Die Präparatorin - Andreas Wagner - E-Book

Die Präparatorin E-Book

Andreas Wagner

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  • Herausgeber: Emons Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Eine ungewöhnliche Heldin auf der Suche nach einer grausamen Wahrheit, rätselhaft, düster, trügerisch. Als Tierpräparatorin Felicitas Booth eine Kiste mit Erinnerungsstücken ihres Vaters entdeckt, gerät ihre Welt ins Wanken. War er doch nicht nur das unschuldige Mordopfer, für das sie ihn jahrzehntelang hielt? Was geschah auf jener Afrikaexpedition, die nur die Hälfte der Teilnehmer überlebte? Felicitas beschließt, sich der Wahrheit zu stellen – ohne zu ahnen, welche Folgen das für ihr Leben hat.

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Seitenzahl: 321

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Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

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©2019 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: Clayton Bastiani/Arcangel Images Umschlaggestaltung: Nina Schäfer Lektorat: Marit Obsen eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-589-3 Originalausgabe

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1

Das Blut trocknete. Ganz vorsichtig rührten sich ihre kleinen Finger. Ihr Blick blieb auf die Handinnenflächen gerichtet. Die Haut spannte. In den Furchen hob sich die brüchige Schicht, riss und blätterte in winzigen Bruchstücken ab. Das Weiß darunter leuchtete im dunklen Rot. Ihre Finger zitterten nur wenig. Eine kaum wahrnehmbare Bewegung, der sie keine Beachtung schenkte.

Die Stille lärmte in ihren Ohren. Für einen kurzen Moment kniff sie die Augen zu. Ihre blutigen Kinderhände konnte sie dennoch sehen. Schwarz hoben sie sich vor einem hellgrauen Vorhang ab. Würde sie ihre Finger denn noch bewegen können, wenn alles Blut getrocknet war? Fest drückte sie gegen den Widerstand an und schüttelte ihre langen blonden Locken.

Mit lauwarmem Wasser ging das alles wieder ab. Blut war Blut, auch wenn es jetzt so viel starrer wirkte. Mit lauwarmem Wasser und Seife hatte sie es noch jedes Mal restlos wieder herunterbekommen.

Auch unter den Nägeln musste es weg. Es musste herausgekratzt werden mit einem der kleinen goldenen Werkzeuge, die für die gründliche Reinigung in der Toilette bereitlagen. Ordentlich nebeneinander aufgereiht steckten sie in dem Etui, das mit grobem Krokodilleder bespannt war. Kratzte man es nicht vollständig heraus, gab es braune Ränder unter den Fingernägeln. Schmutzige Bogen, die sie verraten würden. Der erhobene Zeigefinger der Mutter wäre unausweichlich, ermahnende Worte, begleitet von weit nach oben gezogenen Augenbrauen. Der Stubenarrest folgte dann unmittelbar, was gleichbedeutend mit Werkstattverbot war. Zwei, drei oder vier Tage? Von der Laune ihrer Mutter, nicht vom Schmutz hing die Dauer der Strafe ab. Hatte sie einen schlechten Tag, reichten die dunklen Ränder unter ihren Fingernägeln für mehr als eine Woche.

Sie ballte ihre Hände zu kleinen Fäusten. Die trocknende Blutschicht verband alles noch besser miteinander. Ein Klebstoff, der Finger und Handinnenflächen für immer zusammenfügte. Harte Fäuste sollten sie bleiben, für den Rest ihres Lebens auf ewig verbunden.

Sie riss beide Hände auf. Kleine Blutblättchen tanzten im Licht der Neonröhre durch die Luft und sanken zu Boden.

Sie hatten wieder gestritten. Mama und Papa. Diesmal war das Geschrei aus der Küche gekommen. Ungemindert laut, weil sie sicher waren, dass sie längst schlief. Wer aber konnte bei so einem Krach ein Auge zubekommen? Nicht einmal die Bettdecke über dem Kopf brachte Linderung. Irgendwann hatte sie aufgehört, sich darunter zu verstecken. Sie mochte die stickige Hitze nicht.

Papa war kaum zu hören gewesen. Ein dumpfes Brummen, ganz selten nur. Die Worte ihrer Mutter waren klar durch die dünnen Wände gedrungen. Messerscharf durchschnitten ihre Vorwürfe die kurzen Momente der Stille, in denen sie mit ihrem eigenen Atem in der Dunkelheit allein war. Seine Schuld, diese Situation, auch wenn sie das alles nicht verstand. Es war immer seine Schuld. Eingeschlafen war sie trotzdem, das schaffte sie jedes Mal. In den knapp bemessenen Unterbrechungen, wenn ihre Mutter schwieg und auf eine seiner einsilbigen gebrummten Antworten wartete. »Mehr hast du nicht zu sagen?«– »Es zerstört uns. Dich und mich.«– »Dann denk wenigstens an sie. Nur ein Mal!«

Sie klatschte in die Hände und brachte neuen Blutstaub zum Tanzen. Beim zweiten Mal trafen ihre kleinen Hände fester aufeinander. Größere Stücke lösten sich. Sie segelten lautlos in die Tiefe, ihren nackten Füßen entgegen, die wie zwei weiße Inseln aus dem warmen Blut ragten. Immer schneller schlug sie die Hände klatschend aufeinander. Den spitzen Schrei ihrer Mutter hörte sie gar nicht.

»Oh mein Gott, Feli!«

2

Viele Jahre später

Es roch immer mehr nach Alter und Urin, bei jedem Besuch. Jetzt bemerkte sie es schon draußen vor der Tür. Und sie wusste, dass ihr der Geruch den ganzen Tag folgen würde. Das tat er immer, auch wenn sie sich danach jedes Mal mit brennend heißem Wasser duschte und alle Klamotten direkt in die Waschmaschine beförderte. In den Schleimhäuten ihrer Nase setzte er sich fest. Das war der Ort, von wo er unerbittlich wiederkam, bis in die Nacht. Erst am nächsten Morgen war er restlos verschwunden. Gut geschützt und behütet nistete er sich dort ein, sodass sie nicht an ihn herankam. Das Nasenspray schuf für ein paar Minuten Ruhe, drängte ihn in einen hinteren Winkel zurück, aus dem er dann vorsichtig wieder hervorkroch, kaum erkennbar zuerst. Ein Hauch, süßlich und zart, der nur der Kundschafter war. Mit voller Wucht kehrte er zurück, wenn sie tief einatmete.

