Die Plastik des 20. Jahrhunderts - Werner Hofmann - E-Book

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Werner Hofmann

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Beschreibung

Werner Hofmann versteht es hervorragend, die Zeichen der Zeit in den Äußerungen der Künstler aufzuweisen und zu deuten. Schon der Band »Zeichen und Gestalt«, der sich der Malerei des 20. Jahrhunderts widmet, legt dafür Zeugnis ab. Hofmanns Ausführungen über die Plastik des 20. Jahrhunderts ergänzt auf eine eigenständige Weise die in dem Werk über die moderne Malerei niedergelegten Erkenntnisse und verschafft darüber hinaus einen umfassenden Überblick über das bildhauerische Schaffen bis Mitte des 20. Jahrhunderts. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Werner Hofmann

Die Plastik des 20. Jahrhunderts

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Inhalt

VorwortEinleitungSchöpfertum und KunstGrenzen der KünsteDefinitionen und WunschbilderKeuschheit oder Leidenschaft?Plastik und SkulpturMaterialgerechtigkeitGrenzen der Künste: Raum und FlächeMalerei und Plastik: Bild – GebildeDas 19. JahrhundertVersuch einer CharakteristikDrei Vorläufer: Géricault, Daumier, DegasDie entscheidenden achtziger JahreDie WegbereiterAuguste RodinAdolf von HildebrandConstantin MeunierGeorges MinnePaul GauguinAristide MaillolDas 20. Jahrhundert1. Teil Die Bewahrung des MenschenbildesErnst BarlachWilhelm LehmbruckGeorg KolbeMarino MariniGermaine RichierFritz WotrubaDie Gegenwart2. Teil Die Suche nach dem GestaltzeichenVorbemerkungDas erste Jahrzehnt: Die Revolution der PlastikDas zweite Jahrzehnt: AusbreitungDas dritte Jahrzehnt: Der konstruierte GegenstandDas vierte Jahrzehnt: Die Gestaltung des SurrealenDie gegenwärtige Situation[Bildteil]AnhangChronologische ÜbersichtAusgewählte BibliographieTechnikAllgemeine DarstellungenLänder, Gruppen und BewegungenKataloge wichtiger AusstellungenEinzelne KünstlerAbbildungsverzeichnisRegister

Vorwort

Die wesentlichsten unter den noch unverbrauchten Gestaltungsimpulsen dieser Jahrhundertmitte scheinen in die Plastik einzuströmen. Bei näherer Überlegung enthüllt sich die Logik dieses Vorganges. Nicht der Strategie eifriger Propagandisten kann man ihn zuschreiben, noch weniger dürfen kommerzielle Schrittmacher für ihn verantwortlich gemacht werden. Die Gründe liegen tiefer. Sie darzulegen und als einen Prozeß geschichtlicher Entwicklung begreiflich zu machen, ist das Ziel dieser Schrift. Ihre These lautet:

Die Stunde ist der Plastik günstig, wenn die künstlerische Weltverwandlung sich von weitläufigen Wirklichkeitseindrücken wegwendet und die Bereiche des Symbols aufsucht; wenn der Formwille zur monumentalen Sinnfigur drängt; wenn die zauberische Gebärde des Leinwandbestreichens erkennt, daß sie eine Scheinwelt erzeugt, und wenn der Gestaltungstrieb, von dieser Einsicht geleitet, nach einem härteren Ereignisort sucht.

Diese Stunde scheint gekommen. Aus den Wechselfällen immer neu aufflammenden Probierens und Verwerfens, aus der Phantasmagorie malerischer Sinnbetörung tritt die Plastik mit der Nachdrücklichkeit einer Form hervor, die durch die Verwandlungen eines Feuerofens gegangen ist.

Mein Dank gebührt der Fischer Bücherei, die bereitwilligst auf meinen Vorschlag einging, Malerei und Plastik des 20. Jahrhunderts in zwei getrennten Bänden darzustellen. So wurde es möglich, die reiche und vielfach noch ungeordnete Geschichte der Modernen Plastik in ihrer Eigenständigkeit nachzuweisen und dem breiten Stoff, der meist noch in Form eines »Anhanges« an die Geschichte der Malerei gedrängt behandelt wird, die ihm gebührende Proportion zu geben. In dem vor Jahresfrist erschienenen Bändchen über die Malerei habe ich deren gegenwärtige Grenzsituation zu umschreiben versucht und die Vermutung ausgesprochen, »daß Malerei und Plastik sich zu einem neuen Gestaltzeichen verschwistern werden«[1]. Damit ist die anregende, auch heute noch fortzeugende Rolle der Malerei des 20. Jahrhunderts betont, eine Rolle, ohne deren Zuspruch es der Plastik an Umfang und Tiefe, aber auch an Kühnheit und Entschlossenheit fehlen würde. Ihre Geschichte ist darum ohne das Wissen um die entscheidenden Vorgänge in der Malerei kaum zu begreifen. Somit entwickelte sich das vorliegende Bändchen aus dem früheren über die Malerei, dessen Gedankengänge es voraussetzt und zugleich erweitert. Es versucht, die Gesamtheit der plastischen Strömungen des Jahrhunderts nach ihrem Verlauf zu befragen, ihre Herkunft festzustellen und diese Entwicklungslinien in das künstlerische Weltbild der letzten fünfzig Jahre einzutragen.

W.H.

Einleitung

Schöpfertum und Kunst

Lange bevor der Mensch sich als »Künstler« erkennt und sich zu bewußtem, künstlerischem Hervorbringen entschließt, handelt er bereits schöpferisch. Er bildet, er formt sich und seine Welt, er macht das in der Natur Vorgefundene zu seinem Gebilde. Beim Kinde wie beim »Primitiven« ist der formzeugende Gestaltungsversuch zur Gänze ein Akt der Daseinserweiterung und Weltsinngebung. Keine Ästhetik steht ihm rechtfertigend bei. Der indianische Totempfahl, das kretische Tongefäß, das Ruder eines Südseestammes und die afrikanische Tanzmaske – sie wissen nichts von der späten Unterscheidung in bildende und angewandte, darstellende und dekorative, freie und dienende Künste. Noch in Griechenland kennt die Sprache nur ein Wort – techne – für die Kunst und das Handwerk.

