Zeichen und Gestalt - Werner Hofmann - E-Book

Zeichen und Gestalt E-Book

Werner Hofmann

0,0
14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der Kunsthistoriker Werner Hofmann versteht es, auf knappstem Raum die Entwicklungslinien der Malerei von den Wegbereitern der Moderne im 19. Jahrhundert bis hin zu den wichtigsten Strömungen bis Mitte des 20. Jahrhunderts nachzuzeichnen und zu interpretieren. Durch Analysen der Stilrichtungen und durch monographische Darstellungen der Hauptvertreter wird die Frage nach den neuen Erlebnisinhalten, die von der Malerei bewußt gemacht wurden, umfassend interpretiert. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 260

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Werner Hofmann

Zeichen und Gestalt

Die Malerei des 20. Jahrhunderts

FISCHER Digital

Inhalt

EinleitungDie Kunst ist fragwürdig gewordenDas künstlerische Weltbefinden der GegenwartKunst wird erst in Spätzeiten von »Künstlern« getragenDer Bildbegriff der RenaissanceVersuchungen des »Künstlerischen«: der ManierismusVorstufen der modernen MalereiDas frühe 19. JahrhundertDer ImpressionismusGrundsteine des NeuenDer NeoimpressionismusSymbolismus und JugendstilFrühexpressionisten und PhantastenCézanne und van GoghDie Bewegungen des 20. JahrhundertsDie FauvistenDer ExpressionismusAnalytischer Kubismus und OrphismusDer FuturismusDer Blaue ReiterZwischenbilanzDada und SurrealismusDe StijlDie russischen KonstruktivistenDas BauhausDie beiden Weltentwürfe des 20. JahrhundertsMalerei als Wirklichkeitsinterpretation: Gleichnisse der WeltJuan GrisJacques VillonLyonel FeiningerGiorgio de ChiricoCarlo CarràMassimo CampigliOskar SchlemmerFernand LégerGeorges BraqueHenri MatisseMalerei als Wirklichkeitsinterpretation: Dokumente des Menschlichen - Wandlungen des ExpressionismusMax BeckmannOskar KokoschkaMarc ChagallChaim SoutineAmedeo ModiglianiMax ErnstPablo PicassoKunst als WirklichkeitserfindungPaul KleeWassily KandinskyRobert DelaunayAlberto MagnelliHans ArpSophie Taeuber-ArpJoan MiróWilli BaumeisterLaszlo Moholy-NagyPiet MondriaanDie gegenwärtige SituationKunst in dieser Zeit[Bildteil]AbbildungsverzeichnisBilderteilChronologische ÜbersichtDie Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts in den europäischen MuseenBibliographieAllgemeinGruppen und BewegungenMonographienNamen- und Sachregister

Einleitung

Die Kunst ist fragwürdig geworden

Kunstgeschichte wird geschrieben, seit die Kunst nicht mehr »selbstverständlich« ist. Kunst mußte in einem doppelten Sinne fragwürdig werden, ehe sie in die Epoche ihrer Selbstbefragung eintreten konnte. Es ist kein Zufall, wenn unsere Zeit die Kunstgeschichte zum Forschungszweig erhoben hat: der Historiker erklärt und rechtfertigt Schöpfungen, die sich nicht mehr von selbst verstehen.

Es gibt zwei Vorstellungen vom Kunstwerk, die einander ausschließen: die eine vermutet die stärksten Epochen des Künstlerischen dort, wo dieses ganz in seiner Bestimmung aufgeht, das »Kunstwerk« als isolierter Vorstellungsinhalt noch nicht existiert und sein Schöpfer im Anonymen verharrt - in den Kulträumen, in den Stätten des Glaubens, überall wo ästhetische Spekulation noch nicht zur Worthilfe gerufen wird. Die andere Auffassung bezeichnet als Sinnerfüllung, was ihren Gegnern als Verfallssymptom erscheint: den Augenblick, in dem der Künstler als selbstbewußter Schöpfer hervortritt, seinen Namen unablösbar an seine Bilder und Skulpturen heftet und diese nicht mehr für eine Gemeinde, sondern für ein Publikum bestimmt sind. Der sehnsüchtig in anonyme Räume Zurückblickende meint, nunmehr habe das Kunstwerk seine »höchste Bestimmung« verloren - im andern Lager hält man dem entgegen, daß erst jetzt die Kunst vor ihrer eigentlichen und größten Aufgabe stehe: vor dem Problem ihrer Selbstbestimmung.

In der Renaissance hat die europäische Kunst den ersten Schritt zu ihrer Selbsterkenntnis getan. Zur subjektiven Leistung ausgerufen, bedarf von nun an das Kunstwerk der theoretischen Rechtfertigung, des Freundschaftsdienstes der Philosophen, Literaten und Ästheten. Die Kunst wird interessant und sich selbst zum Problem. Sie wird in den Gelehrtenstuben und Salons diskutiert. Von nun an ist der Künstler von den Stimmen seiner Freunde, Ratgeber und Widersacher umstellt. Er muß sein Wollen definieren. Wissenschaftlicher Ehrgeiz erfaßt ihn und drückt ihm die Feder in die Hand, die zur Polemik, zum Selbstkommentar oder zum theoretischen Lehrgebäude ansetzt. Der Künstler wird zu seinem eigenen Apologeten. Die erste Kunstgeschichte, von Vasari, einem Maler der Spätrenaissance, geschrieben, gipfelt nicht im Geschichtsbericht, sondern in der Proklamation eines Lehrsatzes, in dem spekulativen Bemühen, die künstlerischen Ziele des Zeitalters mit dem Rang ewig gültiger Normen zu versehen. Die Dogmen der Kirche weichen den Dogmen der Kunst. Im Mittelalter waren alle Fragen der künstlerischen Gestaltung in der handwerklichen Tradition eingebettet und der subjektiven Erörterung entzogen. Erst die Renaissance erhebt das Darstellungsverfahren zum Selbstwert, grübelt über den Problemen der Farbgebung, der richtigen Zeichnung und der vorbildlichen Komposition. Das sichere Einverständnis mit dem Absoluten ist dem neuen Künstlertyp entglitten, er muß nun versuchen, seiner im Kunstwerk selbst wieder habhaft zu werden. Er muß wählen, er kann sich der römischen und florentinischen Schule anschließen, in Antwerpen oder Venedig seine Lehrer suchen. Er kann sich aus den Programmen der Akademien einen verbindlichen Kanon für sein Schaffen holen oder allein querfeldein gehen. Im Subjektiven findet jede dieser Fragen ihren letzten Entscheidungsort.

Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts beschränkt sich diese Diskussion auf die Kreise der Kenner und Liebhaber, auf die Künstler und ihre gelehrten Freunde. Der Umstand, daß Kirche und Adel die Künstler in ihren Dienst nehmen, umkleidet deren Existenz noch für einige Jahrhunderte mit dem Anschein von Berechtigung und Notwendigkeit. Erst in der Romantik wird offenbar, daß der Künstler ganz auf sich gestellt ist. Er hat in der neuen bürgerlichen Gesellschaft nur mehr den Reiz des interessanten Außenseiters, des Bohémien, den man die Statistenrolle des Pittoresken spielen läßt. Gleichzeitig kündigt sich ein Wandel in der Erörterung künstlerischer Fragen an. Was bisher in Kennerkreisen ausgetragen wurde, tritt nun vor die Öffentlichkeit. Im Zeitalter der öffentlichen Museen, die deren fürstliche Begründer ihren Völkern stiften, fällt der Reflexion über Wesen und Geschichte des Künstlerischen eine neue, verantwortungsvolle Rolle zu. Ein unendlich erweitertes Publikum, das alle Schichten des Volkes umfaßt, wird zum Partner eines Gespräches, das bislang die Fachleute unter sich austrugen. Menschen, die vordem im künstlerischen Gebilde nur die Verklärung ihrer Religiosität oder den Triumph fürstlichen Machtwillens wahrnahmen, müssen sich nun in den Museen mit einer Welt von Bildern und Skulpturen auseinandersetzen. Aus der Verwirrung, die diese unerwartete Begegnung provoziert, werden neue Aufgaben und neue Begriffe geboren: Kunstpflege, Kunstförderung, Kunsterziehung, Denkmalschutz.

Das demokratisch-utopische Bildungsideal, dem diese Impulse entspringen, ist von der europäischen Kunstgeschichte nicht immer ernst genommen worden. Sie hat nur allzuoft übersehen, daß sie eine Sattelstellung einnimmt: wohl setzt sich in ihr das vom Humanismus begründete Gelehrtengespräch fort, zugleich aber ist es ihre Pflicht, nicht die Kunst dem Volk, wohl aber »das Volk dem Künstler möglichst nahezubringen« (Adolf Loos).

 

Wenn wir mit Walter Gropius unsere Gesellschaft zu einer neuen »optischen Kultur« unterwegs glauben, so obliegt es der gegenwartsbewußten Kunstforschung, das Wissen um die Gesetzmäßigkeiten dieses Weges breiten Kreisen zu vermitteln. Nichts ist erregender, doch nichts auch schwieriger als dieser Forschungsweg, auf dem der Kunsthistoriker unversehens zum Wünschelrutengänger werden kann. Welche Interpretation dabei die »richtige Einstellung« für sich in Anspruch nehmen darf, kann nicht von den Zeitgenossen ausgehandelt werden.

Es ist nicht so, als stünden wir gleich gelassenen Beobachtern am Ufer, indes die Künstler auf hoher See einen neuen Kurs erproben. Wer unter den Kritikern und Künstlern kann aber von sich behaupten, er habe vom Mastkorb aus den künftigen Hafen gesichtet? Von allen Gewißheiten gilt in dieser Stunde nur eine, die elementarste: das Wissen darum, unterwegs zu sein. Eine neue Sinngebung künstlerischen Handelns wird gesucht. Noch immer übertrifft das Pathos des Suchens die Positionen des Gefundenen durch seinen unermüdlichen Elan. Ob Kunst als Treibgut händlerischer Spekulationen, als Objekt emsiger Ausstellungsstrategen oder als Fremdenverkehrsattraktion von Biennalen und internationalen Wettbewerben noch lange weiterbestehen wird, kann niemand vorhersagen. Vielleicht vollendet die Sonderexistenz der Malerei ihr vorläufig letztes Kapitel, sobald die Epoche der künstlerischen Selbstbefragung in ihre Endphase tritt.

Wahrscheinlich kommt dem schöpferischen Insgesamt unseres Jahrhunderts am nächsten, wer die Verzweigungen der letzten fünfzig Jahre bis in das Niemandsland des äußersten Experiments verfolgt, wer nicht mit Dogmen, Schlagworten und Rezepten operiert, sondern bereit ist, den abenteuerlichen Entdeckungen künstlerischen Spürsinns eine vorgefaßte Überzeugung zu opfern. Bedenkt man, daß selbst die kunstgeschichtliche Deutung vergangener Jahrhunderte steten Akzentverschiebungen unterworfen ist, so darf unsere Gegenwart von ihren Interpreten kein endgültiges Wort erwarten. Es gibt keine »Einstellung«, die von sich behaupten kann, den einzigen Schlüssel zu allen Türen des Jahrhunderts zu besitzen. Je weiter der Beobachter seinen Wahrnehmungswinkel öffnet, desto umfassender dürfte der Überblick sein, den er gewinnt. Erst dann vermag der Forscher zu zeigen, wie breit aufgefächert die Möglichkeiten des Augenblicks sind und wie sie insgeheim von einer weitgespannten Erlebniskurve sinnvoll zusammengefaßt werden. Von welcher Stelle einmal eine neue Leitidee aufbrechen wird - das ist die Frage, der unsere gespannte Erwartung zu gelten hat.