Wie oft hatte sie es ihnen schon gesagt?

Vergebliche Liebesmüh.

Welche Ausrede hatte sie in den letzten Jahren wohl am häufigsten zu hören bekommen? Die Hygiene schreibe man ganz groß im Haus: Windeln wechseln, waschen, neues Bettzeug, alles nach Plan und Vorschrift. Das Alter sei verantwortlich, nicht das Haus und sein zuverlässiges Personal; die Inkontinenz, ein schlimmer, aber kaum aufzuhaltender Prozess, wie auch der geistige Verfall.

Jeden Sonntag ging es eine Stufe weiter hinab, manchmal nur eine flache, dann gleich zwei auf einmal, seit vielen Monaten schon. Sie wussten natürlich, dass sie immer sonntags zum Kaffee kam, um zwei Stunden am Bett zu sitzen. Alles war stets frisch an diesem Tag. Das Betttuch zeigte noch seine scharfen Bügelfalten. Das rosa Nachthemd mit den blumigen Rüschen um den Hals wies keine Spuren auf. Immer frisch hergerichtet. Doch der grasige Wäscheduft führte einen hilflosen Kampf, den er nie gewinnen konnte. Zu groß und mächtig der Gegner. Sie zwang sich, nicht an die übrigen Tage der Woche zu denken. Es half ihr kaum, zu wissen, dass ihre Mutter von alldem nichts mehr mitbekam. Schon seit Monaten begrüßte sie der stets gleiche, starre Blick ins Nichts. Kein Wort, keine Regung mehr, wenn sie eintrat, manchmal ein Husten zwischen zwei kaum hörbaren, flachen Atemzügen. Wenn sie ging, lag sie noch genauso da. Drapiert, zurechtgemacht für ihren Besuch, ein Stillleben, das ihr fremd geworden war, weil ihm die bekannte Sprache und die gewohnten Bewegungen fehlten.

Der ganze Rest in dem kleinen Zimmer war ihr vertrauter als der Mensch im Bett. Der Bussard direkt am Eingang rechts. Ihn hatte sie als einziges der vielen Tiere von daheim mitgenommen. Knapp über Kopfhöhe auf einem knorrigen Ast an die Wand montiert, drohte er mit seinen ausgebreiteten Schwingen und dem weit aufgerissenen Schnabel jedem, der hereinkam. »Das hält mir die Irren vom Hals, die auf dem Flur herumschleichen. Von denen traut sich keiner herein. Angst haben die.« Ein triumphierender Blick, an den sie sich noch genau erinnern konnte, hatte diese kraftstrotzenden Worte begleitet, aus denen doch nur die Angst sprach vor dem, was sie erwartete.

Es war ihr erster Besuch gewesen. Der erste Sonntag nach dem freiwilligen Umzug hierher. Bloß nicht zur Last fallen. Sie hatte selbst entschieden, solange es noch etwas zu entscheiden gab. Zwei schwere, schwarz gebeizte Kommoden hatte sie mitgenommen, die zusammengehörten, auch wenn sie dicht nebeneinander wie ein ungleiches Zwillingspaar wirkten. Ein paar Porzellanfigürchen standen darauf, dazwischen die gerahmten Familienbilder. Die spärlichen Reste ihres Lebens, die sich von den nichtssagenden Standardmöbeln auf der linken Seite des Raumes, die zur Grundausstattung gehörten, abgrenzten. Den kleinen Tisch und die beiden Stühle hatte sie bei IKEA gekauft, weil sie nicht mit ihr in der überfüllten Cafeteria zwischen den anderen verlegenen Sonntagsbesuchern schweigend trockenen Apfelstreusel essen wollte. Fünfzehn Komma neun Quadratmeter, tausendneunhundertfünfundneunzig Euro achtzig– am Anfang, als sie noch vieles selbst machen konnte.

Sanft drückte sie die Türklinke nach unten und atmete noch einmal tief ein. Eine knappe Gnadenfrist, die sie ihrem feinen Geruchssinn einräumte. Die Tür schwang auf. Ihre Augen irrten umher. Der mächtige Druck auf ihrem Brustkorb ließ sie nach Luft schnappen. Sie fiel in die Tiefe, ohne sich zu bewegen. Das frische weiße Laken blendete grell im Sonnenlicht. Glatt aufgezogen, zeigte es keine Spuren. Eine leblose Leere, die den Fall beschleunigte.

»Frau Booth?« Sie spürte die Hand, die nach ihrem Unterarm fasste. »Wir haben mehrfach versucht, Sie zu erreichen. Ihre Mutter ist heute Nacht friedlich eingeschlafen. Sie war ein so guter Mensch. Mein aufrichtiges Beileid.«

3

Sie war froh, als er endlich draußen war. »Nehmen Sie in Ruhe Abschied. Wir haben dafür im Keller einen separaten Raum der Einkehr. Da wir Sie nicht erreichen konnten, haben wir Ihre Mutter von Herrn Schweitzer abholen lassen. Er arbeitet als Bestatter seit Jahren mit uns zusammen. Das Zimmer bitten wir Sie bis morgen Abend zu räumen. Die Maler müssen hinein. Danach sehen wir uns gezwungen, alle persönlichen Gegenstände kostenpflichtig einzulagern.«

Arschloch! Der Zorn half gegen den Schmerz. Die Leere blieb. Langsam drehte sie sich um die eigene Achse. Das helle Furnier der Pflegeheimmöbel umzingelte sie. Ihr Blick erfasste das vergilbte Foto ihres Vaters auf dem Nachttisch. Bei ihr daheim hatte es ebenfalls direkt am Bett gestanden, jahrzehntelang. Abgegriffen schimmerte der kaum noch goldene Rahmen.

In halblangen Hosen bis zum Knie, khakifarben wie das Hemd, den Hut mit breiter Krempe in der rechten Hand, starrte er verlegen in Richtung Kamera. Ein Schnappschuss musste es gewesen sein. Die dunklen Haare klebten verschwitzt an seiner Stirn, auf seinem Gesicht ein gezwungenes Lächeln: ihr Vater, allein im trockenen Gras, irgendwo in Afrika. Auf einer der Safaris Ende der fünfziger oder Anfang der sechziger Jahre, die er als Präparator begleitet hatte. Sie hatten Jagd auf die Big Five gemacht: Büffel, Nashorn, Elefant, Leopard und Löwe.