Die ursprüngliche Geschlossenheit früher Epochen wird in Spätzeiten der Trennschärfe begrifflichen Denkens ausgeliefert. Der differenzierende Verstand, zum Unterscheiden berufen, versieht seine Aufgabe nur allzu gründlich: vom Ganzen der Welt bleiben nur addierbare Teilaspekte übrig. Auch an den Formgebilden des Menschen wird eine Trennungslinie gezogen: nunmehr zerfallen sie in Kunst- und Gebrauchsgegenstände. Die einen sollen schön sein, die anderen nützen. Das Kunstwerk ist um seiner selbst willen da, meint der Klassizismus des frühen 19. Jahrhunderts und nimmt damit die L’Art-pour-l’art-Auffassung vorweg; hingegen vermögen Gebrauchsgegenstände Vergnügen zu bereiten, insofern man sie benützen kann[1]. Verhängnisvoll wirkt dieser Schiedsspruch: er trennt das Schöne vom Praktisch-Zweckmäßigen, er verherrlicht die zwecklose Form und verstößt das zweckgebundene Gebilde in nüchterne Profanität.

Man ermißt den Preis, den diese allmähliche Absonderung der »schönen« von den »angewandten« Künsten kostete, wenn man die Säle unserer Museen durchwandert. In den Räumen »primitiver« oder exotischer Völkerstämme steht das Ahnenbild neben dem Alltagsgerät, der Tanzschmuck neben dem geschnitzten Türbalken – mit gleicher Sprachkraft begabt, treten alle Formäußerungen nebeneinander auf. Erst in der europäischen Renaissance des 15. und 16. Jahrhunderts, als aus dem Handwerker der gefeierte Künstler wird, nimmt das Tafelbild die Oberstimme an, der sich die »dekorativen« Künste unterordnen. Noch ist freilich der Zeitstil wirksam, auf dessen Tenor sich alle Künste wie auf eine sprachliche Übereinkunft beziehen. Mehr noch: ein Rokokobild etwa steht in so engem Gespräch mit seinem Stilraum, daß es der Rahmung durch Möbel und kunstgewerbliche Gegenstände bedarf: es ist auf ein bestimmtes Interieur, auf eine Stiltemperatur bezogen.

Dieses Wechselgespräch, in dem das Tafelbild sich zuweilen wie ein unwilliger Partner betrug, wird im 19. Jahrhundert fast vollkommen abgeschnitten. Zwischen einem Gemälde von Delacroix und einem Tafelaufsatz der Jahrhundertmitte ist kein Dialog mehr möglich. (Man stünde vor einer peinlichen Überraschung, würden die Bilder der Impressionisten heute in den Interieurs gezeigt, in denen sie von ihren ersten Sammlern in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts aufbewahrt wurden.) Hier nun verlangt das »Echt-Künstlerische«, seiner Eigenbedeutung stolz bewußt, nach Absonderung vom Pseudokunstwerk des industrialisierten Kunstgewerbes und von der profanen Welt der Gebrauchsgegenstände. Vom Höhenweg der künstlerischen Inspiration führt kein Seitenpfad mehr zur formenden Tätigkeit des Handwerkers.

Grenzen der Künste

Im Augenblick, da es das »Kunstwerk« als in sich geschlossene Kategorie gibt, die das Monopol über die schöpferischen Kräfte verlangt, tritt die kritisch-begriffliche Spekulation ihr Taufamt an und gliedert in Gattungen, was früher unzerteiltes Ganzes war. Die Künste, auf sich selbst gestellt und aus der Brüderlichkeit des Gesamtkunstwerkes verwiesen, werden den ästhetischen Landvermessern ausgeliefert, die festlegen, wo die Grenzen zwischen Zeichnung, Malerei und Plastik verlaufen. Oder besser: wo diese Grenzen verlaufen sollen, denn nicht der tatsächliche, sondern der wünschbare Verlauf wird in die Landkarte der Ästhetik eingetragen, nicht wie die Künste sind, sondern wie sie sein sollen, wird umschrieben.

Nicht Kathedergelehrte begannen mit diesem Verfahren, sondern die Künstler selbst – manchmal sogar die größten – haben sich seit der Renaissance gerne in der spekulativen Beckmesserrolle versucht. Der Plastik hat dieses Theoretisieren nur selten echten Erkenntnisgewinn eingebracht, denn zumeist ging es von Voraussetzungen aus, die dem dreidimensionalen Gestalten fremd waren. Man verlangte von der Plastik, was sie nicht leisten konnte. Daß man ihr vom 16. bis zum 19. Jahrhundert beharrlich immer dieselben Mängel und Unzukömmlichkeiten verwies, zeugt nicht von Starrsinn allein, sondern vom tatsächlichen Übergewicht einer vornehmlich malerisch erlebenden Weltanschauung in eben diesen Jahrhunderten, die notwendig dem Maler einen größeren Handlungsraum eröffnete als dem Bildhauer. Darum ist es weder abwegig noch überflüssig, sich der Diskussionen zu erinnern, die seit der begrifflichen Trennung der Künste in Gattungen, also seit der Renaissance, um Wert, Bestimmung und Wesen der Plastik geführt wurden.

