Die Phileasson-Saga - Totenmeer - Bernhard Hennen - E-Book

Die Phileasson-Saga - Totenmeer E-Book

Bernhard Hennen

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Beschreibung

Die Tangfelder des Sargassomeers erwürgen die Hoffnung der Seeleute, die in ihre Fänge geraten. Sie ersticken die Träume der Kauffahrer, den Stolz der Seesoldaten, den Mut der Hai-Jäger. Über die Jahrhunderte hat die Gier dieses Reiches ohne Wiederkehr auch einiges angesammelt, das Begehrlichkeiten weckt. Dieser Lockruf erklingt sogar in Sphären, deren Bewohner allen Göttern Feind sind. Die sechste Aufgabe ihrer Wettfahrt fordert von Asleif Phileasson und Beorn dem Blender, an diesem Ort etwas zu bergen, das kostbarer ist als profane Schätze. Doch nur einer von ihnen wird Erfolg haben ...

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Seitenzahl: 829

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Das Buch

Letztes Abendrot umflorte die Nebelbänke mit freundlichem, tief orangefarbenem Licht. An manchen Stellen konnte man etwa eine Meile weit sehen. Deutlich zeichneten sich die schwarzen Silhouetten von Schiffswracks gegen den Horizont ab. Grabsteine für Wagemut oder Leichtfertigkeit. Sicherlich gab es hier reichlich Schätze zu finden. Was einmal hierherkam, konnte das Sargassomeer nicht mehr verlassen.

Zahlreiche Gerüchte ranken sich um das Sargassomeer. Seine Tangfelder sollen die Hoffnung der Seeleute ersticken, die Träume der Kauffahrer erwürgen, den Stolz der Krieger fesseln, den Mut der Hai-Jäger schwinden lassen. In dieses Reich ohne Wiederkehr müssen die beiden rivalisierenden Kapitäne Asleif Phileasson und Beorn der Blender reisen, um ihre nächste Aufgabe zu erfüllen: einen geheimnisvollen Kelch sollen sie erbeuten. Doch die beiden Drachenführer sind nicht die Einzigen, die das kostbare Artefakt begehren, und so geraten Phileasson und Beorn zwischen die Fronten eines uralten Konflikts. Wem ist in den endlosen Tangfeldern, durch die die Geister der Verstorbenen streifen, überhaupt zu trauen? Haben die Kapitäne möglicherweise Verräter in den eigenen Reihen? Die sechste Prüfung auf ihrer Wettfahrt wird sowohl für Phileasson als auch für Beorn zur tödlichen Herausforderung, denn es gilt nicht nur die äußeren Feinde zu bezwingen, es wird auch über altes Unrecht gerichtet.

Die Autoren

Bernhard Hennen, 1966 geboren, studierte Germanistik, Geschichte und Vorderasiatische Altertumskunde. Als Journalist bereiste er den Orient und Mittelamerika, bevor er sich ganz dem Schreiben fantastischer Romane widmete. Mit seiner Elfen-Saga stürmte er alle Bestsellerlisten und schrieb sich an die Spitze der deutschen Fantasy-Autoren. Hennen lebt mit seiner Familie in Krefeld.

www.bernhard-hennen.de

Robert Corvus, 1972 geboren, studierte Wirtschaftsinformatik und war in verschiedenen internationalen Konzernen als Strategieberater tätig, bevor er mehrere erfolgreiche Fantasy-Romane veröffentlichte. Er lebt und arbeitet in Köln.

www.robertcorvus.net

Mehr über die Phileasson-Saga erfahren Sie auf:

www.phileasson.de

    

Weitere Bände sind in Vorbereitung.

BERNHARD

HENNEN

ROBERT CORVUS

TOTENMEER

DIE PHILEASSON-SAGA

SECHSTER ROMAN

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Originalausgabe 12/2018

Redaktion: Catherine Beck

Copyright © 2018 by Bernhard Hennen

Copyright © 2018 by Robert Corvus

Copyright © 2018 by Ulisses Medien & Spiel Distribution GmbH

Copyright © 2018 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München

Covergestaltung: DAS ILLUSTRAT GbR, München

Coverillustration: Kerem Beyit

Innenillustrationen: Nadine Schäkel

Karte: Nadine Schäkel

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-20387-0 V002

www.heyne.de

@heyneFantasySF

PROLOG

DER WANDELBARE KRIEGER

Salamandersteine,

vierter Tag im Kornmond, vor vierundzwanzig Jahren

»Sie werden sterben. Ihr Lied passt nicht in unseren Wald.« Mandarion Schattenträumer verschränkte die Arme vor der Brust. Er war von Anfang an dagegen gewesen.

»Sie gehen an einen Ort, an dem es ohnehin keine Harmonie gibt«, erwiderte Rallion Regenflieder gelassen.

Sein Freund Mandarion war unter den Elfen der Salamandersteine für seine Schwermut bekannt. Wenn er sie in seine gesungenen Legenden wob, war es hohe Kunst, das wirkliche Leben hingegen machte sie mühselig. Rastlos wanderte er durch die Salamandersteine und war allerorten ein gern gesehener Gast. Es hieß, selbst der uralte Riesenlindwurm Sternenfeuer lausche gern seinen Worten.

»Aber von dort kommt keiner zurück. Hätten wir ihnen das nicht sagen sollen?« Mandarion klang ernstlich besorgt. Er war einer der wenigen, die den Wald-aus-dem-Dunkelheit-blickt mit eigenen Augen gesehen hatten, und er war verändert von dort zurückgekehrt.

»Warum? Trauerst du dem Missklang nach, den sie in die Welt tragen?« Es hatte Rallion Überwindung gekostet, mit den Dämonenbeschwörern zu sprechen, deren schrille Disharmonien die Schönheit des Waldes beleidigten. Dabei war er es im Gegensatz zu seinen Brüdern und Schwestern gewohnt, mit Schnelllebigen zu reden, schickte sein Volk doch immer wieder ihn, wenn es galt, mit den Eindringlingen zu verhandeln. Am Nachmittag würde er am Nebelteich meditieren, um seine Reinheit wiederherzustellen. Allein mit diesen Rosenohren umzugehen hatte seinem Licht an Kraft geraubt. Und dennoch mochten gerade diese Neuankömmlinge zur Reinheit des Waldes beitragen. Manchmal geschah es, dass zwei Disharmonien einander zum Verstummen brachten.

»Ein Pfeil in den Rücken wäre gnädiger gewesen«, meinte Mandarion.

Rallion sah seinen Freund überrascht an. Das lange schwarze Haar ließ sein Gesicht blass wirken. Die großen smaragdgrünen Augen wirkten verträumt, von der Welt abgewandt. Üblicherweise war Mandarion kein Freund des Lieds, das mit Blut geschrieben wurde. Was hatte er damals in dem verdorbenen Wald gesehen? Er sprach nie darüber. »Erinnerst du dich an die Schlange, die gestern die Kröte gefangen hat?«

Fragend sah Mandarion ihn an.

»Sie hat sich Zeit damit gelassen, ihr Mahl zu verschlingen. Den ganzen Vormittag. Und noch am Nachmittag konnte man sehen, wie sich die Kröte in ihrem Bauch geregt hat. Heute Morgen habe ich die Schlange tot unter den weißen Wildrosen gefunden. Das Gift der Kröte wirkt ebenfalls langsam.«

Mandarion nickte. »Auch der Wald kann grausam sein.«

»Und so fügt sich alles zu herber Schönheit.«

Rallion lauschte auf das Rascheln der Schritte im Laub, das sich immer weiter entfernte. Der Sommer war außergewöhnlich heiß gewesen. Die mächtigen Ahornbäume des Waldes hatten schon vor der Zeit einen Teil ihrer Blätter abgeworfen, sodass der Waldboden unter einem prächtigen Laubteppich aus Rot und Gold verschwand.

Rallion wandte sanft das Haupt. Fand zurück zum ungebührlichen Lärm, den die Rosenohren auf ihrem Marsch durch den Wald machten. Immerhin stimmte die Richtung, die sie eingeschlagen hatten, noch. Obwohl die drei schon längst zwischen den Ahornstämmen verschwunden waren, kostete es ihn keine Mühe, den Tritt eines jeden von ihnen zu unterscheiden.

Die Mittagssonne schickte breite goldene Lichtbahnen durch das Laubdach der alten Bäume. In der Nähe klopfte ein Specht auf der Suche nach Maden. Rallion hörte den schnellen Herzschlag eines Eichhörnchens im Geäst über ihnen.

Der Lärm der Rosenohren verklang.

Dennoch fand Rallion noch nicht wieder in das Lied des Waldes zurück. Seufzend blickte er nach Osten. Der Nebelteich würde seiner Melodie die gewohnte Schönheit zurückgeben.

Salamandersteine,

vierter Tag im Kornmond, vor vierundzwanzig Jahren

»Sie haben uns sogar den Weg gezeigt!«, rief Vermis Gulmaktar begeistert. »Ich hatte recht!«

»Die hatten wahrscheinlich Angst vor dir«, versetzte Vespertilio Organo.

Mehr als die Bemerkung des Freundes ärgerte Vermis der amüsierte Blick von Zynthia Aslaman. So reagierte ihre schöne Gefährtin auf jeden noch so tumben Scherz von Vespertilio. Deswegen hielt sich dieser mittlerweile für wortgewandt und scharfsinnig.