Sein Präparationsbuch, das er detailverliebt wie ein Werkverzeichnis geführt und in dem sie während ihrer eigenen Ausbildung oft geblättert hatte, lag in der Werkstatt. Jedes Tier war darin erfasst, auch die Tiere der Afrikaexpeditionen.

Kalt umschlang etwas ihren Brustkorb. Sie atmete mühsam dagegen an. Eine große und dunkle Einsamkeit schickte Tränen auf die Reise. Kitzelnd suchten sie sich einen Weg über ihre Wangen. Ihr verschwommener Blick bewegte sich weiter, ohne sich an irgendetwas festhalten zu können. Zerflossene Konturen, die keinen Halt bieten wollten, zogen an ihr vorüber. So lange schon war er tot und die Mutter reglos an dieses Bett gefesselt. Allein war sie, so weit ihre Erinnerung zurückreichte, einsam hatte sie sich dabei nie gefühlt.

Hastig wischte sie sich die Tränen aus den Augen und drehte sich langsam weiter. Die helle Holztür zum winzig kleinen Badezimmer. Daneben der schmale Kleiderschrank. Die Schwingen des Bussards am Eingang.

Unter dem Hochspannungsmast hatten sie den toten Vogel gefunden, am Tag nach einem schweren Unwetter. Eine Erinnerung, die gestochen scharf war, obwohl sie damals höchstens vier Jahre alt gewesen sein konnte. Sie glaubte sogar, seine Hand spüren zu können, die raue Haut der Innenflächen. An keinen anderen Spaziergang mit ihrem Vater besaß sie eine Erinnerung. Wahrscheinlich hatte der Blitz in den Stahlmast eingeschlagen und den Bussard getötet. Ein prächtiger Vogel mit fast weißem Kopf. Sie brauchte nachher nur im Präparationsbuch nachzusehen, um das exakte Funddatum herauszubekommen. »Ich mache ihn für dich wieder lebendig«, hatte er gesagt.

Es war nicht das erste Mal gewesen, dass sie beim Präparieren dabei war. Für den Schnitt über das Brustbein bis in den Bauchbereich ließ sich ihr Vater immer besonders viel Zeit. Ganz langsam glitt die scharfe Klinge durch die dünne Haut. Mit behutsamen, aber doch entschlossenen Bewegungen seiner Finger legte er nach und nach das Fleisch frei. Feine Sägespäne, die er immer wieder einstreute, nahmen das wenige Blut auf. Über die Brust bis zu den Flügelansätzen und hinunter zu den Beinen hatte sie den Balg des Bussards selbst abgezogen. »Nicht reißen, ein sanfter, gleichmäßiger Zug reicht aus. Die Haut ist dünn, jedes Loch, das wir ihr zufügen, ist später schwer zu schließen. Dann sieht er schlecht aus. Zerrupft und krank. Wir erschaffen Tiere mitten im Leben. In der Bewegung, im Sprung. Dein Bussard macht sich bereit für den Abflug. Die Schwingen ausgebreitet, sein Opfer im Blick, stößt er in die Tiefe und packt gleich darauf zu. Die Feldmaus merkt das erst, wenn er sie schon gegriffen hat.«

Sie hatte den Blick der Tiere um sich herum gesucht, während sie mit ihren kleinen verklebten Fingern weiter an der fedrigen Haut des Vogels zog. Wache Augen, die sie ansahen und vor denen sie niemals Angst empfunden hatte. Stumme Begleiter, die darauf warteten, abgeholt zu werden. An den kapitalen Hirsch konnte sie sich gut erinnern. Der musste lange gestanden haben. Vielleicht war er keine Auftragsarbeit gewesen wie die meisten anderen, sondern ein eigener Fund, so wie der Bussard. Daneben zwei Füchse, die sich um einen bunten Fasan stritten. Die Oryxantilope mit ihren langen, geraden Hörnern und der schwarzen Gesichtsmaske hatte weiter hinten gestanden. Aufmerksam ihr Blick, der die Ferne abzusuchen schien. Die Ohren gespitzt, um das Geräusch auszumachen, das Gefahr ankündigte. Sie musste die Tüpfelhyänen gewittert haben, eine Gruppe von vier oder fünf Tieren in unterschiedlichen Posen. Eine stand mit gefletschten Zähnen über einem fast bis zur Unkenntlichkeit zerrissenen Kadaver, diesen aggressiv verteidigend. Nur an eine weitere aus der Gruppe konnte sie sich noch genauer erinnern. Ein erstaunlich großes Tier mit stark ausgeprägten Halsmuskeln und einem breiteren Schädel. Den Kopf im Nacken, die Schnauze in die Höhe gereckt, um Witterung aufzunehmen. Die Leithyänin des Clans, bereit, jeden Eindringling aus ihrem Revier zu verjagen.

In ihrer Phantasie wurden die Tiere stets lebendig, bewegten sich ein Stück weit weg und nahmen dann wieder die Haltung ein, die ihr Vater oder sie selbst ihnen gegeben hatte. Die Hyänin hatte eine Zeit lang im Schaufenster gestanden. Vor allem an den Wochenenden bildeten sich damals oft Menschentrauben vor den vier großen Scheiben des Eckhauses an der Mainzer Großen Langgasse, die ihr Vater wie schlichte Dioramen wechselnd ausgestaltete. Inmitten dürrer Grasbüschel die Tüpfelhyäne neben dem kleinen Kapfuchs und einem Karakal, der mit den schwarzen Pinseln an seinen Ohren wie ein Luchs anmutete, durch das zarte Gesicht aber doch als Katze zu erkennen war. »Wir haben unser eigenes kleines Museum. Immer anders, immer neu. Die Leute sollen sehen, was wir für spannende Gäste haben.«

Sie hatte das nie gekonnt, obwohl sie später versuchte, dem Vater nachzueifern. Seine Perfektion in der Darstellung blieb unerreichbar für jeden. Die Muskulatur, die sich wie die feinen und dickeren Äderchen durch das Fell abzeichnete. Unvergessen die Mimik einer wachsamen Impala, die er damals ebenfalls von einer der eigenen Expeditionen nach Afrika mitgebracht hatte. Angespannt jeder Muskel, sprungbereit stand sie zwischen den anderen Tieren, die auf ihre Abholung durch die Auftraggeber warteten.