Definitionen und Wunschbilder

Sieht man, mit den theoretischen Gesetzgebern der Frührenaissance, die Aufgabe der Kunst in der Nachahmung der Wirklichkeit, so muß man zugeben, daß die Malerei ungleich mehr Wirklichkeit sich anzueignen vermag als die Plastik. Wird der quantitative Wirklichkeitsgehalt zum Gradmesser aller künstlerischen Gestaltung erhoben, so bleibt der Plastik nur ein schmaler Streifen Daseinsberechtigung und sie muß sich den Vorwurf Leonardos gefallen lassen: »Der Bildhauer vermag nicht in der verschiedenfältigen Natur der Färbung der Dinge sich zu vermannigfachen; der Malerei fehlt’s da in keinem Stücke. Die Perspektiven des Bildhauers scheinen nie etwas Wahres; jene des Malers führen Hunderte von Meilen ins Werk hinein. Die Luftperspektive ist ihrem Werke fremd. Sie können nicht die durchsichtigen Körper darstellen, auch nicht die leuchtenden, keine zurückgeworfenen Strahlen, noch blanke Flächen wie Spiegel und ähnliche Körper, keine Nebel, keine trüben Himmel und zahllose andere Dinge …«[2]

Zweifellos enthalten Leonardos Gedanken einen richtigen Kern, doch irren sie in der Schlußfolgerung, der Malerei eigne größere Fülle und Phantasie, indes die Skulptur bloß dauerhafter sei. Gemessen freilich an den illusionistischen Fertigkeiten, die der Renaissancemaler zur naturwahren Wiedergabe von Körper und Raum lernte, erscheint das Repertoire des Bildhauers eng und karg. Doch vergißt Leonardo, daß eben zwischen beiden Künsten ein Wesensunterschied waltet: der Unterschied zwischen dem zweidimensionalen Scheinbild und der vollkörperlichen Formwirklichkeit. Sehr fein hat Herder im 18. Jahrhundert diese Unterscheidung wahrgenommen: »Die Bildnerei ist Wahrheit, die Malerei Traum: jene ganz Darstellung, diese erzählender Zauber – welch ein Unterschied! und wie wenig stehen sie auf einem Grunde! Eine Bildsäule kann mich umfassen, daß ich vor ihr knie, ihr Freund und Gespiele werde, sie ist gegenwärtig, sie ist da. Die schönste Malerei ist Roman, Traum eines Traumes.«[3]

Freilich, wer ganz in der Traumwelt der malerischen Weltverzauberung aufgeht, dem wird die Plastik nur stammeln, wo die Malerei alle Beredsamkeit zu entfalten vermag. So glaubt die malerische Weltaneignung der Skulptur entraten zu können und sie entschließt sich in ihrem späten, romantischen Überschwang – in den Jahrzehnten des »trunkenen Pinselstriches«, wie Delacroix sagte – zu der resignierenden Feststellung, daß sich die Plastik unter allen Künsten am wenigsten zum »Ausdruck der romantischen Idee« eigne (Th. Gautier)[4]. Leidenschaftliche Verwandlung der Welt wollte man aus dem Kunstwerk empfangen und mußte es daher der Plastik als Nachteil anrechnen, daß sie »brutal und tatsächlich wie die Natur selbst ist« (Baudelaire)[5]. Ein Erleben, dem sich die Welt in ein malerisches Schauspiel verwandelte, konnte nicht anders urteilen.

In die Defensive gedrängt, blieb den Bildhauern nur übrig, für Gleichberechtigung zu plädieren: so bereits Michelangelo in einem Brief von 1547[6], in dem er zwar die Plastik das Licht der Malerei nennt, dann aber meint, daß Malerei und Plastik »ein und derselben Intelligenz entstammen«. Doch auch die Gleichsetzung führt in eine Sackgasse – sie ist es ja, die überhaupt den Maler dazu provoziert, seine Überlegenheit auszurufen.

Zwar hatte ein Mann wie Herder erkannt, daß Plastik und Malerei nicht auf einem Grunde stehen, doch hinderte er damit nicht, daß im 19. Jahrhundert der Handlungsraum der Plastik weiterhin an dem der Malerei gemessen und nochmals entscheidend eingeengt wurde. Die Skulptur, doziert Hegel in seiner »Ästhetik«, steht also der Malerei nach, »da sie weder das subjektive Innere in seiner partikularen Innigkeit und Leidenschaft noch – wie die Poesie – eine Folge von Äußerungen darstellen kann, sondern nur das Allgemeine der Individualität, soweit der Körper es ausdrückt«[7].

Ein neues Argument tritt hier auf. In der Renaissance sah man die Plastik im Wettstreit mit der Malerei unterliegen; im Zeitalter des Weimarer Bildungsklassizismus geht man weiter: man bestreitet ihr das Recht, die Wirklichkeit ebenso unvoreingenommen wiederzugeben wie die Malerei. Sie hat nur das Harmonisch-Schöne darzustellen, alles Charakteristische und Leidenschaftliche – vollends aber das Häßliche – überlasse sie der Malerei. Die Saat Winckelmanns treibt Früchte: die Griechen gelten nun als das unerreichte Vorbild, denn in ihren Tagen erhielt die Plastik ihre endgültige Gestalt. Noch Schopenhauer dekretiert: »Daher werden wir uns stets ebensoweit vom guten Geschmack und der Schönheit entfernt haben, als wir uns von den Griechen entfernen …«[8]

Doch selbst die Anbetung der klassischen Formenwelt konnte nicht verhindern, daß man des Zwiespalts gewahr wurde, der zwischen dem idealen Einst und der Wirklichkeit des 19. Jahrhunderts aufklaffte. Man glaubt diesen Konflikt zu lösen, indem man die Plastik als Kunst der Antike, die Malerei hingegen als die eigentliche Kunst des christlichen Zeitalters anerkennt. Man erhebt sie in einen Idealraum und exiliert sie damit in jene zeitferne Unabänderlichkeit, in der jedes Leben hinter der akademischen Maske erstirbt. Man meint, es sei der Plastik gemäß, Körperschönheit, Ebenmaß und edle Sinnenfreudigkeit darzustellen, man macht sie zum Symbol des bejahenden Lebenswillens und räumt der Malerei das Vorrecht ein, die Lebensverneinung zu veranschaulichen (Schopenhauer) – und man ahnt nicht, daß gerade die Beschränkung auf das klassische Ideal den Todeskeim in die plastische Gestaltungskraft bringt. Canova und Thorwaldsen sind mitsamt ihren Nachläufern die stummen Zeugen einer Epoche, die Formenkeuschheit erstrebte, aber in der sterilen Formel stecken blieb.