Gut, er war einigermaßen scharfsinnig. Sonst hätte Vermis ihre Freundschaft aus Akademietagen auch nicht wiederbelebt. »Alles Unsinn, dass die Elfen jedem Pfeile in den Rücken jagen, der sich in die Salamandersteine wagt.« Er sah sich missmutig um. Dunkle Wälder hatte er noch nie gemocht, doch dieser hier war wahrlich ein besonders unerfreulicher Ort. Seit Tagen gab es keinen richtigen Pfad mehr, dem sie hätten folgen können. Allenfalls einmal einen Wildwechsel, der für ein paar Hundert Schritt das Vorankommen erleichterte, bis er sich im Nichts verlor und sie erneut von gestürzten, langsam verfaulenden Baumriesen oder Streifen von wild wucherndem Dornendickicht den Weg diktiert bekamen. Da waren ihm die Waldstücke aus uralten Buchen und Eichen lieber, deren ineinander verwobene Wipfel kein Licht mehr bis zum Boden hindurchließen. Doch das Dämmerlicht schürte Ängste in ihm. An diesen Orten ewigen Zwielichts fanden sich manchmal Ruinen. Moosbewachsene Säulen, die der unaufmerksame Wanderer leicht mit Buchenstämmen verwechseln konnte, denn auch die Bäume ragten viele Schritt hoch auf, bevor erste Äste aus dem Stamm wuchsen.

»So tief in Gedanken?« Zynthia flüsterte. Ohne sich abgesprochen zu haben, verhielten sie sich alle drei still. In diesem Wald argwöhnte man ständig, dass sich knapp außerhalb des Gesichtsfelds etwas bewegte.

Vermis hatte es sich angewöhnt, ruckartig herumzufahren. Nie war ihm dabei etwas Ungewöhnliches vor Augen gekommen, doch er war sich sicher, dass er noch herausfinden würde, warum er sich verfolgt fühlte.

»Siehst du wieder Geister?«, spottete Vespertilio.

»Hoffen wir, dass nicht die Stunde kommt, in der du dich für meine Wachsamkeit bedanken musst«, knurrte Vermis.

»Ich dachte, du hast keine Angst mehr vor den Pfeilen der Waldelfen.« Auch Zynthia blickte immer wieder über die Schulter. Sie war feinfühliger als Vespertilio. Ganz sicher spürte auch sie, dass es hier etwas gab, das sie beobachtete und ihnen folgte.

»Da drüben ist noch einer der Pilzkreise.« Vespertilio blieb stehen und deutete nach links.

Etwa hundert Schritt entfernt war ein fahles Leuchten zwischen dem rotgoldenen Laub zu sehen. Sie hatten schon zwei solcher Zirkel entdeckt. Geisterhaftes Licht umspielte die Pilze. Es waren Orte der Macht. Einen dieser Kreise hatten sie mit dem Zauber Analys Arcanstruktur zu ergründen versucht. Sie waren an der Fremdartigkeit seiner Magie gescheitert. Feenvolk … Elfen … sogar ein Einhorn streifte in der Nähe umher. In den Märchen waren diese Kreaturen meist gutmütig. Ob sich das in der Realität auch so verhielt, wollte Vermis nicht herausfinden.

»Es ist zu früh, um zu rasten«, ermahnte Zynthia sie beide. »Wir haben ein anderes Ziel. Wer den Verlockungen des Waldes nachgibt, der wird ihn nie mehr verlassen. Ich muss euch doch nicht an die Geschichten über die Salamandersteine erinnern.«

Auch wenn er gerade nicht mochte, was sie sagte, so hätte er ihrer Stimme noch stundenlang lauschen können. Sie war von warmer, gewinnender Art, wenn auch ein wenig dunkel für eine Frau. Zynthia flogen die Herzen zu, so war es schon damals in Mirham an der Akademie der vier Türme gewesen. Sie war eine von den Frauen, die allem um sich herum Glanz verliehen. Selbst ihre Lehrmeister waren ihrer Schönheit verfallen. Sie war ein Geschenk der Götter, doch Zynthia verstand sich in unvergleichlicher Art darauf, diese Schönheit zur Geltung zu bringen. Wie ein Edelstein von vollkommener Form, der gefasst in ein kunstvoll geschmiedetes Diadem noch einmal gewann. Es waren nicht allein ihre sinnlichen Lippen, die tiefen, grünen Augen, das fein geschnittene Gesicht mit den hohen Wangenknochen, die den Blick gefangen hielten. Auch die bewusst gesetzten Akzente, wie der graue Lidschatten, die keck in ihre Stirn fallende Strähne und die stets geschickt gewählte Kleidung betörten die Betrachter, ganz gleich, welchen Alters oder welchen Geschlechts.

Selbst die ersten Fältchen, die ihre Augen umkränzten, unterstrichen ihre Schönheit. Noch … Ihre Schönheit öffnete Türen, die sonst verschlossen geblieben wären. In ihrer Begleitung waren die Grenzen weiter gesteckt. Selbst die Elfen dieses Waldes hatten ihrem Charme nicht widerstehen können. Gewiss verdankten die Gefährten es Zynthia, dass sie so freundlich behandelt worden waren.

»Weiter!«, drängte ihre Gefährtin. »Wenn wir bis zum Einbruch der Nacht noch fünf Meilen schaffen, dann müssten wir morgen das Schiff erreichen.«

Vermis verkniff sich einen Seufzer. Tagelang ohne Schlaf in Bibliotheken nach seltenen Schriften zu forschen machte ihm nichts aus, aber für endlose Märsche durch finstere Wälder war er nicht geschaffen. Er wusste, dass die Strapazen der Reise auch Vespertilio zusetzten. Er war ebenfalls mehr Forscher als abenteuerlicher Reisender. Aber Zynthia war anders. Sie begehrte den Schatz, dessen Spur sie folgten, am meisten, denn sie wusste, ihr lief die Zeit davon.

Leise raschelte das Laub unter ihren Füßen. Mit jedem Schritt versanken sie ein wenig im weichen Humus. Es strengte an, hier zu gehen, vor allem, wenn das Gelände hügelig wurde.

Vermis sah über die Schulter. Nichts! Irgendwann würde er es schaffen, würde mit seinen Blicken einfangen, was da war. Dabei wäre es gar nicht nötig, ihnen dichtauf zu folgen. Selbst für ihn war die Fährte, die sie im aufgewühlten Laub hinterließen, unübersehbar, und er war wahrlich kein Spurenleser.

Vespertilio blieb stehen. Er ging stets voraus. Vermis hatte dafür nur ein verächtliches Lächeln übrig. Sein Gefährte wollte Eindruck auf Zynthia machen. Ohne sie war er kein übler Kerl, aber in ihrer Gegenwart war er wie ausgewechselt und ließ keine Gelegenheit aus, sich zu beweisen.

Schnaufend erreichte Vermis als Letzter den Hügelkamm. »Das ist dann wohl die Antithese eines verwunschenen Elfenwaldes«, flüsterte Zynthia.

Vermis stützte sich schwer auf seinen Zauberstab und betrachtete die Phalanx aus grauen Stämmen. Dunkle Flüssigkeit rann an tief gefurchter Rinde herab. Beulen, groß wie Rinderköpfe, wucherten im Holz, als seien die Bäume von Geschwüren befallen.

Vermis ließ den Blick schweifen. Die Schatten zwischen den Bäumen waren tiefer, als sie hätten sein sollen. Es konnte noch nicht lange nach der Mittagsstunde sein.

»Ein Ort, den vernünftige Menschen wohl meiden würden«, sagte er mehr zu sich als zu den anderen.

»Die Grenzen der Vernunft sind ein Korsett, das den freien Geist in von anderen vorgedachte Formen presst«, erklärte Zynthia ungewohnt streitlustig. »Ich dachte, wir hätten das längst hinter uns gelassen.«

Vermis strich mit dem Daumen über den Ring am Mittelfinger seiner Rechten. Er hatte etliche Monde damit verbracht, dies Artefakt zu erschaffen. Es schützte ihn vor der Berührung dämonischer Kreaturen. An Orte zu gehen, die andere mieden, war eine Sache, doch die Gefahren dort zu ignorieren war nicht tollkühn, sondern einfach nur dumm.

»Ich glaube, wir sind unserem Ziel näher, als wir dachten«, sagte sie mit derselben Begeisterung, mit der sie vor Jahren das Zicklein geschächtet hatte, um zum ersten Mal Blutmagie zu wirken. »Dies könnte der Wald sein, von dem uns Zurbaran berichtet hat. Der Wald-aus-dem-Dunkelheit-blickt.«

»Da bin ich mir sogar ganz sicher.« Seit sie den Hügelkamm erreicht hatten, stand Vespertilio reglos wie ein geschnitztes Bildnis, nur der dünne Bart, der ihm sonst bis auf den Bauch fiel, bewegte sich in einem Luftzug.

Vermis sah in die Richtung, in die der Gefährte blickte. Er brauchte einen Moment, um im Halbschatten, ein wenig über Kopfhöhe am grauen Stamm eines der seltsamen Bäume, auszumachen, was Vespertilio so erschreckte. Dann aber sah er es deutlich: Die Borke öffnete sich, zog sich nach oben und nach unten auseinander. Wie Augenlider, hinter denen eine faulig schwarze Rundung lauerte, über die unablässig Wasser lief. Der Strom war ungleichmäßig, und die Flüssigkeit spülte gallertige Brocken aus der Tiefe des verdorbenen Holzes.

»Die Menschen am Rande dieses Waldes haben einen Grund, weshalb sie niemals in die Schatten seiner Bäume treten«, sagte Vermis tonlos.

Eine Woche zuvor:

Am Rande der Salamandersteine, sechsundzwanzigster Tag im Midsonnmond, vor vierundzwanzig Jahren

»Ein Wildschweinbraten!«, stöhnte Vermis Gulmaktar. »Das wäre jetzt genau das Richtige! Oder wenigstens eine Ziege. Ich brauche Fleisch.«

»Du denkst immer nur ans Essen«, tadelte Vespertilio Organo.