Sie hatte versucht, die Schaufenster so auszugestalten wie er. Auch bei ihr sollten sich sonntags Menschentrauben vor den Scheiben drängen. Gleich nachdem sie die Werkstatt für Tierpräparation übernommen hatte, machte sie sich an das erste eigene Diorama. Es war ein lebloses Stückwerk geblieben. Das Reh aus dem Odenwald hatte auf der herbstlichen Wiese ausgesehen wie ein Fremdkörper. Die bunten getrockneten Blätter hatten das nicht verhindern können.

Die Kraft, die Tradition des Vaters nach so vielen Jahren wiederzubeleben, war bald erloschen. Sie hatte die Blicke nicht ertragen können. Das war der eigentliche Grund gewesen. Die Menschen vor ihren Schaufensterscheiben und die Blicke, die ihren Bewegungen folgten. Die Nähe, selbst durch das Glas hindurch, schuf Unbehagen. Sie hatten sich die Nasen platt gedrückt und jede ihrer Regungen beobachtet. Seither stellte sie nur immer mal wieder eine der fertigen Arbeiten in die Auslage. In der Nacht, nachdem sie aus der Dunkelheit des Arbeitsraumes heraus überprüft hatte, dass sie nicht begafft werden konnte.

Den Bussard würde sie mitnehmen. Er erhielt seinen Platz zurück. Nicht den Platz, den ihm ihre Mutter zugewiesen hatte. Er musste wieder über ihr Bett, wo der Vater ihn angebracht hatte, nachdem er fertig präpariert und auf seinem Ast fixiert worden war. Der Haken steckte noch in der Wand, als ob er darauf wartete, seine ursprüngliche Bestimmung endlich zurückzuerlangen.

Nur noch ein einziges Mal hatte ihre Mutter die Wohnung in der Etage über der Werkstatt nach der überstürzten Flucht betreten. Widerwillig, um hastig das Notdürftigste zusammenzuraffen. Den Bussard über ihrem Kinderbett hatte sie mitgenommen. Danach war ihre Mutter nie wieder in ihr eigenes Haus zurückgekehrt. Auch später nicht, als Felicitas die Präparationswerkstatt übernahm und sich entschloss, die jahrelang verwaisten Zimmer wieder mit stillem Leben zu füllen. Es zog sie dorthin zurück, und ihre Mutter verlor nie ein Wort darüber. Obgleich sie sicher etwas zu sagen gehabt hätte. Der Schmerz verhinderte jedes Gespräch zwischen ihnen über das, was in jener Nacht passiert war. Alles, was sie wusste, speiste sich aus zufällig Aufgeschnapptem, aus Wortfetzen, die aber nie für sie und ihre Ohren bestimmt gewesen waren.

Mit routiniertem Griff nahm sie ihren Bussard von der Wand, um sich aus dem Gedankenstrudel zu befreien, der sie in die Tiefe der Vergangenheit zu ziehen drohte. Seine Präparate hatten ein ganz anderes Gewicht als ihre Arbeiten. Kleinere Vögel hatte er kaum angenommen. Sie konnte sich an keine Notiz im Präparationsbuch erinnern.

Die Dermoplastiken ihres Vaters wogen annähernd so viel wie das lebende Tier. Er hatte jeden der Körper unter gegerbter Haut noch selbst aus Ton oder Gips geformt. Vorgefertigte Teile, die die Arbeit beschleunigten, schien er konsequent abgelehnt zu haben. Leichte Werkstoffe wie Polyurethan gab es zu seiner Zeit noch nicht. Heute waren PU-Blöcke der Standard für die Nachbildung des Tierkörpers, weil sie nicht so hart wurden und die sich unter dem Einfluss von Temperaturschwankungen verändernden Tierhäute demzufolge nicht so leicht rissen.

Feiner Staub von den Flügeln ihres Bussards tanzte im Licht des sonnigen Herbstmorgens. Vorsichtig legte sie ihn auf das weiße Bettlaken. Sie brauchte die Hände frei. Ihr Verstand sträubte sich noch. Die Angst vor dem, was sie erwartete. Noch mehr Bilder aus dem Abgrund des Vergessenen, trüb und aufgewühlt. Sie trieb sich zur Eile an. Schnell hindurch, ohne den Gedanken Zeit und Raum zu geben.

Entschlossen öffnete sie den schmalen Kleiderschrank neben der Badezimmertür. Der Geruch ihrer Mutter, vermischt mit dem dumpfen Duft nach gealterten Mottenkugeln, drang in ihre Nase. Alles lag ordentlich zusammengelegt in den Fächern. Die Kleidungsstücke, die sie noch an ihr gesehen hatte. Der Sommer- und der Wintermantel und zwei Kleider hingen auf Bügeln. Eines davon, das geblümte, steckte noch unter der dünnen Folie der Wäscherei.

Sie machte einen Schritt zur Seite, beugte sich vor und zog die Tür der vorderen der beiden dunklen Kommoden auf. Ein paar Bücher standen darin. Romane, die ihre Mutter immer gern gelesen und mit denen sie sie zu Weihnachten versorgt hatte. Einfallslose Geschenke. Konsalik, »Der Arzt von Stalingrad«, »Der schwarze Mandarin«, »Im Tal der bittersüßen Träume«. Die Buchrücken offenbarten keine Spuren eines Lesens. Warum hatte sie ihr all das geschenkt? Simmel, »Es muss nicht immer Kaviar sein«. Die Unkenntnis nach vielen sprachlosen Jahren. Rasch drückte sie die Tür wieder zu und zog die der zweiten Kommode auf.

Porzellanfigürchen standen wild durcheinander. Der Rest ihrer Sammlung. Kleine dicke Kinder mit leuchtend roten Pausbacken. »Der Ersatz für die fehlenden Enkelkinder.« So oder ähnlich hatte sie es formuliert. Daneben lag eine große, in Packpapier eingeschlagene Kiste, mit grober Kordel mehrfach verschnürt. Darauf die Handschrift der Mutter in kantigen Schwüngen. Meiner lieben Felicitas. Die Tränen waren sofort wieder da. Die Schleusen weit geöffnet, fluteten sie ihre Wangen. Sie schluchzte und krümmte sich unter dem Schmerz. Schnell zog sie das Paket an sich, ein Teil der gestapelten Porzellanfigürchen purzelte in den entstandenen Freiraum. Das Packpapier knisterte unter ihren Fingern. Noch in der Bewegung fiel die Entscheidung.

