensichtlich: Das heilige Schwert hatte die Wüste verlassen, und es entfernte sich immer weiter. Wie sollten die Shiannafeya Orimas Wohlwollen zurückerlangen, nun, da nach dem Kelch auch das zweite Artefakt, das sie den Elfen anvertraut hatte, verloren war? Welchen Grund hätte sie, das Land erneut mit ihrer Fruchtbarkeit zu segnen und so die Rückkehr des hohen Königs vorzubereiten? Oder auch nur, eine neue Priesterin zu berufen?

Sie alle spürten die Ratlosigkeit, die das Salasandra durchdrang. Urdiriel beendete den Gesang. Die Elfen saßen nun stumm im Kreis, der Wind wehte den Sand über die Dünen. Die Oase lag jedoch geschützt, sodass sich zwar der Himmel färbte, aber kein Staub in die Augen geriet.

»Wir werden unsere heilige Aufgabe niemals verraten!«, rief Urdiriel so laut, dass jeder der zweihundert Versammelten sie verstand. »Die Tulamiden haben ihre Siege errungen und ihr Land befreit. Auch wir werden einen Sieg erringen, wenn wir beständig unserem Weg folgen. Wir werden einen neuen Schwertsucher aussenden.«

»Nein.« Nantiangel erhob sich. Das staubverschleierte Licht der Abendsonne schimmerte auf dem silbernen Armreif, den er ebenso wie Lailath über dem Gewand trug. Er war ein Zeichen ihrer Zusammengehörigkeit.

Lailath stellte sich neben ihn. Sie spürte die Ablehnung der Sippe, aber auch die Neugier, aus welchem Grund sie sich so offen gegen die Anführerin wenden mochten.

»Kein neuer Schwertsucher wird gehen«, verkündete Lailath, »sondern zwei alte. Über uns wurde zuerst der Zauber gesprochen, der unsere Leichen zu Sand machen wird. Wir waren dem Räuber bereits einmal nah. Ja, wir haben versagt, aber das wird nicht wieder geschehen. Damals waren wir einfältig, wir haben ihn unterschätzt. Doch nun sind wir vorbereitet.«

»Die Shiannafeya kennen die Wüste wie kein anderer«, führte Nantiangel die Rede weiter. »Aber um das heilige Schwert zurückzuholen, müssen wir dorthin gehen, wo der Räuber es hinträgt: in die fruchtbaren Lande im Norden. Nur wir haben die Sitten dort studiert, nur wir sprechen die Zunge der Menschen, die dort leben. Niemand außer uns kann ihn dort aufspüren.«

»Diese Entscheidung ist nicht die eure«, stellte Urdiriel klar. Sie hatte sich nicht erhoben, sondern saß noch immer im Kreis des Salasandra.

»Wir werden mit deinem Segen gehen«, sagte Lailath, »oder ohne ihn. Unter denen, die du ausgesandt hast, sind wir die Einzigen, die nicht unter Erm Sens Hieben gefallen sind. Der Grund dafür ist, dass es uns bestimmt ist, Selflanatil zurückzuholen. Jeder andere, den du schickst, wird sterben. Wir aber können erst vergehen, wenn wir diese Aufgabe vollbracht haben.«

»Seid ihr euch dessen gewiss?«, fragte Urdiriel ernst.

Kein Elf sprach leichtfertig von seiner Lebensaufgabe. Wer sie erfüllt hatte, alterte und verging, das war allen klar.

»Das sind wir«, bestätige Lailath.

»Du müsstest uns töten, um uns aufzuhalten«, sagte Nantiangel.

Seufzend erhob sich Urdiriel. »Ich habe befürchtet, dass es so kommen würde«, gestand sie. »In den vergangenen Jahren löste sich euer Herz niemals von der heiligen Klinge. Und doch bleiben Zweifel in mir. Wenn ich euch aber nicht zurückhalten kann, so kommt wenigstens mit mir, wenn ich unsere Toten auf ihrem letzten Weg begleite. Bringt Hallan und die anderen mit mir gemeinsam zum Meer.«

Unter den Schwertsuchern war Hallan der letzte, dessen Körper nach Kei Urdhasa zurückgekehrt war. Alle, die nach ihm gegangen waren, trieben als roter Sand im Wind.