»Zum Glück ist nicht jeder ein solches Gerippe wie du!« Vermis drückte seinen Bauch heraus und ließ die Hände darauf klatschen. »Schönheit braucht Raum, um sich zu entfalten.«

Lachend stützte sich Vespertilio auf seinen Zauberstab, eine mit Kupferbeschlägen verzierte Arbeit, gekrönt von einer Klaue, die einen Bergkristall hielt. »Wohlgesprochen, Collega, wohlgesprochen. Außerdem gebe ich zu, dass ein Wildschweinbraten durchaus etwas für sich hätte. Ich hoffe, der Wirt versteht sich auf die Kochkunst. Ich mag es, wenn der Braten noch blutet.«

Zynthia verzog den Mund. »Ein ordentlicher Braten muss trocken sein, als hätte er eine Woche in der Wüste Khôm gelegen.«

»Und außen schwarz wie Kohle, jaja!« Vespertilio fuchtelte mit der Hand wie ein Magister, der den belanglosen Vortrag einer Schülerin unterbrach, grinste aber amüsiert.

Auch Vermis hatte die Neckereien in den Wochen ihrer Reise schätzen gelernt. Seit über zwei Monden trugen die drei nun das graue Gewand, das der Codex Albyricus Magiern auf der Straße vorschrieb. Der grobe Stoff leistete ihnen gute Dienste. Die feinen roten Roben, die man für Beschwörungen anlegte, wären durch die Strapazen längst zu zerrissenen Lumpen geworden. Stattdessen transportierten sie diese Gewänder sorgsam zusammengelegt in den Säcken, die ihr zwar einfältiges, dafür aber genügsames und ausdauerndes Maultier trug.

Auch die spitzen Hüte leisteten ihnen gute Dienste. Zynthia hob die breite, sowohl vor brennender Sonne als auch vor einem Regenguss schützende Krempe an, als sie den Kopf in den Nacken legte und das Schild über der Wirtshaustür betrachtete. Im Licht des Nachmittags war es gut zu erkennen.

Mehrere annähernd ovale Formen waren darauf abgebildet, bei denen eine Vielzahl von ineinander übergehenden Bögen die Ränder bildete. Vermis’ Hunger gaukelte ihm vor, es könne sich um fette Schafe handeln, die in voller Wolle standen, aber es sollten wohl Wolken sein. Schließlich war der Hintergrund blau gehalten wie der Himmel, nicht grün wie eine Weide. Zwischen den Wolken trieb ein Brett.

»Etwas zu essen bekommt man in jedem Wirtshaus«, meinte Zynthia. »Aber deswegen sind wir nicht hier.«

Die zweistöckige Herberge mit ihrem spitzen, aber nach unten hin geschwungenen Dach war nicht nur das größte, sondern auch das ungewöhnlichste Haus in diesem Weiler an der Handelsstraße. Die Scheune war eher ein Bretterverschlag, statt eines Stalls gab es nur einen Unterstand. Hufspuren und Pferdeäpfel zeugten von der kürzlichen Benutzung, aber jetzt war er leer, obwohl der Platz vor der Krippe für ein Dutzend Tiere gereicht hätte. Die drei anderen Häuser waren niedrige Fachwerkbauten.

»Du hast recht«, stimmte Vespertilio Zynthia zu, während er das Maultier an einem Pfosten des Unterstands festband. »Studieren wir dieses Artefakt. Ich hoffe, wir sind den Umweg nicht wegen eines Taschenspielertricks gegangen.«

Vermis’ Magen knurrte.

Zynthia lachte. »Schon gut! Bevor du so ein Klappergestell wirst wie unser Freund …« Sie ging die letzten Schritte und zog die Tür auf. »Kundschaft!«

Die Schankstube war in wohliges Licht getaucht, das nur zu einem kleinen Teil von orangefarben brennenden Laternen kam. Es waren vor allem die gelben Blüten, die aus den grob behauenen Balken der Decke sprossen, die mit ihrem honigfarbenen Strahlen die Dunkelheit aus dem ungewöhnlich gestalteten Schankraum bannten. Es gab nur vier Tische, die überaus seltsam geformt waren, wie Vermis fand, weder rechteckig noch rund, sondern geschwungen wie Wellen. Auch Stühle wie jene, die diese Tische umringten, hatte er noch nie gesehen. Sie standen auf jeweils einem einzelnen Bein, das nach unten hin zu einer runden Fläche auseinanderlief. Das gab ihnen eine entfernte Ähnlichkeit mit Saugnäpfen, während die Rückenlehnen aussahen wie Eichenblätter.

»Ist hier …«, setzte Vermis an.

Das »… jemand?« sprach er nicht mehr aus. Stattdessen starrte er die Theke an, über die Vespertilios Finger so vorsichtig strichen, als streichelte er die Seiten eines Buchs von Al’Gorton.

Vermis trat hinzu und ging in die Hocke. Die Theke schwebte auf Brusthöhe. Darunter war nichts, nur Luft. Er vergewisserte sich, indem er mit der Hand hindurchwischte.

Vespertilio tat dasselbe oberhalb.

»Das probieren viele!« Ein schlanker Mann, der eine rote Weste über einer Tunika in der Farbe des reifen Weizens trug, der draußen auf dem Feld stand, kam durch eine Tür, die zur Küche führen mochte. Er stellte sich vor die mit Flaschen gefüllten Regale hinter der Theke. Die Fältchen in seinen Augenwinkeln ließen vermuten, dass er ein fröhlicher Mensch war, und auch jetzt lachte er. »Deswegen lasse ich nichts mehr darauf stehen, wenn ich nicht gerade jemanden bediene. Zu viel ist schon zu Bruch gegangen, weil neue Besucher es auf der Suche nach Fäden von der Planke gefegt haben. Aber es gibt keine. Sie schwebt wirklich.«

Vermis richtete sich auf und drückte auf das Holz. »Und wie viel Gewicht trägt dieses Brett?«

»Auch das wollen viele herausfinden, allerdings meist erst, wenn sie von meinem Wein gekostet haben. Ein Dutzend Jünglinge, dazu vier stramme Maiden und zwei Hunde, die von diesem Versuch nicht allzu angetan waren. Mehr hat noch niemand geschafft, und auch damals hat sich die Planke keinen Fingerbreit nach unten bewegt.«

»Wie kommst du darauf, dass es eine Planke ist?« Mit sichtlicher Faszination fuhr Vespertilio die Maserung nach.

Wieder lachte der Wirt. »Ich stelle mir gern vor, dass sie zu einem Schiff gehört hat. Aber vor allem ist Zur schwebenden Planke ein gefälliger Name für mein gastliches Haus, während Zum fliegenden Brett doch eher plump klänge.«

»Wohl wahr.« Zynthia hängte ihren Hut an einen Haken, lehnte ihren Zauberstab daneben an die Wand und nahm den Rucksack ab. »Wir haben draußen ein Maultier angebunden. Kannst du unser Gepäck abladen lassen und das Tier versorgen?«

Wieder einmal fand Vermis bestätigt, dass der Freundin keine Kleinigkeit entging. Sie behielt stets alle Einzelheiten im Blick.

»Dann bleibt Ihr über Nacht?«, fragte der Wirt. »Wünscht Ihr einzelne Zimmer?«

»Das wäre angenehm«, bestätigte Vermis. »Und etwas zu essen.«

»Das wird sich machen lassen.« Er nickte. »Ihr seid übrigens zu Gast bei Weidbert.«

»Danke für die freundliche Aufnahme, Weidbert.« Zynthia trug ihren Rucksack zu einem Tisch, von dem aus man den Eingang im Blick hatte, und setzte sich mit dem Rücken zur Wand. »Wir sind Magier von der Akademie der vier Türme zu Mirham.«

Vermis zuckte zusammen, hoffte aber, dass Weidbert es nicht gesehen hatte, weil Zynthias Charisma seine Aufmerksamkeit auf sich zog. An der Akademie war man, gelinde gesagt, nicht gerade stolz auf ihn und Vespertilio. Und das, obwohl sie sich sehr gut geschlagen hatten und Vespertilio sogar Jahrgangsbester gewesen war. Auch in Mirham duldete man freie Geister nur bis zu einer gewissen Grenze. Nachträglich hatte man sie beide verstoßen, als die Weite ihrer Forschungen ruchbar geworden war.

Sachte schüttelte Vermis den Kopf, um seine Gedanken in die Gegenwart zurückzuholen. Zynthia hatte sie wohl mit Namen vorgestellt. Nun erkundigte sich Vespertilio danach, woher der Wirt die schwebende Planke hatte.

»Ich habe sie im Wald gefunden.« Weidbert lächelte noch immer, aber der Zug um seine Augen verriet eine gewisse Vorsicht.

Das reizte Vermis. Er liebte es, Gesprächspartner in die Enge zu treiben, um dann das Gespinst ihrer Ausflüchte zu zerreißen. »Wo im Wald?«, forderte er zu wissen.

Weidbert zuckte mit den Achseln. »In den Salamandersteinen verliert man leicht die Richtung. Und ich war damals noch ein Kind.«

»Wie dem auch sei!« Man musste Zynthia wohl gut kennen, um zu merken, dass ihre Unbeschwertheit nur gespielt war. Die Planke bewies, dass sie sich ihrem Ziel näherten. Sicher wollte sie es nicht auf den letzten Meilen verderben, indem sie jemanden verprellten, der ihnen wichtige Informationen zu geben vermochte. »Tische uns zunächst einmal auf«, schlug sie vor.

»Gibt es Wildschwein?«, beeilte sich Vermis zu fragen.

»Das nicht.« Die Vorsicht verschwand aus Weidberts Miene. »Aber ein Freund hat ein Reh geschossen, das gestern auf der Brache gestanden hat.«

»Hervorragend!«, urteilte Zynthia. »Bring ihm den Braten blutig«, sie zeigte auf Vespertilio, »aber meinen musst du eine Weile vorher über das Feuer hängen, damit er schön schwarz wird. Und für ihn …«, sie zeigte auf Vermis.

»Bring vorab Brot. Und eine Suppe, wenn du hast. Vor allem schnell, wir waren geschwind unterwegs.«

Sie legten ab, setzten sich und zogen die Stiefel aus. Eine Wohltat, die Füße nach der Anstrengung des Tages zu lüften!

Weidbert brachte das Brot und verschwand dann in der Küche, wohl um die verlangten Dienste zu organisieren. Sie hörten, wie er mit jemandem sprach und eine hohe Stimme ihm antwortete.