Das künstlerische Weltbefinden der Gegenwart

Kunst entsteht heute, in der Mitte des 20. Jahrhunderts, aus einer eigentümlichen Mischung von fragendem Staunen, beobachtender Kühle und experimentierender Erregtheit. Jeder schöpferische Akt ist dem Zugriff der Reflexion ausgesetzt, jeder mündet in den Entschluß, eine Sinnerweiterung des Daseins zu vollziehen. Selbstanalyse ist auch dort das Leitbild künstlerischen Hervorbringens, wo man ins Urtümliche eines unreflektierten, naiven Weltzustandes ausbrechen und sich dabei auf ferne Länder, auf Urzeitliches oder - durchaus bewußt - auf das Unbewußte berufen möchte. Wer vom Baum der Erkenntnis gekostet hat, dem erscheinen - inmitten eines säkularisierten Kunstbetriebes - die Inseln der zeichnenden Kinder und der Laien- und Sonntagsmaler in paradiesischem Licht. Doch selbst die Flucht in Dämmerwelten wird zum gezielten Akt, zum überlegten Sprung aus dem Lichtkreis der Ratio. Der Entschluß, alles zu vergessen - »nichts wissen von Europa, gar nichts. Keine Dichter kennen, ganz schwunglos sein, fast Ursprung« (Klee, 1902) -, selbst dieser ernste Entschluß weiß um das »fast«, das der ersehnten Ursprünglichkeit die fugenlose Dichte verwehrt. »Woher kommen wir, wer sind wir, wohin gehen wir?« - noch im fernen Tahiti hat Gauguin, der Europamüde, mit einem seiner bedeutendsten Bilder diese Frage gestellt, die seitdem nicht verstummt ist. Auf seinem Weg begegnen dem Künstler Menschheitsfragen, er koppelt das Schicksal der Kunst mit weltanschaulichen, religiösen und existentiellen Problemkreisen.

Eine Kunst, deren globales Bewußtsein sich mit jedem Dokument schöpferischen Gestaltens konfrontiert weiß - mit eiszeitlichen Höhlenmalereien, mit afrikanischen Idolfiguren und Kinderzeichnungen -, eine solcherart mit unzähligen Erinnerungen belastete, von Anregungen und Vorbildern umstellte Kunst spiegelt sich in allen Geschichtsräumen und setzt sich mit dem Nächsten wie mit dem Fernsten auseinander. Die gesamte Kunstgeschichte ist ihre Voraussetzung.

Gleich jedem Geschichtsabschnitt, der etwas Neues vollbringen will, bedeutet die Moderne Malerei letzte Konsequenz und zugleich Überwindung einer Vergangenheit. Ihre Wurzeln liegen, so paradox es klingen mag, in eben jener Renaissance des 15. und 16. Jahrhunderts, deren künstlerisches Weltbild sie außer Kraft setzen sollte. Die Renaissance schuf einen neuen Bildbegriff und setzte den subjektiven Gestaltungswillen als entscheidenden Faktor in die künstlerische Rechnung ein. Die erste Erschütterung ihres von objektiven Regeln zusammengehaltenen Weltgebäudes bedeutet der sogenannte Manierismus des 16. Jahrhunderts, in dessen unruhigem Kontur unser Jahrhundert seine Problematik gespiegelt findet. Gelang es damals noch, die auseinanderstrebenden Kräfte auf das allgemein verbindliche Stilkonzept des Barock zu vereinigen, so meldeten sich mit der Wende zum 19. Jahrhundert immer mehr Stimmen, deren unüberhörbarer Anspruch nach einer neuen, ebenso subjektiven wie universalen Sinngebung der Kunst rief. Drei Geschichtsräume - die Renaissance, der Manierismus und das 19. Jahrhundert - müssen umschrieben werden, wenn man die Vorgänge unserer Gegenwart in ihrer Folgerichtigkeit begreifen will.

Kunst wird erst in Spätzeiten von »Künstlern« getragen

»Modern« sein bedeutet den zumeist bitteren, mitunter leichtfertigen Entschluß, aus einem problematisch gewordenen Zusammenhang zu treten und einen neuen zu begründen, bedeutet Zweifel am Konventionellen und dessen Provokation. Verheißungsvoller Zukunftsglaube - »Ich bin der Erste meines eigenen Weges« (Cézanne) - kann mit Niedergeschlagenheit abwechseln. Van Gogh, einer der Väter der »Moderne«, spricht einmal, als stünde er in deren Endphase: »Ganz gewiß werden wir in den Jahren, die kommen, noch schöne Dinge sehen, etwas Erhabeneres aber, als wir schon gesehen haben - nein.«

»Modern« ist ein flüchtiger Ehrentitel. Obzwar er auf ihren Schultern stand, nannte Gauguin die Impressionisten verächtlich die »Salonmaler von morgen«. Die Polemik um das Moderne, um das jeweils Zeitgemäße des künstlerischen Ausdrucks kann erst ausgetragen werden, wenn die Frage nach dem künstlerischen Ausdruck so wichtig genommen wird, daß sie zur Diskussion gestellt und das »Künstlerische« (das sich in früheren Epochen von selbst verstand), also das Subjektive der »Handschrift« und der persönlichen Auffassung zum Gegenstand der Reflexion gemacht wird. Erst eine künstlerische Spätzeit kann diesem Streitgespräch ihre Kräfte widmen.