In letzter Konsequenz wird so die Plastik gerade von denen, die in ihr die Verkörperung hoher Ideale sehen, aus dem lebendigen Zusammenhang mit ihrer Zeit gedrängt, wird sie in ihrer Umwelt zutiefst heimatlos und in die griechische Verbannung geschickt. Zugegeben, nicht nur die Bewunderung der Alten, sondern auch Ratlosigkeit und Unbehagen stehen an der Wurzel dieser Exilierung in die Reiche des klassischen Ideals. Denn bereits im 18. Jahrhundert erkannte man, daß die von den Archäologen wiederentdeckten Beispiele der antiken Formensprache in eine Welt gerieten, deren Wirklichkeit nichts mehr von der »stillen Größe« des Altertums wußte. Die Frage erhob sich: »Was soll nun gebildet werden? Bäume, Pflanzen, Skorpionen, unsere Komplimente, unsre Kleider? Die Natur ist von uns gegangen, und hat sich verborgen, Kunst und Stände, und Mechanismus und Flickwerk sind da; die sind aber, dünkt mich, weder in Ton noch in Wachs zu bilden. Gehe man jetzt auf unsre Märkte, in unsre Kirchen und Gerichtsstätten, Besuchszimmer und Häuser, und wolle bilden. Bilden? was? Stühle oder Menschen? Reifröcke oder Handschuh? Federwische auf Köpfen oder Zeremonien? – Bilden? und wie? durch welchen Sinn?« (Herder, 1778).

Keuschheit oder Leidenschaft?

Ist die Beschränktheit seiner Mittel des Bildhauers Los, so trägt er dieses in vornehmer Resignation: das antike Ideal wird ihm zum Glaubenstrost, er verzichtet auf die Themen, die ihm seine Umwelt bietet, er versagt es sich, Menschen im Zeitkostüm darzustellen, und überläßt es dem Maler, Geschichte und Wandel des Menschlichen wiederzugeben, denn seine Formen eignen sich nicht dazu, da sie »so einförmig und ewig als die einfache und reine Menschennatur« sind. Aus der abstrakten Einförmigkeit, die Herder rühmt, weil er damit die Unwandelbarkeit der idealen Nacktheit meint, wird in der Folge die dogmatische Monotonie des Klassizismus, eine Formensprache, der bald jedes Leben in den Adern gefriert. Nicht auf einen ruhenden Pol, sondern auf eine Insel inmitten der stehenden Gewässer der Tradition wird die Plastik versetzt, und was sie an idealer, antikischer Schönheit gewinnt, muß sie mit Lebensferne bezahlen.

Heilige Stille – Totenstille – senkt sich um die »Bildsäule« – ein akademisch dünner Nachklang der fernen Zeiten, in denen sie als ernstes Götterbild kultisch verehrt wurde. Wohl ahnte der Klassizismus richtig, daß es dem Standbild, dem Mal, zukomme, der Zeit entrückt als geadelte, gestillte Form zu wirken, doch vergaß er darüber zweierlei: erstens, daß das Standbild nicht der ausschließliche Gegenstand der Plastik ist, und zweitens, daß diese Weihestimmung nicht durch die bloße Nachahmung des antiken Ideals zu erzielen war.

Diese religiös gestimmte Verehrung des »höchsten Schönen« führte dazu, daß moralische Gesichtspunkte herbeigeholt wurden, um über die würdigsten Gegenstände des Bildhauers zu entscheiden. Falconet (1716–1791), der Schöpfer des Reiterstandbildes Peters des Großen in Leningrad, nannte die würdigste Aufgabe der Plastik die Erfindung von Tugendmodellen und die Errichtung von Standbildern großer Wohltäter der Menschheit[9]. Der Mensch der Aufklärung entwirft sich eine neue Religion, der Kult der großen Männer beginnt. Die Denkmälerinflation des 19. Jahrhunderts weiß davon zu berichten.

Das Schlichte gesellt sich gerne dem Tugendhaften. Beider Pakt richtet sich gegen Willkür und Ausschweifung. So kommt es, daß die Priester der »keuschen Einfachheit« der griechischen Form nicht nur die »barbarische« und »unbeholfene« Sakralplastik des Mittelalters verachten, sondern noch mehr die eigenwillige, ausschweifende Formensprache des Barock. Die gewalttätig verzerrten Körper Michelangelos (1475–1564) werden kritisiert, die unruhigen, von flatterndem Faltenspiel durchzuckten Gewandfiguren Berninis (1598–1680) als bizarre Verirrungen abgelehnt[10].

Diese Argumentation lenkt die Auseinandersetzung um den Wesensgehalt der Plastik in eine neue Richtung. Bislang war der Maler der hochmütige Gesprächspartner, der dem Bildhauer seine Mängel vorrechnete – nun aber wird eine ganz bestimmte Epoche der europäischen Plastik – sie reicht fast ununterbrochen vom späten Michelangelo bis ins 18. Jahrhundert – nicht von Malern, sondern von Bildhauern verurteilt, weil sie wider die Gesetze der Plastik gehandelt haben soll. Mit anderen Worten: weil sie gerade das versuchte, wozu man sie seit der Renaissance förmlich provozierte: die möglichst dramatische, realistische Nachahmung der Wirklichkeit, ihre Verwandlung in ein leidenschaftlich vibrierendes Formenspiel, ihre Steigerung in eine malerische Illusion, die den Betrachter nicht mehr den Stein fühlen läßt, sondern ihm ein fließendes Ineinander von Licht und Schatten vorzaubert, in dem die greifbare Materie aufgelöst wird.