Sie stellte das Paket für einen Moment auf dem Bettlaken ab, um den Bussard darauf zu platzieren. Sie musste hier raus. Den Rest würde sie holen lassen.

Mit einer kurzen Bewegung wischte sie sich die nassen Wangen ab und wollte beides greifen. Das kaum hörbare, gedämpfte Geräusch, das in diesem Augenblick an ihr Ohr drang, ließ sie innehalten. Ein fester Stoff, der an Metall rieb. Das Resultat einer leichten Regung. Ganz behutsam und nur vollführt, um dem Schmerz des starren Ausharrens zu entkommen. Sie spürte die festen Schläge ihres Herzens. Der Laut war aus dem verschlossenen Badezimmer gekommen.

4

Sie war nicht ein einziges Mal bei einem ihrer sonntäglichen Besuche in diesem Raum gewesen. Klein musste er sein, aus dem Zimmer herausgeschnitten und abgetrennt. Mit hämmerndem Herzen schob sie sich näher an die schmale Tür heran, hinter der kein Laut mehr zu vernehmen war. Absolute Stille, die das Rauschen des Blutes in ihren Ohren überlagerte. Warum blieb sie nicht einfach hier stehen? Ein sicherer Abstand zur Tür, Ruhe. Früher oder später würde die Person herauskommen, wenn es nicht doch bloß die Wanderratte aus der Kanalisation war, die sich auf ihrer Expedition durch das Gebäude hierher verirrt hatte und nicht mehr zurück in die Schüssel kam, der sie entsprungen war.

Der metallische Klang der kurzen Bewegung erinnerte sie aber nicht an ein Tier. Keine Krallen, die in Panik auf den glatten Fliesen zu entkommen suchten. Es hatte sich angehört wie ein Mantel oder eine Hose, eine Jeans vielleicht, die den Heizkörper streifte.

Durch das Rauschen hindurch vernahm sie ihren eigenen stoßweisen Atem. Ein knapp gesetzter letzter Schritt. Sie hielt die Luft an, um noch einmal zu lauschen, obgleich sie wusste, dass das nichts bringen würde. Sie streckte schwitzend die Hand nach der kühlen Türklinke aus und schleuderte die Badezimmertür auf. Das Licht aus dem Zimmer erhellte die grauen Fliesen auf dem ersten Meter. Im Dämmerlicht der weiße Widerschein der Kloschüssel. Ein nachhallendes Scheppern, als die Klinke auf der Innenseite mit vollem Schwung gegen den Wandheizkörper schlug. In kaum reduziertem Tempo flog die Tür zurück ins Schloss. Der Luftzug hatte den braunen Duschvorhang in sanfte Bewegung versetzt. Für den Bruchteil eines Augenblicks hatte sie das sehen können. Der spitze Schrei, der dem Aufbauschen gefolgt war, musste von dahinter kommen.

Keine Ratte.

Ihr Atem ging jetzt leichter, obwohl sich an der Gesamtsituation kaum etwas geändert hatte. Dort drinnen hielt sich jemand versteckt. Das plötzliche Tageslicht, der Lärm hatten die Person in Panik versetzt. Sie überrumpelt. Vielleicht resultierte die spürbare Beruhigung ihres Pulses aber auch aus der Tatsache, dass es sich dem Schrei nach um eine Frau handelte.

»Kommen Sie raus!« Intuitiv trat sie einen Schritt zurück. Sie hatte keine Lust, ihr in Reichweite gegenüberzustehen. Dass sie sich durch den Schritt aber in die Enge des Raumes begab und nicht in Richtung Zimmertür, wurde ihr erst bewusst, als sich die Türklinke bewegte. Als Fluchtweg bliebe nun nur noch der beherzte Sprung durch die geschlossene Fensterscheibe im vierten Stock. Das, was danach von ihr übrig bliebe, würde kaum mehr zur Präparation taugen. Irre Gedanken, die durch ihren Schädel fieberten. In ihren Kniekehlen konnte sie jetzt den sanften, aber entschlossenen Widerstand der frisch bezogenen Matratze hinter sich spüren.

»Bitte, bitte, tun Sie mir nichts. Ich habe sauber gemacht.«

Im Türrahmen erschien eine kleine dicke Frau. Ein mädchenhaftes Gesicht mit einer von Aknenarben übersäten Haut, umrankt von strähnigen rotblonden Locken. Kleine Maulwurfsaugen hinter dickem Glas. Ihren süßlichen Angstschweiß hatte sie aus der Dusche mitgebracht. Sie steckte in einem der grünen Sweatshirts, die alle hier trugen außer dem Heimleiter, der sie vorhin empfangen hatte. Das Logo weiß eingestickt auf der linken der beiden ausladenden Brüste, die unter viel zu engem Stoff auf dem kugelrunden Bauch auflagen.

»Im Dunkeln, still und leise? Dass ich nicht lache! Ich kann mir kaum vorstellen, dass Sie hier sauber machen ohne Putzwagen und Einweghandschuhe.« Felicitas verstummte, weil sie nicht recht wusste, wie es weitergehen sollte. »Ich gebe Ihnen genau zehn Sekunden Zeit, die Wahrheit zu sagen. Dann schreie ich um Hilfe und werde meine Geschichte um das kleine Detail bereichern, dass Sie mich angefallen haben, weil ich Sie beim Diebstahl erwischt habe.« Sie sah die Frau entschlossen an. »Zehn.«

»Halt.« Ihre Stimme zitterte. »Ich habe nichts geklaut.« Unbeholfen fingerte sie mit der Rechten in der Tasche ihrer viel zu engen weißen Hose und holte zwei kleine Porzellanfigürchen hervor, die sie ihr mit gesenktem Kopf entgegenhielt. Zwei pausbackige Mädchen in fliegenden Röcken. Eine hielt einen winzigen Hund im Arm, die andere einen bunten Ball in den Händen. »Es tut mir leid. Ich wollte das nicht.« Sie machte zaghaft einen Schritt auf sie zu und zog geräuschvoll den Rotz hoch. »Ich habe ihr zweimal die Woche vorgelesen. Nach meiner Schicht. Während der Arbeit habe ich keine Zeit für so etwas. Die vielen Bücher in ihrem Schrank, die hat sie doch schon seit Jahren nicht mehr verstanden. Hänsel und Gretel, immer wieder, und jedes Mal hat sie sich gefreut, wenn die Hexe verbrannte.«

Felicitas schluckte mehrmals, um den Kloß in ihrem Hals zurückzudrängen. Gleichzeitig füllten sich ihre Augen mit Tränen. Verschwommen hielt sie den Blick auf die beiden kleinen Figuren gerichtet.