Nahe Zorgan,

dreißigster Tag im Vinmond, vor 230 Jahren

Lailath saß mit untergeschlagenen Beinen auf einem grünen Hügel und beobachtete das Meer, das die Menschen den Golf von Perricum nannten. Das Wasser war trügerisch ruhig, auf diese Entfernung erkannte man die Wellen kaum. Der Tag war nicht so heiß wie in der Khôm, und ein sanfter Wind brachte zusätzliche Kühlung.

Jenseits des Flusses glänzten Zorgans Kuppeln in der Sonne. Es war erst Mittag, aber die Menschen beeilten sich, in die Stadt zu kommen. Auf ihren Reisen hatte Lailath gelernt, dass die guten Quartiere an solchen Tagen schnell belegt waren. Dann brauchte man viel Silber, selbst wenn man nur in einem Stall übernachten wollte. Die Wirte wussten, dass heute niemand freiwillig in der Wildnis bliebe.

Ruhigen Schrittes kam Nantiangel den Hügel hinauf und setzte sich neben sie. »Das Boot ist beinahe fertig.«

Sie nickte. Es wäre wohl angemessen gewesen, wenn sie den anderen dabei geholfen hätte, das Boot zu schmücken und mit Zauberzeichen zu bemalen. In der Nacht, wenn die Menschen es nicht sahen, würden sie ihre Toten für die letzte Reise verabschieden und auf das Meer hinausschieben. Es kam ihr seltsam vor, dass sie dafür ein Boot verwendeten, das ungelenke Menschenhände in der für sie üblichen Hast zusammengezimmert hatten. Aber die Shiannafeya verstanden nichts vom Schiffbau.

Die Sonne glitzerte auf dem ruhigen Meer. Wenn man die Lider bis auf einen Spalt schloss, ähnelte das Schauspiel dem Sternenhimmel mit seinen vielen winzigen Lichtern. Aber Lailath wusste, dass der friedliche Eindruck trog. Der Seewind wehte Salzgeruch heran, doch das Wasser bot keinerlei Halt, anders als der Chichanebi-Salzsee, der dem Kundigen den einen oder anderen Pfad öffnete. Trinken konnte man dieses Wasser auch nicht, und seine Oberfläche verbarg Tiefen, die niemand vermessen hatte. Keiner, der auf zwei Beinen ging, vermochte zu erahnen, welche Ungeheuer dort unten lauerten.

Nantiangel legte einen Arm um Lailaths Schultern. Sie spürte den Reif. Außerhalb von Kei Urdhasa verbargen sie diese Schmuckstücke unter der Kleidung. Silber weckte die Begehrlichkeit der Menschen. Es konnte freundliche Fremde zu gierigen Feinden machen.

»Was bereitet dir Sorgen?«, fragte Nantiangel flüsternd.

Im Nordosten erstreckte sich das Meer bis zum Horizont, wo es eine gerade Linie bildete. Es war wie die Wüste, aber Lailath war hier eine Unkundige, die keine der Gefahren abzuschätzen vermochte, die sie dort erwarteten. In der Wüste konnte man in jede Richtung gehen, aber das Meer hielt einen auf einem Schiff gefangen. In der Wüste konnte man sich mit einer Zeltplane vor einem Sturm schützen, auf dem Meer türmten sich die Wellen auf und drückten den Segler unter Wasser. In Punin ersäuften die Kinder der Bettler Ratten im Fluss. Lailath hatte zugesehen, wie die Tiere die Mäuler öffneten und schlossen, während ihre runden Augen hervorquollen. Den Seeleuten auf einem sinkenden Schiff ging es sicher ebenso. Und dann die Geschichten von riesigen Schlangen oder achtarmigen Ungeheuern, die über die Reisenden herfielen …

Es war wie eine Erlösung, als Lailath die Augen endlich vom Meer löste und den Blick gen Zorgan wandte, wo eine weitere Karawane dem Stadttor entgegeneilte. »Die Namenlosen Tage beginnen in dieser Nacht. Das ist eine Unheil bringende Zeit für Reisen, sagen die Menschen, die hier leben.«

»Die Novadis stören sich nicht daran«, versuchte Nantiangel, sie zu beruhigen.

Gegen ihren Willen kehrte Lailaths Blick zum Wasser zurück. »Das Meer macht mir Angst«, flüsterte sie.