Leise murmelnd wirkten sie alle drei einen Analys Arcanstruktur, aber noch nicht einmal Zynthia, die diesen Zauber am besten beherrschte, wurde aus der schwebenden Planke schlau. Es handelte sich um ein magisches Artefakt, so viel war klar. Aber die umgebende Zaubermatrix ruhte so harmonisch in der Umgebung des Holzes, das sie durchdrang wie ein filigranes Pilzgeflecht, dass man nur vermuten konnte, meisterhafte Elfenmagie vor sich zu haben. Jedenfalls kam den Magiern keine Formel in den Sinn, die sich auf solche Art manifestiert hätte.

Eine brünette Magd mit einer Warze am Kinn, die den Blick nicht vom leise knarrenden Holzboden hob, brachte ihnen eine Grießsuppe, die sie schweigend verzehrten. Sie hörten, wie sich draußen jemand um das Maultier kümmerte. Ihr Reisegepäck wurde offenbar durch einen Nebeneingang ins Haus und dann eine Treppe hinaufgebracht.

Weidbert erschien erst wieder, als der Braten fertig war. Auf einer Zinnplatte mit geschwungener Kante waren die Stücke nach ihrer Farbe aufgereiht, von rosig bis zu kohlschwarz. Dazu stellte die Magd gestampfte Erdäpfel und eine Schüssel mit Preiselbeermus auf den Tisch.

Zynthia zog einen freien Stuhl zurück. »Setz dich zu uns!«

Natürlich konnte der Wirt dieser Einladung nicht widerstehen. Sein ständiges Lachen begann Vermis auf die Nerven zu gehen. Immerhin vergaß er nicht gänzlich seine Stellung und übernahm die Aufgabe, jedem nach seinen Wünschen den Teller zu füllen.

»Du warst also als Kind allein im Wald?«, fragte Vespertilio.

Weidbert schluckte, bevor er antwortete. »Nicht allein. Wir waren zu acht. Alle aus demselben Dorf. Orks haben es niedergebrannt, die Erwachsenen getötet und die Kinder verschleppt.«

»Das tut mir leid.«

Vermis fand die Rührung, die Zynthia in diese Beteuerung legte, übertrieben geschauspielert, aber dem naiven Geist ihres Gastgebers mochte das nicht auffallen, vor allem, da ihn die grünen Augen mit einem tiefen Blick bedachten.

»Es liegt ja schon lange zurück.« Wenigstens lachte Weidbert zur Abwechslung einmal nicht.

»Die Orks haben euch also in diesen Zauberwald getrieben?«, hakte Vespertilio nach.

»Seid Ihr deswegen hier?«, fragte Weidbert. »Um die zauberische Kraft der Salamandersteine zu erkunden? Sicher ist das für Magier besonders verlockend. Ich hoffe, Ihr vergebt mir, wenn ich dennoch davor warne. Der Wald zeigt sich meist weit weniger gastfreundlich als mein Haus.«

»Nun, wenn ihr als Kinder unbeschadet in ihm gewandelt seid …«

»Das sind wir«, bestätigte Weidbert. »Mir ist es gelungen, die Hände aus meinen Fesseln zu ziehen. Noch heute danke ich der gütigen Herrin Travia dafür, dass sie die Orks an jenem Tag zur Völlerei verführte. Sie waren träge und unaufmerksam, ich konnte auch meine Freunde befreien.«

Vermis staunte immer wieder darüber, wie sich das tumbe Volk das Wirken der Götter so zurechtlegte, dass diese in möglichst positivem Licht erschienen. Travia hätte ihre Hand nicht über jene Kinder zu halten brauchen, wenn sie vorher das Dorf beschützt hätte.

»Wir sind in den Wald gerannt, die Orks haben uns mit Gebrüll verfolgt, bis die Waldelfen sie mit ihren Pfeilen erledigt haben. Das ging so schnell wie ein Platzregen.«

»Kommen die Elfen auch hierher?«, erkundigte sich Zynthia. »Ich würde gern mal welche sehen. Vor allem Waldelfen. Sie sollen etwas ganz Besonderes sein.«

»Habt Ihr etwas mitgebracht, das sie wollen?«, fragte Weidbert.

»Was wollen sie denn?« Wieder schenkte Zynthia ihm einen dieser Blicke, bei denen einem Mann zugleich heiß und kalt werden konnte.

»Eisen, Bausch, Salz«, zählte Weidbert auf. »Alles, wozu man eine Schmiede braucht oder was es im Wald nicht gibt. Wenn mir die Kaufleute, die hier vorbeikommen, einen guten Preis machen, kaufe ich solche Waren an. Die kann ich dann gegen Felle von weißen Hirschen tauschen, oder gegen den süßesten Honig, den Ihr je gekostet habt. Oder Nothilf.«

Vermis stieß einen Pfiff aus. »Das ist ein äußerst potentes Heilkraut.«

»Und es wächst nur in den Salamandersteinen«, bestätigte Weidbert.

»Das wissen wir«, versetzte Vespertilio streng. »Aber zurück zu den Waldelfen. Sie kommen also hierher? Zu dir?«

»Manchmal.« Weidbert steckte sich ein Stück Braten in den Mund. Vermis vermutete, dass er Zeit gewinnen wollte, um seine Gäste einzuschätzen.

Das Essen war keine Offenbarung, was aber nicht an den Zutaten lag, die allesamt frisch und von guter Qualität waren. Allein die Kochkünste desjenigen, der am Herd gestanden hatte, konnten sich nicht mit dem messen, was man in Al’Anfa oder Fasar geboten bekam. Überhaupt schienen die Nordländer Gewürzen mit unverständlicher Skepsis zu begegnen. Man musste ja nicht gleich in maraskanische Feuerattacken auf den Rachen verfallen, aber ein wenig Pfeffer wusste Vermis durchaus zu schätzen.

»Ihr lebt einsam hier.«

Hörte nur Vermis die Doppeldeutigkeit in Zynthias Feststellung? Er hoffte, dass er sich täuschte. Sie wollte doch nicht etwa eine Nacht an diesen ungebildeten Dorftrampel verschwenden, nur um an minderwertige Informationen zu gelangen?

»Wir haben, was wir brauchen«, versicherte Weidbert zu Vermis’ Beruhigung.

»Wie viele seid ihr?«, erkundigte sich Zynthia.

»Zwei Dutzend. Das reicht uns, wir brauchen keine Siedler. Ohnehin finden sich wenige, die nach unseren Regeln leben wollen.«

»Dann müssen sie wohl sehr hart sein«, vermutete Vespertilio. »Offenbar habt ihr hier wirklich, was man für ein angenehmes Leben braucht. Eure Felder tragen gute Frucht, im Bach fließt klares Wasser, und der Wald ist ein Anblick, von dem ein Maler träumt.«

»Niemand geht in den Wald«, erklärte Weidbert knapp.

»Was, wenn sich jemand verirrt?«, setzte Vermis nach.

»Das ist noch nie geschehen«, behauptete Weidbert.

»Sicher würden die Waldelfen so jemandem helfen, den Weg zurück zu finden«, sagte Zynthia versöhnlich.

»Sie dulden uns, weil wir damals die Orks zu ihnen geführt haben, wie man Wild in eine Falle lockt.« Weidbert legte sein Besteck ab, obwohl sein Teller noch nicht leer war. »Sie hassen die Schwarzpelze, und vielleicht nahmen sie sogar Anteil an unserem Schicksal. Ich durfte mein Wirtshaus bauen, zu Ehren der gütigen Mutter Travia, die uns errettet hat. Ich habe ihnen erklärt, dass dieses Haus Reisenden auf dem langen Weg über die Straße am Waldrand Rast, Obdach und Erquickung bieten würde.«

Das klang tatsächlich nach dem Geplapper eines Kinds, fand Vermis. Möglich, dass so etwas ein Elfenherz rührte, die Spitzohren sollten ebenfalls weltfremd sein. Erstaunlich war nur, dass ein Dutzend Kinder ein Dorf aus dem Boden stampfen und erhalten konnten.

»Die Elfen haben uns das Holz aus dem Wald gebracht, das wir zum Bauen verwenden durften.« Weidberts Tonfall gefiel Vermis nicht. Der Wirt wirkte, als sei ihm das Thema unangenehm. Er sah schon zur Küchentür hinüber.

»Was schätzt du, wann die Elfen das nächste Mal kommen?«, fragte Zynthia.

»Das kann man nie sagen. Sie wandern wie der Wind in den Baumkronen.«

»Also sollten wir besser in den Wald gehen, um sie zu suchen?«, fragte Vespertilio.

»Es ist eine schlechte Idee, in den Wald zu gehen«, sagte Weidbert mit Nachdruck. »Besonders hier.«

»Wieso das?«, fragte Vermis vorgeblich unwissend.

»In den meisten anderen Gegenden sind die Salamandersteine zauberhaft. Wer großes Glück hat, darf mit Serihayoê Schattenpfad wandern. Mit einer Waldelfe in die Salamandersteine zu gehen … man weiß nicht, wo die Schönheit unserer Welt in den Traum des Elfenlichts übergeht. Und man will es auch gar nicht wissen.«

Jetzt bekam Weidberts Blick doch tatsächlich etwas Entrücktes! Kein Zweifel, er war den Elfen auf schwärmerische Weise verfallen.

»Aber es gibt einen dunklen, einen kranken Bereich. Ganz hier in der Nähe.«

Vespertilio verlor die Geduld. Er schlug die Faust so fest auf den Tisch, dass Vermis vor Schreck das Bratenstück von der Gabel rutschte.

»Erspare uns das Geplänkel und komm zur Sache«, sagte Vespertilio gefährlich leise. »Wie gelangen wir zum Wald-aus-dem-Dunkelheit-blickt?«

Der Wald-aus-dem-Dunkelheit-blickt,

vierter Tag im Kornmond, vor vierundzwanzig Jahren

Zynthia Aslaman schob Vermis weiter nach oben. Sein Hinterteil war das Schwabbeligste an seinem Leib, der jedes Jahr mehr aus der Form ging.