»Kunst« in unserem heutigen Wortverstand, als in sich abgegrenzte, lehrbare, doch schlechthin unwiederholbare Schöpfung eines einzelnen, »die in niemandes Diensten steht« (Zola) und die sich selbst ihre Gesetze gibt, ist dem Mittelalter noch unbekannt. Auch das Kriterium des Modernen konnte erst Kurswert erlangen, als Kunst zur Künstlerkunst wurde und ihr Schicksal den Dogmenhütern aller Lager ausgeliefert wurde. Die Renaissance lenkte den Blick des Künstlers auf das »Natürliche«, auf die Vielfalt der sichtbaren Welt. Daraus wurden objektive Maßeinheiten abstrahiert: der ideale Kanon des menschlichen Körpers und der genormte dreidimensionale Raum. Innerhalb dieses objektiven Rahmens soll sich von nun an das künstlerische Handeln vollziehen: von bestimmten Gesetzmäßigkeiten gesteuert und auf das Wunschbild eines absoluten Ideals ausgerichtet - dem der »göttliche« Raffael am nächsten kommen wird -, bietet sich dem künstlerischen Gewissen zugleich auch ein Ventil, ein Seitenpfad subjektiver Abweichung von der breiten Straße der Norm. Die Dialektik der kommenden Entwicklung ist damit bereits entworfen: die Proklamation des Idealschönen muß zum Widerspruch herausfordern, indes: »Der Subjektivismus fordert die Akademie, so paradox es klingt.« (Riegl.) Regel und Verstoß, Gesetzhörigkeit und Anarchie - das sind die Möglichkeiten, nach denen künftighin die Pendelkurve einer Kunst ausschlagen wird, die im Künstlerischen ihre oberste Instanz verehrt, die das Genie vergöttlicht und das künstlerische Gebilde in ästhetische Sakralräume rückt.

Aus dieser Weihestimmung resultiert die Vorstellung, die sich die letzten Jahrhunderte vom Kunstwerk gemacht haben. Man bewundert in ihm das überlegene Können, man betrachtet es als eine Insel des Schönen in einer profanen Welt. Die Kunst wird künstlich und allmählich exklusiv. Vergeblich sieht man sich im Mittelalter nach dem »Publikum«, dem Sammler und Händler, dem Kenner und Kunstkritiker um. Ihre Existenz wird erst möglich, wenn Kunst von Künstlern getragen wird. Hier liegt die Schaffensproblematik unserer Epoche umschrieben: sie mußte das Künstlerische und Genialische am Kunstwerk - »der Maler soll sich vor allem das Schauspiel seiner eigenen Göttlichkeit schenken« (Apollinaire) - bis zur äußersten Radikalität verwirklichen und danach dessen Überwindung in Angriff nehmen.

Der Bildbegriff der Renaissance

Sollte dieses vom Geniekult der Renaissance inszenierte Schauspiel der »Göttlichkeit« in geregelten Bahnen verlaufen, so mußte ihm ein Generalbaß gegeben werden: die Zentralperspektive und die Lehre von den idealen Proportionen des menschlichen Körpers. Mit diesen beiden Instrumenten ausgerüstet, glaubt sich die Renaissance in ihrer ersten Phase der voraussetzungslosen Wirklichkeitserkenntnis zum Greifen nahe. Beide ermöglichen es, die Welt der Sichtbarkeitsfakten von der Folie des Jenseits abzulösen, sie auf den Menschen, das Zentrum des neuen Weltbildes, zu beziehen und mit dem Recht auf kausale Selbstbestimmung auszustatten. Wirklichkeit, die im Mittelalter nur als Hinweis auf eine Welt jenseits der Sinnenwelt galt, muß nun in ihrer Diesseitigkeit verankert und eingegrenzt werden. Jetzt, da Wirklichkeit die Allherrschaft antritt, zerfällt sie zur Stückhaftigkeit und wird im Porträt, in der Landschaft und im Stilleben zur bloßen Bildgattung fragmentiert. Noch andere Folgen stellen sich ein. Man erkennt, daß die Zentralperspektive vom tatsächlichen Bestand der Welt stets nur ein Stück Endlichkeit in das Bild aufzunehmen vermag. Die Logik des Verfahrens zwingt zum Ausschnitt, und dieser fordert einen ihm gemäßen »Behälter«: das Tafelbild, in dessen Geviert die wichtigsten Entscheidungen der kommenden Jahrhunderte fallen werden. Der Ausschnitt, die vom Verstand diktierte und konstruierte Beschränkung auf einen bestimmten, abgespaltenen Wirklichkeitssektor, hat neue Felder der Sinnenwelt erschlossen und im gleichen Atemzug dem Diktat des empirischen Hier und Jetzt unterworfen. Das Bild ist zur Atelierschöpfung geworden. Einmal beweglich geworden, vermag es Ort und Besitzer zu wechseln. Bald wird man ihm einen künstlichen Aufbewahrungsraum schaffen müssen, ein ästhetisches Reservat, ein Provisorium, das als Tempel deklariert wird: das Kunstmuseum.