»Sie wollte mir die früher schon immer mitgeben.« Sie stockte und schien mühsam nach passenden Worten zu suchen. »Wir dürfen nichts von den Heimbewohnern annehmen. Keine Geschenke, weil es Probleme mit den Angehörigen gibt, die Angst haben, dass wir die hilflosen Alten ausnehmen. Dabei sind wir die Einzigen, die sich noch um sie kümmern.« Sie hielt wieder inne, bemüht, ihren Redefluss zu unterbrechen. »Entschuldigung. Ich hätte das nicht tun dürfen.« Noch immer streckte sie ihr die beiden Figuren entgegen.

»Bitte behalten Sie sie. Im Schrank sind noch mehr davon. Sie können sie gern alle mitnehmen.«

»Sie verraten mich nicht?«

»Nein.« Felicitas schüttelte den Kopf. »Vielen Dank, dass Sie das für meine Mutter getan haben.«

Mit einer schnellen Handbewegung hatte sie die beiden Mädchen wieder in ihre enge Hose gezwängt. Jetzt kam sie auf sie zu. Felicitas wollte diese Nähe nicht. Die Matratze in ihren Kniekehlen machte ein Zurückweichen jedoch unmöglich.

»Von mir wissen Sie das nicht.« Sie flüsterte es fast tonlos. »Er war auch hier. Deswegen bin ich ins Klo. Die Tür habe ich zuerst nicht mehr rechtzeitig zubekommen. Ich konnte ihn genau hören. Er hat im Nachttisch gekramt und etwas eingesteckt. Das war durch den Spalt ganz deutlich zu erkennen. Dann ist er raus, weil er gemerkt hat, dass jemand kommen wird. Wenn man unten die Tür zum Treppenhaus aufdrückt, hört man das nicht, aber wenn sie ein paar Sekunden danach wieder zufällt, dann spürt man das unter den Fußsohlen. Es überträgt sich. Billig gebaut. Er ist raus und ins Nachbarzimmer. Noch bevor ich ebenfalls gehen konnte, waren Sie schon da. Also bin ich wieder zurück und habe diesmal die Tür zugezogen.« Sie zuckte mit den Schultern.

»Wer?«

»Er.« Sie wartete einen Moment und sank von den Zehenspitzen, auf denen sie die ganze Zeit gestanden haben musste, zurück auf die Fersen. »Der Chef. Bei uns weiß jeder, dass er das immer macht, wenn einer stirbt.«

5

»Lassen Sie mich Ihnen helfen, Frau Booth?«

Die zarte Stimme, fast gehaucht jedes einzelne Wort, klar und betont. Der Kopf leicht schräg gelegt, im Blick ein Höchstmaß an professionellem Mitgefühl. Ohne eine Antwort abzuwarten, hatte er schon nach dem Paket gegriffen und es ihr aus den Händen gezogen. Sein Gesicht, auf das er ein freundliches Lächeln zwang, verriet, dass er die Kiste leichter eingeschätzt hatte. Der sperrige Bussard darauf machte es ihm unmöglich, die Last nahe am Körper zu halten.

Nach einem kurzen Stück auf dem polierten Linoleum des Flurs hatte sie ihn schon gesehen, in dunkelbraunem Anzug, das Sakko stark tailliert. Er schien ganz zufällig auf sie gewartet zu haben. Ein verstohlener Blick in ihre Richtung, während er unbeholfen an zwei Stecknadeln der Info-Pinnwand herumfingerte.

»Es war nicht sehr taktvoll von mir. In dieser Situation.« Er atmete schwer unter der Last und versuchte, das knisternde Paket ein wenig näher an den Körper zu ziehen. Dass die Schwingen ihres Bussards jetzt auf seiner Stirn auflagen, schien er zugunsten einer gewissen Gewichtsentlastung in Kauf zu nehmen. Hätte sie das gewusst, wären die Konsaliks und Simmels auch noch unter den Vogel gewandert. »Ich hoffe auf Ihr Verständnis. Wir haben eine lange Warteliste. Pflegeplätze sind knapp. Wir sind ein gefragtes Haus, weit über die Region hinaus.«

Die Anstrengung forderte sein Deo heraus. Leder und Moos. Kein unangenehmer Duft. Sie konnte es nicht ausstehen, wenn Männer nach Obstkörben rochen. Süßlich fruchtig. Melonen, Orangen und vor allem Kokosmilch gehörten ins Müsli, aber nicht auf einen Männerkörper.

»Es wäre ungerecht den Wartenden gegenüber. Viele Angehörige sind dringend auf einen Pflegeplatz angewiesen, um ihr eigenes Leben wieder zurück in geregelte Bahnen zu führen. Die Betreuung eines dementen Familienmitgliedes bringt sie schnell an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit.« Er versuchte zu nicken, unterbrach die Bewegung aber abrupt, weil er den Gegendruck der starren Federn auf seiner Stirn zu spüren bekam. »Ich könnte Ihnen einen unserer Auszubildenden zur Seite stellen, damit er Ihnen zur Hand geht.« Er räusperte sich. »Wir könnten das ja bei einer Tasse Kaffee oder einem Glas Wein besprechen. Nicht heute. Verstehen Sie mich nicht falsch. Morgen am Nachmittag vielleicht?«

Abwartende Stille, die das Quietschen der Gummisohlen ihrer Lederstiefel auf dem polierten Kunststoffbelag stimmig begleitete. Sein Revier, sein Jagdverhalten, sein potenzielles Beutetier. Er war etwas älter als sie. Anfang fünfzig vielleicht. Schlecht sah er nicht aus. Ein stoppeliger Dreitagebart, der an den Wangen grau schimmerte. Volles, dichtes dunkelbraunes Haar, der Seitenscheitel war nur angedeutet.