»Ich habe es gleich!«, keuchte Vermis Gulmaktar.

Vermutlich gab es Kühe, die besser kletterten als er, dachte Zynthia. Jedoch schätzte sie die düstere Schönheit seiner Zauber, wenn er Golems erschuf. Allerdings: Die Aussicht, dass er womöglich gleich den Halt am Baum verlieren, sie mit sich in die Tiefe reißen und ihr Gesicht unter seinem Gesäß begraben konnte, ließ diesen Vorzug nebensächlich erscheinen.

Endlich bekam er einen Ast zu fassen und wuchtete sich hoch zu Vespertilio Organo, neben den er sich auf eine große Astgabel stellte. Die Finger fest in die dicke Borke gekrallt, blickten sie mit weiten Augen nach Westen. Zynthias Blick war in diese Richtung noch durch das dichte Laub versperrt.

Ohne dass die beiden ihr geholfen hätten, zog sich Zynthia in die Astgabel hoch und fand sicheren Stand. Dann sah auch sie, was ihre Gefährten hatte verstummen lassen.

Eigentlich waren sie nur auf den Baum gestiegen, um sich in dem düsteren Wald zu orientieren. Doch nun hatten sie ihr Ziel vor Augen. Das riesige, knochenbleiche Gebilde, das im Tal unter ihnen in den Baumkronen lag, konnte nichts anderes sein als das Wipfelschiff Iylian Thar, wenngleich es wenig von einem Schiff an sich hatte. In den alten Quellen, die sie studiert hatte, war es groß genannt worden. Erschaffen dazu, den Krieg gegen die Kreaturen des Namenlosen zu wenden und das Licht der Hochelfen zu schützen. Für immer das Dunkel, das in die Welt gekommen war, zu verbannen. Aber dieses Gebilde, das mehr an die Knochen eines gestrandeten Wals erinnerte, war fast dreihundert Schritt lang. Statt Riemen ragten vertrocknete, insektenhafte Beine wie die eines Tausendfüßlers aus seinem Rumpf. Da war nichts von der Eleganz an ihm, die den anderen Schöpfungen der Hochelfen anhaftete. Schon bei seiner Kiellegung war die Iylian Thar unter den Elfen umstritten gewesen. Viele hatten sie als badoc gegeißelt, als dem Streben nach Harmonie fremd. Doch der Krieg gegen den Namenlosen war bereits zu einem verzweifelten Kampf ums Überleben geworden. Die Baumeister des Schiffs hatten die These vertreten, dass man den Schrecken des Feindes einen noch größeren Schrecken entgegensetzen musste, wenn man noch siegen wollte. Wie Parasiten, die einen Baumstamm befielen, ihm den Lebenssaft stahlen und langsam verfaulen ließen, waren die Geschöpfe des Namenlosen in die Welt gekommen. Und wie Parasiten waren sie ohne Zahl. Gingen Tausende von ihnen zugrunde, so waren ihre Reihen doch zur nächsten Schlacht wieder geschlossen, wohingegen jeder gefallene Elf eine Lücke hinterließ, wie eine Wunde, die nicht heilen wollte, die nicht aufhören wollte zu bluten. Die Baumeister hatten begriffen, dass sie schnell einen letzten, entscheidenden Sieg brauchten, oder das Hochelfenvolk an hundert kleinen Siegen verbluten würde. Zynthia erinnerte sich, wie sie die Verzweiflung der Elfen über die Jahrhunderte hinweg in den erhaltenen Schriften gespürt hatte. Und nun lag dieses Schiff vor ihren Augen, das sie sich nie hatte richtig vorstellen können.

»Was für ein Traum«, schwärmte Vermis. »Die Iylian Thar ist wie ein riesiger Golem. Man wird unendlich viel von ihm lernen können. Totes Holz wäre längst verrottet. Dies ist erhalten geblieben, weil ihm Leben eingehaucht wurde.«

»Denkst du, es ist alterslos?«, rief Zynthia aufgeregt.

Der Blick, mit dem Vespertilio sie bedachte, zeigte ihr, dass sie zu unvorsichtig wurde. Ihre Sehnsucht brach zu deutlich aus ihr hervor. Dies hier war Feindesland, und sie wussten nicht, ob diese unheimlichen schwarzen Augen in den Bäumen nur beobachteten oder womöglich auch lauschten.

Sie war froh, dass Vermis in seiner Ergriffenheit weitersprach und so Vespertilios Aufmerksamkeit zurück auf das Schiff lenkte. »Und sieh nur, wie es mit den Wipfeln verwachsen ist. Es ist dort nicht einfach gestrandet. Es zwingt den Bäumen seinen Willen auf, sodass ihr Astwerk Bordwände formt.«

»Ob es sie auch zwingt, ihm von ihrem Leben zu geben?«, spekulierte Zynthia.

Vermis schien sie gar nicht zu hören. »Vielleicht ist es über die Jahrhunderte sogar noch gewachsen …« Seine Überlegungen wurden zu einem unverständlichen Gemurmel.

Zynthia vernahm ein Geräusch unten am Stamm des Baums, das nicht zum Wald passte. Ein Scharren, vielleicht auch ein Reißen. Oder täuschte sie sich? Die Äste versperrten ihr den Blick zum Boden.

»An welcher Stelle würdest du denn in dieses riesenhafte Gebilde einsteigen, Golembauer?« Mit Sicherheit wollte Vespertilio es ironisch klingen lassen, doch Zynthia hörte nur den Respekt vor der Kunst ihres Freundes in seinen Worten.

»Der Largala’Hen wird in seinem Herzen stehen«, meinte Vermis, »also sollten wir es in der Mitte versuchen.«

Zynthia schloss die Lider bis auf Schlitze, flüsterte einen Wahrnehmungszauber und spähte zu dem Hochelfenschiff hinüber, das sich einstmals als majestätischer Gigant über die Wipfel dieses von Horizont zu Horizont reichenden Waldes bewegt hatte. Da es nicht auf Wasser hatte fahren müssen, bestand sein Rumpf nicht aus glatten Planken. Jedenfalls vermutete Zynthia, dass der Bereich, den sie nun betrachtete, zur ursprünglichen Struktur gehörte. Vor allem, weil die Stränge, die sich dort wie bei einem Weidenkorb verflochten, von diesem Knochenweiß waren, das sich deutlich von den Farben des Waldes unterschied, in dem lebendiges Grün mit verdorbenem Grau zu ringen schien.

Fünf Türme beherrschten das Schiff, das überraschenderweise weder ein Vorder- noch ein Achterkastell besaß. Nie zuvor hatte Zynthia eine solche Konstruktion gesehen. Der mittlere der Türme war der höchste, die übrigen stiegen vom Bug und vom Heck wie Stufen zu ihm an. Mindestens zwei Dutzend kleinere Türmchen wuchsen seitlich aus dem Rumpf und machten die Iylian Thar zu einer Festung, wie Zynthia noch keine gesehen hatte. Wahrscheinlich waren es früher noch mehr Türmchen gewesen. An manchen Stellen ragten weiße Dornen auf wie gesplitterte Rippen. Auch im Rumpf klafften Wunden.

Ja, Wunden … Mit mildem Erstaunen bemerkte Zynthia, dass sie von diesem Schiff wirklich wie von einem Lebewesen dachte.

Jedenfalls schien Vermis eine dieser Öffnungen im Sinn zu haben, was den Einstieg anging.

»Hoffentlich war niemand vor uns hier und hat den Kelch geraubt …«, überlegte Zynthia.

Vespertilio schnaubte. »Du hast doch gehört, welche Angst die Spitzohren vor diesem Ort haben. Sie sind viel zu feige, um hier auf Schatzsuche zu gehen. Und die Hasenfüße, die am Waldrand siedeln, erst recht.« Er äffte Weidberts Stimme nach. »Wir gehen niemals in den Wald. Rallion Regenflieder hat es verboten.« Der Magier rückte das aufgerollte Seil zurecht, in das er – wie sie alle – seinen Zauberstab verwandelt hatte, damit er ihn beim Klettern nicht störte. Offenbar drückte das Seil ihm auf die knochige Schulter.

»Es ist schön …«, hauchte Zynthia, »… und schrecklich.« Sah sie den Preis der Unsterblichkeit vor sich? Die drohenden Aufbauten … die anklagend aufragenden Rippen … der schwertartige Bugspriet … In all dem war die Eleganz, die man mit dem Elfenvolk verband, nicht zu leugnen. Doch sie schien gezwungen in die Notwendigkeit, gnadenlose Schläge einzustecken und auszuteilen. Hatten die Hochelfen am Ende, als der Krieg gegen die Horden des Namenlosen zu einem Überlebenskampf geworden war, begonnen, die Schönheit zu opfern, um mit dieser Schöpfung allein dem brutalen Zweck des Zermalmens, Erschlagens und Zerstörens ihrer Gegner zu huldigen?

Müsste auch Zynthia ihre Schönheit aufgeben, Narben und einen Panzer aus Schorf akzeptieren, wenn sie den Tod besiegen wollte? Blinzelnd wandte sie sich ab.

Noch immer ertönte dieses Scharren unten am Stamm. »Hört ihr das auch?«, fragte sie ihre Gefährten.

Vermis’ Aufmerksamkeit war nicht von der Iylian Thar zu lösen. Vespertilio sah wenigstens widerwillig zwischen den Ästen nach unten.

Er brummte. »Was ist das?«

»Ich habe keine Ahnung«, gestand Zynthia. »Wenigstens hört es sich nicht nach Elfen an.«

»Ich habe dir doch schon gesagt, dass die sich nicht hierher trauen!«

Zynthia bewunderte ihn für seine Willensstärke, aber manchmal schlug diese auch ihr gegenüber in Jähzorn um, wenn Vespertilio den Eindruck hatte, seine Thesen fänden keine ausreichende Beachtung. Jetzt verspürte sie keine Lust, Rücksicht auf verletzte Eitelkeit zu nehmen.