Die vom Ausschnitt definierte Guckkastenwirklichkeit unterscheidet sich wesentlich vom »wirren« Wirklichkeitskonglomerat mittelalterlicher Bilder; sie ist schärfer und präziser, für den logischen Verstand (der vom Bild getreue Wirklichkeitswiedergabe verlangt) eindeutiger, in ihrer Substanz hingegen enger geworden. Immer wieder haben darum die folgenden Jahrhunderte versucht, die kühlen Verstandesriegel zu sprengen. Im Bereiche des phantastischen Ausdrucksverlangens, dem weder Erfahrung noch Vernunft den Weg weisen, wird der Wirklichkeitsausschnitt von der umfassenderen Welt des Irrationalen übertroffen. Die Interpreten allegorischer oder mythologischer Bildinhalte bedienen sich einer Bildregie, die auf die Fiktion des Erhabenen abzielt. Den vernehmlichsten Befreiungsakt von der Willkür des Rahmens setzen die Wand- und Deckengemälde des Barock, in denen das künstlerische Schaffen seinen architektonischen Ort wiederfindet. Indes, der einmal eingeschlagene Weg mußte bis zum Ende ausgeschritten werden. Im Ereignisfeld des Tafelbildes haben sich die ersten Kapitel der Modernen Malerei abgespielt. In ihrem Protest gegen die Isolierung der künstlerischen Schöpfung und die Fragmentierung der Welt im Augenblicksausschnitt setzte sie zum Griff nach einer größeren »Wirklichkeit« an, deren Vielschichtigkeit die Herrschaft der Zentralperspektive und das damit zusammenhängende Monopol des Tafelbildes überwinden sollte.

Nicht in der Eroberung der empirischen Wirklichkeit liegt die Tat der Renaissance, sondern in ihrer Systematisierung. Bereits die Spätgotik näherte sich schrittweise der Natur, doch fehlte ihr der systematische, wissenschaftliche Ansatz und die definitorische Umsicht. Erst das 15. Jahrhundert verschreibt sich der enzyklopädischen Weltbeschreibung. Und nun ergibt es sich, daß diese Welt, wenn sie nicht in ihre Fakten zerfallen soll, eines Mittels bedarf, das ihr formale Geschlossenheit gewährt und das Kunstwerk davor bewahrt, zur Reproduktion des Tatsächlichen zu degenerieren. Die Perspektive reicht dazu nicht aus, da sie nur die logische Anordnung der Dinge im Raum regelt. Mit dem von ihr verwalteten ungeheuren Wirklichkeitsbestand konfrontiert, bieten sich dem Maler zwei Wege: entweder beschränkt er sich darauf, die Tatsachenwelt so getreu wie irgend möglich wiederzugeben, oder er erblickt in eben dieser Tatsachenwelt nur ein »Wörterbuch« (wie Delacroix später sagen wird) und versucht, die empirische Welt in eine ästhetische zu läutern, das Natürliche zu edler Verhältnismäßigkeit und idealer Schönheit zu destillieren.

Im Spannungsfeld dieser beiden Entscheidungen, die man mit den Begriffen Realismus und Idealismus getauft hat, ereignet sich die künstlerische Diskussion der kommenden Jahrhunderte. Die Entscheidung der Hochrenaissance fällt zugunsten der Läuterung, Idealisierung und Stilisierung der Wirklichkeit. Doch nur für kurze Zeit vermögen die Klassiker die Welt der Erscheinungen mit der versöhnenden Geste des Schönen zu überwölben. Unversehens bricht am Rande ihres Lebenswerkes der Konflikt zweier polarisierter Wirklichkeitsansprüche auf: der rohen, ungeordneten Wirklichkeit der Fakten steht jene der Ideen gegenüber. Die Kontroverse der mittelalterlichen Philosophie - ist die Wahrheit in den Dingen oder in den Universalien zu suchen? - lebt unter neuen Vorzeichen wieder auf. Das Konkret-Dingliche trennt sich vom Abstrakt-Allgemeinen; der niederen Welt des Tatsächlichen wird eine Idealwelt übergeordnet, in der die Künstler - nach dem Willen ihrer theoretischen Ratgeber - die Natur verbessern und im Zustand ihrer Vollkommenheit veranschaulichen sollen. Beide Entwicklungslinien führen bis in das 20. Jahrhundert: die eine greift immer unbekümmerter in die Wirklichkeit, indes sich die andere der Stilisierung zuwendet und die grobe Physiognomie des Wirklichen zu abstrakter Schönheit glätten möchte. Die Problematik selbst der gegenstandslosen Kunst ist von diesen beiden Erlebnispolen geprägt.