Die Tatsache, dass er wie ein überladener Packesel neben ihr hertrottete, ließ seine Nähe weniger unangenehm wirken, sogar im engeren Treppenhaus. Mit schnellen Schritten eilte sie voraus, um die schwere Glastür zum Foyer aufzudrücken. Die Sitzecken im Eingangsbereich waren beliebt und auch jetzt wieder bis auf den letzten Platz belegt. Ein vielstimmiges Wispern, durchbrochen von einzelnen laut und deutlich formulierten Worten. »Willst du noch einen Kaffee, Oma?«

Mitten im Raum, als sie spüren konnte, dass ein Maximum an Augenpaaren auf sie, ihn und den Bussard gerichtet war, blieb sie stehen und drückte ihre rechte Wange an seine linke, sodass ihre Lippen sein Ohr fast berührten. Die weichen Bartstoppeln bewirkten ein angenehmes Kribbeln auf ihrer Haut. Ein moosig-floraler Duft fand den Weg in ihre Nase. Sie meinte, einen warmen Hauch seines Atems über die feinen hellen Härchen ihres Halsansatzes streichen zu spüren. Dabei langte sie mit der Linken entschlossen zu. Die rechte Tasche war ihr Ziel. Ein wenig ausgebeult hatte sein Sakko an dieser Seite herabgehangen.

Metallisch fühlte sich der Inhalt an, ohne dass sie genau zu benennen wusste, was es wirklich war. Es spielte keine Rolle. Sie wisperte in sein Ohr. »Ich lasse die Sachen meiner Mutter nächste oder übernächste Woche holen. Bis dahin ist alles wieder im Nachttisch. Und zwar vollständig. Wenn Sie außer zu diesem Zweck auch nur ein einziges Möbelstück noch einmal berühren oder bewegen, sorge ich dafür, dass Sie auffliegen. Sie wurden gesehen, und meine Zeugin wird jederzeit gern gegen Sie aussagen.« Sie pustete ihm ins Ohr und griff dann nach ihrem Paket. Wirklich schwer war es.

Der Schmerz schien betäubt, verschleiert wie in einem Nebel, eine wohltuende Hitze hatte sich in ihrem Schädel ausgebreitet. Die Blicke der Zuschauer, manche erstaunt, amüsiert, verstohlen, sie fügten sich. Unangenehm waren sie ihr nicht, weil sie die Szenerie beherrschte und alles genau so hatte haben wollen.

Kleine Schweißtropfen machten sich kitzelnd unter ihren Armen bemerkbar, als sich die beiden Flügel der elektrischen Tür vor ihr öffneten.

6

Es war ihr niemand begegnet. Den Wagen hatte sie nach kurzer Fahrt in ihrem Hinterhof abgestellt. Von dort führte eine Stahltür, für die nur sie einen Schlüssel besaß, direkt in die Werkstatt. Den eigentlichen Eingang wie auch den Flur des Mehrfamilienhauses nutzte sie selten. Der Weg durch die Werkstatt und von dort direkt zur eigenen schmalen Wendeltreppe nach oben in den ersten Stock, in dem ihre Wohnung lag, ermöglichte es ihr, den anderen Bewohnern auszuweichen, wenn sie die Nähe nicht ertragen konnte. Die Treppe hatte sie einbauen lassen, als sie zurückgekommen war und sich wochenlang in dem einzigen Raum eingeschlossen hatte, den sie bis heute wirklich bewohnte: ihr altes Kinderzimmer. Den Rest durchquerte sie, ohne sich länger aufzuhalten, oder nutzte die Räume allein deshalb, weil es sich nicht vermeiden ließ. Den Flur mit dem Fischgrätparkett, das auch in den übrigen Räumen verlegt, aber dort meist unter dicken Teppichen versteckt war. Küche und Bad.

Die Bibliothek ihres Vaters hielt sie verschlossen. Das war der Raum, den sie gedanklich ausblendete. Er existierte nicht, nur in ihren Erinnerungen. Die dunklen, mächtigen Bücherregale standen voll bis unter die Decke. Das meiste waren Bildbände, die er für das Modellieren und Ausgestalten der Präparate benötigt hatte. Sie zeigten Tiere in den unterschiedlichsten Bewegungen. Detailaufnahmen von Muskelpartien, dicken Adern unter dem Fell, Augen und Lippen. Gesichtszüge, aus denen Aggression, Angst, Erstaunen oder Schreck sprachen.

Aus dem Wohnzimmer, das zur Straße hin lag und sich damit direkt über dem Eingang zum Präsentationsraum mit den Schaufenstern befand, hatte sie einen der drei schweren Ledersessel in ihr altes Kinderzimmer gezogen, in dem sie die Rollläden meist geschlossen hielt. Außer der Matratze auf dem Boden und den fünf Umzugskartons, die sie nach vorne offen liegend so übereinandergestapelt hatte, dass sie als Regal und Kleiderschrank fungierten, gab es keine Möbelstücke in diesem Raum.

Sie brauchte sonst nichts. Die alte Einrichtung hatte sie sofort zum Sperrmüll gestellt und danach die kahlen Wände des kleinen Zimmers frisch geweißt. Es blieb ein Fremdkörper zwischen den überladenen Räumen, die mit den Andenken der Afrikaexpeditionen gefüllt waren. Lange Speere und Pfeile hingen parallel übereinander. Die dazugehörigen Bogen und bunten Schilde schlossen sich an.

Es war ihr Haus. Das Haus ihres Vaters, des Präparators Friedrich Booth, der es gekauft hatte, um im Erdgeschoss seine Werkstatt mit dem großzügigen Präsentationsraum und den zur Straße liegenden riesigen Schaufenstern unterzubringen. Da das Haus auf einem Eckgrundstück der nach den Bomben des Weltkrieges wieder errichteten Mainzer Innenstadt stand, führten die bis auf den Boden reichenden Scheiben der Schaufenster genau wie das gesamte Haus in einem sanften Bogen um die Ecke.

Die Familienwohnung im ersten Stock erstreckte sich über die gesamte Breite, während die Fläche in den drei darüberliegenden Stockwerken auf jeweils zwei Wohnungen aufgeteilt war. »Friedrichs Altersvorsorge, die er nicht mehr erleben durfte. Sechs Mietwohnungen, um die ich mich auch noch kümmern kann.« Die Stimme ihrer Mutter hatte sie heute noch im Ohr. Den Satz, am Telefon gesprochen, vielleicht zu irgendeiner Tante. Worte, die sie aufgeschnappt hatte, als sie schon längst nicht mehr in diesem Haus lebten.