»Sehen wir nach!« Sie machte sich an den Abstieg.

Über ihr riss Vespertilio ihren Gefährten rüde aus seiner Schwärmerei. Die beiden folgten ihr mit ein wenig Abstand.

Zynthia sah eine Bewegung. Etwas Großes, das sich an den Rucksäcken zu schaffen machte, die sie am Stamm abgelegt hatten. Immerhin versuchte es nicht, den Baum hinaufzuklettern. Ein Bär schien es nicht zu sein, obwohl die Größe in etwa passte.

Zynthia kletterte tiefer, ließ weitere Äste hinter sich und gewann einen unverstellten Blick.

Die Haut des Tiers war von hellerem Grau als die Rinde des Baums. An der linken Flanke verrieten letzte Büschel schütteren Haars, dass es eigentlich weiß war, aber den Großteil seines Fells verloren hatte.

»Ein Pferd«, vermutete Vespertilio.

»Nein.« Zynthia verharrte fünf Schritt über dem Boden in einer Astgabel, die bequemen Halt bot. »Sieh dir seine Stirn an.«

Dort ragte ein gewundener Dorn aus dem Schädel, drei Handspannen lang.

»Ein Einhorn!«, keuchte Vespertilio. »Seine Hufe, sein Blut, sein Fell – alles hat erhebliche magische Wirkung!«

»Welches Fell denn, Herr Collega?«, spöttelte Vermis. »Etwa das bisschen verfilztes Gestrüpp? Da wächst ja mein Schamhaar prächtiger.«

»Und das will etwas heißen«, versetzte Zynthia, um den albernen Streit im Keim zu ersticken.

Das Tier war ein Anblick des Grauens, nicht nur wegen des fehlenden Fells und weil es so ausgezehrt war wie ein Ackergaul vor der Schlachtung. Vielmehr waren es die Wucherungen auf seiner entzündeten Haut. Sie sahen aus wie Flechten oder auch wie verkrustetes Blut, aber es handelte sich wohl um Wurzelfasern, denn an mehreren Stellen saßen Pilzhüte auf dem dürren Leib. Den linken Brustkasten bedeckten sie so dicht, dass die Erhebungen der Rippenbögen kaum noch auszumachen waren. An der Hinterhand dagegen hatte sich ein besonders großer Pilz durchgesetzt. Dick wie der Ast, auf dem Zynthia stand, schob er sich aus dem nässenden Fleisch.

»Was tut das Vieh da?«, fragte Vermis ungehalten.

Das Stirnhorn schrammte über die raue Rinde, während das Tier einen Rucksack mit dem Maul anhob und mit ruckartigen Kopfbewegungen schüttelte. Es warf seine Last gegen den Stamm, wo sie dumpf aufprallte und zu Boden fiel.

»Es wittert unseren Proviant«, vermutete Zynthia.

Vespertilio schnaubte. »Der Klepper soll sich gefälligst zum Sterben hinlegen. Dann würde er wenigstens den Wald düngen.«

»Was tragen wir denn bei uns, das ihm schmecken könnte?«, rätselte Vermis. »Dinkelbrot? Die Hartwurst? Ich hätte vermutet, dass Einhörner grasen wie Pferde.«

»Siehst du hier irgendwo Gras, in das du dich freiwillig legen würdest?«, fragte Zynthia.

Nicht nur die Baumrinde mit ihrem Grau war hier ungewöhnlich gefärbt. Das Gras hatte ein unnatürliches Orange, als stünde es kurz davor, in Flammen aufzugehen.

»Außerdem nimmt man nicht nur Gesundes zu sich«, überlegte Vespertilio. »Das Brot könnte für das Vieh so etwas wie eine Süßigkeit sein.«

»Schwangere haben nicht nur ihren eigenen Appetit«, gab Zynthia zu bedenken. »Auch das Kind in ihrem Bauch beeinflusst, was sie zu sich nehmen wollen.«

»Vielleicht werden seine seltsamen kulinarischen Gelüste ja durch den Pilzbefall verursacht?«, nahm Vespertilio den Gedanken auf.

»Wie dem auch sei«, murrte Vermis. »Wir können nicht zulassen, dass es unsere Vorräte plündert!«

»Ich schmettere ihm einen Fulminictus in den Rücken.« Vermis ballte die linke Faust. »Das gibt ihm den Rest.«

»Warte!« Zynthia sah zu einem öligen Auge hinüber, das sich in einem benachbarten Baum auftat. »Es könnte eine schlechte Idee sein, in diesem Wald einen Kampfzauber zu wirken.«

Vespertilio zögerte.

»Trotzdem dürfen wir nicht zulassen, dass es unser Essen auffrisst!«, insistierte Vermis.

Wieder schüttelte das Einhorn einen Rucksack. Diesmal riss eine Schnalle ab.

»Es ist mehr tot als lebendig.« Zynthia stieg weiter ab, wobei sie darauf achtete, den Baumstamm zwischen sich und das Tier zu bringen. »An diesen Klepper wäre unsere magische Kraft verschwendet.«

Auf dem Boden entfernte sie sich einige Schritte vom Einhorn und löste das Seil, in das sie ihren Zauberstab verwandelt hatte, von der Hüfte.

Die Pilze wucherten so dicht über dem Maul, dass sich die Lippen des Tiers kaum öffnen konnten. Grasen konnte es wohl schon lange nicht mehr. Es verhungerte langsam inmitten seines Waldes.

Zynthia griff in die Matrix ihres Zauberstabes. Sie hatte ihm eingeprägt, unterschiedliche Formen anzunehmen. Jetzt verwandelte er sich in ein Schwert, eine sehr dünne, beidseitig geschliffene, spitze Klinge, in deren bläulichem Stahl silbrige Einschlüsse wie Sternenstaub glitzerten. Gleißende Flammen umspielten den Stahl. Zynthia spürte die Hitze auf dem Antlitz. »Feuersturm« nannte sie ein wenig pathetisch ihre Waffe.

Vorsichtig näherte sie sich dem Einhorn, das sich nun Vespertilios Rucksack zuwandte, obwohl bei dem von Vermis bereits eine Schnalle gerissen war. Es schien nicht besonders klug zu sein. Trotz der lodernden Waffe in ihrer Hand beachtete es sie nicht, begriff nicht, welche Gefahr von ihr ausging. Ein selbstsicheres Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. Viele Menschen schüchterte dieses Lächeln ein, nur Vermis und Vespertilio nicht.

Zynthia näherte sich dem Einhorn auf der Seite des zugewucherten Auges. Es erwies sich als beinahe schon enttäuschend einfach, dem hageren Biest das Flammenschwert vier Handspannen tief zwischen die Rippen zu stoßen.

Das Tier riss den horngekrönten Schädel hoch, aber noch nicht mal ein Röcheln drang aus seinem Maul. Die Pilze versiegelten ihm die Lippen. Sein Herz besaß jedoch noch Kraft. In einem pulsenden Strahl schoss Zynthia warmes Blut aus der Wunde ins Gesicht. Sie blinzelte es aus den Augen.

Mehr störte sie, dass es auch ihre Robe besudelte, als das Einhorn in die Knie brach. Das große Tier zuckte. Seine Hufe zerwühlten den Waldboden. Es stank nach versengtem Haar und geschmortem Fleisch.

Eine Weile sah Zynthia der Kreatur beim Sterben zu. Dann zog sie das Flammenschwert aus dem Einhorn.

Der Wald-aus-dem-Dunkelheit-blickt,

vierter Tag im Kornmond, vor vierundzwanzig Jahren

Der Weg in den Wald war angenehmer geworden, fand Vespertilio Organo. Es gab zwar Dickicht mit armdicken Ranken und dolchlangen Dornen, so undurchdringlich wie eine massive Burgmauer, doch mit ein wenig Suchen fand sich stets ein Weg. Außerdem würde das Einhorn – krank oder nicht – sie reich machen. Den größten Teil des Kadavers hatten sie zurückgelassen, um ihn später auszuschlachten. Die Hufe, die Knochen, alles war wertvoll, besonders für Alchimisten. Leider hatte es kein nennenswertes Fell mehr besessen, das Blut mochte vom Pilzbefall beeinträchtigt sein, und die Augäpfel waren trüb wie bei einem Fisch, den man zu rasch aus großer Tiefe heraufgezogen hatte. Aber allein das gewundene Stirnhorn … Sie hatten sich die Zeit genommen, es abzusägen, und jetzt steckte es in Vespertilios Rucksack. Was immer auch geschehen mochte, dieser Schatz würde die Kosten der Reise leicht decken.

Vespertilio hatte sich wieder an die Spitze ihrer kleinen Schar gesetzt. Zynthia Aslaman mochte Männer, die wussten, was sie wollten. Solchen Träumern, wie Vermis allzu oft einer war, hatte sie nie viel abgewinnen können.

Es war so dunkel hier im Wald, dass Vespertilio die fahle Lichtkugel an der Spitze seines Zauberstabs benötigte, um weiter als nur zwei Schritt sehen zu können. Mit jeder Bewegung ließ sie ein ganzes Heer von Schatten durch das Rankendickicht ringsherum tanzen. Diese lebenden Mauern ragten bis zu zehn Schritt auf. Manchmal hatte er den Eindruck, dass sich darin mehr bewegte als nur Schatten. Da waren Geräusche … Jetzt …

Vespertilio riss den Arm hoch, ein Zeichen für die beiden anderen, reglos zu verharren. Vermis Gulmaktar murmelte leise etwas vor sich hin. Dann verstummte er.

Angestrengt lauschte Vespertilio. Da war ein Knacken wie von brechendem Holz. Leise … Es war unmöglich, es einer bestimmten Richtung zuzuordnen.

Er feuchtete den linken Zeigefinger auf seinen Lippen an und hielt ihn in die Höhe. Er hatte sich nicht getäuscht. Es gab keinen Wind. Nicht den leichtesten Luftzug, der Ursache für dieses Geräusch hätte sein können. Das Holz ringsherum arbeitete.