Versuchungen des »Künstlerischen«: der Manierismus

Das strahlende Erbe Raffaels gerät bald in das Zwielicht des Zweifels. Besitzt sein Beispiel ewige Gültigkeit, so muß man ihm blindlings folgen - ist seine Deutung der Welt hingegen nur eine von vielen möglichen, so muß daraus geschlossen werden, daß es keine objektiven Normen gibt. Ein bald verzweifeltes, bald selbstgefälliges Suchen und Experimentieren hebt an und bestimmt die Züge des Manierismus, der die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts umfaßt. Das künstlerische Handeln wird von Extremen beherrscht: glaubt sich die subjektive Willkür aller Fesseln ledig, so blickt der akademische Flügel wie gebannt auf den Stilentwurf der Klassiker und bemüht sich, aus deren Formenvorrat eine neue Objektivität, eine nicht mehr am Natürlichen, sondern am Künstlichen abgelesene Ordnung, ein formelhaftes Idealkunstwerk zu konstruieren. Wahlfreiheit ist das Kennwort dieser »ungeheuren Disturbation«: Ratio neben Mystik, konstruktive Kälte neben expressiver Formverzerrung, »Porträt neben Formel, Genre neben überirdischer Bedeutsamkeit, Wirklichkeit neben ihrer Überwindung« (Dvorak). In ebenso erschütternder wie selbstherrlicher Weise auf sich gestellt, erfährt diese Epoche die Vorläufigkeit allen künstlerischen Strebens und die Relativität jeder Leistung: »Früher erschien die Kunst Zeitgenossen wie sie war, immer als das Absolut-Notwendige. Jetzt ist sie Gegenstand ästhetischer Wahl« (Riegl). Die subjektive Phantasie empfängt einen umfassenden Freibrief. Das Phantastische, vordem an bestimmte Motive aus der Heiligen Schrift gebunden (Versuchung des Heiligen Antonius), muß neu konstituiert und im Künstler selbst gerechtfertigt werden. Man räumt ihm ein, Gebilde hervorzubringen, sogenannte Capriccios, die einzig seiner Einbildungskraft ihren Ursprung verdanken. Doch auch dort, wo man von der subjektiven Ausschweifung zu einem »Stil« zurückfinden möchte, geht der Künstler nicht mehr bei der Natur in die Lehre: er sucht aus anerkannten, vorbildlichen Kunstwerken abzulesen, was der Natur an Vollkommenheit fehlt. Erstmals in der abendländischen Kunstgeschichte wird das ästhetische Experiment ausgerufen: Kunst wird aus Kunst erzeugt; aus dem künstlerischen Gestaltungsakt ist ein geistiger Prozeß geworden, der seinen Schwerpunkt in der »Idee«, in der inneren Vorstellung des Malers besitzt. Der Künstler will nicht den realen Gegenstand, sondern dessen Wesen nachbilden. Die Manieristen meinen, das künstlerische Gestalten vollziehe sich vornehmlich in der Phantasie, seine Ergebnisse würden auf der Leinwand nur in äußeren Zeichen festgehalten. Eine neue Instanz, die innere Gewißheit des subjektiven Schöpfers, verlangt das Entscheidungsamt im Streit um den gültigen künstlerischen Ausdruck. Diese Wunschziele haben in unserem Jahrhundert vertrauten Klang. Wir spüren in ihnen den fernen Ansatz einer Entwicklung, an deren Ende schlechthin jede Art des künstlerischen Handelns vom subjektiven »Einfall« und von der »inneren Vorstellung« ihre Legitimation empfangen wird.

Diese ungeheure Anspannung des artistischen Selbstbewußtseins wird von ironischer Skepsis gequält. Dieselbe Epoche, die sich im Kunstwerk vornahm, die Wirklichkeit zu idealisieren, setzt Wirklichkeit im ungestalteten Rohzustand in ihre Schöpfungen ein, läßt realistische und abstrakte Bildelemente unvermittelt aufeinanderstoßen. (Ein ähnliches Verfahren demonstrieren die Collagen der Kubisten.)

Die Problematik, mit der sich der Manierismus konfrontiert sah, bestimmt die europäische Kunst bis zum heutigen Tag. Er hat künstlerische Verfahren erfunden, die unsere Gegenwart vorwegnehmen. Sein Eifer, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, gibt seinem Handeln tragische Färbung. Mit dem Versuch, den Schwerpunkt der Kunst in der Kunst selbst zu begründen, ist er unserem Jahrhundert vorausgegangen - nicht minder aber mit dem Entschluß, diese Isolierung des Nur-Artistischen zu überwinden.

 

»… das Ergebnis war ein scheinbares Chaos, wie uns unsere Zeit als ein Chaos erscheint«, schrieb Max Dvorak, der vor Jahrzehnten aus der Sicht des Expressionisten den Manierismus wiederentdeckte. Erst der barocke Stilentwurf und das klassizistische Regelgebäude vermochten das künstlerische Schaffen aus der bald grüblerischen, bald triumphierenden Selbstbewegung zu erlösen und nach bestimmenden Leitbildern zu ordnen. In den romanisch-katholischen Ländern, wo das heroische Pathos des idealen Menschenbildes begründet wurde, pflegt man besonders die religiöse Allegorie und das Historienbild, indes sich der Norden, vor allem das protestantische Holland, dem Charakteristischen und selbst dem Gewöhnlichen und Häßlichen zuwendet. Eindringliche Naturbeobachtung erschließt das Für-sich-Sein der Welt und der Dinge in den profanen Bildgattungen der Landschafts- und Stillebenmalerei. Bescheiden und anspruchslos nimmt sich diese »auf dem ruhigen Dasein und einer liebevollen Gegenwart« (Goethe) beruhende Malerei neben der kunstvollen Gebärde der Italiener aus, in der dem Künstler das Herrscheramt über die Natur zufällt. Ihr geht es nur darum, ein Stück Wirklichkeit möglichst lebensnah wiederzugeben, sie kümmert sich weder um das Vorbild der Antike, noch um die Rezepte der Kunsttheoretiker.

So stehen zwei Weltbilder unversöhnt nebeneinander. Im 18. Jahrhundert veranschaulicht das Verhältnis Winckelmanns zu Rousseau, daß sich dieses Nebeneinander allmählich zur Gegensätzlichkeit verschärft. Kunst und Natur stellen sich wechselseitig in Frage. Winckelmann meint: »… im Ganzen muß die Natur der Kunst weichen«, denn bereits die Betrachtung hoher Kunstwerke vermittle eine hohe Idee von der Wirklichkeit. Hingegen hält Rousseau Gericht mit der Kunst im Namen der ursprünglichen Lebensmächte. Beide Auffassungen sind in unserem Jahrhundert zu Programmen gediehen: ein Flügel fordert die Allherrschaft der Kunst, der andere die Allherrschaft des Lebens.