»Ich weiß.« Er drückte ihre Schultern. »Aber wenn wir Selflanatil zurückgewinnen wollen, müssen wir unsere Ängste besiegen. Das ist uns schon einmal gelungen. Wir kennen die Lande der Rosenohren besser als jeder andere Shiannafeya. Wir haben sogar ihre Städte bereist.«

»Das stimmt.« Lailath spürte den Stolz, als sie sich an Punin erinnerte. Es war genauso laut und verwirrend gewesen, wie sie befürchtet hatte, und so groß, wie sie es nicht hatte glauben können, bevor sie all die Menschen gesehen hatte. Und dennoch war sie durch seine Straßen gegangen, hatte gelernt und war mit neuem Wissen in die Wüste zurückgekehrt.

Doch es gab auch Ängste, die geblieben waren. Die Vorstellung, zu Sand zu werden, bereitete ihr noch immer Albträume. Was, wenn der Wind sie in unterschiedliche Richtungen verteilte? Sicher, alle hofften, dass er sie nach Gontarin trüge, doch wie lange mochte das dauern? Man sagte, die Stürme über dem Meer seien feindselig …

Und selbst, wenn sie Gontarin erreichte … was erwartete sie auf dieser Insel? Fand das Licht eines Elfen dort wirklich das Tor zur Welt unter den Wellen?

Ihre Zweifel waren noch gewachsen, als sie einem Auelfen begegnet war. Er wusste nichts von der Wüste, und er wusste nichts vom Tod. Seine Sippe legte die Verstorbenen einfach in den Wald, wo die Tiere sie fraßen. Manche glaubten wohl, dass das Licht in Elfenkindern wiederkehrte. Falls das zutraf … weshalb wurden den Shiannafeya dann so wenige Kinder geboren?

»Niemand ist von Gontarin zurückgekehrt, um uns zu berichten«, klagte sie. Der letzten Wahrheit musste sich jeder allein und unvorbereitet stellen. Lailath schauderte.

»Du brauchst mich nicht zu begleiten.«

Mit einem Ruck löste sie sich aus seiner Umarmung und starrte ihn an. »Das kannst du nicht ernst meinen!«

»Beruhige dich«, bat er. »Ich sage nicht, dass ich den Räuber allein jagen will.«

Das Tuch vor seinem Gesicht verhinderte, dass sie in seinen Zügen las. »Was hast du vor?«

»Ich werde ein Schiff nach Norden nehmen, in diese Stadt namens Festum, so, wie wir es geplant haben.«

Von dort wollten sie über Land in die kalten Steppen der Nivesen weiterreisen. Diesem Volk entstammte Erm Sen, und sie vermuteten, dass er nun, da der Kaiser seine Dienste nicht mehr benötigte, zu seinem Stamm zurückkehren würde.

»Wo du hingehst, gehe ich auch hin.« Lailath ärgerte sich über das Zittern in ihrer Stimme. Das Meer, das schreckliche Meer …

»Wir müssen klug sein«, mahnte Nantiangel. »Niemals war die Gefahr so groß wie jetzt, dass der Räuber uns entwischen könnte. Das müssen wir verhindern.«

»Dann sollten wir uns beeilen.«

»Ein schneller Verstand ist wichtiger als schnelle Beine.«

»Was willst du damit sagen, Bruder?«

»Wir sind zu zweit. Das sollten wir ausnutzen. Wenn man einen Vogel fängt, nähert man die Hände von zwei Seiten. So sollten wir es auch machen. Ich reise nach Norden, so schnell ich kann. Du aber ziehst nach Gareth und nimmst dort seine Spur auf.«

Lailaths Puls hämmerte in ihrem Hals. Gareth war die größte Stadt Aventuriens. Hundert mal tausend Menschen sollten dort wohnen. Eigentlich hätte sie sich ängstigen sollen.

Aber sie verspürte nur Erleichterung. Sie musste nicht aufs Meer hinausfahren.

Grindelau,

siebter Tag im Eimond, vor 229 Jahren

»Milch wäre angenehm«, sagte Lailath.

»Milch?«, fragte der Schankjunge mit zweifelndem Blick.

»Wenn es keine Umstände macht.« Klackend legte sie einen Silbertaler auf den runden Tisch.

Der Junge riss die Augen auf, für einen Moment schien sein sommersprossiges Gesicht heller zu leuchten als die Trankerze. Er fuhr sich mit der Hand über den Kopf, als glaubte er, das würde das rote struppige Haar ansehnlicher machen.

»Den Rest darfst du behalten«, sagte Lailath, um ihm eine Freude zu bereiten.

»Aber das ist viel zu viel!«

»Wenn du es nicht willst, kannst du mir den Rest zurückgeben.«

»Nein! Ich meine …«