Zugegeben: der Vorwurf der Klassizisten trifft, sobald man zur unumstößlichen Regel erhebt, daß die Plastik nur mit tastbaren Formen umzugehen habe. Erstmals hat wahrscheinlich Herder diese Beobachtung mit aller Deutlichkeit ausgesprochen und damit zwar die Plastik vom Wettstreit mit der Malerei freigesprochen, sie aber doch empfindlich eingeengt, da er mit seiner Definition jeder Auflockerung der plastischen Formensprache ein strenges Verbot vorschiebt.

»Malerische Plastik« – dieses Schlagwort hat vor mehr als fünfzig Jahren erneut die Geister geschieden, als die abkühlende Reaktion auf Rodin einsetzte und man im Lebenswerk des großen Franzosen nichts anderes als eine unklar-verschwommene Formgebung und die erregte Evokation flüchtiger Stimmungen sehen wollte[11]. Die tastbare, lastende, geschlossene Form wurde gefordert, das plastische Volumen sollte die unwirklich visionären, in Licht und Schatten zerschmelzenden Gebilde ersetzen. Maillol vollzog in seinem Werk den geschichtlichen Auftrag der Besinnung auf die einfache, kraftvoll ruhende Daseinsform. Von da an datiert ein neues Selbstbewußtsein des plastischen Gestaltens. (Vgl. Abb. 1 und 2.)

So notwendig diese Besänftigung und Straffung der Form war, so hat man doch ihre geschichtliche Wirkung überschätzt, als man die gesamte Entwicklung der letzten fünfzig Jahre in die Geleise Maillols lenken wollte. Beide, Rodin und Maillol, sind die Väter unseres Jahrhunderts. Noch heute aber wird das Tasterlebnis überschätzt, wenn man es zum ausschließlichen Kriterium der Plastik erhebt und folglich – nicht anders als die antibarocken Kritiker des 19. Jahrhunderts – zu dem Schluß gelangt: »Die malerische Auffassung der Plastik, die während der Renaissance triumphierte, beruhte auf einer falschen Ästhetik und führte unvermeidlich zum fortschreitenden Verfall dieser Kunst im siebzehnten, achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert.«[12]

Plastik und Skulptur

»Denn eine und die andere Art des Inhalts und der Auffassungsweise liegt der einen oder anderen Art des sinnlichen Materials näher und hat eine geheime Zuneigung und Zusammenstimmung mit demselben.«

(Hegel, Ästhetik)

Der Konflikt, der den Verfechtern der »plastischen« Plastik unversöhnlich erscheint, bezeichnet nichts anderes als die notwendige Polarität, die allem Leben und allem künstlerischen Schaffen eigentümlich ist: die Spannung zwischen Ruhe und Bewegung, zwischen dem konfliktlosen Sein und dem dramatischen Werden, zwischen Klassik und Romantik. Es ist dem plastischen Gestaltungswillen gegeben, beide Erlebnisräume durch Formsymbole auszudrücken.

Keines weitläufigen Philosophierens bedarf es, um diese Doppelnatur des dreidimensionalen Gebildes zu erkennen, vielmehr genügt es, beim richtigen Sprachgebrauch Auskunft zu holen. Im Deutschen spricht man ohne eindeutige Unterscheidung vom Bildhauer und vom Plastiker, von Skulptur und Plastik. Die bedenkenlose Vertauschung dieser Ausdrücke ist so lange unvermeidlich, als man übersieht, daß diese ursprünglich Verschiedenes kennzeichnen sollten.

Im Lateinischen bezeichnet »sculpere« die Arbeit mit dem Meißel an Stein oder Marmor, das Wort »plasticus«, dem Griechischen entnommen, umschreibt die Tätigkeit des Modellierens mit Gips, Ton, Lehm usw. Der ältere Plinius (23–79 n. Chr.) nennt »statuarius« den Künstler der in Metall gießt und »sculptor« den Arbeiter mit dem Meißel. Letzterer ist also der Bildhauer bzw. Bildschnitzer im strengeren Sinn, je nachdem ob er in Stein und Marmor oder in Holz arbeitet. Das Ergebnis seiner Tätigkeit ist die Skulptur.

Plastik leitet sich aus dem Griechischen ab, es bezieht sich zunächst ohne strenge Unterscheidung auf alle Bildnerei, später vornehmlich auf die Arbeit mit formbarem Material wie Gips und Ton. Dieser Abgrenzung der Tätigkeiten des Hauens und Modellierens folgt auch Michelangelo in dem vorhin erwähnten Brief, wenn er von »scultura« dann spricht, sobald etwas »weggenommen« wird (d.h. wenn der Meißel am Block arbeitet), während er von der Tätigkeit des Modellierens, des »Hinzufügens«, sagt, sie sei der Malerei ähnlich.

Wohl mag die strenge begriffliche Unterscheidung zwischen Plastik und Skulptur ohne Schwierigkeit zur Anwendung gelangen, sofern man sich in einer theoretischen Abhandlung mit den Unterschieden des modellierenden und des bildhauerischen Gestaltungsaktes befaßt. Im Bereiche einer geschichtlichen Darstellung macht sie jedoch Schwierigkeiten, denn da die Künstler in der Regel abwechselnd beide Tätigkeiten ausüben, müßte man sie das eine Mal als Bildhauer, das andere Mal als Plastiker bezeichnen. Ein gemeinsamer Dachbegriff für beide Bezirke fehlt und darum muß wohl oder übel die Wahl auf einen der beiden Gattungsnamen fallen. So wird auch in diesem Buch verfahren und in der Regel dem Wort Plastik der Vorzug gegeben, einfach deswegen, weil es im Deutschen bildkräftiger wirkt als die »Skulptur« und weil es überdies das Merkmal der Dreidimensionalität, das allem plastischen Gestalten gemeinsam ist, besonders sinnfällig zum Ausdruck bringt. In Einzelfällen wird jedoch jeweils die bildhauerische Arbeit von der des Modellierens abzugrenzen sein.

Materialgerechtigkeit

Dieser kurze sprachgeschichtliche Exkurs war notwendig, da er an die materiellen, handwerklichen Grundlagen der Plastik erinnert und überdies geeignet ist, im Streit zwischen der malerischen und der tastbaren Form ein entscheidendes Wort mitzureden.