Vorstufen der modernen Malerei

Das frühe 19. Jahrhundert

Im 19. Jahrhundert fallen die Entscheidungen in Frankreich. Wirklichkeit und Ideal, spontane Niederschrift oder Stilisierung der Umwelt bestimmen erneut die Dialektik der künstlerischen Situation, die sich einem neuen Kapitel der Selbstdarstellung zuwendet: der künstlerischen »Handschrift«. In Ingres (1780–1867) versammelt sich noch einmal das Kunstwollen des Klassizismus zu großer Form. Delacroix (1798 bis 1863), sein Gegenspieler, unterscheidet sich weniger durch die Themenwahl, als durch sein malerisches Temperament von der gefrorenen Monumentalität des älteren Rivalen. Seine stürmische Einbildungskraft läßt alles Lebendige in Leidenschaft aufglühen. Der Pulsschlag des Daseins macht seine Bilder erzittern, die Flutwellen romantischer Ergriffenheit erzwingen eine unmittelbare Malweise: die Pinselschrift wird beschleunigt, sie wird zum Erregungsträger, zum Psychogramm. Delacroix läßt den Akt des Malens auf der Leinwand sichtbar werden, indes Ingres ihn in kühler Perfektion verbirgt.

Delacroix faßt noch einmal den ganzen Kosmos in seinem Schaffenskreis zusammen: er malt Wand- und Deckenbilder, er erntet im offiziellen »Salon« Erfolg und gehört doch auch zu den entscheidenden Wegbereitern des Impressionismus, also der letzten Phase spontaner Wirklichkeitserfassung im Bereiche des zentralperspektivischen Bildraumes. Nicht nur die skizzenhafte, lockere Handschrift trägt ihm den Ruf eines Vorläufers ein, auf den sich die abschließenden Theoretiker des Impressionismus berufen werden, sondern auch seine Landschaften, in denen die Natur den Atelierton verliert und sich zu leuchtender Farbigkeit aufhellt. Angeregt zu diesem Schritt wurde Delacroix von den Engländern Constable und Bonington, die 1824 in Paris ausstellten. Konnte ihr Beispiel in der dicht zusammenwirkenden Atmosphäre von Paris nicht übersehen werden, so blieben ähnliche frühimpressionistische Versuche von Karl Blechen (1798–1840), Adolf Menzel (1815 bis 1905) und Adalbert Stifter (1805–1868) in Deutschland und Österreich ohne unmittelbare geschichtliche Nachfolge.

Indes sich in der ersten Jahrhunderthälfte die radikale Versinnlichung der materiellen Wirklichkeit vorbereitet und die Ansätze des daseinsfrohen Weltbildes der Impressionisten entworfen werden, verdüstert sich dieselbe Welt in den Visionen und Alpträumen all derer, die hinter der Oberfläche der sichtbaren Dinge den Atemhauch des Unsichtbaren ahnen. Bedrängnisse und Gefährdungen erleiden sie in einer Welt, die von den anderen sorglos ergriffen wird. Diese begnügen sich in ihrem unbefangenen optimistischen Wirklichkeitseifer mit den vordergründigen Aspekten der Welt - Zweifel, Ängste und Ungewißheiten bleiben ausgegrenzt. Vornehmlich drei Künstler haben jedoch diese subjektiven Erlebniskreise aufgegriffen und aus ihnen die Symbole des Hintergründigen geprägt: der Schweizer Füßli (1741–1825), der Spanier Goya (1746–1828) und der Engländer Blake (1757–1827).

Der Impressionismus gilt in der allgemeinen Überzeugung als das Zentralgestirn des 19. Jahrhunderts. Für die Moderne Malerei wurde er zur sichtbarsten, doch nicht ausschließlichen Ursprungszone, indem er zur Besinnung und Vertiefung des künstlerischen Handelns herausforderte. Wie stark jedoch die dissonante Welt der Phantasten (die sich im 20. Jahrhundert als Surrealisten deklarieren werden) und die strenge Form des Klassizismus fortzuwirken vermochten, wird der folgende Abschnitt darlegen. An Vorwegnahmen reich, scheint das frühe 19. Jahrhundert dann am kühnsten, wenn es sich in der Sphäre des Gedankens auf die Zukunft hin bewegt: Goethes Gestaltvorstellung entwirft einen ganzheitlichen Kunstbegriff, an den unsere Gegenwart anknüpfen wird; in den Gedanken der Romantiker wird bereits das gegenstandslose Bild als Möglichkeit formuliert; Hegels Geschichtsphilosophie dekretiert: »Wenn es um einen Endzweck in der Kunst überhaupt zu tun ist, so muß dieser als ein Anundfürsichseiendes bestimmt werden.« Gleich dem Denken, das anhebt, sich selbst zu denken, betritt das Kunstwerk nunmehr den letzten und radikalsten Abschnitt seiner Selbstdarstellung und Selbstrechtfertigung.

Der Impressionismus

Die Malerei des Impressionismus verlockt zu feuilletonistischer Beschreibung. Es will uns heute scheinen, als hätten diese Maler die Welt mit einem Zauberstab berührt. Sinnenfreude leuchtet aus jedem Bild, kein Schatten menschlicher Tragik, kein Mißklang dringt in diesen Garten Eden ein, in dem der Mensch in schöner Sorglosigkeit seine Tage zubringt. Trunken vom »Überfluß der Welt« und vom farbigen Schimmer selbst der einfachsten, bescheidensten Dinge, überträgt das Auge des Künstlers die Erscheinungsformen in ein subtiles, lichtgesättigtes Farbgewebe.