Auf dem mächtigen Eichentisch im Präsentationsraum stellte sie das verschnürte Paket ab. Auf diesem Tisch hatte ihr Vater stets einen Teil der fertigen Präparate für die Abholer postiert. All jene Tiere, die aufgrund ihrer geringen Größe ein wenig Höhe benötigten, um als Endresultat ordentlich und in Ruhe begutachtet zu werden. An Füchse, eine Wildkatze, Feldhasen und Warzenschweine konnte sie sich erinnern. Die Kunden waren mit aufgesetztem fachmännischen Blick darum herumgeschlichen, die Endabnahme, bevor sie die Scheine auf den Tisch zählten. Dann der Handschlag. Ein Obstler oder Kräuterschnaps hinterher, um die Zunge zu lockern und die bereits verklärten Geschichten vergangener Jagderfolge wieder lebendig zu machen. Sie hatte die Geschichten geliebt, obwohl sie damals schon ahnte, dass nur die Hälfte der Wahrheit entsprach. Auge in Auge mit dem wilden Keiler, einen endlosen Wimpernschlag lang, dem im letzten Moment der rettende Plattschuss gefolgt war. »So nah war er schon. Sie dürfen darauf gern noch mal einen nachschenken. Wirklich eine herausragende Arbeit, Booth. Die anderen werden staunen.«

Heute kamen zum Teil die Söhne und Enkel der Kunden ihres Vaters zu ihr. Die nannten sie so, wie ihre Väter und Großväter ihren Präparator genannt hatten. Einfach Booth. »Der Booth hat ihn ausgestopft. Sieht man doch. Das kann so erstklassig nur der, und so lässt er es sich auch bezahlen. Einen Booth kann sich nicht jeder leisten.«

Die vermittelnde Art ihres Vaters fehlte ihr. Sie bemühte sich, die Kunden auf Distanz zu halten. Die meisten Aufträge kamen heute ohnehin– nach einem Telefonat vorab– per Mail und die gesalzenen Tierhäute mit der Spedition. Vieles wurde bei Jagdsafaris geschossen. Bären waren beliebt und Löwen, ab und an ein Wolf. Vor Ort in Afrika, Polen, Rumänien oder Russland hatten sie die Skinner direkt abgezogen und gut eingesalzen. Seit einigen Jahren kamen die heimischen Großtiere wieder in Mode. Die Regionalisierung schien auch in ihrer Arbeitswelt angekommen zu sein. Befeuert durch eine steigende Nachfrage nach der Dermoplastik als Designobjekt bei der Wohnraumgestaltung. Innenarchitekten hatten sie wiederentdeckt, nachdem der ausgestopfte Tierkörper jahrzehntelang für ein paar Euro auf dem Flohmarkt erstanden oder kostenlos aus dem Sperrmüll geklaubt werden konnte.

In der vergangenen Woche hatte sie einen Leoparden fertiggestellt, der sich auf einem als Sockel dienenden Klavierlackwürfel geduckt anpirschte. Für Kunden, die vielleicht sogar froh waren, dass sie die fertigen Tierkörper nicht selbst abholen und mit Schnaps zusammen mit dem Präparator begießen mussten, der dumme Fragen nach der Herkunft der Häute stellte, sondern gut verpackt geliefert bekamen.

Sorgsam legte sie ihren Bussard zur Seite.

Meiner lieben Felicitas.

Die wackeligen Bogen ihrer Mutter auf dem groben Packpapier holten sie zurück ins Hier und Jetzt. Der ganze bisherige Tag war ein einziger Strudel der Vergangenheit, die sie sonst erfolgreich verdrängte und gedrückt und eingezwängt in einer der hintersten Windungen ihres Schädels verwahrte. Die Konzentration stets auf den nächsten Schnitt gerichtet, auf das gründliche Reinigen der Tierhäute von den letzten Fleischfetzen und der Fettschicht darunter. Das Werken am Detail ließ sie fast alles vergessen.

Unzählige grobe Kordeln hatte ihre Mutter um das braune Packpapier geschlungen und mehrfach so fest verschnürt, dass sie mit ihren kurzen Fingernägeln keinen einzigen davon aufbekam. Sie griff zur Schere. Ungeduldig durchtrennte sie die Schnüre und riss das Papier auseinander. Ein brauner, abgegriffener Pappkarton kam zum Vorschein. Das Klebeband hatte sich an einigen Stellen schon gelöst und schmale Abdrücke hinterlassen. Der Geruch nach altem, brüchigem Papier fand den Weg in ihre Nase.

Als sie dann den Kartondeckel aufschlug, roch es für einen kurzen Moment noch einmal so wie an den vielen Sonntagen, die es von nun an nicht mehr geben würde. Ihr Blick irrte in der Kiste umher. Da war zu viel, was er in der Eile auf einmal zu erfassen suchte. Ein wildes Durcheinander vergilbter Fetzen. Zettel in den unterschiedlichsten Größen, viele davon Zeitungsausschnitte. Todesanzeigen mit großen dünnen Kreuzen und schwarzen Rahmen.

Dr.Karl Kauffmann. Sie griff nach einem Bündel und verteilte die einzelnen Ausschnitte auf dem Tisch neben dem Karton. Gehetzt überflog sie die immer gleichen, nichtssagenden Wortfolgen der Todesanzeigen. Plötzlich und unerwartet ist er von uns gegangen, Kommerzienrat Henning Rüther.

Ein Nachruf lag dazwischen, wieder Kauffmann, reichlich Text, der sein Leben würdigte. Die Handschrift ihrer Mutter erkannte sie am schmalen Rand, den die schwarze Umrandung ihr gelassen hatte: Frankfurter Allgemeine, 27.März 1962.

Sie wandte sich wieder der Kiste zu und klaubte mehrere wellige Afrikabilder heraus. Sie zeigten Hütten mit einem verchromten Wagen davor. Tief liegend und offenbar überladen, wirkte er in dieser Umgebung wie ein Fremdkörper. Ein zusammengeschnürtes dickes Bündel weiterer Fotos folgte. Die Weite einer grasigen Landschaft und noch mehr Hütten hielten ihren Blick nicht lange fest.