Zweifellos weist eine Bronzeplastik einen anderen Ausdrucksgehalt auf als eine Steinskulptur[13]. Den Stein findet der Bildhauer vor, mit der Härte seines materiellen Widerstandes muß seine ganze Konzeption rechnen. Der Metallguß, ein mechanisches Verfahren, wiederholt die Form, die der Modelleur zuvor im Gips festgelegt hat. Hier entsteht die Form buchstäblich aus dem Nichts, aus der formlosen Materie: um eine Armatur, ein mehr oder weniger kompliziertes Draht- oder Eisengestänge, wird die bildsame Masse gelegt. Nicht nur läßt dieses Verfahren der künstlerischen Einbildungskraft mehr Beweglichkeit und einen größeren Spielraum als die schwierige Arbeit am Stein, es begünstigt überdies das Improvisieren, die versuchsweise Erprobung verschiedener Formeffekte – es kann aber auch, zum Selbstzweck geworden, zu leerer Virtuosität verleiten. Die modellierte Form ist in hohem Grade veränderlich, sie neigt zum Ausdruck des Beweglichen und Flüchtigen, sie gestattet einen großen Reichtum an oft überraschenden Überschneidungen, Verkürzungen und räumlichen Durchbrechungen, sie ist in der Tat auch insofern dem Maler und seinem Verfahren verwandt, als sie es gestattet, das Hinzugefügte wieder zu entfernen, die ganze Formerfindung mitten im Gestaltungsprozeß wieder umzudenken.

Dem Bildhauer fehlt diese Korrekturmöglichkeit. Was er einmal aus dem Stein geschlagen hat, ist nicht wieder rückgängig zu machen. An Stelle des Nichts, des Luftraumes, in den der Modelleur seine Gestalten einsetzt, findet er den Block vor, an dem er seine Bildvorstellung verwirklichen muß. Kann der Modelleur seine Formen auseinander falten und zu reichem Gebärdenspiel in den Raum greifen lassen, so gebietet die Vorsicht dem Arbeiter mit dem Meißel, dem Stein die Geschlossenheit zu wahren, um zu vermeiden, daß exponierte Formglieder, der Stützung beraubt, absplittern. Natürlich hat gerade die Sprödigkeit des Materials immer wieder zu ihrer Überwindung angereizt und dazu geführt, daß es handwerklicher Geschicklichkeit möglich wurde, dem Marmor eine Formenbewegtheit abzugewinnen, die der einer Bronzeplastik kaum nachsteht. Denn auch der Bildhauer bedient sich zuweilen gerne des Tonmodells, um von diesem dann seine Konzeption auf den Stein zu übertragen. Genau genommen, bringt dieses Verfahren »nur Kopien in Marmor nach vorher in Ton gearbeiteten Originalen«[14] hervor. Über die Problematik dieser Methode wird später ein Wort zu sagen sein.

Was die Lichtführung anlangt, von der das vollkörperliche Gebilde in seiner Wirkung so wesentlich beeinflußt wird, so neigt die Bronze zum unruhig bewegten, manchmal metallisch harten und dramatisch akzentuierten Oberflächenglanz, indes der weiße Marmor, wie schon ein Zeitgenosse Goethes feststellte, »vermittelst seiner Durchsichtigkeit das Weiche der Umrisse, ihr sanftes Verlaufen und lindes Zusammenstoßen« befördert (H. Meyer). So wird auch verständlich, warum die Vorliebe der Klassizisten für die milde, gewaltlose Form dem weißen Marmor den Vorzug gab.

In ihrer Beziehung zum Raum zeigt die modellierte Form eine deutliche Tendenz zur Vervielfältigung und expansiven Verräumlichung. Leichter als der Stein vermag sie auch den Raum in sich eindringen zu lassen und aus dem Widerspiel von Form und Zwischenraum ein wichtiges Ausdrucksmoment zu beziehen. Ihre Kräfte greifen gerne zentrifugal in den Raum, indes die Steinfigur nach ihrer ruhenden Kernzone zu streben scheint und das dicht geschlossene Volumen begünstigt.

Gegenüberstellungen und Gegensätzlichkeiten dieser Art lassen sich endlos ausspinnen. Für die künstlerische Praxis haben sie jedoch, streng betrachtet, nur abstrakte Gültigkeit. Diese Behauptung muß mit Widerspruch rechnen. Man wird ihr entgegenhalten, daß der Künstler materialgerecht zu gestalten habe. Diese Forderung ist keineswegs unbillig, solange sie nicht im kategorischen Imperativ ausgesprochen wird. Sie wurde mit besonderem Nachdruck am Ende des 19. Jahrhunderts erhoben, als sich die Plastik von allen handwerklichen Voraussetzungen getrennt und in oberflächlicher Virtuosität verloren hatte. Selbst Rodin, in dem diese Mißachtung der stofflichen Voraussetzungen zu genialischer Verkörperung gelangte, kann nicht von Vorwürfen freigesprochen werden. Nicht, daß er als geborener Modelleur die zerlöste, romantisch exaltierte Formensprache bevorzugte, soll ihm aus der historischen Rückschau unserer Gegenwart verübelt werden, sondern daß er seine Bronzeplastiken von Handwerkern in Marmor übertragen ließ, ohne selbst zum Meißel zu greifen, und daß er seine in kleinstem Format rasch mit der Hand improvisierten Tonmodelle mittels eines mechanischen Vergrößerungsverfahrens (Punktiermaschine) auf den Marmorblock übertragen ließ. Wenn also um die Jahrhundertwende Stimmen laut wurden, die dem »Bildhauer« seine hochmütige Distanzierung vom Handwerklichen vorwarfen und die Trennung zwischen dem Erfinder und dem Ausführer beklagten, so richteten sie sich notwendig gegen das Modellierverfahren, da dieses alle Verantwortung für die artistische Haltlosigkeit der Künstler zu tragen schien. »Was der angehende Kunstjünger meistens lernt, ist ja gar nicht mehr das, was der schöne Name besagt: ›Bild-Hauer-Kunst‹, sondern Modellierarbeit, freies, willkürliches Tonkneten. Und wie hierin der Hauptgrund der Verwilderung zu suchen ist, so liegt zugleich das beste Mittel zur Abhilfe damit zutage: das Arbeiten in Stein und aus dem Stein heraus. Wie überall, so ist auch hier das Material selbst der rechte Erzieher zu gesundem Stil.« Ohne es auszusprechen, setzt diese Auffassung Metallplastik mit Verfall gleich.