Formulierungen dieser Art umschreiben das rückblickende Erlebnis eines Jahrhunderts, dem als farbige Weltverklärung erscheint, was von den Zeitgenossen der Impressionisten im Gegenständlichen als vulgär und in der Malweise als chaotisch erlebt wurde. Das Eigentümliche dieser Künstlergruppe, die kaum länger als ein Jahrzehnt, von 1874 bis 1886, als Gemeinschaft auftrat, liegt in der Vieldeutigkeit ihrer geschichtlichen Leistung. Ursprünglich als Spottname geprägt, trifft der Begriff »Impressionismus« (von impression - Eindruck) insofern das Richtige, als sich diese Maler eine Fülle neuer Eindrücke erschlossen. Sie griffen in die Vielfalt der großstädtischen Welt, entdeckten das lärmende Treiben auf den Boulevards, die Festtagsstimmung der Gasthausgärten und den Zauber der Vorstadtlandschaft. All das konnte erst von Malern gesehen werden, deren Erlebnisnerv ganz auf das Spontane, auf die Oberflächenvibration und auf den flüchtigen Augenblick ausgerichtet war. Die neuen Bildthemen, die in ihrer Gesamtheit ein Panorama des modernen Lebens bieten (das schon Baudelaire den Malern empfohlen hatte), konnten freilich nur Abscheu bei einem Publikum erwecken, das in Bildern eine Idealwelt oder eine sentimentale Anekdote suchte, nicht aber die »gewöhnliche« Wirklichkeit der Rennplätze, der sonntäglichen Ruderboote oder der Ballettproben. Diese Bildthemen mußten Proteste hervorrufen, wie sie bereits der harte Realismus Courbets hinzunehmen hatte.

Die eigentliche Provokation der Impressionisten ging indessen von ihrer Malweise, oder besser: von ihrem Farbauftrag aus. Aus der von Delacroix erworbenen Lizenz des rasch hingeworfenen Farbflecks machten sie eine neue Technik. Zeichnung und geschlossener Umriß wurden unterdrückt, und an Stelle dieser beharrenden, stabilisierenden Elemente des Bildgefüges wanderten locker ineinander verwobene Farbpartikel über die Leinwand. Diese flackrige Unruhe ließ die Gegenstände ineinander übergehen, verwischte die Grenzen zwischen Vorder- und Hintergrund, zwischen Himmel und Erde, zwischen den Dingen und ihren Schatten. Eine so weit auflösende Malweise, die alles Dingliche im Pinselauftrag zerschmolz und das Bild scheinbar unfertig entließ, rief Verwirrung hervor. Den Impressionisten ging es darum, der Erscheinungswelt so nahe als möglich auf den Leib zu rücken. Sie gingen mit ihren Staffeleien ins Freie, sie unterwarfen sich dem flüchtigen Diktat unbeständiger Lichtstimmungen, nur von dem Ziel besessen, das wechselvolle Schauspiel des Atmosphärischen in allen Nuancen einzufangen. Dieser Drang zum Augenzeugen wies der Farbe zentralen Rang zu: sie allein sollte als Gegenstandsmittler auftreten und neben ihrer Abbildfunktion den Bildorganismus zu einem schwingenden Klangkörper zusammenfassen. Farbe wird zum Lichtträger, sie soll nicht mehr die Dinge beschreiben, sondern ihre chromatische Evokation vollbringen. Ein beinahe visionäres Wunschbild schwingt in diesen Vorstellungen mit: die zur bloßen Erscheinung reduzierte Wirklichkeit soll im farbigen Licht des Bildes ihre künstlerische Rechtfertigung empfangen. Die Außenwelt ist der stimulierende Anlaß, ist die bunte Summe aller »Eindrücke« - doch erst auf der Leinwand läßt der Künstler ein Bleibendes entstehen, treten die Erscheinungen zu einem farbigen Kosmos aus Spannung und Gleichgewicht zusammen. Die farbige Atmosphäre ist das Allumfassende, in dem die zerlösten, an ihren Konturen unscharf gewordenen Gegenstände der Welt wieder zur Ganzheit zusammenwachsen sollen.

Es gab kein impressionistisches Programm und keine Theorie. Von der wechselnden Zahl der Maler, die sich an den Gruppenausstellungen beteiligten, darf nur eine Minderheit mit den hier skizzierten Zielen identifiziert werden. Manet (1832–1883), als Anreger von großer Bedeutung, steht künstlerisch in einiger Distanz zur Bewegung; Monet (1840–1926), Pissarro (1831–1903) und Sisley (1839–1899) waren die konsequentesten Verfechter des neuen Sehens; das Lebenswerk von Degas (1834–1917) und Renoir (1841–1919) fällt nur teilweise mit den impressionistischen Bestrebungen zusammen. Noch ehe die Bewegung zerfiel, schrieb Zola 1880 ihren Epilog: »Das eigentliche Unglück ist, daß keiner von den Künstlern dieser Gruppe die neue Ausdrucksweise, die sich in allen ihren Werken verstreut findet, machtvoll und endgültig zu formulieren vermochte. - Sie sind alle Vorläufer. Das Genie ist nicht aufgestanden. Wir können ihre Absichten sehen und ihnen zustimmen, doch suchen wir vergeblich das neue Meisterwerk, den Grundstein des Neuen … Darum hat der Kampf der Impressionisten sein Ziel nicht erreicht; sie bleiben ihrem eigenen Vorhaben unterlegen, sie stammeln, unfähig, Worte zu finden.«