»Wann schlagen wir unser Nachtlager auf?« Vermis klang erschöpft. Außerdem wurde er nörgelig, wenn er hungrig war. Ihm setzte der endlose Marsch durch den Wald am meisten zu. Vespertilio hätte einen seltenen Folianten aus der Bibliothek von Kuslik darauf verwettet, dass der Herr Collega von Honigkuchen träumte.

»Willst du wirklich hier schlafen?« Vespertilio blickte zu den unheimlichen Dornenranken.

»Ich schlafe im Gehen ein, wenn wir nicht bald rasten. Meine Füße und mein Rücken tun weh. Ich bin völlig …« Vermis ging in die Hocke und spähte in das dichte Geflecht. »Bring das Licht! Hier ist etwas.«

Vespertilio zögerte. Den Ranken nahe zu kommen konnte nicht klug sein.

Zynthia ließ sich neben Vermis auf ein Knie nieder. »Hier liegen Knochen.«

Er würde als Feigling dastehen, wenn er nicht kam. Widerwillig senkte er seinen Zauberstab und ging zu den beiden. Das Licht schnitt durch das Gespinst aus Ranken. Tatsächlich lagen hier Knochen von einem kleinen Tier. Zart, zerbrechlich. Eine letzte Erinnerung an ein vergangenes Leben. Nichts Besonderes … Er stutzte. Dann ging auch Vespertilio in die Knie.

»Ich denke, es war ein Eichhörnchen«, sagte Zynthia.

»Aber eines mit Flügeln«, ergänzte Vermis triumphierend. »Verdammt, ein Eichhörnchen mit Flügeln! Der Kelch muss hier sein. Ich bin sicher, dass es seine Kraft ist …«

»Oder die eines Chimärologen«, unterbrach Vespertilio seinen Freund.

»Aber sieh dir das Skelett doch mal genauer an.« Vermis klang fast beleidigt. Er überspielte es mit einem Lachen. Bei ihm hörte sich das an wie das Meckern einer Ziege. »Das ist keine grobe Arbeit. Da ist nichts aufgepfropft, das nicht richtig miteinander verwachsen wäre. Es sieht so aus, als wäre es so geboren worden …«

»Oder als wäre es einfach nur eine außerordentlich gute Arbeit«, dämpfte Vespertilio den Enthusiasmus seines Freunds.

»Hast du schlechte Laune?« Zynthia klang kühl.

»Wir brauchen einen Lagerplatz«, entgegnete er gereizt. Wieder war deutlich das Knarren von Holz zu hören. Machte das den beiden denn keine Sorgen? Dieser Wald war eine Bedrohung. Zurbaran hatte Geschichten von unerwünschten Wanderern erzählt, die Elfen durch lebendig gewordene Ranken im Schlaf erwürgen ließen. Vielleicht waren das ja nur Geschichten … Aber das Holz um sie herum arbeitete, so viel war sicher! Und Vespertilio wollte nicht herausfinden, wie viel Wahrheit am Ende in den Schauergeschichten steckte.

»Und was ist dein Plan?« Zynthia klang immer noch kühl. »Sollen wir wieder zurückgehen? Was braucht der Herr, um sich wohlzufühlen? Ein Stück verwunschenen Elfenwald? Einen Strohballen in einer Scheune? Ein Daunenbett in einem fürstlichen Gasthof? Wir suchen einen Schatz, der ein ganzes Zeitalter lang verschollen war. Da wirst du ein paar Unbequemlichkeiten in Kauf nehmen müssen.«

»Genau!«, unterstützte Vermis sie.

Miese fette Kröte, dachte Vespertilio wütend. Wenn hier einer gejammert hatte, weil ihm feuchte Nachtlager im Wald nicht passten, dann war es Vermis gewesen. »Ich bin sicher, unter den Dornenranken liegen die Skelette Dutzender, die auf dem letzten Wegstück unvorsichtig geworden sind. Ich möchte mich nicht zu ihnen gesellen. Und ich möchte auch euch beide nicht an ihrer Seite liegen sehen.«

»Reine Spekulation, Herr Collega«, entrüstete sich Vermis. »Eine Thesis aufzustellen, ohne sie mit Fakten untermauern zu können, ist eines wahren Forschers unwürdig. Du solltest dich schämen …«

Vespertilio hörte ihm nicht mehr zu. Er sah, dass seine Worte bei Zynthia ihre Wirkung getan hatten. Sie nickte zögerlich. »Was also schlägst du vor?«

»Natürlich gehen wir nicht zurück!« Er sagte das mit mehr Entschlossenheit, als er empfand. »Wir folgen diesem Weg, der …« Er stockte. Wenn es stimmte, dass es Ranken gab, die rastende Wanderer im Schlaf erwürgten, war es dann nicht auch denkbar, dass sie eine Schneise im Dornendickicht öffneten, ihnen einen verlockenden Weg erschufen, um sie in eine Falle zu locken?

»Was?«, fragte Zynthia.

Er konnte seine Emotionen vor ihr nicht verbergen. Vermis hatte sicher nicht bemerkt, wie er stutzte, aber ihr entging nichts.

»Vielleicht sollten wir doch ein kleines Stück zurück …«

»Höre ich recht?«, trumpfte Vermis auf. »Spricht da der gleiche heldenhafte Collega, der eben noch jeglichen Rückzug kategorisch ausgeschlossen hat?«

»Wir kehren um«, sagte Zynthia entschieden. Ihr widersprach Vermis nie.

Sie nahmen den Weg, den sie gekommen waren. Vielleicht vierzig Schritt weit, dann verlor er sich. Die Ranken bildeten ein undurchdringliches Geflecht. Es gab keinen Pfad zurück mehr.

»Ich mag es nicht, wenn du recht hast«, flüsterte Vermis.

»Ich manchmal auch nicht«, sagte Vespertilio noch leiser.

»Damit wäre die Sache dann klar.« Zynthia wirkte weder erschrocken noch überrascht. »Uns bleibt nur ein einziger Weg. Also gehen wir ihn.«

»Um dann verschlungen zu werden?«, fragte Vermis aufgebracht.

»Wir sind keine geflügelten Eichhörnchen.« Ihre Collega machte entschlossen kehrt.

Vermis und Vespertilio sahen einander an. Die Freunde brauchten keine Worte. Wenn sie in dieser Stimmung war, hätte man Zynthia nur noch mit einem Versteinerungszauber bremsen können.

Sie verharrte an der Grenze des Lichtscheins, der von Vespertilios Zauberstab ausging. »Na los!«, forderte sie.

Die Männer folgten ihr.

Der Pfad wand sich durch das dornige Gestrüpp. Er erweiterte sich sogar, sodass sie zu dritt nebeneinander gehen konnten.

»Wartet!«, forderte Vermis. Seinem unsteten Atem war die Anstrengung anzuhören, die der Tag im Wald ihnen aufgebürdet hatte.

Er überspielte es, indem er seinen Dolch zog. Ein hässliches Stück, fand Vespertilio, mit einer plumpen Klinge, schwarzgrau wie Blei. Aber eine echsische Rune nahe dem Heft erhielt die Schärfe, als würde die Schneide jeden Tag geschliffen.

Vermis setzte eine grimmige Miene auf, was unfreiwillig komisch wirkte. Wobei niemand, der ihn je bei einem Blutritual erlebt hatte, ihn für ein harmloses Dickerchen halten würde. Auf gewisse Weise war sein Äußeres für ihn genauso nützlich, wie es für Zynthia ihre Schönheit war. Sein Lächeln öffnete ihm zwar keine Türen, aber man hielt den fülligen, stets ein wenig unbeholfen wirkenden Mann für harmlos. Ein tödlicher Fehler.

Vermis ging als Letzter in der Reihe. Er blieb bald hinter ihnen zurück, obwohl sie nebeneinander gehen konnten. Er mochte es nicht, sich an jemanden anzupassen, nicht einmal, wenn es um so etwas Simples wie die Marschgeschwindigkeit ging.

Und Vespertilio mochte es nicht, den nervösen Herrn Collega mit einem Dolch in der Hand in seinem Rücken zu wissen. Nicht dass er einen plötzlichen Angriff gefürchtet hätte, dazu gab es keinen Grund, aber er konnte sich gut vorstellen, wie Vermis über eine Wurzel stolperte, vorwärts strauchelte und das Ganze ein blutiges Ende nahm. Sein Gefährte war einfach nicht für Reisen in der Wildnis geschaffen.

Unter dem dichten Laubdach wurde es schnell noch dunkler. Auch jenseits der Baumkronen musste es zu dämmern begonnen haben. Das Licht des Zauberstabs verwandelte das Rankengespinst bei jeder Bewegung in einen Palastsaal voll tanzender Schatten, dessen Decke von den riesigen Baumstämmen getragen wurde. Nie hatte Vespertilio Bäume wie diese hier gesehen, dabei prunkten die Wälder der Salamandersteine durchaus mit vielen bemerkenswerten Stämmen, deren außerordentlicher Umfang der Hege der Elfen und vielleicht auch der Magie geschuldet war, die dieses Gebirge durchdrang. Stammte diese Kraft vom Largala’Hen? In manchen Legenden hieß es, einst habe er die Wüste Khôm in einen blühenden Garten verwandelt. Wenn auch nur ein Körnchen Wahrheit in dieser Geschichte steckte, was könnten sie mit dem Kelch nicht alles vollbringen! Und Vespertilio war davon überzeugt, dass es sich um mehr als nur um ein Körnchen handelte. Schließlich waren Vermis und er diesem Artefakt unabhängig voneinander auf die Spur gekommen.