1903, als Volkmann diese Beobachtungen über die »Grenzen der Künste« veröffentlichte, war bereits Maillol an der Arbeit um die Rückkehr zum »gesunden Stil« einzuleiten. Zwar bringt er die ersehnte Beruhigung und Zusammenfassung der Form, doch unterwirft er sich dabei keineswegs ausschließlich einem Verfahren. Wäre er den theoretischen Proklamationen gefolgt, so hätte er seine neue Formauffassung nur im Stein verwirklichen dürfen. Als Praktiker jedoch ist er einsichtig genug, um neben dem Stein auch das Gußverfahren gelten zu lassen. Er, dessen Name von den Puritanern strenger Werkgesinnung gerne als Beispiel für materialgerechtes Schaffen zitiert wird, hat manchen seiner Werke eine Stein- und eine Bronzefassung gegeben. Und wenn man heute gerne dem 19. Jahrhundert mangelnde Materialverbundenheit vorwirft, so läßt sich zwar verschweigen, aber nicht leugnen, daß auch unsere Gegenwart, ungeachtet ihrer Reformgesinnung, Verfahren anwendet, die man der akademisch-offiziellen Plastik der Vergangenheit zum Vorwurf macht. Erhebt man z.B. das direkte Heraushauen aus dem Stein ohne Modellhilfe zur bindenden Maxime des Bildhauers, so verwirft man die kubistischen Steinskulpturen von Jacques Lipchitz, die alle nach vorher angefertigten Tonmodellen entstanden sind[15]. Untersagt man dem Künstler, eine Plastik in verschiedenen Formaten oder Materialien auszuführen, so verurteilt man einige der bedeutendsten Schöpfungen der Modernen Plastik, wie z.B. Brancusis Kopf »Mademoiselle Pogany«, von dem es drei verschiedene Fassungen in Marmor, Bronze und poliertem Messing gibt; Henry Moores »Internal-External Forms« existieren als »Plastik« und als »Skulptur«: die Bronzefassung mißt 63 cm, die Holzfigur ist etwa viermal so hoch[16]. (Abb. 30.)

Beispiele dieser Art warnen davor, die Forderung nach Materialechtheit allzu eng zu formulieren. Keine bindende Regel, sondern nur die jeweilige künstlerische Situation kann die Entscheidung herbeiführen. Sie liegt allein beim Künstler. Gerade Lipchitz, Brancusi und Moore deuten an, wie weit dieser im einzelnen Fall gehen darf. Wenn Lipchitz seine komplizierten kubistischen Blöcke zuerst im Ton entwirft, so deswegen, weil er auch im Stein eine glatte, makellose Oberfläche und linealgerade Kanten erzielen will. Es sei daran erinnert, daß auch die griechischen Bildhauer sich zur Arbeit nach dem Modell entschließen mußten, als sie von der starren Frontalität zu perspektivisch gedrehten Figurenbildungen übergingen[17]. (Würde Lipchitz die rauhe, grobkörnige Steinoberfläche anstreben, wie etwa Wotruba, Abb. 7, so wäre das Tonmodell ohne Berechtigung.) Und wenn Brancusi seinen Kopf einmal in Marmor und das andere Mal in Messing ausführt, so nimmt er ganz bestimmte, wenn auch geringfügige Detailveränderungen vor, mit denen er die jeweilige Materialwirkung unterstreicht. Ähnlich Moore: mit Bedacht führte er die vergrößerte Fassung nicht im gleichen Material, sondern in Holz aus und vertauschte damit den kühlen Schimmer des Metalls mit einer warmen, stetigen Körperlichkeit.

Nicht der Umgang mit verschiedenen Materialien sollte also Bedenken erwecken, sondern die leichtfertige Zuflucht bei mechanischen Hilfsmitteln, deren Anwendung diesen handwerklichen Kontakt verhindert. Wer einer Bronzeplastik eine Marmorfassung zur Seite stellt, muß wissen, daß der andere Stoff auch einen anderen Ausdrucksgehalt mit sich bringt, selbst wenn die beiden Arbeiten in Form und Dimension identisch sind. Wohl wird es in der Regel naheliegen, daß der Künstler das Entgegenkommen des Stofflichen ausnützt und er zum Marmor greift, wenn er ein Sinnbild elementarer Einfachheit geben will, indes er sich des Metallgusses bedient, wenn lebhafte, dynamische Inhalte in ihm nach Ausdruck verlangen. Aus dem Material, seinem Gestaltungspartner, kommt ihm entscheidender Zuspruch zu – doch warum sollte er nicht, was einmal in Stein entstanden ist, in der bewegteren Form der Bronze zu neuem Leben erwecken? Wer würde etwa der Ölmalerei die Wiedergabe der Wolken verbieten, weil diese mit Wasserfarben ungleich luftiger und durchsichtiger gemalt werden können?

Schließlich sei nicht vergessen, daß die Materialwirkungen einander in gewissen Fällen überschneiden: ein polierter dunkler Granit vermag ebensoviel unruhig funkelnde Leuchtkraft aufzuweisen wie ein Bronzeguß und sogar der geschmähte Gips, das oft berufene Stigma akademischer Blässe, kann von wissender Hand zu strahlender Weiße gesteigert werden, die selbst den Marmor an immaterieller Erhabenheit übertrifft. (Vgl. »Der Wolkenhirte« von Hans Arp[18].)

Gerade dem 20. Jahrhundert sollte darum die Abzirkelung seines künstlerischen Suchens in kategorische Regelgebäude erspart bleiben, hat es doch – wie später zu zeigen sein wird – für den traditionellen Materialvorrat des Plastikers neue Wirkungsmöglichkeiten entdeckt und zugleich diesen Vorrat durch kühne Kombinationen und neue technische Verfahren unendlich erweitert. Wenn die Besinnung auf »Materialgerechtigkeit« eine heilsame Wirkung auszuüben vermochte, so nicht als dogmatische Reglementierung künstlerischen Schaffens, sondern als Ansporn zur Wiederentdeckung der vielfältigen materiellen Möglichkeiten des plastischen Gestaltens. Das Handwerkliche, vom genialisch gestimmten 19. Jahrhundert als Fron gefürchtet und darum gemieden, trat vor fünfzig Jahren wieder in sein Recht und der Künstler lernte mit dem Stofflichen umgehen, es wirklich handhaben – er lernte aus der Praxis den Mut zum schöpferischen Experiment.

Darum besitzt weder die Bronze das Monopol der bewegten, dramatischen Gestaltungsthemen, noch darf der Stein für sich in Anspruch nehmen, allein für den Ausdruck gesammelter Daseinsruhe zuständig zu sein. Ebensowenig läßt sich der plastische Gestaltungswille auf die malerische Sehform oder auf die Tastform, auf den ruhigen oder den erregten Umriß, auf die glatte oder die zerklüftete Oberfläche festlegen. Im Gegenteil: gerade aus der Spannung beider Pole bezieht er seine Lebenskraft.

Aus der Erkenntnis der beiden Grundtendenzen der plastischen Form – der Verblockung und der Verästelung, der Formvereinfachung und der Formvervielfachung, des undurchdringlichen Würfels und des durchsichtigen Gliedergerüsts – ergibt sich die begriffliche Umschreibung, die unsere Gegenwart für das Phänomen »Plastik« vorzuschlagen hat: Körper- und Raumbewältigung gelten als die beiden Wesenseigentümlichkeiten plastischen Gestaltens, und das Material wird zum Ausdrucksträger und unerläßlichen Strukturakzent erhoben. (Vgl. Bibl. 7.)

Grenzen der Künste: Raum und Fläche

Die Plastik vermittelt zwischen Architektur und Malerei. Aus dieser Zwischenstellung empfängt sie Grenznähte, die zugleich Übergänge sind. Mit der Architektur teilt sie das Dasein im Raum, während sie sich im Relief der Scheinwelt der Malerei nähert. Anders formuliert, wird ihr vermittelnder Charakter noch deutlicher: als Bestandteil der Architektur geht Plastik direkt aus deren Funktionsgliedern hervor: die Karyatiden sind vermenschlichte Sinnbilder der griechischen Tempelsäule; anderseits aber besitzt das plastische Gebilde – wohl nicht ausnahmslos, doch häufig – in der künstlerischen Entwurfszeichnung eine zweidimensionale Vorstufe, aus der es sich zur Dreidimensionalität entwickelt.

Vergessen wir das von der Renaissance inthronisierte und bis ins frühe 20. Jahrhundert gültige Dogma, welches die menschliche Gestalt als höchstes Thema der Plastik preist, und erleben wir Plastik, an kein Darstellungsthema gebunden, primär als Körper- und Raumereignis, so gewinnen wir unserer Betrachtung eine Fülle von Forminhalten aus »Randzonen«, in denen der plastische Formwille in reichen Übergängen, Koppelungen und Überkreuzungen aufbewahrt ist. Wenn es heute möglich ist, raumplastische Architekturgebilde, wie die Pyramiden und den griechischen Tempel, als tektonisch verfestigte Grenzformen der Plastik zu erleben, so hängt diese Erweiterung unseres Blickwinkels zweifellos mit der Tatsache zusammen, daß gewisse kubische Tendenzen in der modernen Plastik die Grenze zwischen Bauwerk und Bildwerk überschritten haben. Im Einzelfall muß dann entschieden werden, ob das Resultat nur ein tektonisches Schema, eine Architektur-Attrappe ist, oder ob es auch Zeichenwert besitzt.

Scheidet die menschliche Gestalt als zentrales Kriterium aus, so gewinnt das plastische Formerfinden eine neue Nachbarschaft zu den »Geräten«, also zu den Gegenständen, die seit der Renaissance an der Peripherie der »angewandten« Kunst leben. So kommt es, daß die Künstler heute wieder sich an »Gegenständen« versuchen oder Paraphrasen auf bestimmte »Geräte« hervorbringen: bereits lange vor Picasso schuf Gauguin eine Keramikvase in Form eines Selbstporträts; Maillol machte einen Türklopfer, einen Spiegelrahmen und schnitzte eine Wiege für seinen Sohn; Brancusi fügte aus Holz einen Torbogen und eine Sitzbank zusammen (Arensberg-Sammlung im Philadelphia Museum of Art); Giacometti entwarf ein »Projekt für einen Platz« und die schwebenden »Mobiles« von Alexander Calder nehmen heute den Platz ein, der früher kunstvoll geschmiedeten Lüstern zukam. (Abb. 31.)

Daraus erklärt sich auch die Empfänglichkeit unseres Jahrhunderts für Formen, die der Ästhetik früherer Epochen wohl kaum als vollwertige Beispiele der Plastik gegolten hätten: wir erleben den Ausdruck raumplastischen Formstrebens im barocken Leuchter, im steinernen gotischen Rankenwerk und im peruanischen Wasserkrug, der die kauernde Menschengestalt mit der Zweckform eines Gebrauchsgegenstandes verschmilzt.

Alle diese Vorstöße in Neuland lassen es ratsam erscheinen, die künstlerischen Ergebnisse des Suchens unserer Gegenwart möglichst umfassend als »plastische Gebilde« zu umschreiben, da damit sowohl die menschliche Gestalt als auch die sogenannte »gegenstandslose« Formerfindung bezeichnet ist.