Wieder huschte sein Blick durch die unsteten Schatten. Das Gefühl, belauert zu werden, war wieder da. Stärker noch als zuvor. Er war sich gewiss, dass es mehr als nur die Augen in den Bäumen waren. Welcher Verstand lag hinter diesen Augen? Gab es dort oben schon einen Magier, der über die Kraft des Zauberkelchs gebot? Wenn dem so war, dann waren sie verglichen mit ihm nicht mehr als Flöhe auf dem Rücken eines Hundes. Ein Ärgernis? Vielleicht. Eine Gefahr? Ganz sicher nicht.

Aber wenn es so einen Magier gab, warum blieb er in den Salamandersteinen? Er hätte den Kelch nutzen können, um Kaiser im Mittelreich zu werden oder was immer sonst sein Herz begehrte.

»Seht euch das mal an!«, rief Vermis.

Vespertilio fuhr herum, nur um verärgert festzustellen, dass sein trödelnder Collega nicht mehr im Lichtkreis des Zauberstabs zu sehen war.

»Hier!«, rief Vermis fordernd. »Macht ein paar Schritte zurück.«

Das Knacken in den Ranken wurde lauter. Auch wenn er es nicht wirklich sah, war sich Vespertilio ganz sicher, dass da nicht nur Schatten tanzten. Vermis hatte es geschafft, den Wald zu verärgern.

»Was macht der nur?«, zischte Zynthia.

»Das, worin er besonders begabt ist«, grollte Vespertilio. »Schwierigkeiten!« Sie folgten dem Weg zurück, und nach ein paar Schritten fanden sie Vermis. Er lehnte an einem Baumstamm, den zehn Männer mit ausgestreckten Armen nicht hätten umfassen können. Mit der Spitze des bleifarbenen Dolchs tippte Vermis auf eine Wunde, die er dem Baumriesen beigebracht hatte. Er hatte ein handtellergroßes Stück Rinde herausgeschnitten. »Leuchte mal hier!«

Vespertilio neigte seinen Stab.

»Dachte ich es mir doch!«, triumphierte Vermis. »Seht ihr diese Verdickungen unter der Rinde?«

»Diese Wülste?«, fragte Vespertilio. »Natürlich.«

Zynthia betastete eine der senkrecht am Stamm herablaufenden Erhebungen. »Das sieht aus wie Adern.«

Vermis sah sie mit dem aufgeregten Blick des Forschers an, der gerade eine außergewöhnliche Entdeckung gemacht hatte und nun nach Zustimmung, ja, Bewunderung heischte.

In der Tat ähnelten die Wülste unter der groben Rinde Blutgefäßen, die dicht unter der Haut verliefen.

Wieder tippte er auf die Stelle, die er freigelegt hatte. »Und diese Adern sind kein Teil des Baums.«

Das Holz des Strangs war knochenweiß, das darunter hingegen hatte einen graubraunen Ton.

Das Knochenweiß … es war die Farbe des Wipfelschiffs. Die Iylian Thar war mit dem Wald unter ihr verbunden. Aber wie sehr? Musste man sich die Bäume und Büsche als verlängerte Gliedmaßen des Schiffs vorstellen?, fragte sich Vespertilio.

»Stellt euch nur vor: Wenn wir das hier verstehen, wenn wir es nachahmen können, was für unglaubliche Holzgolems wir erschaffen könnten!« Vermis klang begeistert.

»Würdest du wirklich mit deinen Golems verwachsen sein wollen?« Zynthia klang sachlich, nicht provozierend.

»Natürlich nicht!« Vermis wedelte verärgert mit seinem Dolch. »Wenn die Beschaffenheit des Zaubers erst einmal ergründet ist, werde ich ihn selbstverständlich verbessern. Und nun aufgepasst. Wir werden das nächste Rätsel seines Schleiers berauben!« Sein Dolch trennte weitere Teile der Rinde ab, unter der sich die weiße Holzader nach oben zog.

»Was machst du?« Vespertilio sah über die Schulter in die Richtung, in der sie eigentlich unterwegs waren. Ringsum zuckten die Schatten, obwohl er den Stab mit der leuchtenden Spitze nun ruhig hielt. »Lasst uns weitergehen. Wir haben es begriffen.«

»Es ist ein lebendes Schiff, nicht wahr?« Für jemanden, der nicht mit ihm vertraut war, hätte Vermis’ Stimme wohl harmlos geklungen.

Vespertilio kannte diesen Tonfall jedoch. Eine gnadenlose Entschlossenheit lag darin, entsprungen irgendwo zwischen Genie und Wahnsinn.

»Schauen wir doch einmal, ob wir ihm wehtun können!« Tief schnitt Vermis’ Dolch in die knochenfarbene Ader.

Eine tintenschwarze Flüssigkeit quoll heraus. Erst in einem dicken Schwall, dann in einem schwächeren, aber kontinuierlichen Fluss. Sie färbte das offen liegende Holz des Baums dunkel. Aus dem Augenwinkel sah er eine Ranke, dick wie der Oberarm eines Seemanns, die sich drohend erhob und in ihre Richtung neigte.

»Es ist wieder dieses schwarze Wasser«, hauchte Zynthia. »Das sieht aus wie die Augen.«

»Wir gehen!« Vespertilio packte Vermis beim Arm.

»Warum? Ich habe gerade erst angefangen.« Ein boshaftes Lächeln spielte um die Lippen des kleinen Magiers. »Mal sehen, ob wir nach den Adern nicht auch noch Eingeweide und das Herz finden.«

»Ich frage mich, ob du dein Hirn verloren hast.« Vespertilio zerrte seinen Freund vom Stamm weg.

Inzwischen hatte sich ein halbes Dutzend Ranken aus dem Dornendickicht erhoben.

»Willst du herausfinden, wie es sich anfühlt, wenn die sich um deine Kehle legen?« Zynthia packte Vermis und stieß ihn vor sich her. Bei ihr leistete er keinen Widerstand.

In fliegender Hast eilten sie den Weg zurück.

Noch nie, dachte Vespertilio, hatte er sich so bedrängt gefühlt. Nicht einmal, als er nach gewissen magischen Experimenten recht überstürzt Al’Anfa hatte verlassen müssen.

Vermis begann zu keuchen. Vermutlich war er in seinem Leben nie weiter als hundert Schritt gelaufen.

Vespertilio hakte sich unter seinem Arm ein und zog ihn mit sich. »Schneller«, drängte er.

»Lasst mich zurück«, stieß Vermis pfeifend hervor. »Ich halte sie auf.«

»Hört auf, Jungs, wir sind hier nicht in den Honinger Geschichten!«, schalt Zynthia. »Wir sind ohnehin am Ende unserer Flucht.«

Vespertilio tat noch zwei Schritte, dann sah auch er es. Der Weg weitete sich zu einem Rund von vielleicht acht Schritt Durchmesser, und er endete an dieser Stelle. Es gab keinen Fluchtweg von dieser kleinen Lichtung inmitten des Dornenmeers.

»Jetzt hat uns der Wald, wo er uns haben wollte«, sagte Vespertilio kraftlos. Er sah sich schon von Ranken zu Tode gequetscht.

»Noch nicht ganz.« Zynthia deutete auf einen gewaltigen Baumstamm am Rand der Lichtung.

Vespertilio schwenkte den Stab. Und dann sah auch er es in aller Klarheit: Aus dem Stamm wuchsen Aststrünke. In einer weiten Spirale wanden sie sich um den Baum, gleich den Stufen einer Wendeltreppe, und verloren sich im undurchdringlichen Dunkel über ihren Häuptern.

»Das ist unser Weg«, sagte Zynthia entschlossen.

Iylian Thar, vierter Tag im Kornmond,

vor vierundzwanzig Jahren

»Wir dringen rektal ein, wie mir scheinen will.« Vermis Gulmaktar legte seinen Stab auf dem Boden ab und zog sich von der Baumtreppe in etwas, das aussah wie übergroßes Gedärm.

»Wie meinst du das?« Vespertilio Organo klang gereizt. Er war noch hinter ihm auf der Wendeltreppe aus Ästen und konnte nicht sehen, was vor ihnen lag. Über fast die gesamte Strecke hatte er sich auf allen vieren vorgearbeitet. Angeblich, weil er den runden Ästen misstraute.

Vermis nahm Vespertilios Stab entgegen und leuchtete in den Gang. Er bestand vollständig aus Wurzelwerk, das einen Tunnel von ovalem Querschnitt formte. Das organische Erscheinungsbild faszinierte ihn. Es sah wirklich aus wie Gedärm. Eine freudige Überraschung. Eigentlich hatte Vermis dieses Bild nur gebraucht, um Vespertilio zu provozieren, von dem er wusste, dass er vulgäre Reden missbilligte. Vor allem, wenn Zynthia bei ihnen war. Aber nun erkannte er, dass dieses Wipfelschiff wirklich etwas Organisches war. Ob es bereits zu früheren Zeiten so ausgesehen hatte? Oder hatte es sich erst im Laufe der Jahrhunderte so verändert? Vermis vermochte nicht zu entscheiden, welche Vorstellung ihn stärker faszinierte.

»Ganz schön unpraktisch!«, zerstörte Zynthia Aslaman sein elegisches Staunen. »Die runde Wandung verschwendet Platz.«

»Davon werden die Elfen damals wohl genug zur Verfügung gehabt haben«, schnappte Vermis, obwohl er wusste, dass die Freundin recht hatte.

»Dieses Schiff ist in der Tat riesig«, meinte Vespertilio. »Dreihundert Schritt lang, schätze ich.«

»Mehr!«, rief Vermis.

»Von mir aus«, gestand Vespertilio ihm zu, obwohl sie sich während der Einschätzung aus der Ferne auf diese Länge geeinigt hatten. »Hast du eine Vorstellung, wo wir uns befinden? In der Mitte? Am Bug, am Heck?«

Widerwillig sah sich Vermis um. Der leuchtende Stein an Vespertilios Stab enthüllte Stränge, Wülste, gedrehte Strukturen, Holz, das geschmolzen und wieder erstarrt zu sein schien. Vier Öffnungen taten sich in weiterführende Tunnel auf. Hier gab es sowohl das weiße Holz der Iylian Thar